Ottilie Wildermuth
Die alte Freundin
Ottilie Wildermuth

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Auf Schloß Solingen.

Habt ihr, die ihr aufgewachsen seid wie ich, in einer Stadt, in einem Hause, das man mit vielen andern Menschen bewohnt, es euch nicht auch oft herrlich schön gedacht, auf dem Land zu leben in einem eigenen Häuschen, oder vollends gar in einem alten Ahnenschlosse zu hausen, mit einer endlosen Reihe von Gemächern, einer geheimnisvollen Schloßkapelle; dahinter ein schöner Garten und schattiger Park? Wie anders ließe sich da spielen, wie könnte man in solchen Räumen prächtige Geschichten aufführen! so tausendmal schöner als in der engen Mietswohnung, wo der Herr Doktor im oberen Stock zankt, wenn man die Thür laut zumacht, und die Frau Rätin im unteren seufzt, wenn man die Treppe hinabspringt; wo man nicht einmal auf der Regentonne im Hof ein Schifflein schwimmen lassen darf, ohne von scheltenden Mägden verjagt zu werden, und wo man beständig in Todesangst schweben muß, mit irgend einer unvorsichtigen Handlung den Leu, den Hausherrn, zu wecken, was mehr als gefährlich ist, was den Schrecken aller Schrecken, eine Kündigung, hervorrufen kann! Nun kannte ich ein Schwesternpaar, das all das, was ihr euch so herrlich ausdenkt, hatte, und doch – ihr würdet vielleicht nicht aus der engsten Mansardenwohnung heraus mit ihnen getauscht haben.

Es war ein richtiges, echtes Ahnenschloß, das Oktavie und Christine von Solingen bewohnten. Kam man zu dem vorderen Thor herein über den sonnigen, weiten, gepflasterten Hof, so präsentierte es sich mit seinen zwei Stockwerken, den langen Fensterreihen allerdings etwas nüchtern, wie ein großes stattliches Wohnhaus, hell und luftig, ohne besonderen Schmuck oder interessante altertümliche Zieraten. Ging man aber anstatt die Stufen hinauf und in die weite, mit Hirschgeweihen verzierte Halle hinein durch das schmale Thörchen daneben in den Garten und nach der Rückseite des Schlosses, da sah man erst, welch ein altes, großartiges Gebäude es war. Breitästige Kastanien machten den Weg entlang dem Schloß immer kühl und schattig; die grüne Dämmerung paßt aber gut zu dem grauen, steinernen Gemäuer, zu den Erkern und den hohen, spitzbogigen Fenstern der Schloßkapelle, die auf dieser Seite liegt. Die Steine des unteren Geschosses sind hier grün angelaufen, Brennesseln und allerlei Unkraut mit breiten, glänzenden Blättern und wirren Ranken lassen es sich hier wohl sein in dem feuchten Erdreich, und auf keinem der kleinen Balkone oder an den Erkern sehen wir ein lebendes Wesen – es könnte einem unheimlich werden, trotzdem es heller, goldener, warmer Sommermorgen ist; man sieht und merkt das kaum hier unter den dichtbelaubten Bäumen in der kühlen Dämmerung. Am Ende des langen Gebäudes stoßen wir an einen hohen Turm mit scharfkantigen Ecken, schmalen Schießscharten. Er steht einige Schritte vom Schloß weg, mit dem er durch eine kleine Zugbrücke verbunden ist. In früheren Zeiten der Gefahr und Kriegsnot wurde diese aufgezogen, jede der Schießscharten von einem mutigen Schützen besetzt, und da konnten die Frauen, Kinder und Greise des Schlosses, die man samt den Kostbarkeiten und Schätzen ins oberste Gelaß des Turms flüchtete, sicher sein: nicht der kecksten Landsknechtschar, nicht der wütendsten Bauernbande war es je möglich gewesen, da einzudringen; mehr als einmal hatte das Geschlecht derer von Solingen das erprobt.

Gut war es, daß die Zeiten allmählich friedlicher geworden, jetzt würde das alte Gemäuer wohl keinen Sturm mehr ausgehalten haben. Das oberste Stockwerk war einmal vom Blitz beschädigt worden, und man hatte nur ein leichtes Notdach errichtet, das sich an einigen Stellen auf die Mauer stützte, an andern, wo dieselbe zu bedeutende Lücken hatte, von Balken getragen wurde. Und während jetzt der untere Teil des Turms mit seinem dichten, dunkelgrünen Epheugeranke in tiefem Schatten liegt, ist der obere halbzerstörte Teil, der ein luftiges Sommergemach bildet, von hellem Sonnenlicht umflutet, und dort sehen wir auch die ersten Menschen in diesem stillen Dornröschenschloß. Nicht eine schlafende Königstochter ist es – zum Glück, denn wir sind ja auch nicht der Prinz, der sie wecken könnte –, nein, zwei Kinder sind es, die sich da herumtreiben. Da das schmale Pförtchen am Fuß des Turms offen ist, können wir eintreten und auf die Wendeltreppe kommen, die uns in unzähligen Windungen hinauf auf den Turm bringt, wo wir die beiden beobachten können.

Die eine hat das schlichte braune Kleidchen sorgfältig zurückgesteckt, eine grobe Schürze darüber gebunden, den Kopf in ein weißes Tüchlein gehüllt, welches das dunkle Kraushaar vor dem Staub schützen soll, und hantiert aufs eifrigste mit einem Besen. Die runden Bäckchen glühen ganz, so emsig trippelt sie auf den kleinen Füßchen herum und fegt Spinnweben von der Wand, das Geröll, den Sand und Staub am Boden zusammen, so geschickt und gewandt wie das geübteste Stubenmädchen.

Jetzt hält sie einen Augenblick inne und wischt sich das heiße Gesichtchen ab.

»Hören Sie, Frau Verwalter,« wandte sie sich an eine Gestalt, die in der tiefen Mauernische im Eck beschäftigt war, »ich fürchte, der Fußboden wird doch nicht sauber genug, auch wenn ich ihn tüchtig kehre; man sollte ihn aufwaschen. Sonst ist die Frau Gräfin gewiß nicht zufrieden, und da sie längere Zeit hier bleiben wird, muß es doch recht nett aussehen.«

»Ich glaube nicht, daß es nötig ist,« meinte die Angeredete; »und wie kannst du denn das Wasser bis hier herauftragen?«

»O, das ist das Wenigste!« rief die Kleine und lachte, daß die weißen Zähnchen zwischen den roten Lippen herausglänzten; »ich habe ja vom Kübler ein eigenes Wasserkübelchen gekriegt.«

Und husch! ist sie hinaus und trippelt die steile Treppe hinunter. Wir können uns nun nach der Frau Verwalterin umsehen; unter einer solchen denkt ihr euch eine dicke, behäbige, alte Frau mit einer imponierenden Haube auf dem Kopf, eine weiße Schürze um die stattliche Gestalt gebunden und einen klirrenden Schlüsselbund an der Seite. O, diesmal habt ihr euch getäuscht! Da steht sie, die aufgeschossene Gestalt eines etwa achtjährigen Mädchens, aus dessen feinem Gesichtchen uns ein Paar dunkelblauer Augen schüchtern, erschrocken ansehen, gar nicht gebietend und befehlend wie die einer Frau Schloßverwalterin. Sie ist bemüht, in einer der noch erhaltenen Fensteröffnungen an den eisernen Stäben ein Stück weißen Mulls zu befestigen und darüber eine Epheuranke anzubringen.

Sie ist noch nicht damit fertig, als die kleine Fleißige von vorhin wieder hereinkommt; mit triumphierender Miene, das Figürchen stramm aufrecht, einen der runden Arme in die Seite gestemmt, trägt sie auf dem Krauskopf ein hölzernes Gefäß mit Wasser, regelrecht, ohne etwas zu verschütten, trotz einem schwäbischen Bauernmädchen. »Aber Tini, das hättest du nicht thun sollen, das ist viel zu schwer für dich, vollends all die Treppen herauf!«

Die Kleine hat inzwischen gewandt und sicher das Gefäß auf den Boden gesetzt und flüstert jetzt ganz verlegen, noch etwas außer Atem, der Schwester zu: »Otta, das darfst du nicht, ich bin ja deine Magd, und so sagt man nie zu seinem Dienstmädchen.« Wie wenn es gegolten hätte, vor einer großen Zuhörerschar einen Fehler wieder gut zu machen, bemühte sie sich jetzt, in möglichst naturgetreuem Ton zu seufzen: »Ach, bis man da heraufschnauft mit seinem Kübel! Man ist doch übel daran als so eine arme Magd,« was ihr aber von der Frau Verwalterin, die sich wieder in ihre Rolle gefunden, einen strengen Verweis eintrug. Das fingierte Bäbele machte sich nun eiligst daran, den Fußboden auszuwaschen, und zu ihrer großen Freude war sie damit fertig, als die Uhr auf dem nahen Kirchlein zwölf schlug. Die Frau Verwalterin hatte mit dem Schmuck ihrer Fensternische noch allerhand zu thun, besonders wollte der Holzklotz in der Ecke gar nicht wie ein Fauteuil aussehen, sie mochte das rote Tuch, das sie darauf gelegt, ziehen und hängen, wie sie wollte. Endlich war es einigermaßen zur Zufriedenheit arrangiert, und ganz erleichtert seufzte das Mägdlein: »Gottlob, Frau Verwalterin, daß wir fertig sind! Nun ist alles für die Frau Gräfin im Stande, sie kann kommen, wann sie will. Ich brauche nur noch Tassen und Teller aufzustellen.« – »Und ein Blumenbouquet binde ich, dann ist's wirklich sehr freundlich,« sagte die jugendliche Frau Verwalterin mit einem stolzbefriedigten Blick auf das Epheu- und Mullarrangement in der Fensternische.

»O, sie essen schon!« rief plötzlich Christine, die sich über die Mauer beugte; ein Glück, daß kein zärtlich besorgtes Mutterauge sah, wie weit die kleine Gestalt über der schwindelnden Tiefe hinaushing! »Frau Kohl trägt die Suppe hinein. Also jetzt gilt das Spiel nicht mehr, Otta, gelt?« und blitzschnell glitten die zwei Mädchen die Treppe hinunter, über die kleine, längst nicht mehr ziehfähige Brücke in den langen Korridor, der sich durch das ganze Hauptgebäude zog.

Vor einer der hohen Flügelthüren wurde Halt gemacht, um ein wenig zu Atem zu kommen; dann traten sie möglichst geräuschlos in das große Gemach. Nun müßte eigentlich kommen, daß dasselbe mit altertümlicher Pracht ausgestattet, mit schweren geschnitzten Tischen, Stühlen und Schränken möbliert gewesen, auf der Tafel, an welcher der ritterliche Schloßherr, die schöne Dame des Hauses Platz genommen, alte silberne Prachtstücke prangten, edler Wein in Kristallgläsern funkelte; so gehörte es sich ja eigentlich in einem Schloß, unsere Luftschlösser wenigstens waren immer so eingerichtet. Es thut mir ganz leid, euch so enttäuschen zu müssen; aber in Wahrheit sah es eben sehr anders aus in dem Zimmer, in das die beiden geschlüpft waren. Die helle große Stube war kahl und leer bis auf den langen Eßtisch und die paar tannenen Stühle davor. Ein kleines Schränkchen in der Ecke schien sich seiner Armseligkeit, seines zerstoßenen Lacküberzugs peinlich bewußt und drückte sich so zusammen, daß man es kaum wahrnahm. Aus den gardinenlosen Fenstern sah man auf den großen gepflasterten Hof, das wenigst Schloßartige in der Umgebung des Gebäudes, und links auf die Ställe. An dem sehr dürftig gedeckten Tisch saß ein Mann, den ihr aber gewiß nie für einen Schloßherrn, den Sprossen eines alten, edeln Geschlechts gehalten hättet. Die gedrungene, etwas gebückte Gestalt; das trübe Gesicht, von ungepflegtem, ergrauten Haar und Bart schier bedeckt; der Anzug, vom zerdrückten Hemdkragen bis zu den hohen derben Stiefeln – all das sah so gar nicht freiherrlich aus, daß ich es ganz bestimmt sagen muß: das ist wirklich der Freiherr von Solingen, auf und zu Solingen, sonst glaubt ihr es nicht. Mit einem kurzen Nicken beantwortete er den Gruß der Töchterlein und versorgte sich, ohne sich weiter um sie zu kümmern, mit ansehnlichen Portionen der einfachen Mahlzeit. All seine Aufmerksamkeit, welche dadurch nicht in Anspruch genommen wurde, schenkte er der neuesten Nummer des »Weidmanns Heil«, der einzigen Zeitschrift, die den Weg nach Solingen fand; für die beiden Mädchen hatte er keine übrig. Diese bedienten sich selbst, und Christine konnte es nicht unterlassen, der Schwester hie und da etwas über die Pläne des Nachmittags zuzuflüstern, so oft ihr auch ein erschrockener Blick derselben oder ein telegraphisches Zeichen der ab und zu gehenden Frau Kohl Stillschweigen gebot. Aus den blitzenden, dunkeln Augen leuchtete so viel Spaß und Schelmerei – es war unmöglich, all das für sich zu behalten, und sie war so vorsichtig, zu ihren Bemerkungen immer den Moment zu benützen, in welchem sie den Vater besonders beschäftigt sah, sei es mit einem Stück Fleisch oder mit einer interessanten Nachricht im »Weidmanns Zeil«. Endlich waren die Schüsseln und der Weinkrug geleert, die Zeitung zu Ende, und Herr von Solingen erhob sich, stieß den Stuhl zurück und verließ mit einem »Ich reite nach Elshof, macht mir keine Dummheiten!« das Zimmer.

Nun fuhr das kleine Quecksilber in die Höhe, und mit glühendem Eifer wurde der erwartete Besuch der Gräfin besprochen. Mit einem Schleier und Kleid der Mama, unschätzbaren Requisiten bei jeder Aufführung, wurde Oktavie in eine Gräfin, mit einem Häubchen und weißer Schürze Christine in ein herziges Kammermädchen umgestaltet, die sich nun eilends auf den Turm begeben mußte, um die hohe Dame würdig zu empfangen und die Frau Verwalterin zu entschuldigen, daß sie durch eine plötzliche Krankheit verhindert sei, ihre Gebieterin zu begrüßen. Nun war für den ganzen Nachmittag für Unterhaltung gesorgt und die Rollen festgesetzt. »Um fünf Uhr strickt ihr,« rief Frau Kohl den Abziehenden nach und hatte damit das beruhigende Gefühl gewonnen, für die Erziehung und Ausbildung der beiden Fräulein von Solingen ausgiebig gesorgt zu haben für heute.

Es war noch heller Abend, als Herr von Solingen heimwärts ritt. Daß ihn der Besuch in Elshof nicht aufgeheitert, sah man ihm deutlich an. Warum hatte aber auch dort gerade heute der Sohn des Hauses daheim sein müssen! und was hatte der Vater für ein stolzes Gesicht gemacht, als er seinen Ältesten dem Freunde vorstellte, und vollends die Mutter! Die hatte ausgesehen, als sei das überhaupt der erste zwölfjährige Kerl, den die Welt sehe. Nun ja, es war ein netter Bursche mit hellen, frischen Augen, kräftig und gesund, und kein übler Reiter. Aber sein Heinz! Der wäre jetzt gerade dreizehn Jahre alt und natürlich noch etwas ganz anderes geworden. Was Paul heute geleistet, das hatte Heinz mit fünf Jahren schon gekonnt. Solch ein strammer kleiner Reiter! und wie hatte er gelacht und gejauchzt beim Knallen einer Flinte! O Gott, und eine solche hatte ihm den Tod gegeben!

Der einsame Mann, dessen Pferd langsam den grasigen Waldweg entlang schlenderte, mußte sich den Angstschweiß von der Stirn trocknen, als ihm jener Tag einfiel – ein goldener Septembertag, an dem er mit seinem jüngeren Bruder Erich, einem flotten Offizier, der bei ihm zu Gast war, von der Jagd heimkam. Voll Jubel rannte ihnen Heinz entgegen. »Laß mich schießen, Onkel! Gewiß, ich treffe!« rief die helle Knabenstimme. Der Onkel wehrte den mutwilligen Händen, die nach dem geladenen Gewehr griffen; aber das Sichwehrenlassen war Heinz' Sache nie gewesen. Flink wie ein Wiesel entschlüpfte er dem Onkel, riß an dem Gewehr – ein Knall – und er lag am Boden! »Mein Junge! mein Heinz! mein Herzblatt!« stöhnte der Vater in der Erinnerung an diesen grausen Moment.

Und was er in der ersten Erregung des qualvollen Schmerzes dem Bruder zugerufen: »Du bist sein Mörder! Du hast losgedrückt! Nun ist dein Junge der Erbe! Verflucht sollt ihr sein!« das saß jetzt noch fest in seinem Herzen. Das Leid war zu schrecklich; er mußte einen sichtbaren Gegenstand haben, dem er grollte. Alle, sogar die Mutter des Knaben, die gewiß nicht weniger bei diesem Schlag litt, suchten dem Vater den schrecklichen Gedanken auszureden, als sei der Schuß von dem Bruder mit Absicht abgefeuert worden; die erschütternde Verzweiflung des jungen Mannes hätte ihm allein schon zeigen müssen, wie Unrecht er ihm thue mit einem so furchtbaren Verdacht. Nicht einmal zufällig war es seine Hand gewesen, die den Drücker der Flinte berührt; die hastigen, ungeduldigen Kinderfinger hatten den Schuß entladen, der dem frischen, jungen Leben ein so jähes Ende bereitet.

Aber der unglückliche Vater wollte nichts davon hören; in seinen Augen war der Bruder der Mörder, und wenn er auch von einer Klage bei Gericht abstand, so blieb der Haß in seinem Herzen fest, und er ließ den Bruder nie wieder vor seine Augen kommen; er nahm den grausigen Fluch, den er in der ersten Qual des Schmerzes auf das Haupt Erichs und seiner Familie geschleudert, nicht zurück. Alle Versuche desselben, den Bruder zu versöhnen, waren erfolglos, und tief gebeugt kehrte er in seine Garnison zu seiner jungen Frau heim, und den Schatten, der von nun an auf seinem Herzen lag, verscheuchte ihre Liebe, das Lachen seines Ältesten, der nur wenig jünger war als Heinz, nie ganz.

Auf Schloß Solingen sollte das Glück, die Freude auch nicht mehr einkehren. Mit welch bitteren Gefühlen rief sich der einsame Schloßherr an diesem Abend den Augenblick zurück, als man ihn zu der Wiege geführt, in der einige Jahre nach seines Heinz' Tod wieder ein Kindchen liegen sollte. Natürlich mußte das ein Sohn sein, der heiß ersehnte Ersatz für den gestorbenen Liebling. Wie sollte der nun seines Herzens Stolz werden! ein Solinger, wie es noch keinen gegeben. Nun fiel auch das Gut nicht an des verhaßten Bruders Familie, sondern sein eigener Sprosse sollte es bewohnen.

Er sah nicht, wie die Wartefrau, die das Wiegentuch zurückschlug, leise zitterte; er beugte sich so voll freudiger Erwartung herab, wieder einen kleinen Sohn in die Arme zu nehmen – da, war's möglich! nicht ein, sondern zwei unbeschreiblich elende, häßliche kleine Wesen lagen da– zwei Mädchen! Keiner hatte gewagt, es dem Freiherrn vorher zu sagen; nun war auch seine Enttäuschung eine maßlose und ihre Äußerung keine sanfte. Diese Bosheit! Was wollte er von Mädchen! Einen Erben hatte er gewollt, einen stolzen, frischen Sohn, in dem er, der Alternde, wiederaufleben konnte; ein Mädchen wäre schlimm genug gewesen, und nun gar zwei!

Der zornige Mann hatte kaum einen Blick für die weinende Mutter auf ihrem Lager, ehe er das Zimmer verließ; sie streckte die zitternden Arme nach ihren kleinen Mädchen aus; wie wollte sie sie lieb haben! Sie sollten nie empfinden, daß ihr Kommen in die Welt so wenig Freude gemacht. Der heftige, harte, stolze Charakter ihres viel älteren Mannes hatte sie ängstlich, scheu und sehr still gemacht; nun wollte sie in ihren Töchterchen leben, mit ihnen wieder froh werden. Ach, schon nach wenigen Tagen mußte sie fühlen, daß sie nicht bei ihnen bleiben dürfe, und da war ihr der Gedanke wahrhaft tröstlich, daß die schwachen Geschöpfchen sie nicht werden überleben können, daß sie sie mit sich nehmen werde in die ewige Heimat.

Sie schloß die Augen lächelnd in dieser Hoffnung, um sie nicht mehr zu öffnen auf Erden, und die Zurückgebliebenen dachten auch nicht anders, als daß man in kürzester Zeit die beiden, kaum noch atmenden kleinen Wesen tot neben die Mutter betten würde. Aber Tag um Tag verging, und ohne recht zu leben, starben die Kindlein auch nicht. Das schmerzliche Wimmern ging mit der Zeit in ein gesundes Schreien über, die elenden Gliedchen streckten sich; langsam, langsam fingen sie an zu gedeihen, ohne daß ihr erstes Lächeln die Wonne der Mutter, ihr klarer Blick des Vaters Freude gewesen wäre. Nach und nach gewöhnte sich die Umgebung an den erst so unglaublichen Gedanken, daß die Kindlein leben würden. Sie wurden getauft auf die Namen Christine und Oktavie, so hatten Mutter und Großmutter geheißen; lange sich besinnen auf andere Namen, das war dem Vater nicht der Mühe wert. Mehr als der Tod der Gattin, mehr als das Leben oder Sterben der Zwillinge lag ihm der bittere Gedanke im Herzen, keinen Sohn zu haben; das Gut, die Früchte all seines Arbeitens und Sorgens, an die Familie des verhaßten Bruders gehen zu sehen. Für was mühte er sich nun noch? Die Güter und Felder freilich mußten besorgt werden; an den Gebäuden, dem Garten aber geschah nur das Allernötigste, um sie vor gänzlichem Verfall zu schützen. Besuche waren nie viele nach Solingen gekommen; jetzt vollends beschränkte sich alle Geselligkeit auf ein paar Herrengäste, die im Herbst zur Jagd kamen. So wurden die meisten Zimmer ganz abgeschlossen und für den Freiherrn und die beiden Mädchen nur die notwendigsten im Stand gehalten.

Es war kein erfreulicher Anblick, der sich dem Herrn des Hauses bot, als er durch die alte, vergraste Lindenallee, welche mitten durch den Garten führte, auf das von dieser Seite so düstere, unbewohnte Haus zuritt; aber was war überhaupt für ihn erfreulich! Für ihn, der keinen Sohn, nur so ein paar unnütze Mädchen hatte!

Eine sehr heitere Kindheit hatten Oktavie und Christine unter diesen Umständen nicht; und doch hätten sie den sehr verwundert angeguckt, der sie bedauert hätte. Als Ersatz für so vieles was ihnen fehlte, hatte der liebe Gott ihnen eine reiche Fähigkeit zur Freude am Kleinsten in die jungen Herzchen gelegt, und sie fanden auch auf trockenem Boden Nahrung genug dafür. Und dann vor allem – sie hatten ja einander! Schon als kleine Kindlein hatte das kläglichste Weinen aufgehört, sobald man sie nebeneinander gelegt hatte; seit sie sich kennen konnten, war die Begrüßung nach dem Erwachen jeden Morgen eine neue Freude, und wenn Frau Kohl, die Wartefrau, die im Haus geblieben und mit der Zeit die Funktionen der Erzieherin und Haushälterin übernommen, für nötig fand, eine sehr strenge Strafe über die Schwesterchen zu verhängen, so durfte sie sie nur in zwei getrennte Kammern sperren, und der härteste Eigensinn, der verstockteste Trotz schmolz in heißen Sehnsuchtsthränen. Frau Kohl war nicht von Stein, so dauerte die Gefangenschaft in der Regel nicht lange, und das jubelnde Wiedersehen ließ ihre Schrecken bald vergessen.

Wie schade, daß kein liebendes Mutterauge sich weidete an der kleinen Gruppe! Es war ein so herziges Bild, wie die größere zarte Oktavie den Arm um die kleine Christine schlang, die ihre runde rosige Wange fest an der Schwester schmaleres blasses Gesichtchen drückte, daß sich die krausen Löckchen mit Oktavies seidenweichem schlichten Haar vermischten. Und nun erzählen sie sich, wie sie die lange halbe Stunde der Trennung verlebt. »Ich bin immer am Fensterchen gestanden,« sagt die sanfte Stimme Oktavies, »und habe hinaufgesehen zum Himmel, ob nicht ein weißes Täubchen komme; dem hätte ich dann ein Zettelchen um den Hals gebunden, das es dir hätte bringen müssen. Oder hätte ja auch ein riesengroßer Adler herfliegen können; den hätte ich ganz nahe ans Fenster gelockt, wäre schnell auf seinen Rücken gestiegen, und er hätte mich zu dir hinübertragen müssen; wäre das nicht wunderbar gewesen?«

»Jetzt sind die Tauben ja eingesperrt, weil man sät, da konnte keine kommen,« entgegnete Christine als praktische kleine Landwirtin; »weißt du, was ich gethan habe? Ich habe einen Flederwisch gefunden, und mit dem habe ich alle Spinnweben von dem Fensterchen und aus den Ecken gekehrt. Und jetzt wollen wir der Katharine großen Besen holen, damit kann ich die Decke abfegen, und dann können wir in der Kammer auch spielen.«

Eilends lief die Kleine in die Küche, um das erforderliche Instrument zu holen. Sie war sehr gut befreundet mit Katharine und Ammalie, den dort herrschenden Mächten, und so bekannt da, wie in den Ställen und Scheunen, wo sie die Unterhaltung fand, welche das Wohnzimmer nicht bot, und wo sie ihre landwirtschaftlichen Studien begonnen, sobald sie ordentlich sprechen konnte.

Die Kammer wurde gesäubert und diente nun bald als Kerker, bald als Wohnung der edeln Armut, je nachdem es das Stück verlangte, das Oktavie als Regisseur angab und mit der Schwester ausführte. Spielsachen gab es so gut wie keine für die beiden; der Vater dachte nicht daran, dafür zu sorgen, und die hölzernen Jungfern, Wägelchen oder Geschirrchen, die Frau Kohl hie und da von einem hausierenden Künstler billig erstand, hatten ein sehr kurzes Dasein und gingen bei einigermaßen strengem Gebrauch gleich aus dem Leim. Wenn auch die Trümmer stets noch eine Weile dienten, so war doch etwas Ordentliches nicht mit ihnen anzufangen. Da war es von unschätzbarem Wert, daß Oktavies phantasiereiches Köpfchen nie um eine Idee zur Unterhaltung verlegen war, so wenig, als Christines Feuereifer, sie auszuführen, je erlahmte. Die spärlichen Märchen, die Frau Kohl zu erzählen wußte, die grausigen Geistergeschichten, welche die Kleinen je und je in der Gesindestube aufschnappten, boten den Stoff zu dramatischen Darstellungen, welche allerdings oft nicht wenig Anforderungen an die Schauspieler machten, die, nur zu zwei, sich sehr oft verdoppeln und verdreifachen mußten, um dem Stück gerecht zu werden. Aber da sie auch zugleich das Publikum waren, so fehlte ihnen die Befriedigung eines verständnisvollen Beifalls nie.

Als die Schwestern sechs Jahre alt waren, fühlte Frau Kohl selbst, daß ihre Bildung nun in etwas berufenere Hände als die ihren kommen sollte; sie faßte sich ein Herz und trug ihrem Gebieter, vor dessen finsterer Stirn und kurz angebundenem Wesen sie keine geringe Furcht hatte, ihre Ansicht vor. Obwohl seine einzige Antwort ein kurz gebrummtes »Dummheiten!« war, so mußte er doch schließlich im Innern die Sache als berechtigt ansehen. Eine Gouvernante ins Haus zu nehmen, das war außer aller Frage, da so schon viel zu viele Frauenzimmer nach des Freiherrn Ansicht darin waren; die Kinder in die Dorfschule schicken, das ging ebensowenig; zum Glück siel ihm ein dritter Ausweg ein, der gleich ergriffen wurde: der Schulmeister sollte aufs Schloß kommen, das war's! Wenn die Mädchen nur einmal alles lernten, was der wußte, dann konnte wieder Rat geschafft werden. Nun war doch die Erziehungsfrage erledigt. Zum Glück war der Schulmeister ein tüchtiger und kluger Mann, der besonders mancherlei Kenntnisse in der Natur hatte, die er sich freute, seinen aufgeweckten kleinen Schülerinnen mitzuteilen, in deren wechsellosem Leben der Unterricht ein großes Ereignis und eine Quelle der Freude war.

Und was für neue Pforten des Genusses waren aufgeschlossen, als sie einmal selbst lesen konnten! ein allerdings hauptsächlich von Oktavie geschätztes Vergnügen. Die Herren von Solingen hatten nie sehr viel aufs Lesen und Studieren gehalten und von ihren irdischen Gütern stets einen andern Gebrauch zu machen gewußt, als sie im Ankauf von Büchern zu vergeuden. So fand sich keine interessante alte Bücherei im Schlosse, wo in hohen Schränken ehrwürdige Folianten in imponierendem Schweinsleder stehen. Aber einen Wandkasten entdeckten die Mädchen doch, in dem ein Haufen Bücher lag: Almanache mit rührenden Bildern, ein paar Bände Gedichte, einige Dramen von Schiller, eine Reihe elegant gebundener französischer Dichter aus dem Nachlaß einer früheren Frau von Solingen und, das Beste, was es unter der gemischten Gesellschaft für die kleinen Spürnäschen gab, alle Erzählungen des guten, alten Kinderfreunds Schmidt: Rosa von Tannenburg, Die Ostereier, Heinrich von Eichenfels – diese schönen Geschichten, die ihren Reiz nicht eingebüßt haben mit den Jahren und die vollends für die beiden trotz Katharine und Frau Kohl so einsamen Schwestern von unendlichem Wert waren.

Was war das für eine unerschöpfliche Quelle von Vergnügen: zuerst, wenn Oktavie mit glühenden Wangen der horchenden Christine die Geschichten vorlas, und dann, wenn sie wieder und wieder aufgeführt wurden. An passenden Lokalitäten fehlte es nie; da war die gereinigte Bodenkammer oben, der lange Korridor oder das Schlafstübchen, das einen kleinen Balkon auf den Garten hinaus hatte; nur die große Lern- Wohn- und Eßstube, die auf den Hof ging, in der man schreiben und lesen, nachmittags bei Frau Kohl eine Stunde stricken mußte, wurde nie zum Schauplatz der Aufführungen gewürdigt.

Und bei schönem Wetter – wo hätte sich da eine herrlichere Bühne finden lassen für die Darstellung von Heinrich von Eichenfels, überhaupt für alle Räuber- und Rittergeschichten, als der große Garten mit seinen kunstvollen, jetzt ziemlich verwilderten Taxusgängen und -hecken, dem kleinen See, der prächtigen Lindenallee und den vier Lauben! Auch die verwitterten steinernen Figuren, die da und dort im Gebüsch standen oder lagen, mußten es sich gefallen lassen, hie und da mit hereingezogen und als Schauspieler benützt zu werden. Haus und Garten waren das ausschließliche Gebiet der Kinder; weiter zu gehen, verbot ein Befehl des Vaters, der damit seine ganze väterliche Fürsorge erschöpfte.

Die besterhaltene der Lauben, über die ein riesiger Nußbaum seine Zweige breitete, stand an einem besonders abgelegenen, sonnigen Plätzchen. Die nächste Umgebung hatte Christine mit großer Mühe vom Unkraut gesäubert, so daß ein paar Rosenbüsche und Lilienstöcke wieder ordentlich wachsen konnten. Ein niederer Tannenhag schloß den Platz fast ein, nur ein schmaler Eingang blieb offen – das war der Raum, wo Scenen aus der biblischen Geschichte aufgeführt wurden: Isaaks Opfer und Rahel am Brunnen, Maria mit dem Jesuskind und die Erweckung von Jairus Töchterlein. Dadurch vertieften sie sich in die heiligen Geschichten, die Personen wurden ihnen lebendig und nahe gerückt, so daß diese kindlichen Darstellungen der Weg waren, auf dem die Kleinen, die keine zarte Mutterhand, kein ernstes Vaterwort zum Heiland führten, sich selbst zu ihm fanden.

So lieb sie ihren freundlichen Lehrer, Herrn Maier, hatten, so kam es doch nie dazu, daß sie ihm von den Freuden ihrer freien Zeit, von ihren Spielen und Aufführungen erzählten. Sie waren es so gewöhnt vom Vater und Frau Kohl her, mit einem »Dummheiten!« oder »Mädchen, was fällt euch ein! Da strickt lieber!« abgefertigt zu werden, daß sie sich nie wagten, Erwachsene ins Vertrauen zu ziehen. Höchstens bildete Katharine am Sonntagnachmittag das Publikum, aber eines von sehr mäßigem Verständnis. Sie lachte so oft am falschen Ort, wollte gar nie recht begreifen, wann Oktavie ein Ritter oder mann ein Bauernmädchen sei, und wenn das Stück aus war, mußte es ihr allemal erst recht wieder erklärt werden von Anfang an; da war auf ihren Beifall nicht viel zu geben.

Aber endlich sollten sie doch die Freude eines teilnehmenden Gefährten bekommen. Es war am Sonntag, nachdem sie sich den Turm oben zu einer gräflichen Behausung eingerichtet, als sie wie gewöhnlich hinter Frau Kohl her zur Kirche trippelten. Schon im Licht einer angenehmen Abwechselung war der Kirchgang ein willkommenes Ereignis; außerdem kamen sie nie ins Dorf hinüber. Aber sie mochten auch den Gesang gern hören, und Otta dachte sich, wenn sie der Predigt nicht mehr zu folgen vermochte, gern aus, wie an diesem Platz mit dem Wappen derer von Solingen darüber ihre selige Mutter einst auch gesessen, und die Worte des alten Herrn Pfarrers, die Kirchenluft, das verblichene Polster des Stuhles – all das verwebte sich mit dem Bild der Entschlafenen; sie meinte, in der Kirche ihr näher zu sein als an jeder andern Stelle.

Während Otta so still vor sich hinträumte, ließ Tini die lebhaften Blicke unter den übrigen Kirchgängern herumgehen, besonders bei den ihr zunächst sitzenden Bauernmädchen, von denen immer Einige Zeit und Gedanken für Weltliches übrig hatten; und durch leises Nicken, Zulächeln, sich die Bildchen in den Gesangbüchern zeigen war nach und nach eine Freundschaft entstanden zwischen den Bewohnern von Schloß und Hütte, die Tini viel Vergnügen machte. Leider durfte sie der Schwester nicht viel davon erzählen; die fand es sehr unartig, in der Kirche so herumzugucken und gar zu lachen, wenn's auch noch so unmerklich geschah.

An diesem Sonntag nun gab's, was nicht oft vorkam, etwas Neues zu sehen in der Kirche: gegenüber dem freiherrlichen Kirchenstuhl, im Pfarrsitz hatte neben der dicken, alten Magdalene, des verwitweten Herrn Pfarrers Haushälterin, eine neue Gestalt Platz genommen, ein blasser, schmaler Junge, sauber und städtisch gekleidet, der, nach seinem aufmerksamen Herumschauen zu schließen, zum erstenmal da war. Als er sah, wie der herrschaftliche Kirchenstuhl bezogen wurde, flüsterte er seiner Nachbarin leise zu: »Sind's die?« und erhielt ein bejahendes Nicken zur Antwort, aber zugleich einen so verweisenden Blick von der, gestrenge Kirchenpolizei übenden Jungfer Magdalena, daß ihm alle weitere Lust zu Bemerkungen verging.

Er wußte ja zunächst auch genug: daß das richtige Freifräulein waren ihm gegenüber, die in einem Schloß wohnten. Das letztere war ihm das bei weitem Wichtigste an ihnen, sonst konnte er nichts Besonderes wahrnehmen und wandte bald den Blick ab. Da war nichts von den Federhütchen, den Samtkleidern, kostbaren Gesangbüchern und Goldkettlein, mit denen seine Phantasie Schloßbewohnerinnen reichlich versehen hatte: solche kleine Mädchen hatte er schon genug gesehen; ihre weißen Strohhütchen waren so gewöhnlich als möglich, und die blauen Kleidchen unterschieden sich in Farbe und Schnitt nicht von dem seiner kleinen Schwester daheim. Die beiden seien Zwillinge, hatte ihm Magdalene zu Hause erzählt; aber sie glichen sich gar nicht, was sie eigentlich doch hätten thun müssen und was sie noch ein wenig merkwürdig gemacht hätte.

Aber in einem Schloß wohnten sie doch, und ein solches, vollends ein altes, einsames, halbzerfallenes, zu sehen, war seit lange das Ziel der Sehnsucht Christoph Halters. In wieviel Geschichten war von Schlössern die Rede, von alten Geschlechtern und ihren gesammelten Merkwürdigkeiten, und noch nie war es ihm zu teil geworden, eines zu sehen! In dem nüchternen, fleißigen Handelsstädtchen, wo er lebte, das seit einem Brand ganz neu gebaut war, war nichts Altes als ein paar häßliche Scheunen, und in seinem Elternhaus war das Reisen nach Merkwürdigkeiten und Altertümern nicht Mode. In der dumpfigen Schuhmacherstube, wo es stets nach neuem Leder und alten Schuhen roch, war man froh, wenn man das Brot für die Kinder und den Most dazu für Meister und Gesellen hatte; daneben das Schulgeld für den Ältesten, den der Vater zum leisen und lauten Ärger der Mutter aufs Gymnasium schickte.

Einmal aber sollte doch das Reisen an Christoph kommen. Er war lange krank gewesen im Winter und Frühjahr und konnte gar nicht recht zu Kräften kommen. Er sah aus, daß man sich nach der Mutter Meinung vor den Leuten genieren müsse seinetwegen, und als der Arzt dringend verlangte, daß der blasse Junge aus dem Lederduft und von seinem Lernwinkel hinter des Vaters Schusterschemel herauskomme, da war man darauf verfallen, den Herrn Pfarrer, bei dem Christophs Mutter als Mädchen gedient und welcher der Pate der ganzen Kinderschar war, zu bitten, den Buben in der Vakanz bei sich aufzunehmen.

Ein freundliches Schreiben des alten Herrn hieß das Patchen willkommen, und so durfte er, beneidet vom ganzen Haus, auf Reisen gehen. Am Samstagabend war er angekommen im Pfarrhaus und vom Hausherrn mit herzlichem Gruß, von Magdalene mit einem goldgelben Pfannkuchen empfangen worden. »Der Bube muß anders fort, als er angekommen,« war der Entschluß, den sie bei seinem Anblick faßte und den sie während der vier Ferienwochen mit unvergleichlicher Energie verfolgte. Es war seit dem Tode der Frau Pfarrerin und ihres einzigen Sohnes gar still im Hause; der alte Herr machte sich so wenig aus Magdalenes besten Gerichten, daß es ihrem Herzen so wohl that, wieder für jemand recht sorgen zu dürfen, wie ihrer Zunge, sich von Grund aus auszusprechen. Seit das Gehör ihres Herrn so abnahm, war die Unterhaltung mit ihm auf ein gar zu bescheidenes Maß zurückgeführt.

So hatte sie gleich am ersten Abend ihrem Gast und Schützling ausführlich über Land und Leute berichtet, wobei auch die Rede auf die Herrschaft gekommen war, die ungute Wirtschaft dort und das arme Zwillingspärchen, das in der Einsamkeit und Trübsal aufwachse, und Christoph hatte zu seiner nicht geringen Freude erfahren, daß er hier vielleicht das Ziel seiner Wünsche, die Besichtigung eines Schlosses, erreichen könne. Aber wie?

Die Kirche war aus, und Christoph beeilte sich, soweit thunlich, hinter den kleinen Freifräulein herzugehen. Es gelang ihm auch, und auf dem Kirchhof, wo sie sich bei einem Grab mit schönem Monument an der Kirchenmauer aufhielten bis die eine, die blonde, ein paar welke Blumen entfernt und einen herabhängenden Rosenzweig aufgebunden, hätte er die beste Gelegenheit gehabt, sie anzureden. Aber er brachte es nur zu dem einleitenden Räuspern und wandte sich mit dunkelrotem Gesicht schnell ab, als sich die Kleine nach ihm umdrehte.

Nach dem Mittagessen und der Kinderlehre war der alte Herr recht ruhebedürftig und machte sein Schläfchen in der Sofaecke, nachdem er Christoph den Rat gegeben, einen schönen Spaziergang zu machen. Magdalenes Begleitung war außer Frage, so zog der Gast allein hinaus, nicht recht wissend, wie sich das Sonntagsvergnügen gestalten werde. Jedenfalls richtete er zunächst seinen Weg nach dem Schloß – von außen würde er es doch ansehen dürfen.

Der Weg vom Dorf her führte auf die Vorderseite des Schlosses; aber – das Hofthor war heute geschlossen, und über die hohe Mauer sah man nur den spitzen Giebel und die obere Partie des Turmes; das war doch zu wenig. So dehnte er seine Entdeckungsreise weiter aus, indem er einen schmalen, grasigen Weg der Mauer entlang ging. Sie hörte bald auf, und nun kamen grüne Hecken, über die hohe alte Bäume herübergrüßten und da und dort einen Blick frei ließen auf die Rückseite des Gebäudes, die mit den Erkern und Balkonen, den hohen Fenstern der Kapelle der schloßartigste Teil des Ganzen war.

Mit leuchtenden Augen betrachtete der junge Plebejer diese Reste altadeligen Glanzes; wenn er nur hätte in den Garten hineinkommen können! Aber weit und breit war kein Mensch, und wäre einer dagewesen, so wäre noch sehr die Frage gewesen, ob er den Mut gehabt hätte, ihn anzureden und um Erlaubnis zu fragen.

Endlich hörte er Stimmen – Kinderstimmen, von denen die eine soeben sagte: »So, nun steige ich auf den Scheiterhaufen – da binde mir die Hände! Jetzt nimm das Messer ...« Das klang doch zu gefährlich, und ohne weiteres Besinnen drängte sich Christoph durch die Lücke in der Hecke, um auf die grause Opferstätte zu gelangen.

»Es kracht etwas in den Büschen; Otta, dort hängt ein Widder mit seinen Hörnern!« rief es in heller Freude.

Was aber da hervorbrach, das war kein Widder, sondern ein verwundert um sich blickender Knabe. Er stand auf einem freien kleinen Platz vor einer Laube, mit niederem Tannenhag eingefaßt; in der Mitte kniete auf einem kunstlosen Holzstoß etwas unsicher ein kleines Mädchen, die Hände auf den Rücken gebunden, und ein sehr jugendlicher Abraham, in einen langen Shawl drapiert, stand mit gezücktem Küchenmesser daneben.

Der kleine Isaak wandte den Kopf. »O wie schade!« rief er, als er den Knaben erblickte; »ich glaubte, da käme ein richtiger Widder, und nun bist nur du es. Aber es schadet nichts, opfern kann man ihn doch.«

Etwas verdutzt ob dieses eigentümlichen Vorschlags und nicht sehr erbaut davon, wich der Ankömmling unwillkürlich etwas zurück. »Ach, nicht recht opfern,« fügte nun der blonde Abraham hinzu; »wir spielen ja bloß. So komm doch!«

Isaak-Tini war schnell vom Holzstoß geglitten; die Schwester hatte ihre Hände befreit, die des Opfertiers, das sich nun willig wie das sanfteste Schaf zu allem hergab, mit dem Tuch gebunden; den vermeintlichen Widder zum Holzstoß geführt und pantomimisch abgeschlachtet, worauf er frei gelassen wurde.

»Das war nett, daß du gerade so zur rechten Zeit kamst,« sagte nun Oktavie; »wir haben dich heute morgen in der Kirche gesehen. Wie heißt du?«

»Christoph Halter.« Und nun war die ohne Einleitung geschlossene Bekanntschaft zwischen Priester und Opfer aufs schönste im Gang. Christoph mußte erzählen, wo er herkomme, was er hier thue, und bald kam auch sein heißer Wunsch, einmal ein Schloß zu sehen, zur Sprache. Mit größtem Eifer waren die Schwestern bereit, denselben zu erfüllen; daß sie einem so großen Knaben, der Lateinisch und Griechisch lernte, etwas zeigen konnten, was er noch nie gesehen, das war sehr angenehm; und Christoph war nicht wenig stolz, daß ihn wirkliche Freifräulein in ihrem eigenen Schloß herumführen wollten.

Manches enttäuschte ihn zwar im stillen gewaltig: der Hof, die gewöhnlichen Treppen, die Wohnstube – da war wenig von der mittelalterlichen Romantik, die er erwartet; aber der Turm, der große Saal mit der prächtigen Stuckarbeit an der Decke und vor allem die düstere kleine Kapelle, deren rostiges Schloß kaum aufzubringen war – das war so merkwürdig, als er es sich nur wünschen konnte; und seine Bewunderung dieser verfallenen Herrlichkeit, seine begierigen Fragen nach den Personen, welche die verdunkelten Bilder im oberen Gang darstellten – das beglückte seine kleinen Führerinnen in hohem Grad und machte ihnen das selbst wichtig und interessant, woran sie bis jetzt ohne weitere Gedanken alltäglich vorübergegangen.

Und wie konnte Christoph, als sie, oben auf dem Turm angelangt, sich auf die niedere Mauer setzten, erzählen von dem Leben in den alten Burgen, von den Raubrittern, den edeln Helden der Kreuzzüge! Er wurde ganz beredt, nun es auf dieses sein Lieblingsthema, über das er viel gelesen, kam, und die Kleinen, denen zum erstenmal jemand erzählte, hörten mit strahlenden Augen zu. Auch was sie nicht verstanden, war schön; schön war vor allem das Gefühl, daß sich jemand mit ihnen beschäftigte, Zeit für sie hatte und ihnen zuliebe that, was sie gern haben mochten. So bald hatte es noch nie sechs Uhr geschlagen, und waren sie von Frau Kohls gellender Stimme gerufen worden! Im Garten hatten sie Christoph erst noch nicht alles gezeigt: die Statue eines zwerghaften früheren Schloßherrn, der seine schöne Frau so boshaft gequält hatte, daß sie ihn zur Strafe oft auf den Tisch gestellt, von dem er dann nicht mehr allein herunterklettern konnte und der nun in seiner ganzen Häßlichkeit in Stein gehauen am See stand, und sonst noch allerlei. Da war es selbstverständlich, daß sie sich von dem neuen Gefährten mit einer dringenden Einladung auf morgen verabschiedeten, und stolz erhobenen Hauptes schritt Christoph in das Pfarrhaus zurück.

Das leibarme Schuhmachersbüble konnte es in gar nichts den Schulkameraden gleich thun, nicht auf dem Spiel- oder Turnplatz Lorbeeren erringen; und wenn er auch mit eisernem Fleiß stets einen ehrenvollen Platz in der Schule behauptete, so fehlten doch außerhalb der Klasse alle Beziehungen zu den andern Schülern, und schüchtern stand das blasse Büblein und später der große Junge in einer Ecke, wenn die andern zum lustigen Spiel eilten.

Daheim vollends in dem geschäftigen Treiben, zwischen Gesellen und Lehrlingen, galt der Junge, der »nichts schaffte«, nur wenig, und wenn ihm auch der Vater freundlich zunickte über sein Stück Leder weg, so konnte er doch nicht viel mit ihm machen.

Da war es denn ein ganz neues Leben für ihn, daß das, was er sagte und that und angab, für die zwei Mädchen vom Schloß interessant und maßgebend war, und er gab sich alle erdenkliche Mühe, ihnen Freude zu machen; denn ganz von selbst verstand es sich, daß er alle Morgen und alle Nachmittage den Weg nach dem alten Hause einschlug.

Der Herr Pfarrer hatte unter seiner Bibliothek Schillers Gedichte, und als Christoph merkte, Oktavie höre gern vorlesen, las er ihr mit Begeisterung die wohlklingenden Verse, wahrend Christine Blätterguirlanden zusammenheftete oder die trüben Fensterscheiben des Gartenhäuschens ausrieb. Viele Geschichten hatte Christoph nicht zu erzählen; aber was er ihnen von seinem Schulleben zu berichten wußte, oder von dem alten Fräulein, das in der oberen Stube in seinem Elternhaus wohnte und das so wunderschöne Sachen: zierliche Püppchen, kleine Landschaften und Gärtchen aus Moos, zu machen verstand; von den armen Leuten ihrer Nachbarschaft und seinen Brüdern und Schwestern – alles war den zwei weltfremden Schwesterchen neu und merkwürdig.

Seine Lieblingsstunde in der Schule war Geschichte, und auch davon hörten sie gern berichten, wenngleich ihr Geschmack ein sehr verschiedener war. Während Christines dunkle Augen funkelten, wenn von einem kühnen Kampf und glänzenden Sieg, von stolzen Reitern und wilden Abenteuern die Rede war, mochte Oktavie viel lieber von guten, milden Fürsten und wohlthätigen hohen Frauen hören und bat sich immer wieder die Geschichte der schönen armen Königin in Paris aus, der böse Menschen das holde, blondlockige Haupt abgeschlagen und deren kleiner Sohn so traurig gestorben, wenn sie auch jedesmal bitterlich dazu weinen mußte.

Auch in die Aufführungen kam ein neuer Schwung; Christoph stellte sich zwar erst etwas ungeschickt an und war in geheimer Sorge, ob ihn nicht jemand sehe und auslache, wenn Otta ihn so merkwürdig drapierte. Aber allmählich wurde er sicherer, und das Ding gefiel ihm. Er brachte neue Stücke aufs Tapet: Iphigenies Opfer, Antigones schwesterliche That, Hektors Tod und Odysseus' Heimkehr – alles das wurde dargestellt, und vor keiner Schwierigkeit schreckte die unternehmende Truppe zurück. Wenn alles erschöpft war, was an Mänteln, Tüchern, Tischen und Geräten zur Verfügung stand und von der unermüdlichen Tini aufgestöbert und herbeigeschleppt werden konnte und die Sache wollte sich immer noch nicht »echt« genug machen, so blieb ja stets der Ausweg: »O, das denkt man sich eben so!« und das genügte.

Ein paarmal war der Freiherr im Hof oder Garten an den Kindern vorbeigegangen und fragte einmal, was sie denn da für einen Kameraden aufgelesen. Christoph, zuerst sprachlos vor Respekt und Furcht, hatte noch keine passende Antwort gefunden, als Otta das Wort für ihn nahm und ihn dem Vater vorstellte: »Es ist Christoph Halter, der beim Herrn Pfarrer auf Besuch ist, und er geht daheim ins Gymnasium,« die zwei ihr am empfehlenswertest dünkenden Eigenschaften des Freundes nennend. »Einen Schreiber kann er wohl geben,« meinte der Freiherr, etwas geringschätzig die schmale Gestalt des Knaben musternd. Johann führte soeben sein Reitpferd in den Hof. »Bist du schon auf einem Pferd gesessen, du dünner Bücherwurm?« fragte er weiter, während ihn die Mädchen hoch erstaunt ansahen; so scherzhaft aufgelegt hatten sie den Vater lange nicht gesehen: »Nein? Na, dann probier's einmal!« Christoph hatte gar keine Sportgelüste, besonders im Blick auf das feurige Pferd, hätte aber um keinen Preis gewagt, die Aufforderung abzulehnen, und folgte mit leisem Zittern dem Freiherrn, der ihn ganz kaltblütig aufsitzen hieß. Ja, wie sollte er das aber machen? Einen Fuß brachte er am Ende schon in den Steigbügel; aber wie kam der andere in den zweiten? Eine Weile quälte er sich ab zur stillen Belustigung des Freiherrn, zur lauten des Stallknechts, bis ihm der erstere mit einem kräftigen Schub hinaufhalf: »Jetzt reite!« Das war bald gesagt. Der unglückliche Reiter dünkte sich auf einem Turm bei einem Erdbeben, und ehe er noch dazu kam, sich an den Hals des Tieres, der ihm die einzige Stütze schien, zu klammern, schüttelte das ungeduldige Pferd die Last ab, und wie eine reife Pflaume plumpste er, zum Glück nicht hart, auf einen Strohbund herunter.

»Ich kann's besser, Vater!« rief Tini eifrig und ließ sich von Johann auf das Pferd heben, nahm die Zügel in die Hand und saß mit freudestrahlender, stolzer Miene, das Köpfchen hoch aufgerichtet, im Sattel, während das Pferd, das die Kleine nicht zum erstenmal trug, sachte mit ihr über den Hof trabte.

»Wahrhaftig, sie bleibt sitzen!« rief der Freiherr erstaunt; und Tini hörte das mit hoher Genugthuung. Aber als sie wieder vor dem Vater hielt, war seine Miene doch nicht heiter, und mit einem Seufzer nahm er sie herunter: »Ja, wenn du ein Junge wärest!« – »Was thut denn das!« meinte sie; sie hatte ja ihre Sache besser als ein solcher gemacht.

Christoph hatte Ottas Beileidsbezeugungen und mitleidige Fragen nicht beantwortet und war ärgerlich und tief beschämt vom Hof geschlichen; er getraute sich einen ganzen Tag nicht mehr ins Schloß aus Angst vor dem Freiherrn und neuen ritterlichen Übungen, welche dieser verlangen und er nicht erfüllen könnte, und aus Beschämung, vor seinen kleinen Freundinnen solch klägliche Niederlage erlitten zu haben.

Am zweiten Tag trieb er sich wenigstens in der Lindenallee herum; Christines scharfe Augen erspähten ihn sogleich, und er überzeugte sich, daß Furcht und Beschämung grundlos waren. Der Freiherr ließ ihn völlig unbeachtet von nun an; ein Kerl, der auf einem Pferd saß wie ein Frosch auf dem Brunnenrohr, der war gerade nur gut genug, um mit Mädchen zu spielen. Die Schwestern aber sahen so viel Staunenswertes an ihm, daß diese eine schwache Seite nicht in Betracht kam.

So gingen die nächsten Wochen ungetrübt, ungestört vorbei – glücklich für alle: für die sonst so einsamen Schwestern, für den Knaben, der zum erstenmal heiteres Kinderleben kennen lernte; für den alten Herrn Pfarrer, der seinen Gast so vergnügt sah, ohne daß er sich im mindesten darum bemühen mußte; für die alte Magdalene, welche die volleren Wangen, die blühende Farbe Christophs als ihr ausschließliches Verdienst in Anspruch nahm; glücklich auch für den guten Herrn Schullehrer, der seinen kleinen Schülerinnen jedes Vergnügen so von Herzen gönnte und nur im stillen betrübt war, daß er ihnen selbst keines verschaffen konnte.

Aber die glücklichen Wochen nehmen so gut ein Ende wie die traurigen, und so kam der trübselige Tag, an dem Christoph den letzten Rundgang durch Schloß und Garten machte und schließlich den Schwestern adieu sagen mußte.

Auf Tinis Gesicht blitzte durch die Abschiedsthränen schon wieder ein Lächeln durch, als sie sich und den Scheidenden tröstete mit all den schönen Dingen, die sie übers Jahr ausführen wollten: »Und das Mooshäuschen tapeziere ich neu, und mein Gärtchen wird so schön, bis du wiederkommst und....« Christoph gab ihr und Otta die Hand, ehe sie mit weiteren Verheißungen kommen konnte; er war nicht ganz sicher, ob ihm nicht auch die Augen naß wurden im Blick auf Ottas Gesichtchen, über das große Thränen tropften.

»Wenn ich ihnen nur etwas schenken könnte!« dieser sehnsüchtige Wunsch beschäftigte ihn auf dem ganzen Heimweg – aber das Was und Woher wurde ihm nicht klar. Geld hatte und bekam er keines und in der Schuhmachersstube und seinem Besitz war ganz und gar nichts, was für kleine Freifräulein gepaßt hätte.

Es gab niemand, dem er diesen Wunsch hätte mitteilen dürfen, als das gute alte Fräulein droben, seine besondere Beschützerin, bei der die Berichte seiner Ferienerlebnisse ein aufmerksames Ohr und teilnehmendes Herz fanden. Sie hatte bei den bescheidensten Mitteln immer etwas übrig, ihre Lieblinge in der Kinderwelt zu erfreuen; und dies ferne Schwesternpaar hatte sie bald so lieb gewonnen durch Christophs Erzählungen, daß sie der Wunsch, ihnen eine Freude zu machen, so lebhaft bewegte als ihren jungen Schützling.

Und er erfüllte sich. Kam doch an Weihnachten ein Paket im Schloß an, adressiert an Fräulein Oktavie und Christine von Solingen, wirklich und wahrhaftig! Otta konnte es ganz gut lesen. Das erste Paket, das sie je erhalten und das der Postbote ganz extra gebracht! Vor lauter Entzücken darüber hätte sie schier vergessen, es aufzumachen, wenn nicht Tini die Fingerchen in eine Falte des Papiers hineingebohrt hätte und dann jubelnd aufschrie: »Otta, Otta, da ist etwas drin, das hat eine Hand!« Nun mußte Frau Kohl schleunigst Schnur und Hülle lösen, und siehe da! zwei Puppen, die nicht nur Hände, sondern auch einen Kopf mit rechten Locken, Kleider und Hütchen von Fräulein Hannas geschickter Hand hatten, kamen zum Vorschein; die ersten Puppen, die sie je besessen! Selbst der Brief von Christoph und die Kuchen, die noch im Paket lagen, konnten den Jubel nicht steigern. Und bis das ganze Haus die Wundergeschöpfe gesehen und bewundert hatte, bis würdige Betten in zwei Schachteln hergerichtet, Namen, die schön genug klangen, gefunden waren – wieviel neue Freuden, Sorgen und Beschäftigungen! Sogar dem Herrn Schulmeister wurden sie gezeigt, und er drückte sein Erstaunen mit viel Freundlichkeit, wenn auch wenig Sachkenntnis aus. Er empfand mehr als seine kleinen Schülerinnen, wie arm an den gewöhnlichsten Kinderfreuden ihr Leben war, und war glücklich über das ihnen zu teil gewordene Vergnügen. Tini wagte sogar, gehoben von ihrer Glückseligkeit, beim Essen dem Vater die Puppe, geschmückt mit ihrem schönsten Staat, vorzuführen; aber statt aller Bewunderung brummte er nur das gewöhnliche »Unsinn, laß mich zufrieden!« in den Bart. Es klang aber weniger rauh als sonst, und wenn er keine andere Antwort hatte, so war's vielleicht, weil es ihm ganz im stillen doch leid that, sich sagen zu müssen, daß er noch nie einen so strahlend glücklichen Ausdruck in seines Kindes Gesicht hervorgerufen. Was that er überhaupt für sie? Aber mit einem »Ja, wenn's Knaben wären!« scheuchte er diese Gedanken weg und verließ das Zimmer, die Kleinen ihrem neuen Glück überlassend.

Ein Danksagungsbrief an Christoph mußte verfaßt werden, darauf bestand Otta, und Tini war auch gleich dazu bereit – aber die Ausführung! Ja, wem so rasch etwas einfiel und wer so gerade und gleiche Buchstaben machen konnte wie Otta, für den war das Briefschreiben ein Spaß! Für Tini nicht. Bis nur »Lieber Christoph!« auf dem großen Bogen Papier stand, kostete es saure Mühe, und die Striche waren krumm und sie fuhr über die Linie hinaus, wenn sie die Feder noch so fest in der kleinen Faust hielt, das Köpfchen auch bald auf die eine, bald auf die andere Seite legte, das Näschen dicht ans Papier streckte und sogar das rote Züngelchen sichtbar wurde und mithalf.

Dazu hatte Otta gesagt, sie müsse den Brief ganz allein schreiben, gerade so wie sie denke. Aber Tini wußte gar nicht, wie sie denke, und jedenfalls war das so viel, daß es ganz unmöglich war, all das in den Brief hineinzubringen. Mit heißen Bäckchen, tief aufseufzend, schob sie endlich das Papier weg und warf die Feder fort. Otta hatte rasch gelesen, was in großen Lettern dastand:

»Lieber Christoph!

Die Puppe ist so wunderschön, und ich habe sie sehr lieb und ich bin

Deine Tini.«

»Aber du hast ja gar nicht geschrieben, daß du ihm und dem Fräulein dankst,« rief sie; »das ist kein richtiger Brief.«

»O Otta, das habe ich ganz vergessen. Aber ich kann gewiß keinen neuen Brief schreiben, das ist so furchtbar schwer; Christoph weiß von selbst, daß ich danken wollte; gelt, Otta, ich muß nicht?« schloß sie, in Thränen ausbrechend; »und ich weiß auch gar nicht, ob man ein t oder ein d macht bei danke.«

»Sei nur ruhig,« tröstete Otta, »wir schicken den Brief fort, und ich schreibe, daß du ihm dankst.«

»Und nicht wahr, ich darf ihn dann selber in den Briefkasten stecken, ganz allein?« fragte Tini, schon halb getröstet.

»Freilich, wenn Katharine mit uns geht an den Bahnhof; nun laß mich aber schreiben und sei ganz still!«

Nur zu gern folgte Tini diesem Befehl in Anbetracht, daß sie nicht mehr an diese greuliche Arbeit gebannt sei, und schlich sich zu Katharine, um ihr das Versprechen abzubetteln, heute nach dem Essen mit ihnen an den Bahnhof zu gehen, während Otta ihre sauberen Buchstaben mit äußerster Gewissenhaftigkeit auf das Papier malte. Als Tini, die es nie zu lange an einem Ort aushielt, wieder hereinkam, lag der Brief fertig da:

»Lieber Christoph!

Wir sind so vergnügt, daß wir ein Paket gekriegt haben, und ich danke Dir und dem guten Fräulein Hanna vielmals für die schönen Puppen; Tini dankt auch, sie hat es nur vergessen in ihrem Brief. Komme nur bald zu uns, das ist noch schöner als eine Puppe, und das Fräulein soll mitkommen, wir haben hier gar keines, zu Deiner Oktavie von Solingen.« Staunend betrachtete Tini das Kunstwerk: »Du hast sieben und eine halbe Linie geschrieben! So einen langen Brief! Komm, jetzt machen wir ihn zu!« Und die vier Händchen falzten und drückten das Papier, bis es in das Couvert paßte; das Überschreiben ließ Tini neidlos der Schwester; nur die Marke, die sie gewagt hatte, beim Vater zu holen, die wollte sie aufkleben. Dann wurde er feierlich in Katharines Gesellschaft nach dem eine Viertelstunde entfernten Bahnhof getragen und von Tini in den Kasten geworfen; wie das plumpste! Er war auch ordentlich dick und schwer.

Es war nicht der letzte Brief, der von den Schwestern verfaßt wurde. Der Verkehr dauerte fort, und die Freundschaft wurde bei den alljährlichen Besuchen Christophs treulich gepflegt.

Der alte Herr Pfarrer gewöhnte sich daran, das Patchen mit den Rosen in seinem Garten alljährlich ankommen zu sehen; er lernte an seinen Studien Anteil nehmen, und seinem Zuspruch und vor allem seiner thätigen Hilfe hatte Christoph es zu danken, daß sein Herzenswunsch in Erfüllung gehen und er Theologie studieren konnte.

Selbst die Würde eines Obergymnasiasten, zu der er vorrückte, störte die Freundschaft mit den Schwestern nicht – und wenn auch allmählich die Spiele zurücktraten, so kamen schöne Spaziergänge, lange Lesestunden, die sich unmerklich zu Lehrstunden gestalteten, an ihre Stelle, und für alle Teile blieben die vier Ferienwochen eine ersehnte Zeit.

Nur dem Freiherrn kam Christoph nicht näher; er ließ ihn und die Mädchen zusammen machen, was sie wollten. Jener unglückliche Reitversuch und vollends die Absicht Christophs, Theologie zu studieren, hatten ihn um alle Beachtung von seiten Herrn von Solingens gebracht. Und doch hätte Christoph so gern etwas gethan, den immer düsterer werdenden alternden Mann aufzuheitern. Er sah wohl, daß manches im Haus, bei den Dienstboten, in der Wirtschaft nicht recht in Ordnung war, und wußte doch so gar nicht, wie helfen.

Daß vieles nicht war, wie es sein sollte, das gestand sich Herr von Solingen selbst mehr als einmal; aber auch er wußte nicht, wie es anders machen. Er fühlte sich oft recht unwohl; die Verwaltung der Güter war ihm lästig, je mehr sie eine sorgfältige Aufsicht bedurft hätten. Sie einem Fremden zu übergeben, dazu konnte er sich nicht entschließen; und für wen mühte er sich überhaupt?

Immer öfter suchte er Vergessen und Zerstreuung in wilder Gesellschaft, in aufregendem Spiel, und immer gedrückter kam er davon nach Hause. Ach, alles wäre anders, wenn er nicht so allein gewesen wäre, wenn er einen Sohn hätte! Mehr als einmal war ihm der Seufzer entschlüpft, und Oktavie hatte ihn gehört und nie vergessen.

Ihr weiches Herz litt schmerzlich unter der düsteren Stimmung des Vaters, welche sie ihr Dasein beinahe als Schuld empfinden ließ, und tiefer, als man es ihren Jahren nach hätte vermuten können, fühlte sie des Vaters Kummer, ohne daß sie gewagt hätte, es ihm zu zeigen. Frau Kohl hatte ihr die Geschichte von dem Tod des Bruders erzählt, und sie mußte in der Stille oft denken, wenn der Onkel, der das Unglück ja gewiß nicht mit Willen verschuldet, käme und bei dem Vater wäre, so könnte noch alles gut werden. Wenn sie nur gewußt hätte, wie die beiden versöhnen! Hatten sie und Tini je einmal Streit, so war das so leicht geschehen; aber bei großen Herren war es freilich anders. Doch den lieben Gott darum bitten, das durfte sie – und gewiß half ihr die Mama im Himmel auch dazu.

Für diese Gedanken fand sie selbst bei der Schwester kein Verständnis. Die war ganz und gar nicht bedrückt durch ihr Dasein, sondern freute sich vom Morgen bis zum Abend. Der Vater schalt und zankte ja eigentlich nie, also war er auch nicht unzufrieden mit ihnen. Freilich wäre es nett, wenn sie einen Bruder hätten; aber wenn der Vater es erlaubte, so würde sie gleich mit ihm auf die Jagd gehen und reiten, o, wie gern! und in den Stall, auf die Felder würde sie ihn mit Freuden begleiten. Kurz, sie fand, daß sie einen ganz ordentlichen Ersatz für den vermißten Sohn geben würde, sobald der Vater nur wollte.

Christoph allein konnte Otta ihr Herzchen ausschütten, wie betrübt es sei, daß der Vater sie nicht lieb haben könne und wie gern er statt ihrer einen Sohn haben möchte; und er verstand es, sie zu trösten, sie zum Guten und Wahren hinzuleiten und ihr begreiflich zu machen, daß wenn sie die Stelle, an die sie gesetzt sei, so ausfülle, wie es der liebe Gott haben wolle, so dürfe sie gewiß hoffen, die Liebe guter Menschen, selbst die des Vaters mit der Zeit zu gewinnen.

Schon zum viertenmal erwarteten die Schwestern seinen Besuch, und diesmal mit besonderer Freude. Die Ferien fingen etwas früher als sonst an – nun konnte er zu ihrem zwölften Geburtstag kommen; freilich blieb er nur kurz, da er eine Stelle als Hauslehrer über die Vakanz angenommen. Oktavie verlangte es auch noch besonders, ihn von ihrer alten Freundin erzählen zu hören – Christophs treue Beschützerin. Vor kurzem war das alte Fräulein von ihren Blumen und zierlichen Herrlichkeiten weg abgerufen worden »zu noch viel schöneren Blumen«, wie sie in ihren letzten Phantasien hoffte. Christoph hatte gethan, was in seinen Kräften stand, um ihr das Scheiden zu erleichtern; nun freute auch er sich, den kleinen Freundinnen ihre letzten Grüße und ein Vermächtnis von ihr zu bringen – sie wollte auch nach ihrem Tod noch frohe Herzen machen.

Zwischen ihr und den Schwestern hatte ein Liebesband existiert, ohne daß sie sich je gesehen, und das gerade sagte ihrem trotz der grauen Haare noch jugendlich romantischen Sinne zu. Oktavie hatte ihr in den letzten Jahren durch Christoph stets bald ein Brieflein, bald eine kleine Arbeit geschickt; vor seiner Abreise mußte allemal Frau Kohl ein Schächtelchen mit Eiern und frischer Butter rüsten, damit er es für sie mitnahm, und an Weihnachten fehlte nie eines der kleinen Kunstwerke von Fräulein Hannas geschickten Fingern auf der Schwestern Tisch.

Otta hatte streng verboten, es ihm zu sagen, daß er gerade zu dem Geburtstag komme; aber das letzte Briefchen Tinis hatte Andeutungen enthalten, die nicht allzu schwer zu verstehen waren.

Bis jetzt war die Festfeier einzig und allein in einem Hefenkranz von riesigen Dimensionen bestanden, den Frau Kohl den Schwestern backte, und die jedesmal gleich freudig dadurch überrascht waren. Diesmal versprachen sie sich aber heimlich ein klein bißchen mehr, so oft auch Otta vor dem Einschlafen Tini versicherte, daß gar kein Gedanke daran sei, daß Christoph ihnen etwas gebe. Und doch erhoben sie sich in der Frühe des Festmorgens mit erwartungsvoll klopfenden Herzen, machten sich eilends fertig und wollten ins Wohnzimmer hinein; es war verschlossen, und Christophs Stimme rief heraus, daß sie ein Weilchen warten sollten. Wenn das nicht vielversprechend war! Mit leuchtenden Augen nickten sie einander zu und horchten erwartungsvoll auf die leisen Geräusche im Zimmer. »Es riecht wie ein Christbaum,« meinte soeben Tini, als die Thür aufgemacht wurde und sie vor einer nie gesehenen Pracht staunten. Auf dem großen Eßtisch prangte nicht allein der altbekannte Hefenkranz, sondern auch eine Torte, beide mit zwölf brennenden Lichtern umgeben; daneben auf einer Seite zierlichstes Gartengeräte: Rechen, Hacke, Schaufel u.s.w., auf der andern eine wunderhübsche Blumenlampe – das Vermächtnis des alten Fräuleins.

Ohne einen Augenblick des Besinnens hatte sich Tini des kleinen Rechens bemächtigt und ihn als ihr Eigentum jubelnd begrüßt. »O, wie prächtig! Nun muß ich nicht immer bei Jakob betteln um seinen großen, schweren Rechen, den er mir nie geben will, wenn ich in meinem Gärtchen arbeiten möchte. Frau Kohl, nun hacke ich den ganzen Garten um, und mit der Schaufel kann man ganz recht graben!« Und wie ein Wirbelwind drehte sich das kleine Persönchen mit ihren neuen Schätzen im Arm, die sie am liebsten gleich im Zimmer probiert hatte, herum.

Mit Entzücken hatte inzwischen Otta die Blumenlampe mit der zarten Schlingpflanze darin betrachtet; wie konnte sie ihr kahles Stübchen hübsch damit schmücken! Sie war die erste, die Christoph dankte: »Wenn's auch von Fräulein Hanna ist, so bist du doch schuld daran, und wir danken euch beide; gewiß sieht sie es jetzt auch, wie wir uns freuen an ihren Geschenken. So einen schönen Geburtstag haben wir nie gehabt. Nun ist doch auch jemand froh, daß wir da sind.«

»Ich danke dir natürlich auch,« rief nun Tini, »kommt nur gleich in den Garten, dann probiere ich die Hacke. Sehen Sie, Frau Kohl, wie sie fest ist!« Und von keinem andern Gefühl als dem des frohesten Dankes erfüllt gegen den lieben Gott, der die Welt so schön gemacht, und gegen die Menschen, die so gut waren, stürmte sie hinaus in den goldenen Sommermorgen, während die Schwester trotz aller dankbaren Freude heute mehr als je mit schweren Gedanken zu kämpfen hatte: daß sie nicht her gehöre, daß der Vater sie nicht liebe und daß sie so Heimweh nach der nie gekannten Mutter habe.

Für den Nachmittag war als Fortsetzung der Festlichkeit ein Waldspaziergang geplant, den Tini aber nicht angetreten hätte, wenn ihr nicht gestattet worden wäre, wenigstens den neuen Rechen mitzunehmen; er war unentbehrlich. Mit was sollte man denn an dem zu wählenden Ruheplatz Laub und dürre Ästchen entfernen, wenn nicht mit ihrem Rechen!

Christoph, dem der ernste, wehmütige Zug in Ottas Gesicht, so wenig für ihr Alter passend, weh that, bemühte sich, die trüben Gedanken und Gefühle des Kindes zu zerstreuen und ihr ihr Leben ins rechte Licht zu rücken, bei dem sich auch das, was es Schweres brachte, leicht tragen ließ.

Diese Unterhaltung war aber dem kleinen Quecksilber Tini viel zu ernsthaft, und lustig tanzte sie voraus, den geliebten Rechen in der Hand, pfadlos durch den Wald. Sie wollten auf diesem neuen Weg, der aber kein Weg war, an den Bach kommen, der hier irgendwo durch eine ziemlich tiefe Schlucht bergab eilte – von den Schwestern längst »der Wasserfall« getauft.

Allein zu hüpfen und zu springen, war aber auch nicht nett. »So fange mich doch, Otta! Komm, sei nicht so langweilig!« rief sie der Schwester zurück; diese schickte sich an, ihr zu folgen mit Christoph, der einen Wettlauf vorschlug. Tini rief lachend zurück: »Ihr kriegt mich doch nicht!« schoß wie ein flinkes Reh voran und – verschwand mit einemmal vor den Augen der entsetzten Nachfolgenden.

Otta stand gelähmt vor Schrecken. Was war das? Hatte am Ende eine böse Fee die Schwester geholt? Rings ebener Boden – wie konnte sie denn mit einemmal unsichtbar sein? Mit ein paar Sprüngen war Christoph zur Stelle; ein tiefes Loch, halb verdeckt von einem Brombeerstrauch, gähnte ihm entgegen.

Um Gottes willen! Da mußte die Kleine hinabgestürzt sein! War sie tot? Und er hätte auf sie achten sollen! Während er sich angstvoll über die Öffnung, die sich etwas schief hinunterzog in die Erde, beugte, tönte es plötzlich ganz hell herauf: »Christoph! Otta! ich bin in eine ganz rechte Höhle gefallen, aber mein Rechen ist nicht zerbrochen! Kommt nur auch!« – »Gott sei Dank! sie ist unverletzt!« rief Christoph der todblassen Otta zu, die sich zitternd näherte. Aber wie zu ihr gelangen, wie sie herausbringen? »Tini, meine Tini, wo bist du denn? Hast du dir weh gethan? Kannst du nicht wieder heraufsteigen?« rief nun Otta in das Loch hinunter; sie konnte nicht einmal die Schwester sehen.

»Ich wollte mit einem Satz über den Busch springen, da kam ich gerade mit den Füßen in das Loch und rutschte vollends hinunter, und nun bin ich in einer so schönen Höhle; kommt doch auch!«

»Ist es ganz finster?« fragte etwas zaghaft Otta.

»Nein, ich kann alles sehen – da ist ein Block; o, vielleicht finde ich auch einen Einsiedler!«

Christoph war gar nicht beruhigt bei diesen unterirdischen Entdeckungsreisen und schickte sich an, Tini auf demselben Weg zu folgen; nur hatte das für den langbeinigen Gymnasiasten viel mehr Schwierigkeit als für die behende kleine Tini. Otta sollte jedenfalls oben warten, bis er sie holte. Er ließ sich hinabgleiten, und die angstvoll harrende Schwester oben hörte, ehe noch sein Kopf ganz verschwunden war, Tims helle Stimme von unten: »O, ich sehe schon seine Füße – nun ist er auf dem Boden; jetzt komm, Christoph – ist das nicht schön! und siehst du, da ist eine ordentliche Thür.« Die Stimmen entfernten sich, und Otta wurde es ganz unbehaglich so allein da oben. »Kann ich auch kommen?« rief sie hinunter. – »Warte!« klang's sehr bestimmt herauf.

Sie wollte nicht ungehorsam sein und setzte sich neben das Loch hin, ängstlich auf das, was sie von unten vernehmen konnte, horchend.

»Otta! Otta!« rief nach einer Weile die Schwester; »Christoph holt dich! Denke dir, die Höhle hat ein Loch, nein, eine Thür vorne und die geht in die Schlucht hinaus an unsern Wasserfall!«

Nach wenigen Augenblicken sah Oktavie zu ihrem großen Erstaunen Christoph auf ebenem Boden zu ihr heraneilen; begierig sprang sie ihm entgegen und ließ sich von ihm den steilen Abhang der nahen Schlucht hinuntergeleiten. Zum Glück war das Bächlein nach langer Trockenheit recht zahm und klein; so gab es zwischen dem klaren Wasser und dem Abhang trockene Stellen, auf denen man vorwärts gehen konnte; nur ein paar Schritte – dann standen sie vor Tini, die ungeduldig nach der Schwester aussah, voll Begierde, ihr die Wunder der unterirdischen Höhle zu zeigen.

Die Schätze Aladins thaten sich nicht gerade vor ihr auf, als sie halb kriechend durch den niederen Eingang hereinschlüpfte; aber sehr wunderbar war er doch, dieser ziemlich geräumige, trockene Raum da unter der Erde. Tini, die nach ihrer Fahrt in die Unterwelt erdebeschmiert wie ein kleiner brauner Gnom aussah, machte voll Eifer die Führerin, nicht wenig entzückt von Ottas Erstaunen und dem Interesse Christophs. Neben der Öffnung, die sich mit einigem guten Willen eine Thür heißen ließ, war noch eine andere etwas weiter oben, durch die genügend Helle hereinfiel, nachdem Tini die grünen Ranken, die sie übersponnen, weggerissen hatte. Der Raum war so hoch, daß in der Mitte der große Christoph nicht bis an die obere Wölbung hinaufreichen konnte; Felsgestein, dazwischen Erde, aus der einzelne Baumwurzeln hervorragten, bildeten die Wände. Es kam Otta ganz geheimnisvoll vor, wie wenn sie einen Blick in die innerste Werkstätte der Natur gethan hätte. Spuren von Menschen oder Tieren fanden sich nicht; nur der Haufen Laub dort in der Ecke, der hatte gewiß einem Verfolgten, oder einem Verbrecher, oder etwas derartigem zum Lager gedient. Das ließen sich die Schwestern nicht abstreiten, wenn ihnen auch Christoph zu beweisen suchte, daß der Wind das Laub durch die Öffnung von oben heruntergeweht.

Was war das für ein köstlicher Spielraum! und was für wunderbare Sachen ließen sich hier aufführen! Tini bedauerte den armen Christoph sehr, der am andern Tag schon abreisen mußte, ohne die neue Entdeckung genossen zu haben, und bewunderte die Fassung, mit der er sich darein schickte. Sie war unerschöpflich in Vorschlägen und Plänen, wie man die Höhle ganz nett herrichten, ein Laubbett, ja sogar einen Sitz und Tisch anbringen könne, während Oktavie sich ausmalte, wie schön es wäre, wenn sie einem edeln, unschuldig Verfolgten Obdach und Schutz darin gewähren könnten. Christoph behauptete aber, solche edle Flüchtlinge spazierten nur in den Geschichten herum, im Leben nirgends; außer einem vierfüßigen mit langen Ohren und braunem Fell, Herr Lampe genannt, werde wohl keiner Schutz in der Höhle suchen.

Das war eitel Spott; Christoph war eigentlich doch nicht mehr so nett wie früher. Etwas gekränkt traten die Mädchen den Heimweg an, und als er ihnen am andern Tag beim Abschied einen Gruß an den Verfolgten auftrug und ihn sich gebraten ausbat, da drohte Otta, es ihn zur Strafe gar nicht wissen zu lassen, was für wunderbare Dinge in der Höhle geschehen werden; Tini rief aber noch nach: »Ich schreibe dir's doch, dann mußt du dich so schämen!« Wenig gebeugt durch diese schrecklichen Aussichten, grüßte er noch einmal lachend zurück, ehe er aus dem Thor schritt.

Die Ernte hatte heute begonnen, und Tini schwankte sehr zwischen dem Vergnügen, auf dem Leiterwagen aufs Feld zum Schneiden zu fahren, oder dem, wieder nach der Höhle zu sehen. Das Verlangen nach der letzteren siegte; war doch das Erntevergnügen ein altbekanntes und die Höhle nagelneu! Otta zog zumal immer die einsamen Unterhaltungen vor und mochte nicht gern unter den Dienstboten und Tagelöhnern sein.

Zu einer Expedition in den Wald, auch wenn sie nicht weit war, mußte aber des Vaters specielle Erlaubnis eingeholt werden, und das war heute, wo er ohnedem vielerlei um die Ohren hatte, kein ganz einfaches Unternehmen. Sehr wohl konnte die Antwort ein kurzes Nein sein, das alle weiteren Bitten ausschloß. Wer sollte fragen? Tini war sonst die Mutigste und stets bereit, vorzugehen; aber sie hatte in letzter Zeit ein paarmal etwas kühne Bitten gestellt, wie z. B. ob sie zur Taufe von Herrn Schulmeisters Büblein dürfen, und war derb abgewiesen worden; so wurde beschlossen, diesmal solle Otta ihr Heil versuchen.

Sie war bald blaß, bald rot, ehe sie noch die Thür zu des Vaters Zimmer geöffnet hatte; der saß finster vor seinem Schreibtisch, die Faust auf einem Brief. Er wußte, was darin stand, ehe er ihn aufmachte: die Mahnung eines Gläubigers, bei dem er eine ziemlich hohe Summe zur Deckung einer Spielschuld entlehnt. Es war gewissenlos, zu spielen, das wußte er – es ging vom Erbe seiner Mädchen; aber was sonst thun, um sein trauriges Heim, den Schmerz der Vergangenheit, die wenig versprechende Zukunft zu vergessen, die Stimme zu überhören, die ihn an seine schlecht erfüllten Vaterpflichten mahnte?

Und nun mußte gerade das blasse kleine Ding hereinkommen und so schüchtern sich an der Thür herumdrücken!

»Dürfen wir ...« klang's ängstlich von ihren Lippen.

»Geht, wohin ihr wollt!« unterbrach er sie rauh.

»Auch in den Wald?« wagte sie noch einmal zu fragen; es schien ihr so unehrlich, diese halbe Erlaubnis zu benützen.

»Ans Ende der Welt meinetwegen!« war die Antwort, aus welch unglücklich verdüstertem Sinn heraus, ahnte das Kind freilich nicht. Die Erlaubnis hatte sie also, und das war das Einzige, was Tini, die hinter der Wohnstubenthür lauerte, wissen wollte. Lustig hüpfte sie fort, die Hüte und vor allem die neuen Gartengeräte zu holen, während Otta am Fenster lehnte und sich die Augen auswischte. Lieber hätte sie eine Abweisung ihrer Bitte hingenommen als diese lieblose Gewährung.

Tini kam nun herbeigesprungen –: »So komm' doch schnell, Otta! Was weinst du denn? Wir dürfen ja gehen! Der Vater habe es nicht gern erlaubt, meinst du? Aber er hat's doch; gern thut er ja nichts. Da, nimm meine Hacke! Ich bin so begierig auf die Höhle. Und, hörst du, wir sagen gar keinem einzigen Menschen etwas davon, nicht Frau Kohl und nicht dem Herrn Lehrer und gar niemand, gelt?« Und sie zog die Schwester mit fort, deren Thränen der goldene Sonnenschein und der Schwester Geplauder bald trockneten.

Am Ziel angelangt, erklärte Tini, der Baumeister, zuerst müsse für einen ordentlichen Zugang zur Höhle gesorgt werden; durch das Loch schlüpfen, war im Interesse der Kleider und Hände zu wenig ratsam, und den steilen Abhang hinunterrutschen, war eine mühsame Sache und bei feuchtem Wetter kaum möglich. Aber Stufen konnte man graben in dem weichen Boden, fand Tini – zu was hatte man denn eine so prächtige kleine Hacke und Schaufel! Ihr praktischer Blick ließ sie bald die Stelle finden, wo die Treppen anzubringen waren, und mit Eifer und Geschick ging's ans Werk. Sie war der Bauherr, Otta der Geselle; aber der Meister verschmähte gar nicht, selbst Hand anzulegen, und unermüdlich gruben und hackten seine kräftigen Arme, während Otta die Erde wegschaffte, die Stufen glättete und mit Rasenstücken belegte. Tini trieb sich nicht umsonst im Garten und Feld bei allen Arbeiten herum; sie hatte den Leuten manchen Kunstgriff abgesehen und abgelernt.

Die Stufen waren fertig und endeten gerade vor der Öffnung der Höhle. Müde saß Otta auf der letzten, während Tini mit ungeschwächtem Eifer erklärte, nun gehe die Arbeit erst recht an: das Loch müsse man erweitern, damit es eine ordentliche Thür gebe; das Gebüsch und die Ranken, die oben drüber her hingen, sorgfältig schonen, das sei der Vorhang. In all die weiteren Pläne hinein tönte aber leise aus der Ferne die Mittagsglocke an Ottas Ohr, und präcis zum Essen da sein, das war eine der wenigen Erziehungsregeln, die Herr von Solingen aufgestellt und deren Ausführung er streng überwachte. Nun galt's, über Stock und Stein heimzufliegen, im Nu die beschmutzten Hände zu waschen und atemlos hinter der Suppenschüssel her ins Zimmer zu eilen; es reichte zum Glück. Heute hätte der Vater einen Verstoß kaum bemerkt, so versunken in seine unerquicklichen Gedanken saß er da; aber das hatte sich nicht voraussehen lassen.

Die so allgemein gehaltene Erlaubnis, in den Wald zu gehen, wurde auch für die nächsten Tage benützt. Es gab noch ein eifriges Schaffen für die Schwestern, bis der Raum, in ihren Augen wenigstens, ganz behaglich aussah: der Boden mit Sand bestreut, in der Ecke ein hoch aufgeschichtetes Mooslager, auf dem Stein, der den Stuhl vorstellte, ein ebensolches dichtes Polster; in einer kleinen Vertiefung in der Wand ein paar schadhafte Töpfe und eine Tasse, die sie Frau Kohl abgeschwatzt; vor der Thüröffnung das lose Geranke, das den Raum so angenehm gründämmerig machte: für einen Einsiedler der denkbar angenehmste Aufenthalt, und das schönste Versteck für den unschuldig Verfolgten.

In Ermangelung eines solchen stellte bald Otta, bald Tini ihn dar, und immer fanden sie sicheren Schutz vor den verfolgenden Bösewichtern hier. Wie schade, wenn das nie in Wirklichkeit benützt würde!

Nun waren aber die Erntetage vorbei, deren Unruhe und vermehrte Arbeit gemacht, daß Frau Kohl die Mädchen einigermaßen aus dem Gesicht verloren hatten; das lange Herumstreifen war zu Ende, zumal auch Herr Maier alle Morgen um zehn Uhr und nachmittags um vier Uhr zum Unterricht anrückte. Doch gab's ja zwei freie Nachmittage und einen langen Sonntag, an dem man vom Mittagessen an frei war und wo auch Frau Kohl nicht gar zu streng nachfragte, da ihr höchster Genuß war, den Sonntagnachmittag bei der Frau Schultheißin zu verplaudern und dort die Mühsale ihres Daseins, die finstere Miene ihres Gebieters und die leere, unwillig gefüllte Haushaltungskasse zu vergessen. Ob die Kinder auf dem Dachboden, im Garten oder ein paar Schritte weiter fort, im Wald, spielten, das war im ganzen einerlei; zugestoßen war ihnen ja noch nie etwas, und sie paßten aufeinander auf und ließen sich nichts geschehen.

Es war in den ersten Septembertagen, die Luft noch so sonnenwarm, der Himmel so blau wie im Hochsommer, als Tini und Otta den Sonntagnachmittag wieder zu einem Gang nach ihrer lieben Höhle, nach »Friedensruh«, wie Otta sie getauft, benützten. Heute wurde nicht gefegt und geputzt, es war ja Sonntag; heute war sie des frommen Einsiedlers Behausung. Otta stellte ihn in einem langen braunen Mantel, den sie im Hintergrund ihres Schranks gefunden, vor; ein Kreuz, von Tannenzweigen geflochten, war am Eingang angebracht; davor betete sie andächtig das Vaterunser und sang dann mit Tini als Gemeinde das Lied, das sie morgens in der Kirche gehört: »Himmelan, nur himmelan!« Tadelt das Spiel der Kinder nicht! Es war wirklich die Erbauung der kleinen Einsamen, und daß der Heiland auch die kindische Andacht gnädig erhört, das zeigt der fromme Ausdruck, der auf den Gesichtern liegt, der Ernst in den beweglichen Zügen Christines, der Frieden in Ottas oft so traurigen Augen. Und als sie nachher eng umschlungen vor ihrer Höhle sitzen, erzählt Otta von dem Wenigen, was sie von der Mutter im Himmel weiß, und wie sie sich Mühe geben wollen, recht brav zu sein, alles zu lernen, was sie sollen, und Frau Kohl zu gehorchen, so daß sie die Mama doch einst im Himmel sehen; es wäre ja schrecklich, wenn sie sie gar nie, in ihrem ganzen Leben nie kennen würden! »Deswegen müssen wir noch viel besser zu werden suchen als andere, die ihre Mama auf der Welt bei sich haben,« meinte sie.

»Und weißt du,« fuhr sie nach einer Pause sinnend fort, »ich denke immer, der Heiland könne auch machen, daß wir so werden, daß uns der Vater gern hat, daß er gegen uns ist wie ein anderer Vater.«

»Ach du,« sagte Tini, ihr braunes Gesichtchen verwundert aufrichtend und die Schwester ansehend; »er kann uns doch nicht vorlesen wie der Herr Maier seinen Kindern, oder uns an der Hand führen wie der Herr Pfarrer von Kreß seinen Jungen. Denke dir doch, unser Vater!«

»Nein, das meine ich auch nicht,« verteidigte sich Otta; »ich weiß wohl, er ist anders. Aber uns lieb haben, das könnte er, und das würden wir merken, auch ohne daß er uns vorliest. Wenn er nur einen Sohn hätte, dann wäre er gewiß anders.«

»O, siehst du,« rief Tini, der das Gespräch etwas zu ernst wurde und die ihre Blicke auf dem gegenüberliegenden Rand der Schlucht hatte umhergehen lassen, »Otta, da ist ja jemand!« Es war das erste Mal, daß sie einen Menschen hier erblickten, seit sie sich da herumtrieben. Ein Weg führte nicht vorbei, und niemand hatte gegenwärtig im Wald zu thun; so war das Erstaunen gerechtfertigt, mit dem sie aufsprangen und den Wanderer anstarrten.

Es war ein junger, erhitzt, erschöpft aussehender Mann, der dort oben stand, ebenso verwundert auf die Gruppe hinunter blickend, als sie hinauf. Das Licht der untergehenden Sonne flutete in die enge Schlucht und hüllte die beiden Kinder in goldenen Schein. Die zarte Blonde hatte den Arm um die zierliche Gestalt der Schwester geschlungen, die ihr braunes Krausköpfchen ein wenig erschrocken an sie drückte; hinter ihnen die dunkle Höhle, deren Eingang das grüne Kreuz schmückte; ringsum die hohen Bäume, deren leises Rauschen die tiefe Stille belebte; wie wenn er ein Waldmärchen erleben sollte, war dem Wanderer zu Mute, so wenig poetisch und ruhig seine Stimmung noch vor Augenblicken gewesen war.

»Könnt ihr mir sagen, wie ich da hinüber kann?« rief der Fremde endlich hinunter; auch als Waldfeen würden sie ihm hoffentlich Bescheid geben.

»Dort kann man nicht heruntersteigen,« antwortete die helle Stimme der Kleineren recht menschlich; »aber wir wollen Ihnen den Weg zeigen, nicht wahr, Otta? Hier haben wir ja Stufen.« Und rasch kletterte sie den Abhang hinauf. »Sie müssen ein Stück weiter gehen, dann können Sie die Schlucht überspringen,« belehrte Christine ganz stolz, daß sie dem Herrn Ratschläge erteilen konnte; und sie und Oktavie gingen auf ihrer Seite ebenfalls bis an die Stelle, wo die Schlucht so schmal wurde, daß ein guter Turner leicht sie überspringen konnte. Richtig – ein Satz und der Fremde stand neben ihnen.

»Sollen wir Ihnen den Weg ins Dorf zeigen?« fragte nun Oktavie. »Es ist nur eine Viertelstunde bis dahin; dort unten ist die Straße, sehen Sie? dort, wo der Landjäger geht.«

»Der Landjäger?« entgegnete der Fremde betroffen und zog sich unwillkürlich wieder in das Buschwerk an der Schlucht zurück; »aber ich will ja nicht gerade ins Dorf. Ich will ...«

»Oder wollen Sie auf den Bahnhof?« fragte Christine. »Da wissen wir auch den Weg; aber Sie müssen doch durchs Dorf.«

»Nein,« kam etwas zögernd die Antwort.

»Ja, sonst kann man nirgends hin von hier aus,« meinte die Kleine bedenklich. »Wohin wollen Sie denn eigentlich?«

»Offen gesagt,« gestand er nach einigem Zögern, »ich möchte nicht ins Dorf und nicht gerade dem Landjäger begegnen; aber weit kann ich nicht mehr, ich bin recht müde.« Und jetzt erst sahen die beiden, wie erschöpft er aussah und wie matt er sich an den Baum lehnte.

In Tinis Augen blitzte es hell auf. »Verfolgt Sie der Landjäger? Will er Sie ins Gefängnis sperren?« fragte sie hastig.

»Kind, wie kommst du darauf? Freilich ... Aber nein, ein Verbrecher bin ich nicht.«

»Natürlich, das wissen wir; aber der böse Landjäger könnte Sie doch verfolgen. Doch wir lassen Ihnen nichts geschehen!« versicherte Christine eifrig. »Warum fürchten Sie denn den Landjäger, wenn Sie nichts Böses gethan haben?« fragte Otta etwas bedenklich, den klaren Blick auf das Gesicht des Fremden geheftet.

»Das ist eine Geschichte, die ihr wohl nicht versteht; aber das kann ich euch sagen, daß ich nichts Schlechtes gethan habe, obwohl ich glaube, mich einige Zeit verbergen zu sollen. Ich thue das vielmehr um meiner Eltern als um meinetwillen. Wo ich mich jetzt hinwenden soll, weiß ich freilich nicht.«

Die Mädchen waren ihm ganz fremd; aber er konnte doch den Gedanken nicht ertragen, vor den unschuldigen Kinderaugen als Verbrecher dazustehen.

»O Otta,« brach nun Christine los, »wie wundervoll! Wir haben ja die Höhle – eine ganz rechte Höhle,« wandte sie sich an den Fremden, »in die man hinein kann, und es ist ein Moosbett darin, und da können Sie ganz gut wohnen, und gar niemand erfährt das. Wir haben sie aufgefunden, ganz allein. Otta, was wird Christoph sagen, wenn wir ihm schreiben, daß wir einen rechten lebendigen Verfolgten haben!« Und glühend vor Eifer nahm sie die Hand des jungen Mannes und zog ihn zu den Stufen hin; Otta folgte, ebenfalls vom Eifer der Schwester angesteckt.

Sie waren keine Menschenkenner, Christine und Oktavie von Solingen; aber wenn ihnen die offenen Züge des jungen Mannes nur Vertrauen und Mitgefühl einflößten, so hatte ihr harmloses Gemüt sie diesmal nicht getäuscht.

Der Fremde folgte seinen so unerwartet aufgetauchten Beschützerinnen willenlos nach, ließ sich die Treppen hinuntergeleiten und in die Höhle hineinziehen, von deren Wundern und Schönheiten er aber nichts wahrnahm als den Haufen Moos in der Ecke, auf den er erschöpft hinsank.

Ängstlich beobachteten ihn die Mädchen. »Du, er sagt ja gar nichts,« flüsterte Tini halb beleidigt, daß er keinen Ausdruck des Entzückens für seinen Zufluchtsort hatte.

»Ich glaube, er hat Hunger und Durst,« meinte Otta; »wir müssen ihm etwas zu essen holen. Aber wo? Frau Kohl dürfen wir nichts sagen!«

»Nein, ja nicht, sonst wäre es nicht mehr schön. Weißt du was? Jetzt gerade melkt Katharine; da laufen wir schnell in den Stall und bringen ihm von der warmen Milch, gelt? Fürchten Sie sich nur nicht!« wandte sie sich tröstend zu dem ermattet Daliegenden; »wir kommen wieder und bringen Ihnen etwas!«

Er war zu müde, um anders als mit einem Lächeln seiner Beschützerin antworten zu können, die eilends mit der Schwester die Höhle verließ und forthuschte. Er wußte nicht, wie lange er betäubt und halb schlummernd dagelegen, als er wieder Stimmen hörte; es war schon dunkel, und erst nach und nach konnte er die Gestalten der Mädchen unterscheiden, die vor ihm standen, atemlos; denn es galt, schnell, ehe es Nacht wurde, wieder heimzukommen.

»Da ist die Milch,« hörte er die Kleine sagen; »ich habe sie in meiner Gießkanne gebracht, in einem Topf hätten wir sie verschüttet, und wir haben auch keinen, und Frau Kohl hätte uns keinen gegeben. Aber ich habe sie vorher sauber ausgewaschen am Brunnen, nicht wahr, Otta?« »Und trinken müssen Sie nicht daraus,« fuhr diese fort, »da in der Nische steht eine Tasse, wie bei einem rechten Einsiedler. Mit dem braunen Mantel können Sie sich zudecken, und zum Kopfkissen habe ich unsere Puppenbetten mitgebracht.«

»Das Brot habe ich in der Küche abgeschnitten, es ist nur schwarzes, aber ein großes Stück, ganz um den Laib herum,« fügte Christine hinzu.

»Aber jetzt müssen wir schnell heim, wir essen um sieben Uhr zu Abend, und da würden wir gezankt, wenn wir nicht da wären. Gute Nacht. Wir kommen morgen wieder!« sagte nun Oktavie, so schnell forteilend, daß der neue Höhlenbewohner nicht einmal Zeit hatte, seinen Dank zu sagen; und wer seine Beschützerinnen waren und wie sie hießen, das hatte er ja auch fragen wollen und nun nicht gekonnt.

»Otta, das ist doch wie in einer Geschichte, daß wir nun einen Verfolgten verstecken; wie gut, daß ich in die Höhle gefallen!« hörte er im Fortgehen Christine sagen. »Gelt, nun retten wir ein Menschenleben?« schloß sie altklug.

Die Milch erquickte ihn köstlich; aber trotz Moos und Eremitenmantel war die Nacht in der Höhle kalt; der ersehnte Schlaf wollte nicht kommen, und in Halbträumen der quälendsten Art wälzte er sich die Nacht durch auf dem ungewohnten Lager, während seine Retterinnen sich vor dem Einschlafen noch ausmalten, wie herrlich er in der Höhle geborgen sei und wie er da in aller Heimlichkeit monate- und jahrelang hausen könne.

Am andern Morgen galt es, wieder beim Melken Milch zu erobern, die Katharine aber nur mit Murren abtrat und mit unangenehmer Beharrlichkeit wissen wollte, zu was sie sie brauchten. Das Wetter war heute nicht lockend zu Waldgängen; ein feiner Regen rieselte von dem nebelgrauen Himmel, und zwischen den Bäumen hingen feuchte Dunstschleier. Doch erreichten sie und der Milchkrug glücklich die Höhle; aber nicht in behaglicher Muße, im angenehmen Gefühl der Geborgenheit empfing sie ihr Schützling. Matt, mit unheimlich glänzenden Augen lag er auf dem zerwühlten Moos und konnte sich kaum erheben, um den lieblichen Raben, die ihn speisten, zu danken.

»Haben Sie nicht gut geschlafen?« fragte Oktavie besorgt; und Christine setzte halb gekränkt hinzu: »Es gefällt Ihnen aber doch in der Höhle?«

»Gewiß, gewiß,« nickte er, »nur habe ich noch nicht oft in einer solchen geschlafen. Aber daher kommt es nicht, daß ich ein wenig unwohl bin, das wäre auch sonst gekommen. Nur fürchte ich, euch hier lästig zu fallen, und möchte deshalb fort; weit kann ich freilich nicht,« und matt sank sein Kopf zurück.

Oktavie sah ihn ängstlich an; daß er sehr unwohl war, sah sie gut, und die Höhle war eigentlich kein passender Aufenthalt für ihn. Aber wohin sonst? Christine war sehr enttäuscht und konnte es zu keinem rechten Mitleid mit ihrem Schützling bringen. Was brauchte er denn jetzt auch krank zu werden? Er hatte es ja so schön, eine schönere Höhle konnte sich kein Verfolgter wünschen, und es wäre so nett gewesen, wenn er hier gewohnt hätte und sie ihm heimlich alle Tage zu essen gebracht hätten. Er hätte sich dann nach und nach einrichten können wie der Robinson, Fische fangen und Hasen erlegen können; und nun lag er krank da, und es war gar nicht unmöglich, daß er sogar der Höhle die Schuld an der Krankheit gab! Wie hatte sie sich gefreut, Christoph gegenüber Staat zu machen mit dem edeln Verfolgten! Heute schon hatte sie ihm schreiben wollen, und nun ging es ganz anders. Sie wandte sich recht ärgerlich ab.

Der Kranke richtete inzwischen an Oktavie die Frage, die ihn während der langen Nacht vielfach beschäftigt, wer denn eigentlich seine gütigen Beschützerinnen seien. Sie waren so anders als die schnippischen, oder vorlauten, oder linkisch schüchternen Zwölfjährigen, die er sonst kannte, ganz und gar nicht wie Bauernkinder, und doch schienen sie ihm so weltfremd, so unbehütet, so sich selbst überlassen, wie Kinder aus gutem Hause sonst nicht zu sein pflegen.

»Ich heiße Oktavie von Solingen und meine Schwester Christine. Wenn Sie ein wenig aufstehen können und auf die Straße hinuntergehen, so sehen Sie das Schloß, wo wir wohnen.«

So ganz wollte Christine doch nicht von der Unterhaltung ausgeschlossen sein; sie wandte sich um und fuhr in den von Otta angefangenen Personalien fort:

»Unsere Mama ist sehr lange tot, der Vater lebt noch, und einen Bruder haben wir auch gehabt, den hat man tot geschossen,« setzte sie mit leiserer Stimme hinzu. »Jetzt haben wir nur noch einander, nicht wahr, Oktavie?« Und wie sie sich dabei an der Hand faßten und ansahen, da bekam man die Überzeugung, daß das sehr viel war, daß sie »einander hatten«.

Der Fremde hatte ohne ein Wort diesen Erklärungen zugehört, sagte auch jetzt nichts, als Oktavie anfing, die zerstreuten Moosflocken zu sammeln und ihm wieder ein Kopfkissen daraus zu formen. Ehe sie aber weit gekommen war mit der Arbeit, horchte sie auf – war das nicht die Uhr auf dem Schloß, die schlug? Es war zehn Uhr und sie sollten daheim sein, Herr Maier kam ja zur Geographiestunde!

»Schnell, Tini; komm, wir müssen fort. Aber wir kommen wieder!« rief sie im Forteilen zurück.

»Wie heißen Sie denn?« fragte die neugierige Christine, das Köpfchen noch einmal hereinsteckend.

»Kurt,« antwortete der Kranke, und ehe sie die Frage, ob das denn sein ganzer rechter Name sei, aussprechen konnte, hatte sie die Schwester fortgezogen, den jungen Mann in peinlichen Gefühlen zurücklassend; er war auf Grund und Boden der Solingen!

So schnell sie durch Busch und Dorn rannten, über den Hof und die Treppe hinaufflogen, so kamen sie doch zu spät und trafen Herrn Maier etwas ungeduldig wartend am Tisch sitzen, und was noch schlimmer war, Frau Kohl in aufgeregtem Gespräch vor ihm stehend.

»Da kommen sie hergerannt wie wilde Heidenkinder und nicht wie christliche Mädchen, ich will gar nicht einmal sagen adelige Fräulein. Das Fortgelauf und Waldgespring und mit erdigen Händen heimkommen muß aufhören, das sage ich. Und was sagen Sie, Herr Maier? Und zu was man meine Milch gießkannenvollweise fortschleppt, muß ich auch wissen ... Was wären noch alles für Missethaten aufgezählt worden, wenn nicht zu unendlicher Erleichterung der gesenkten Hauptes dastehenden Sünderinnen Amalie den Kopf zur Thür hereingestreckt hätte und mit dem Ausruf: »Die Butter pratzelt!« Frau Kohl zu schleunigem Abmarsch in die Küche veranlaßt hätte. Wenn sie aber glaubten, jetzt erlöst zu sein und sich ungehemmt auf den sicheren Boden Amerikas, an dessen Gebirgen sie augenblicklich studierten, begeben zu können, so täuschten sie sich sehr.

Bei Frau Kohls Reden war es Herrn Maier doch ganz bedenklich geworden; was konnte denn das fortwährende Im-Walde-stecken bedeuten? Ja, die Kinder waren viel zu viel sich selbst überlassen; der Vater kümmerte sich einmal nicht um sie, da war es Pflicht eines gewissenhaften Lehrers, sich ihrer anzunehmen. Jedenfalls mußte diese Sache und der Grund des heutigen Zuspätkommens klar gemacht werden, und in ungewöhnlich strengem Ton begann das Verhör:

»Wo waret ihr?«

»Im Wald.«

»Was habt ihr dort gethan?«

»O Otta, sage es doch nicht! Fragen Sie doch nicht so, Herr Maier! Es ist ja gar nicht mehr dasselbe, wenn es jemand weiß. Wir waren so vergnügt mit unserer ...« Erschrocken hielt Christine inne; beinahe hätte sie sich ja verraten.

»Mit unserer Höhle,« fuhr da Otta zu der Schwester Entsetzen fort. »Es ist besser, wir sagen es. Böses ist es ja nicht, und wir wissen ohnedem nicht, was wir mit dem Verfolgten thun sollen; da kann uns Herr Maier raten.« »Ein Verfolgter! ein Verbrecher! Wie kommt ihr zu einem solchen? Was soll das sein? Was ist's mit der Höhle?« fragte der Lehrer, nun erst recht begierig und erregt. In ihrem ganzen Leben war Christine nicht so bös auf die Schwester gewesen. Nun war ja alle Freude an der Höhle, am Verfolgten zu Ende, wenn jedermann davon wußte und darüber sprach, und sie gar nichts mehr darein zu sagen hatten!

Inzwischen hatte Herr Maier rasch die ganze Sache aus Oktavie herausgefragt, und was er erfahren, hatte seine Aufregung nur gesteigert. Ein Mörder, ein Dieb oder dergleichen schien ihm nach dem Gehörten der Mensch nicht zu sein; »aber ich vermute einen Nihilisten, einen Anarchisten, einen Dynamitisten in ihm!« rief er, im Zimmer auf und ab rennend.

Mit angstvoll aufgerissenen Augen starrten ihn die Mädchen an. Was waren das für entsetzliche Dinge! »So etwas Arges ist gewiß Herr Kurt nicht,« versicherte Oktavie bestimmt.

»Was wißt ihr dumme, unvorsichtige Kinder von der Welt, den greulichen Verbrechen, die da umgehen, und von eurem Herrn Kurt! Kurt, Kurt, das ist gar kein rechter Geschlechtsname, nur ein Vorname, den er wohl fälschlich angenommen. Übrigens nehme ich die Sache nicht auf meine Verantwortung; ich habe die Pflicht, sie dem gnädigen Herrn zu berichten,« schloß er feierlich.

»Dem Vater?« riefen die Schwestern erschrocken aus. »Nur das nicht!« Was würde er thun? Jedenfalls ihren Schützling gleich dem Gericht ausliefern; mit Bitten war so gar nichts zu erreichen bei ihm. Und was würde ihnen geschehen, die sie ihm solche Unannehmlichkeiten bereitet?

Schon hörten sie seinen Schritt draußen und die klagende, keifende Stimme Frau Kohls, welche ihm etwas verworren auseinander setzte, was sie von dem im Zimmer Verhandelten vernommen. Die Thür wurde aufgerissen und Herr von Solingen fragte heftig: »Was soll das für eine Geschichte sein? Die Mädchen haben eine Höhle; da hat ihnen gewiß der Christoph dazu geholfen, der steckt hinter allem Unsinn; und haben einen Verbrecher darin verborgen? Was soll das heißen? Wissen Sie davon, Herr Maier?«

Die weitere Verhandlung hörte wenigstens eine der Beteiligten nicht mehr; wie ein Wiesel war die flinke Christine hinter dem Vater zu der geöffneten Thür hinausgehuscht und nun die Treppe hinunter durch den Garten, zum hinteren Pförtchen hinaus, in den Wald hinein, so pfeilschnell, als wären ihr alle Häscher der Welt auf den Fersen. Sie dachte nicht einmal an Oktavie und wie es der wohl jetzt ergehe; sie dachte nur daran, Herrn Kurt zu warnen und ihm zur Flucht zu helfen. Er war kein so greulicher Anarchist oder anderer ›ist‹, das wußte sie, und sie sollten ihm nichts thun. Wäre nur Christoph hier gewesen! Der wußte immer Rat; nun mußte sie sich eben selbst helfen.

Mit einem ganz pathetischen »Fliehen Sie!« stürzte sie in die Höhle, so daß der Bewohner derselben angstvoll auffuhr aus der Ecke, in die er sich geflüchtet vor den an verschiedenen Stellen herabfallenden Regentropfen. »Ich glaubte, ihr wollet mich wochenlang in diesem prächtigen Gemach versteckt halten; warum soll ich denn plötzlich fort?« fragte Kurt müde. Er fühlte sich zu elend, um sich große Sorgen zu machen.

»Doch, Sie müssen,« fuhr Christine sehr nachdrücklich fort. »Herr Maier hat uns ausgefragt; nein, eigentlich ist Frau Kohl an allem schuld, sie ist abscheulich, und Otta hat es zuletzt von selbst gesagt; ich hätte es nie gethan. Das hätte noch nicht so sehr viel geschadet, wenn Herr Maier es bloß gewußt hätte; er sagte zwar, Sie seien ein An–, ach nein, ich sage es nicht; es ist zu greulich. Aber nun kam der Vater dazu und fragt alles heraus, und gewiß kommen sie jetzt her und führen Sie ins Gefängnis!«

Frau Kohl und Herr Maiers Beschuldigung hatten ihn ziemlich ruhig gelassen; als Christine aber den Vater nannte, fuhr er heftig auf. »Dann muß ich freilich fort, Kind; Herr von Solingen soll mich nicht hier treffen, so nicht. Aber wohin willst du mich bringen?«

In Christine entwickelte die Not eine wahre Indianerschlauheit.

»Wir schlüpfen durch dies Loch dort oben hinauf, während die andern auf dem Weg durch die Schlucht in die Höhle kommen. Es macht Ihnen doch nichts, wenn Sie ein bißchen schmutzig werden? Mir ist's gleich. Dann gehen wir ans Haus und hinauf in den Turm; dort sucht Sie niemand, und Sie können ganz gut heruntersehen in den Hof und Garten, wo man nach Ihnen fahndet und ruft. Ist das nicht lustig?« Und in der Aussicht auf diesen neuen Spaß gab sie die Höhle leichten Herzens dran.

»Kommen Sie – schnell; ich höre schon Schritte. Das Loch ist eng, aber Christoph ist auch durchgekommen.« Und sie fing an, sich die enge Öffnung hinaufzuwinden. Ehe ihr aber Kurt folgen konnte, hörte sie – o Schrecken! – Stimmen in der Höhle; der Vater, Herr Maier, gewiß auch Otta waren da! Nun war es zu spät! Und angstvoll ließ sie sich wieder heruntergleiten und kauerte in der dunkeln Ecke, angstvoll gespannt auf das Weitere horchend.

Oktavie stand zitternd am Eingang der Höhle, den Lehrer an der Hand haltend; Herr von Solingen schritt auf den todblassen Kurt zu:

»Wer sind Sie und wie kommen Sie dazu, sich hier verbergen zu lassen?« fragte er kurz und streng.

Die erste Frage übergehend, antwortete der Fremde, der allmählich seine Fassung wiedergewann:

»Sie haben wohl ein Recht, mich unter so ungewöhnlichen Umständen auf diese Art zu verhören, und es ist das Beste, ich sage Ihnen gleich den ganzen Sachverhalt, damit Sie doch wenigstens keinen Verbrecher in mir vermuten. Für die Wahrheit der Sache kann ich Ihnen keinen andern Beleg geben als mein Ehrenwort.«

Herr von Solingen blickte ihn scharf an; wie der junge Mensch das so sicher sagte! Und merkwürdig, es rief ihm Erinnerungen, die längst schliefen, wach – dieser bewegte Ton der Stimme, die stolze Haltung des Kopfes; und hieß er nicht Kurt? Doch – das gab es viele. An der Wahrheit dessen, was er nun hörte, zu zweifeln, das war außer Frage; so gab nur ein Ehrenmann, ein Edelmann sein Wort, das fühlte er.

»Ich bin in einem Bankhaus in der Residenz angestellt und kam durch das Geschäft in letzter Zeit viel mit zwei jungen Ausländern, Österreichern, wie sie sagten, zusammen. Sie waren ganz fremd, so fremd wie ich, als ich vor zwei Jahren in die Stadt kam; da wußte ich, wie man ein freundliches Entgegenkommen schätzt, und nahm mich gern ihrer an, wenn sie mir mit der Zeit auch nicht in allem gefielen. Vor vier Wochen reisten beide schnell ab, hatten aber im Sinn, bald wieder zu kommen, und übergaben mir ihre Papiere in einer Kassette; wir wohnten in einem Haus. Auch Zeitungen und alle Postsendungen, die für sie ankamen, sollte ich in Empfang nehmen und aufbewahren; ich that es ohne Arg, ohne mich weiter darum zu bekümmern. Ich bin kein großer Politiker.

»Wie ich nun vorgestern, Samstagabend, nach Hause wollte, so wartete an der Straßenecke der Junge meiner Hausfrau auf mich und flüsterte mir zu, daß die Polizei in den Zimmern der Fremden und in dem meinen sei und alles durchsuche. In ersteren habe man nichts gefunden, aber bei mir müssen sie Sauberes entdeckt haben! Er habe von sehr verdächtigen Papieren, von Festnehmen und Untersuchen gehört; er sei zufällig gerade im Ofenloch meines Zimmers gewesen, wie die Beamten dort verhandelt hätten. Ich solle ja nicht heim.

»Über die Zufälligkeit dieses Ofenlochaufenthaltes konnte ich mich nicht weiter besinnen; ich mußte dankbar dafür sein. Eine Untersuchung hätte ich nicht scheuen dürfen im Bewußtsein meiner völligen Unschuld; aber der Gedanke an meinen leidenden, vielfach gedrückten Vater, der bestimmte mich ohne weiteres Überlegen zur Flucht, obgleich ich mich schon nicht wohl fühlte. Er würde es nicht ertragen, seinen Namen, den eines alten edeln Geschlechts, in Gerichtsverhandlungen, die sich ohne Zweifel auf anarchistische Bewegungen (›Habe ich's nicht gesagt,‹ nickte da Herr Maier) beziehen, nennen zu hören. Meine Unvorsichtigkeit im Umgang mit den Fremden wäre durch den Schaden, den es ihm hätte bringen können, zu schwer gestraft worden. Durch mich soll das Kreuz, das mein Vater zu tragen hat, um nichts drückender gemacht werden. So eilte ich fort in der Nacht – auf die Eisenbahn wagte ich mich nicht – und lief und ging ohne Unterbrechung, fast ohne Nahrung, bis gestern abend die Herzensgüte und vielleicht auch die Freude am Phantastischen Ihrer Töchterchen dem Flüchtling ein Unterkommen verschafften. Nun erst kam ich zu ordentlichem Nachdenken, und da mußte ich mir sagen, daß meine unbesonnene Flucht vielleicht mehr geschadet als genützt hat und ich besser daran thue, mich dem Gericht zu stellen und mich zu rechtfertigen. Wenn nur meinem Vater die Sache erspart bleiben könnte!«

»Ich liefere Sie nicht aus, mein Herr,« entgegnete Herr von Solingen, der indessen die schlanke, kräftige Gestalt, die offenen, schönen Züge des jungen Mannes mit Wohlgefallen betrachtet hatte. »Ich bin kein Büttel und Sie kein Verbrecher, das sehe ich. Und daß Sie in erster Linie an Ihren Vater denken, das gefällt mir; er erlebt gewiß viel Freude an Ihnen. Ich beneide ihn um einen solchen Sohn trotz allen Nihilistenpapieren. Übrigens sehen Sie krank aus; das Gastgemach, das Ihnen das Mädchenvolk eingeräumt, ist doch ein sehr mangelhaftes. Zunächst kommen Sie nun unter mein Dach; das Weitere wird sich finden.«

In maßlosem Staunen hörten die Mädchen zu; so liebenswürdig hatten sie ja den Vater noch nie gesehen! Herr Maier konnte nicht umhin, Herrn von Solingen zuzuwinken und mit Kopfschütteln und Achselzucken ihn pantomimisch zur Vorsicht zu mahnen; etwas Anarchistisches war eben doch dabei, da galt es, auf der Hut zu sein.

Ohne diese Zeichen zu beachten, bot Herr von Solingen dem Fremden die Hand; aber warum zog der die seine zurück?

»Es wäre nicht ehrlich, wollte ich Ihre so gütig angebotene Gastfreundschaft annehmen, ohne daß Sie meinen Namen wissen: ich heiße Kurt von Solingen.«

Er konnte sich nicht länger aufrecht halten und sank auf sein Lager. Herr von Solingen war einen Schritt zurückgetreten und tiefe Schatten legten sich auf seine Züge – Kurt von Solingen! Seit achtzehn Jahren hatte er den Namen nicht mehr gehört, hatte den Bruder und sein Kind nicht mehr gesehen; und nun – das waren dieselben Züge, das war das junge, stolze offene Gesicht; der Sohn des Verhaßten, des von ihm Verfluchten stand vor ihm; und er konnte ihm jetzt auch schaden, konnte ihn in seinem Vaterstolz, seinem Vaterherzen verwunden. Das war die Rache. Er richtete den finsteren Blick auf den erschöpft Daliegenden, neben dem Oktavie stand, sein Kind; blaß und zitternd, die thränenvollen Augen auf ihn geheftet, die Hände bittend gefaltet. Sie wußte genug von der Geschichte des Hauses, um zu verstehen, um was es sich handelte.

Wie sie ihrer Mutter ähnlich sah! Gerade so hatte diese auch einst vor ihm gestanden und mit todwundem Herzen für seinen Bruder gebeten; gebeten, daß er den Fluch, den er auf das Haupt und Haus des Unglücklichen geschleudert, zurücknehme als Christ. Er hatte es nicht gethan; aber war er dadurch glücklicher geworden? Hatte ihm das den Sohn wiedergegeben? War nicht auch aus seinem Herzen der Frieden, von seinem Haus das Gedeihen, von seinen Kindern die Freude gewichen? Und warum hatte er denn dem Bruder, als dieser mit demselben wahrhaftigen Blick wie der Sohn hier gesagt: »Ich bin kein Verbrecher,« warum hatte er ihm nicht geglaubt? Der heiße Schmerz, die Leidenschaft hatten ihn am Ende doch verblendet, und es war ein gottgewolltes Unglück, kein schwarzes Verbrechen gewesen, was ihm sein Kind geraubt. Aber nachgeben, Gutes thun für das empfangene Herzeleid, war das möglich?

Leise war Christine aus ihrer Ecke gekrochen und stand nun vor dem Vater. Sie machte sich keine tiefen Gedanken über die Vergangenheit, und die Lösung der gegenwärtigen Frage schien ihr so einfach. »Aber warum soll denn Herr Kurt nicht zu uns kommen, da er doch unser Vetter ist? dann hättest du ja einen Sohn.« Ach ja, warum soll er nicht! Der Zwiespalt; die Hindernisse schienen plötzlich verschwunden vor den Worten des Kindes. Er konnte sie gar nicht gleich wiederfinden, und ehe er recht wußte wie, hatte er genickt und gesagt: »Er soll!« Dann wandte er sich um und verließ die Höhle, ohne zurückzublicken. Im Haus konnte Kurt ja sein, damit war noch nichts geändert.

Die Übersiedlung ins Schloß fand statt, und Oktavie, die mit einemmal den Mut gewonnen, als Hausmütterchen zu schalten, hatte das wohnlichste und freundlichste der Zimmer geöffnet für den Kranken, ja hatte sogar gewagt, den Stallknecht nach dem Arzt zu senden; der Vater ließ sich nicht blicken. Frau Kohl schickte sich mit wenig Vergnügen in die neuen Ereignisse und brachte nur widerwillig hervor, was für den Ankömmling nötig war. Ob es denn auch wirklich der Neffe des gnädigen Herrn sei? Daß er irgendwo durchgegangen und in einer Höhle gelegen, das sei noch lange kein Beweis dafür. Christine war hoch entrüstet und hätte die Verteidigung des Vetters mit beredten Worten übernommen, wenn sie nicht doch lieber in seine Stube geschlichen wäre, wo er müde im Sofa lehnte, um ihm den Kaffee zu bringen, den sie selbst gemahlen hatte, wahrend Oktavie ihm alles, was von Kissen und Fußschemeln im Hause war, herschleppte; überreich war es an solchen Bequemlichkeiten nicht. Sie hatten noch nie für jemand sorgen dürfen; jetzt genossen die beiden Samariterinnen dies Pflegen und Schaffen und Wichtigthun als ein neues Glück; wenn ihnen nur immer jemand gesagt hätte, wie sie es machen sollten! Im Lauf des Nachmittags kam der Arzt, der Kurt recht krank fand und sogleich ins Bett sprach. »Wer wird denn die Pflege übernehmen?« fragte er. – »Wir beide,« versicherte ihn Oktavie, die ängstlich mit der Schwester vor der Thür auf ihn gewartet hatte.

»Mit dem guten Willen allein ist's nicht gethan, Kinder,« sagte der Doktor, freundlich lächelnd in Oktavies entschlossenes Gesichtchen blickend; »da gehört jemand anders her als zwei solch zierliche Sommervögelchen. Der Herr Baron ist nicht zu Hause? So hole mir eure Haushälterin!«

Frau Kohl kam, versicherte aber sehr wortreich, daß sie das Nachtwachen und die Krankenluft nicht ertrage; ein Mensch sei man doch auch, und sie habe am Tag so viel zu thun, und wenn die Hopfenernte beginne, noch viel mehr; da könne sie nicht auch noch Fremde pflegen mit Gott weiß was für Gebresten. Sie begreife gar nicht, wie der Herr Baron dazu komme, landfremde Leute aufzulesen und ins Haus zu schicken; das sei seine Sache sonst nicht – wobei ein strafender Blick auf die Mädchen, die sie als Hauptschuldige im Verdacht hatte, fiel. Daß das keine Pflegerin war, wie er sie für seinen Kranken brauchte, sah der Arzt bald; aber irgend jemand mußte doch her! Er kannte die Verhältnisse des Hauses nur wenig, da er bis jetzt nie gerufen worden war, und wandte sich wieder zu den Schwestern.

»Ist denn niemand sonst im Hause, der für euch sorgt?« – »Nein.« – »Oder den man herbeirufen könnte? eine Tante oder Cousine?« – »Nein.«

Er ging ins Krankenzimmer zurück und fragte seinen Patienten: »Sie haben doch gewiß irgend ein weibliches Wesen, das kommen könnte zur Pflege? Es muß jemand da sein, und eine Krankenwärterin kann ich doch nicht auf eigene Faust kommen lassen. Im Haus ist niemand Taugliches – ist überhaupt eine merkwürdige Wirtschaft,« brummte er. »Lebt Ihre Frau Mutter noch? Ist sie wohl? Könnte sie kommen?«

Kurt nickte.

»Gut, geben Sie mir die Adresse, ich telegraphiere an sie.«

»Aber ich bitte Sie – ich darf das nicht,« sagte Kurt ängstlich; »ich bin selbst Gast hier und kein gern gesehener; meine Mutter wird nicht aufgenommen werden.«

»Ach was,« meinte der Arzt, »nicht aufgenommen! Platz haben sie ja für ein Regiment Mütter, nicht nur für eine. Was sollte der Baron dagegen haben? Und warum geht er nicht her, daß man ihn fragen könnte? Sie werden herzlich froh sein, wenn Sie von der Mama versorgt werden, und die kleinen Fräulein können sie auch brauchen neben dem alten Hausdrachen. Sagen Sie mir die Adresse Ihrer Eltern! In Berfeld leben sie? Heute kann wohl niemand mehr kommen, aber morgen. Diese eine Nacht wird doch auch im Haus ein Christenmensch sein, der für Sie sorgt.«

Die Schwestern setzte er beim Gehen zu ihrem großen Schmerz ganz ab als Krankenpflegerinnen; sie sollten gar nicht mehr ins Zimmer hinein, um den Kranken nicht zu stören. Frau Kohl legte er dagegen seine Verordnungen streng ans Herz und machte sie für die Ausführung verantwortlich. »Morgen kommt die Mutter von Herrn von Solingen,« sagte er beim Weggehen.

»Auch noch die!« riefen die Mädchen und Frau Kohl aus einem Munde; aber wie verschieden! Die eine brummte es verdrießlich, sich widerwillig auf ihren Posten im Krankenzimmer begebend; die andern faßten sich jubelnd bei den Händen und führten einen möglichst leisen Freudentanz in der großen Wohnstube auf. Eine Tante kam! Nie hatten sie eine kennen gelernt, und gewiß würden sie sie lieb gewinnen. »Aber der Vater!« sagte plötzlich Oktavie erschrocken – an den hatten sie noch gar nicht gedacht – »was wird der dazu sagen?«

»Ach,« meinte Christine, »es ist jetzt auf einmal so viel Merkwürdiges geschehen: der Vetter ist im Hause, und Papa hat's erlaubt, da kann auch noch die Tante kommen.«

Und noch lange hatten sie zu flüstern in ihren Betten über die wunderbaren Ereignisse, die ihr Stillleben unterbrochen, bis ein süßer Schlaf noch wunderbarere Träume brachte. Sie hörten den schweren Tritt des Vaters, der spät in der Nacht heimkam, nicht mehr.

Dem Kranken war's nicht so gut ergangen; er hatte eine noch qualvollere Nacht als die in der Höhle verbracht. Das Fieber, die Schmerzen auf der Brust hatten sich gesteigert; so oft er etwas gewollt, einen frischen Umschlag, einen Schluck Wasser, schnarchte Frau Kohl; ruhte er einen Augenblick, so schüttelte sie ihn auf und nötigte ihn zu trinken. Dabei goß sie das Wasser über ihn hinunter oder warf ein Messer, ein Buch geräuschvoll auf den Boden, bis sie sich wieder seufzend in das Sofa fallen ließ, daß das morsche Gestell krachte.

Endlich, endlich graute der Tag, dem er nur mit dem einen Gedanken entgegensah: »Deine Mutter kommt.« Er war nie ernstlich krank gewesen; aber von dem leichten Kinderunwohlsein her hatte er eine köstliche Erinnerung, welch ein Vergnügen es gewesen, sich von der Mutter pflegen zu lassen. Wo er war, wie er hergekommen, sogar die Gestalten des zürnenden Onkels, der jugendlichen Retterinnen – alles trat zurück vor der Erwartung.

Inzwischen saßen die Mädchen mit dem Vater am Frühstück; er hatte noch mit keinem Wort nach dem Kranken gefragt. Sollten sie ihm sagen, wie es stand? wer heute kommen werde? Eigentlich mußten sie es, das fühlte Oktavie wohl, und doch konnte sie im Blick auf die düstere Miene des Vaters unmöglich den Mut dazu finden.

Frau Kohl war nach ihrer Nachtwache nicht so zartfühlend und schonend aufgelegt. Als sie hereinkam, um das Kaffeegeschirr fortzunehmen, wandte sie sich ohne Umschweife an ihren Gebieter:

»Der junge Herr ist recht krank, sehr krank, und der gnädige Herr werden wissen, daß heute seine Frau Mutter kommt; der Doktor hat sie herberufen.« Und im sicheren Gefühl, daß sich das Gewitter doch nicht über sie entladen könne, segelte sie mit ihren Tassen und Kannen hinaus.

»Du warst nicht da, Vater, so konnte man dich nicht fragen,« sagte zitternd Oktavie; »und der Arzt sagte, es müsse jemand da sein zur Pflege.«

»O, ich freue mich sehr, daß die Tante kommt, nun haben wir doch auch einmal Besuch,« meinte die leichtsinnige Christine. Aber weder die eine noch die andere erhielt eine Antwort; der Vater schob seinen Stuhl zurück und verließ das Zimmer, holte sein Jagdgeräte und stand nach einer Weile auf der Schwelle der Pforte unten. Der Mutter verwehren, zu ihrem kranken Sohn zu kommen, das konnte er nicht; aber sie empfangen, das durfte man ihm nicht zumuten.

Er pfiff noch nach Wächter und Diana, um dann schnell fortzugehen. Wo steckten die Tiere?

Ehe er sie beisammen hatte, rasselte ein Wagen durchs Hofthor und hielt vor dem Portal; eine ungeduldige Hand drückte hastig den Schlag auf und eine blasse Dame verließ eilig den Wagen, ängstlich um sich blickend. Aber wer stieg hinter ihr aus? Wie gebannt stand der Baron auf der Schwelle.

Achtzehn trübe Jahre waren vergangen, seit auf derselben Stelle ein junger, schöner, lebensfroher Offizier gestanden; nun lehnte ein gebeugter Mann mit gramdurchfurchten, früh gealterten Mienen dort – es war Erich, der den beinahe zum Greis gewordenen Bruder anstarrte. Der Fluch hatte auf beiden gleich schwer gelastet, beider Leben vergällt. Er streckte die Arme aus; noch ein Moment – und die Männer hielten sich umschlungen, fest, fest, während ein Schluchzen des älteren Brust hob, das den tiefsten Grund seiner Seele erschütterte. Es waren die ersten Thränen seit seines Kindes Tod, und finsterer Haß, wildes Weh, Groll und Bitterkeit schmolzen unter den brennenden Tropfen. Nicht Nachdenken, nicht Überlegen und Selbstüberwinden – Gottes eigene Hand hatte die Brüder zusammengeführt. Stumm, in tiefer Bewegung stand die Dame dabei; sie wollte mit keinem Wort den heiligen Ernst des Augenblicks, der die Last von ihres Gatten Seele nahm, stören, und doch blickte sie ängstlich umher, ob niemand da sei, der sie zu dem Sohn führe, der ihr erkläre, wie er gerade hierher gekommen. Da sah sie im Hintergrund der Halle am Fuß der Treppe zwei erschrockene, verstörte Kindergesichter und wandte sich zu ihnen, während die Brüder draußen noch Hand in Hand standen, ohne die Worte zu finden, die ausdrückten, was sie bewegte.

Als sie ins Haus traten, fragte der Jüngere endlich: »Und du hast meinen Kurt aufgenommen? Du hast ihn krank in dein Haus gebracht?«

»Komm nur zu ihm! Mein Verdienst ist es nicht; das ist der Mädchen Werk.«

Sie öffneten die Thür des Krankenzimmers, wo Kurt mit glücklichem Lächeln seiner Mutter Hand festhielt, die sich halb scheltend, halb liebkosend zu ihm beugte, während Oktavie und Christine ihr mit großem Eifer die wunderbare Geschichte der Höhle, des verfolgten Verbrechers und wiedergefundenen Vetters erzählten. Die Väter hörten lächelnd zu, bis auf einmal der Doktor dastand, ganz erstaunt ob dieses Überflusses an Menschen, während er gestern gar niemand für das Krankenzimmer gefunden. Alle wurden jetzt verbannt bis auf die Mutter, die bei der nun eintretenden Erschöpfung ihres Sohnes erst sah, wie krank er war.

»Aber wir bringen ihn durch, nun die Frau Mutter pflegt,« meinte der Arzt mit zuversichtlichem Lächeln. Für den Bruder befahl Herr von Solingen vor allem ein ordentliches Frühstück, und Otta und Tini trippelten unermüdet von der Küche ins Zimmer, vom Zimmer in die Speisekammer, um des Vaters und Frau Kohls Befehle zu erfüllen.

»Interessiert es dich, den neuen Stall zu sehen, den ich gebaut?« fragte er den Bruder, nachdem sich dieser für völlig gestärkt erklärt; »bin begierig, was du zu dem Fuchsen sagst, den ich vorige Woche gekauft.« Während die Brüder miteinander Haus und Hof besichtigten, legten sich allmählich die hohen Wogen der bewegten Gefühle, und doch war jedes gewöhnliche Wort und Gespräch von der wohlthuendsten Wärme durchdrungen, mit der die wiedergefundene Bruderliebe die Herzen erfüllte.

Nun erst empfanden sie, was ihnen in all den Jahren gefehlt.

Von den Schwestern wurde gemeinsam eine Schilderung all der wunderbaren Ereignisse an Christoph verfaßt, bei der ihm der angedrohte Spott Tinis nicht erspart blieb. Der Brief schloß mit einer begeisterten Schilderung der Tante und mit der Versicherung: »Es ist nun so schön bei uns; komme nur!«

Der Herr des Hauses hatte in der nächsten Zeit einigemal Reisen in die Hauptstadt zu machen, von deren Zweck er nicht sprach, nicht einmal gegen den Bruder, und einmal brachte er einen feinen, ernsthaften Herrn mit, der in die Krankenstube eingeführt wurde. Das galt dem Verbrecher Kurt, von dessen Unschuld sich das Gericht rasch überzeugte. Sein Name und seine völlige Unkenntnis ihrer Umtriebe hatte die Fremden bestimmt, ihm die allerdings gefährlichen Papiere zu übergeben, weil sie dieselben bei ihm vor jeder Nachfrage sicher glaubten. Die Eltern erfuhren das Ganze erst so recht, nachdem durch des Onkels Bemühungen alles im reinen war.

Und es war nicht nur schön, es blieb auch so. Nach zwei bänglichen Wochen hatte Kurt sich wieder erholt und durfte an einem warmen Herbsttag zum erstenmal hinaus. Der Onkel führte ihn selbst herum, erst nur durch den Garten. »Laß mich auch deine Ställe, das Vieh sehen!« bat er.

»Was kümmerst du dich darum! So ein Pfennigpolierer!« meinte der Onkel etwas geringschätzig. Aber wie staunte er über des Neffen Freude an seinem schönen Vieh und den sachkundigen Bemerkungen über die Pferde!

Als sie im Wohnzimmer alle beisammen am Kaffeetisch saßen, den Christine unter der Tante Leitung hatte zierlich decken lernen, da wandte sich der Hausherr ganz vorwurfsvoll an seinen Bruder: »Wie hast du nur aus dem Jungen so einen Geldklauber machen können! Der hätte das Zeug zu einem Landwirt aus dem ff.«

»Das ist ein wunder Punkt, Eberhard,« entgegnete der Offizier; »es war sein sehnlichster Wunsch von klein auf. Aber das ist keine Laufbahn für den Sohn eines früh pensionierten armen Offiziers. Meine Älteste hat sich verheiratet, mußte ausgesteuert werden; für Ida, die Jüngste, muß man auch sorgen; so that es Kurt uns zuliebe und entschloß sich, in die Bank einzutreten. Wir hatten nicht viel Glück, was man so heißt, bis jetzt.«

»Banquier ist er gewesen, das sage ich dir,« fiel rasch Herr von Solingen ein, der nicht gern das Gespräch auf die Vergangenheit kommen ließ. »Lasse ihn mir hier auf dem Gut; ich brauche ihn.«

Mit leuchtenden Augen sah Kurts Mutter auf den Gatten; sie fühlte, daß mit dem tiefen Seufzer die schwere Last von seiner Brust sich wälzte, die all die Jahre her auf ihm gelegen, die ihre häuslichen Freuden verdüstert, jedes kleine Mißgeschick doppelt drückend gemacht. Nun war der Fluch des Bruders völlig zurückgenommen.

Sie reichte dem Schwager glückselig dankend die Hand, jetzt durfte sie auf einen freundlichen Lebensabend für den geliebten Gatten hoffen, und ihr ganzes Herz war erfüllt von Dank gegen Gottes Güte, die dies Wunder bewirkt.

Und Kurt! »Onkel, ist's dein Ernst? Kannst du mich hier brauchen? Und ich soll jetzt fröhlich schaffen und wirken in Feld und Wald, statt in der trüben Rechenstube zu sitzen! Wenn ihr wüßtet, wie wohl mir bei dem Gedanken ist!« Sie wußten's im Blick auf sein lachendes junges Gesicht, das seit lange nicht mehr so glücklich ausgesehen.

»Ihr bleibt selbstverständlich auch hier wohnen,« wandte sich der Hausherr an den Bruder; »Raum in dem alten Eulennest gibt's ja mehr als genug.«

»Eberhard, das sagst du im ersten erregten Augenblick,« entgegnete der Offizier, »und ich danke dir, daß du's gethan und ich das Haus unserer Väter wieder als Heimat ansehen darf. Aber das thun wir nicht, das müßte dir mit der Zeit selbst zu viel werden. Du sollst allein Herr des Hauses sein. Wenn wir im Sommer uns hier ausruhen und das Mirakel von einem künftigen Landwirt, unseren Kurt, uns in der Nähe besehen dürfen, so thun wir das gern. Meine Frau kann dann nach den kleinen Höhlenbewohnerinnen sehen und sie zu jungen Damen, die zu brauchen sind, heranziehen – das versteht sie; aber sonst laß uns in den alten Verhältnissen! Leicht ums Herz ist mir jetzt auch dort.«

Die Höhlenbewohnerinnen sahen sich etwas verwundert an; daß sie einst »junge Damen« sein sollten, war ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, und wie sie dazu gemacht werden sollten, war ihnen völlig unklar. Aber die Tante konnte alles, sie konnte gewiß auch dieses Wunder vollbringen. Ohne viel Tadel und Ausstellungen zu hören, empfand doch, seit die Tante im Hause war, Oktavies feines Gefühl, wieviel ihnen fehlte, wie ungeordnet das Haus war, wie anders sie sprechen und sich bewegen sollten, und neben dem Beschämenden dieser Überzeugung fühlte sie mit unbeschreiblichem Wohlsein den Einfluß einer edeln, feinen und frommen Frau; das Glück, daß sich jemand wirklich kümmerte um sie und die Schwester. Sie schloß sich mit der ganzen Liebe, der ihr Herzchen fähig war, an die mütterliche Tante an, und blühte auf wie ein Röslein, das jetzt erst in milde Luft und Sonnenschein gepflanzt worden.

Christine fand es auch wunderschön, daß die Tante da war, daß sie ihnen geholfen, das Zimmer wohnlicher zu machen, daß sie ihnen von der Cousine Ida und von dem kleinen Ernst, ihrem Enkel, so lustig erzählte; aber das Lernen, das Nähen und Sticken unter ihren Augen nahm doch viel Zeit, und das Herumstreifen im Wald, die schönen Aufführungen im Gartenhaus, die Plauderstündchen am Herdeckchen mit Katharine und die Besuche im Stall – das alles wurde sehr beschränkt, und es war doch so lustig gewesen! So schrecklich betrübt hatte sie sich ohne Mama und Tante nicht gefühlt; aber freilich durfte man das Otta nicht merken lassen.

Damit war sie übrigens auch ganz einverstanden, daß die Tante auf aller Bitten hin Cousine Ida kommen ließ, eine so heitere, liebenswürdige Cousine, daß Christine ohne allen Schreck vernahm, sie werde diesen Winter ganz da bleiben und die Erziehung der Schwestern weiter in die Hand nehmen.

Christoph hatte es möglich gemacht, vor dem Beginn der Schule noch einige Tage nach Solingen zu kommen; es gelüstete ihn doch, sich selbst von den Veränderungen im Dornröschensschloß zu überzeugen. Der Name paßte übrigens gar nicht mehr, seit so viel Leben und Bewegung im Hause war.

Eine heitere Tafelrunde saß jetzt um den langen Tisch im Wohnzimmer, und der Freiherr entzog sich ihr nicht. Er hörte zu, vernahm, was die Oktavie für kluge Reden mit Ida führte und wie das flinke Zünglein Tims keine Neckerei des Vetters oder Christophs schuldig blieb; man brauchte sich der Mädchen wirklich nicht zu schämen.

Den Freiherrn selbst fand Christoph am meisten verändert; er, dem alles mit mehr oder weniger Scheu aus dem Weg gegangen, verkehrte nun mit den Hausbewohnern natürlich und ungezwungen. In eifrigem Gespräch mit Kurt sah man ihn in Hof und Ställen, und fast schien es, als ob das gefurchte Gesicht geglättet, die gebeugte Haltung aufrechter geworden wäre in den wenigen Wochen. Das war nicht nur die Folge davon, weil er jetzt einen Sohn, eine frische Stütze zur Seite hatte; weil das Unbehagen weg war, das ihn aus der zerrütteten Häuslichkeit zu wilder Gesellschaft, zu aufregendem Spiel getrieben – nein, vor allem, weil er Frieden im Herzen, Frieden mit dem Bruder hatte und den Frieden mit Gott suchte, der ihn lehrte, seinen Verlust ergeben, als von seiner Vaterhand gesandt, anzusehen.

Die Schwestern waren mit Christoph nicht so ganz zufrieden; sie fanden ihn auch verändert, aber sehr zu seinem Nachteil. Er war gar nie mit ihnen zusammen; immer steckte er mit Kurt und Ida irgendwo; kamen sie dazu, so verstummte die Unterhaltung und sie mußten sich mit geheimnisvollem Lächeln, unverständlichen Zeichen und Bemerkungen begnügen. Zum Vorlesen oder Spielen kam es nicht; schlugen sie einen Gang in ihre »Friedensruh« vor, so hatte er sicher irgend eine Ausrede und wußte sie davon abzuhalten. Das gefiel besonders Christine gar nicht; mit finster grollender Miene ging sie herum, ohne die Genugthuung zu haben, von jemand deshalb gefragt zu werden.

Sogar Jakob, der Knecht, war von dem Heimlichthun, dem Verschwinden und Zeichengeben angesteckt, und Tini war im Begriff, als die Sache ihren Höhepunkt erreicht und sie einen ganzen Vormittag lang nichts von den Verschworenen gesehen, bei Tisch feierlich zu erklären, daß das nicht auszuhalten sei, als Kurt so nebenbei den Vorschlag zu einem gemeinsamen, Spaziergang für den Nachmittag machte. Alles stimmte bei, sogar der Vater, und die Aussicht auf dieses Vergnügen ließ Christine ihre Rede vergessen. Vorher mußten schnell die Aufgaben gemacht werden; um vier Uhr sollte sich die Gesellschaft versammeln.

Aber es war doch wieder, nicht das Rechte, – nur der Vater, der Onkel und die Tante waren im Hof, als die Schwestern herunterkamen; die andern seien schon voraus, hieß es. »Wohin soll es denn gehen?« fragte Oktavie, die sich an der Tante Arm hängte.

»Denke, wir haben ja eure Höhle, die so wichtig geworden, noch gar nicht gesehen; nun zeigt uns den Weg dorthin, mein Liebling,« entgegnete diese.

»O, das thun wir gern, nicht wahr, Tini?« rief Oktavie. »Du sollst dich wundern, wie groß sie ist. Freilich ist es schon ein bißchen spät; bis wir hinkommen, wird es fast dunkel sein in der Schlucht und in ›Friedensruh‹, so heißt die Höhle, weißt du. Aber du fürchtest dich ja nicht und wir sind nicht allein. Kurt mochte das Moosbett nicht ...«

»Aber wie gut, daß er darauf gelegen! Wir alle wären sonst nicht hier,« meinte die Tante, indem sie mit Oktavie den Herren folgte. Die hatten sich so viel zu sagen, als wollten sie alles das in den Jahren der Trennung Versäumte in ebensoviel Tagen nachholen. Tini hüpfte voraus und hatte genug zu thun, um lachend den Tannenzapfen auszuweichen, die hinter ihr drein sausten – am Ende von des Vaters Hand?

Endlich war man am Abhang. »Seht,« erklärte Christine, »dort hat Kurt gestanden und wußte nicht, wie weiter kommen; und da sind die Stufen, Otta und ich haben sie gemacht. Kann man nicht ordentlich fest darauf treten? So bequem! Kommt ihr nach? Nun sieht man aber nicht mehr gut; gib mir deine Hand, Tante! Hier wird's glatt und ganz ...«

Was war das! Aus der Schlucht drang ein heller Schein herauf; woher kam der? So schnell waren die Schwestern nie die Stufen hinuntergekommen; aber – waren sie wirklich vor ihrer alten Höhle? War am Ende doch etwas Wahres an den Feen und Erdleutchen? In strahlenden, flimmernden Buchstaben prangte ein großes »Friedensruh« zwischen dem Gestein und den Farnkrautbüscheln über dem Eingang, und ein blendender Lichtglanz flutete aus der Höhle, in die sie jetzt des Vaters Hand hineinschob.

Von allen Vorsprüngen, aus den Ecken hervor, von der Decke herab funkelten kleine Lämpchen und Lichter, die aus dem Hintergrund ein prachtvoll rotes, jetzt ein leuchtend grünes Licht überstrahlte. Dazu glitzerte und funkelte es überall an den Wänden wie Edelsteine, feine Silberfäden spannen sich über das rauhe Gestein; das war ja Aladins Höhle! und doch wieder ihr altes »Friedensruh!« Die sprachlos Erstaunten merkten nicht, daß sich hinter ihnen die Höhle füllte mit bekannten Gestalten, sie hatten nur mit weit aufgerissenen Augen die niegesehenen Wunder anzustarren.

Und jetzt stand ja plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, eine Gestalt in braunem Gewand und langem weißen Bart vor ihnen, kahlköpfig und gebeugt, und klagte, wie seine stille Behausung, in der er einst als Eremit gelebt, seit kurzem von Menschen aufgefunden worden, die ihn stören, wenn er einmal wieder hier nachsehen wolle; sie lachen, weinen oder seufzen, hüpfen leichtfüßig hin und her – das könne er an der, heiliger Andacht geweihten Stätte nicht dulden; und kummervoll schüttelte er das greise Haupt.

Da plötzlich klang eine silberhelle Stimme hinter ihm: »O, zürnet nicht, ehrwürdiger Vater!« und gehüllt in weiße Gewänder und duftige Schleier stand in geheimnisvollem blauen Schein eine holde Lichtgestalt, die Waldfee, neben ihm und berichtete ihm, wie zwei liebliche Menschenkinder (»Das sind wir!« flüsterte Otta) die Höhle gefunden und sie bestimmt zum Zufluchtsort Verfolgter, zum Port für Ruhelose, die hier den Frieden finden sollten. (»Du, das ist Ida! Sie hat bloß ihr Haar offen und in Locken,« wisperte Tini in der Schwester Ohr, »und der Einsiedler hat ein bißchen gelacht, gerade wie Christoph.«) Otta schüttelte nur den Kopf, damit Tini schweige, sie hörte mit atemloser Aufmerksamkeit zu, wie die Fee fortfuhr, sie habe diese ihre Lieblinge stets beschützt; aber Gott, der die Macht allein besitze, habe es so geleitet, baß das kindische Spiel zu Großem geführt und die kleinen Hände getrennte Herzen vereinigen konnten. Der Eremit solle auf die glücklichen Menschen sehen, die in der Höhle den Frieden wiedergefunden, den sie, will's Gott! nie mehr verlieren werden.

Wenn's so sei, sagte nun der Einsiedler, so wolle er sich von Herzen mit ihnen freuen und ihnen die Höhle für immer überlassen. »Wir aber,« rief da ein etwas groß geratener Zwergkönig, der aus dem Hintergrund hervorsprang in rotem Wams und Goldkrönlein, »wir, die rechtmäßigen Bewohner der unterirdischen Räume, wir haben uns von Anfang an der holden Schwestern gefreut; daß ich's nur gestehe, ich zog die eine hier herunter als sie glaubte zu fallen. Wir sind stolz über das schöne Werk, das sie hier begonnen, stolz auch, es aus unserer Schatzkammer belohnen zu können.« Und er näherte sich den Schwestern in prachtvollem roten Feuerschein und hing jeder an goldenem Kettlein ein Kreuz um den Hals.

»Kurt! Kurt!« jubelte Christine und wollte ihn halten; aber lachend entschlüpfte er ihren Händen. Otta sah sich wie im Traume um – da standen bei Onkel und Tante der Herr Schullehrer, Frau Kohl, Ameile, Katharine und wer sich vom Dorf und Schloß hereindrücken konnte, und dort führte Tini mit der Fee, dem Einsiedler und Zwerg einen jubelnden Ringeltanz auf. Also waren sie, scheint es, doch noch auf der wirklichen Welt! Tini mußte, nun der Zauber gebrochen, natürlich alles aufs genaueste untersuchen; wo die Lämpchen standen, wie sie das schöne, farbige Licht gemacht, mit was sie sich verkleidet; wer die feurige Inschrift über dem Eingang angebracht – und gewiß habe sie den prächtigen Schmuck von Onkel und Tante; denen müsse sie schnell einen Kuß dafür geben. Der kleine Naseweis war nicht zufrieden, bis er nicht alles herausgebracht, während Oktavie viel lieber den zauberhaften Eindruck sich unzerlegt erhalten wollte.

Sie schlich sich, während die andern Zuschauer die Herrlichkeiten nun auch möglichst nahe besehen wollten, zum Vater hin, und er legte die Hand leise auf das Köpfchen, das sich an ihn schmiegte. Es zog durch seine Seele, wie wunderbar Gott die schwachen Kinderhände benützt, um ihm und dem Bruder das Kleinod des Friedens wiederzubringen, und wie wenig er das um sie verdient. Er sprach das Gelöbnis, das aus seinem Herzen aufstieg, nicht aus; aber in seinem Blick, an dem Druck, mit dem er ihre Hand faßte, spürte das Kind, daß sie einen größeren Schatz als das goldene Kreuz, daß sie des Vaters Liebe aus der Höhle mitnehme.

Ehe die Lichter verlöschten, blies Kurt zum Heimgang. Nachts habe die Höhle ihre unangenehmen Seiten, meinte er; er wisse das als Zwergkönig und Mensch. Ein stattlicher Zug, voran Jakob mit zwei Fackeln, bewegte sich zum Schloß, wo sich alles um eine Bowle versammelte, die Kurt und Christoph brauten.

Tini nahm es zwar ein wenig übel, daß Christoph immer mit Ida anstieß und nur einmal mit ihr; aber im ganzen war das ein leichter Schatten bei so viel Licht; war sie doch dagegen der ausgesprochene Liebling des Onkels.

»Otta, hättest du je geglaubt, daß es so wunderschön sein kann!« seufzte sie ganz glücksmüde, als sie, ich sage gar nicht wie spät, in ihr Stübchen kamen; »sogar Frau Kohl hat gelacht. Und alle sagen, wir seien schuld daran, obwohl wir nur zwei Mädchen sind.«

»Ich glaube, der liebe Gott ist schuld daran,« flüsterte Oktavie im Einschlafen, während sie den Arm um der Schwester Hals schlang.


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