Ottilie Wildermuth
Die alte Freundin
Ottilie Wildermuth

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Die Kinder der Heide

»Auf der Heide« nannte man einen hochgelegenen Platz nicht zu fern von der Stadt Eberburg, der sehr wenig besucht war; obgleich es nicht so öde und unfruchtbar dort aussah, wie mir uns sonst Heideländer denken, lag doch ein düsterer, unheimlicher Hauch über der Stätte.

Man konnte von dem kleinen, netten Wohnhaus, das dort stand, hinübersehen auf die Türme und Zinnen des Schlosses, das eine Zierde der Stadt war; vor demselben lag ein freundliches Blumengärtchen, das noch Spuren einer ursprünglich zierlichen Anlage zeigte. Zwischen dem Gärtchen und einigen Kartoffel- und Gemüseländern, die noch zum Haus gehörten, führte der Weg zur Stadt hinunter. Hinter dem Hause ging es dem Walde zu, der die ganze Gegend zierte.

Es war meist still da oben; doch sah man auf der Staffel vor dem Haus an allen warmen Tagen zwei Kinder sitzen, einen Knaben und ein Mägdlein, eifrig und meist einträchtig in ihre Spiele vertieft, die sie von sich selbst gelernt hatten, zu denen ihnen aber der Stoff nie auszugehen schien. An den ersten sonnigen Frühlingstagen saßen sie schon mit »Palmkätzchen« und »Himmelsschlüsselchen« da und fingen ein Handelsgeschäft an, bei dem die feineren Kieselsteine Goldstücke vorstellten und die gemeinen die geringe Münze. Der Garten gab ihnen ein unerschöpfliches Material zum Spielen; sie legten sich selbst schöne Gärtchen an mit Sandwegen darin und bepflanzten die Beete mit Blümchen und kleinen Zweigen. Katharine, die alte Hausmagd, schalt freilich oft, daß die Hausschwelle immer so voll »Gruft« sei; es war aber nicht so schlimm gemeint, und wenn die kleine Anita sagte: »O geh, Kathe, du bist gar nicht so bös, wie du thust,« so lachte sie oft gutmütig vor sich hin und sagte halblaut: »Spiel nur, arm's Tröpfle; hast ja sonst doch nicht viel Gut's.« Warum sie aber ein arm's Tröpfle sein sollte, das wußte Anita nicht; sie selbst kam sich gar nicht so vor und ihr Bruder Siegmund noch weniger.

Ihre Mutter konnte sich Anita kaum mehr denken, aber Siegmund war schon vier Jahre alt gewesen, als sie gestorben war; dem war ein blasses, freundliches Gesicht noch in guter Erinnerung. Besuche kamen keine auf die Heide, hie und da etwa der Schneider aus der Stadt; der machte Kleider für den Vater und Siegmund, und seine Frau die für Katharine und Anita. »Bring' auch einmal deine Kinder mit,« sagte die Kleine; »wir haben ein Eichhorn im Garten, und Katharine gibt ihnen Apfel.«

»Sie sind gar dumm,« sagte entschuldigend die Schneidersfrau, »sie fürchten sich.«

Warum sich nun die Schneiderskinder fürchten sollten, das konnten die Kinder auf der Heide nicht begreifen, war doch ihr Haus und Gärtchen freundlich und nett. Bei dem Hinterhaus freilich, das ziemlich weit ab vom Wohnhause stand, mit einem großen Hof daran, wo Michel und Hans, die zwei Knechte, schliefen, da sah es unheimlich und wüst aus; da mochte Anita gar nicht hin, auch Siegmund war es von dem Vater verboten, hinüber zu gehen. Er hätte manchmal gern gewußt, was aus den Tieren wurde, die er oft auf einem schmalen Weg von hinten heraufführen sah: Pferde, Rinder, Schafe, und von denen nie wieder eines hinunterkam; auch hatten die Bursche selbst immer Luft, Possen mit ihm zu treiben; aber außer des Vaters Verbot flößten ihm der böse Geruch, der oft von dort herkam, und eine Blutlache, die er einmal hinten im Hofe gesehen, ein unbestimmtes Grauen ein.

Der Vater war gut und freundlich gegen die Kinder; er brachte ihnen meist ein Schächtelchen Spielzeug, ein Bilderbuch oder eine Tüte Bonbons mit, wenn er über Feld gewesen war, und sprach nie hart mit ihnen; aber mit ihnen zu spielen, das verstand er nicht recht, er war ein stiller und ernsthafter Mann. Im Sommer arbeitete er fleißig auf seinem Acker oder in dem kleinen Garten; auch trocknete er allerlei Kräuter und Wurzeln, die er aus dem nahen Wald holte; da durften auch die Kinder mit ihm gehen, und sie waren glückselig, schöne Erdbeeren und Himbeeren zu suchen. Die getrockneten Kräuter wurden in einer oberen Stube aufbewahrt, in welche die Kinder aber nie kommen durften. Hie und da, besonders an Sonntagabenden, kamen Leute, die etwas kaufen wollten von Meister Scholter, wie sie den Vater nannten. Was es aber war, das er ihnen aus der oberen Stube holte, wußten die Kinder nicht; sie wußten auch nicht, warum die Leute oft in so gar mitleidigem Ton sagten: »Was für nette Kinder!« Wenn sie nett waren, so war das ja kein Grund, Mitleid mit ihnen zu haben.

Es war ein schöner Sonntagnachmittag im Frühling; Mücklein und Herrgottskäferlein summten auf der Heide; Hans und Michel waren fortgezogen, um irgend ein Wirtshaus zu suchen; die Kinder saßen im Gärtchen, Anita setzte eine Kette von Schlüsselblumen zusammen, und Siegmund hatte Käfer gesammelt, mit denen er ein Wettlaufen anstellte. Der Vater saß auf der Bank vor dem Haus mit einem Buch in der Hand, wie er das gern that an Sonntagen; er blickte oft hinüber nach seinen Kindern und horchte ihrem Geplauder zu, aber er sah dabei wie immer ernsthaft aus; sie hatten ihren Vater noch selten anders gesehen.

»Ein Herr!« rief da in höchster Verwunderung Siegmund; »ein Mädele!« noch viel erstaunter Anita. »Der Herr Prediger,« rief der Vater und kam mit abgezogener Mütze dem Herrn entgegen, der mit einem etwas bleichen Töchterlein, wenig älter als Anita, von der Straße her kam.

»Guten Abend, Meister Scholter!« sagte der geistliche Herr und gab ihm die Hand; »wir haben uns lange nicht mehr gesehen.«

»Lange, lange nicht mehr!« sagte Meister Scholter mit tiefem Ernst. »Wollen Euer Hochwürden mir die Ehre erweisen, mich zu besuchen?« »Ich habe einen Spaziergang mit meinem Töchterlein gemacht,« sagte der geistliche Herr, »ich dachte, die Luft auf der Höhe werde ihr gesund sein; aber es hat sie scheint's zu müde gemacht; so suchte ich nach einem Plätzchen, wo sie ausruhen könnte, und da ist mir erst wieder Ihr Haus ins Auge gefallen.« Das Töchterlein, das gar zart aussah, konnte kaum stehen; Meister Scholter wollte sie auf die Arme nehmen und ins Haus tragen; da er aber sah, daß der Herr Pfarrer dabei erschrak, ließ er sie an den Vater gelehnt in die Stube gehen. Katharine hatte ihren Gang zur Schneiderin gemacht, aber die Stube war immer rein und schön aufgeräumt; es stand auch ein Kanapee darin, auf das der Pfarrer seine Klara legte. Siegmund brachte auf des Vaters Geheiß frisches Wasser aus dem Brünnlein im Garten draußen; Anita stand schüchtern zur Seite und betrachtete den Gast, der so etwas Seltenes war in dem Haus auf der Heide.

Der Meister brachte auch ein paar Äpfel, die Katharine noch aufbewahrt hatte, Wein und Zucker; und Klara, die nur vom Gang erschöpft gewesen, richtete bald wieder den Kopf auf und redete freundlich mit der kleinen Anita, die ihre Blumen und all ihre kleinen Herrlichkeiten dem Gast herbeibrachte.

Der Herr Pfarrer sprach indes mit dem Meister über allerlei: »Wie alt sind Ihre Kinder? Sie werden nun doch das schulpflichtige Alter haben.« »Mein Siegmund war im Herbst sieben, ich habe ihn selbst ein wenig lesen gelehrt; er wäre lange schon für die Schule tauglich, aber,« setzte der Vater traurig hinzu, »meine Kleine ist dann so einsam, und ich mag keines der Kinder allein gehen lassen; Sie wissen ja...«

»Nun,« sagte freundlich der Pfarrer, »dann schicken Sie beide zusammen, ich kann für Ihre Kleine leicht eine nette Vorschule finden; haben Sie vielleicht ein Haus in der Stadt, wo die Kinder über Mittag sein können?«

»Ich denke, meine Katharine kann's vielleicht mit unseren Schneidersleuten ausmachen; abends können sie dann wieder heimkommen.«

»Gut, Montag in acht Tagen fängt der neue Schulunterricht an; bringen Sie mir bis dahin die Kinder! Ich will sie selbst einführen.«

»Das wolle Ihnen Gott vergelten, Herr Pfarrer!« sagte Meister Scholter; »mir würde es schwer fallen.«

Klärchen war wieder ganz munter und in eifrigem Spiel und Gespräch mit Anita. Dem Stadtkind hatte das einsame Heidehaus einen besonderen Reiz und das Heidekind gefiel ihr besser als ihre Gespielen in der Stadt.

Indes war auch Katharine zurückgekommen, sehr erfreut und erstaunt über den Besuch; sie kannte den Herrn Pfarrer, der Gefängnisprediger in der Stadt war; sie brachte noch allerlei aus ihrer Speisekammer: Honig und Heidelbeermus; das kleine Fräulein wollte aber nichts mehr annehmen, und der Herr Pfarrer eilte, nach Hause zu kommen vor Abend. »Kommst du auch wieder zu mir?« fragte Anita ihren Gast beim Scheiden.

»O gern!« sagte diese, die besonderes Wohlgefallen an dem Töchterlein der Heide gefunden hatte; ihr Vater sagte nichts dazu. Anita freute sich königlich, als sie hörte, daß sie nun bald in eine Schule dürfe, wo viel andere kleine Mädchen seien. Siegmund war nicht so verlangend darnach; erst als ihm der Vater einen neuen Lederranzen und ein schönes Federrohr brachte, freute er sich und zählte jetzt auch mit Anita die Tage, bis wann die Schule anfangen sollte.

In die Schule

Die Kinder waren noch gar selten in die Stadt hinuntergekommen. Einmal hatte sie der Vater mitgenommen, als wilde Tiere dort zu sehen waren. Siegmund hatte sich höchlich erfreut und verwundert über die Löwen, Tiger und Bären; vor denen hatte sich Anita gefürchtet und sich dafür erfreut an den bunten Papageien und den weißen Kakadus mit goldgelben Büschchen.

Ein andermal durften sie Katharine zur Zeit der Messe in die Stadt begleiten, wo sie sich sehr ergötzt hatten an den schönen Buden. Sie hatte Anita ein Puppenwägelchen mit einem Wickelkind und Siegmund einen kleinen Heuwagen mit einer Peitsche dazu gekauft. Er hätte so viel lieber einen blanken Säbel gehabt mit goldenem Griff, der so schön funkelnd an der Bude hing. Katharine hatte sich aber geschüttelt: »Nein, Bub', von mir kriegst kein Schwert, führ' du dein Wägele!« Daheim hatte Siegmund dem Vater geklagt, daß ihm Katharine kein Schwert gekauft; der aber hatte traurig den Kopf geschüttelt und gesagt: »Vielleicht bekommst du noch eins, ein großes; inzwischen spiel' du mit andern Dingen!« An dem bestimmten Montag flocht Katharine Anitas blondes Härchen in schöne Zöpfe und kleidete sie sorgfältig in das blaue Kleidchen, das sie bis jetzt nur Sonntags getragen hatte; auch Siegmund wurde sauber gewaschen und gekämmt; der Vater rüstete sich zum Ausgang und nahm sie mit.

»Führt Ihr selbst sie in die Schule?« fragte Katharine.

»Ich nicht, der Herr Pfarrer will so gut sein.«

»So, so, dann ist's recht; mit den Schneidersleuten hab' ich geredet; es hat etwas schwer gehalten, bis sie die Kinder angenommen; aber – 's sind christliche Leute und 's braucht's ja niemand zu wissen.« Der Vater seufzte schwer und nahm die Kinder bei der Hand.

Die zwei Knechte begegneten ihnen; sie führten miteinander ein Pferd, noch ein stattliches Roß von Ansehen, das aber gar müde und mit lahmem Fuß einherging. Meister Scholter betrachtete es sorgfältig von allen Seiten. »Ist nichts mehr zu machen,« sagte er; »aber daß ihr mir's gleich tot macht, hört ihr, und nicht plagt!« – »Soll rasch geschehen, Meister,« versicherte der Michel.

»Vater, warum den schönen Gaul tot machen?« fragte Siegmund.

»Er ist alt und lahm auf einem Fuß, er kann nicht mehr ziehen und gehen; so würde er nur geplagt.«

»Ja, aber warum wird er gerade bei uns tot gemacht? Deshalb riecht es wohl oft so schlecht hier oben.«

»Ihr braucht ja nicht nahe hinzuzugehen; man bringt die Tiere herauf, weil der Platz weit abgelegen ist von andern Häusern. »Warum wohnen aber wir gerade da so allein?«

»Weil da unser Haus steht,« sagte kurz der Vater.

Eben rief Anita, sie habe ein paar so schöne Blümchen gefunden; der Vater pflückte ihr noch andere, er zeigte den Kindern die Häuser der Stadt, die man jetzt von der Höhe aus sehen konnte; auch lehrte er Siegmund genau auf den Weg merken, damit er mit seinem Schwesterlein sicher den Heimweg finden könne, und es war ihm lieb, daß er auf diese Weise nicht immer wieder auf des Kleinen neugierige Fragen antworten mußte.

In der Stadt kaufte er den Kindern eine Semmel beim Bäcker; dann ging er mit ihnen in das Haus des Schneiders, wo sie zu Mittag essen sollten. Siegmund dachte, sein Vater müsse ein vornehmer Herr sein; denn die Schneidergesellen ließen ihre Arbeit liegen und starrten ihn an mit offenem Mund.

Die Frau, welche die kleine Anita schon kannte, grüßte sie freundlich. »So, Töchterlein, du sollst so früh schon in die Schule; nun, lern' nur brav, hast eine brave Mutter gehabt! Ja,« sagte sie zum Vater, »ich will Ihre Kinder dabehalten zum Essen um ein billiges Kostgeld und aus christlicher Liebe; vor Gott sind ja alle Menschen gleich, und die Kinder können nichts dafür.« Siegmund war ein aufmerksamer Junge, der oft mehr, als nötig war, darauf achtete, was die Erwachsenen redeten; er verstand nicht recht, warum es die Schneidersfrau so als eine Gnade anbot, daß sie um ein Kostgeld bei ihnen essen sollten; sah auch wohl, daß sein Vater gerade kein freundliches Gesicht zu der gnädigen Rede machte; doch sagte Scholter nicht viel dazu, nahm freundlichen Abschied von der Frau und bat sie, auf Anita recht achtzuhaben.

»Ja, ja, das will ich,« versicherte die Frau; »sie hat eine braue Mutter gehabt.« – »Gewiß,« sagte der Vater, und sein Auge wurde feucht.

Nun ging es zum Herrn Pfarrer; Anita freute sich, daß sie die Klara mit den blonden Locken wiedersehen sollte. Sie gingen an des Vaters Hand durch die Stadt; hie und da bemerkte Siegmund, daß Leute stehen blieben und auf sie deuteten; warum, verstand er nicht; der Vater schien keine Bekannten darunter zu haben, er grüßte niemand.

Beim Herrn Pfarrer wurden sie in dessen Studierstube geführt. »Schön, Herr Scholter, daß Sie kommen,« sagte er freundlich; »wir können bald gehen, die Schule der Kleinen ist die nächste; für Siegmund habe ich die nötigen Bücher besorgt; geh du indes hinüber zu meinem Klärchen, Anita!«

Klara begrüßte das Heidekind mit großer Freude; sie war eben daran, eine Puppe anzukleiden, brachte aber den neuen Anzug gar nicht zurecht. Anita mit ihren geschickten Fingerchen hatte in kurzer Zeit Amalia zierlich angekleidet; »so schön wie am Christtag!« rief Klärchen und nahm die Puppe vergnügt auf die Arme.

Klärchen hatte, wie Anita, früh ihre Mutter verloren. Fräulein Richter, eine ältere Dame, besorgte das Haus und die Kleine, die sich ein wenig vor ihr fürchtete. Das Fräulein hatte von dem Dienstmädchen gehört, wer der Mann sei, der mit den Kindern zum Herrn Pfarrer gekommen, und trat etwas kühl in die Stube. »Da sehen Sie, Fräulein Emilie,« rief Klärchen, »wie schön mir Anita wieder die Puppe angekleidet hat! Sie haben gestern gesagt, das Kleid gehe gar nicht mehr.«

»Ist nicht nötig, daß die Kleine sich mehr damit bemüht,« sagte die Dame kurz und machte die Thür weit auf. »Du kannst draußen warten, Kleine,« sagte sie zu Anita; »dein Vater wird bald kommen.« Klärchen war betroffen über den scharfen Ton des Fräulein Richter; Anita sah verschüchtert auf und ging schnell hinaus. »Komm nur bald wieder zu mir!« rief Klara, vielleicht nicht nur aus Liebe zu Anita, sondern auch aus heimlichem Trotz gegen Fräulein Richter.

Eben kam der Pfarrherr mit Meister Scholter aus seinem Zimmer. »So komm, Kleine, gib mir deine Hand; wir gehen zur Schule.« – »Sie führen das Kind, Herr Pfarrer?« fragte Fräulein Richter. – »Ja, ich!« sagte er ernst und verließ mit ihnen das Haus.

An der nächsten Ecke bot Meister Scholter seinen Kindern die Hand. »Behüt' euch Gott und lernt brav! Heute abend komme ich euch entgegen.«

»Gehst du denn nicht mit?« fragte Anita betrübt.

»Der Herr Pfarrer ist so gut,« sagte traurig der Vater; »ihr kommt ja auf den Abend wieder.« Und er ging rasch um die Ecke, so daß die Kinder ihn bald aus dem Gesicht verloren hatten.

Anitas Schule.

Die Kinder waren durch den geistlichen Herrn eingeführt in die Schule, Anita in die Vorschule der Jungfer Sibylle. Es war in einem kleinen Haus der Vorstadt, das aber eine geräumige Stube mit vielen niedrigen Bänkchen enthielt, darauf kleine Mädchen und Knaben in geordneten Reihen saßen. Sie kamen alle gern zur Jungfer Sibylle; jedes brachte ein Brot mit oder eine Semmel, im Sommer frisches Obst, im Winter Nüsse, Äpfel oder getrocknete Pflaumen; das wurde aber alles der Jungfer Sibylle anvertraut, die es in einem großen Korbe verwahrte und zur Vesperzeit verteilte. Neben den Lehnstuhl der Jungfer mußte sich eines der Kinder stellen und einen kleinen Liedervers zum Morgengebet sprechen. »Weißt du denn auch etwas, Kleine?« fragte am zweiten Morgen Jungfer Sibylle Anita, die sie recht freundlich aufgenommen hatte, da der Herr Pfarrer sie eingeführt. »O ja,« sagte die Kleine etwas schüchtern, »bei Nacht betet unsere Katharine ›Das walte‹ und morgens kann ich: ›Lieber Gott, nach dieser Nacht‹ das hat mein Siegmund noch von der Mutter gelernt.« Und sie stellte sich mit gesenktem Köpfchen und gefalteten Händen neben die Jungfer und betete:

»Lieber Gott, nach dieser Nacht
Bin ich fröhlich aufgewacht;
Bleib' bei mir den ganzen Tag,
Daß ich ein lieb's Mägdlein werden mag.«

Sie hatte es ganz nett gemacht, die kleine Anita, und Jungfer Sibylle strich ihr wohlgefällig über ihr glattes, blondes Härchen. Gewöhnlich sagte sie den Kindern noch einen schönen Spruch oder Liedervers, den sie nachsprechen mußten, bis sie ihn ordentlich auswendig konnten; dann ging's hinaus auf den Rasenplatz vor dem Hause. O, was für schöne Spiele lernte da die Anita, die bis jetzt mit niemand als mit Siegmund gespielt, wo sie nichts hatten treiben können als Versteckens oder Fangis oder Ballspiel! Ringe Reihe, Kettenflechten, ei, wer sitzt in diesem Turm, und noch allerlei schöne Sachen, welche Jungfer Sibylle als Kind schon gespielt. Die schönen neuen Spiele vom Häslein und Lämmlein und andere, wie sie jetzt in Kleinkinderschulen getrieben werden, die verstand Jungfer Sibylle noch nicht, aber die Kinder hatten doch keine Langeweile. Wenn sie müde waren, so setzte sich die ganze kleine Schar um sie herum, und sie erzählte ihnen Geschichten aus dem Bibelbuch oder andere schöne Sachen; an Regentagen lernte, man ein bißchen länger, oder sie spielten mit Puppen und Bauhölzern. Anita war bald gut Freund mit den meisten der kleinen Mädchen und Knaben; sie war gar ein freundliches Dinglein, das andern gern nachgab, und sie verstand so gut zu spielen; sie gab sich willig zur Magd her, wenn die andern Mutter und Tochter bei den Puppen sein wollten, und konnte ganz schön die Puppengärtchen oder -stuben einrichten.

Manchmal brachte sie auch hübsche bunte Fleckchen mit, die ihr die Schneidersfrau geschenkt und von denen man den Schulpuppen Halstücher oder Schürzen machen konnte.

»Laß dir nur noch größere Fleckchen von deiner Mutter geben,« sagte eines der Mädchen, »damit es auch zu einem Kleide reicht.« »Die Schneidersfrau ist nicht meine Mutter,« sagte Anita, »meine Mutter ist im Himmel; bei Schneiders sind wir nur zum Mittagessen.«

»Aber wo wohnt denn dein Vater?«

»Auf der Heide,« sagte Anita, »und die Katharine kocht für uns.«

»Was thut er denn auf der Heide? und wo ist das?«

»Das ist oben auf dem Berg, nahe am Wald, und Vater hat dort einen Acker mit Kartoffeln und einen Garten, in dem er arbeitet; er hat auch schon verreisen müssen.« Die kleinen Mädchen wurden eigentlich nicht recht klug daraus, was der Vater der Anita sei.

Siegmunds Schule.

In Siegmunds Schule ging es gerade nicht immer so vergnüglich her wie in der Vorschule der kleinen Anita. Man war da zum Lernen, nicht zum Spielen, und wenn die kleinen Burschen nicht aufmerken und nicht still sitzen wollten, so kam Herr Kühner, der Lehrer, mit seinem Stock dazwischen. Siegmund aber lernte nicht ungern; der Vater hatte ihm schon die Buchstaben gezeigt, da freute es ihn, wenn er sie an der Tafel erkannte und mit lauter Stimme abzulesen vermochte. Und eine freie Stunde gab's auch; da tobten die kleinen Kerle hinaus wie junge Füllen und spielten Räuberlis und Jägerlis und alles mögliche; das gefiel Siegmund besser als seine stillen Spiele mit Anita auf der Heide droben. Wie bei Anita, so fragten auch bei ihm die Jungen: »Gelt, dein Vater ist der Schneider da draußen?« – »Nein,« erwiderte Siegmund entschieden; er mochte nicht gern einem Schneider gehören, das Handmerk war ihm zu still. – »Was ist denn aber dein Vater?« Nun, darauf hatte er sich selbst noch nicht besonnen. – »Ich hab's gehört,« sagte Schulmeisters Theodor, »daß der Herr Pfarrer zu meinem Vater gesagt hat, sein Vater habe ein kleines Gut auf der Heide.«

»Wo ist denn das, auf der Heide?«

»Ach, eben da droben, wo die Weinberge und die Äcker aufhören und bald der Wald anfängt.«

»So, bin noch nie droben gewesen,« meinte gleichgültig der Schulkamerad.

Im Schneiderhaus, da gefiel's dem Siegmund nicht so gut wie seinem Schwesterlein; er mochte nicht mit Fleckchen spielen und machte sich, sobald er konnte, auf die Straße, wenn's auch eine stille Gasse war, wo er höchstens ein paar Soldaten vorübergehen sah oder Bäuerinnen mit Marktkörben.

Abends wanderte er einträchtig mit Anita den Berg hinauf, und sie erzählten einander, was jedes in seiner Schule erlebt hatte. Oben kam ihnen dann meistens der Vater entgegen, und sein ernstes Gesicht wurde hell, wenn er seine Kinder von weitem sah, die in die Wette liefen, wer zuerst bei ihm sei; er wollte auch hören, was sie gelernt hatten, und freute sich, wenn Anita ihm ein neues Liedlein sagte und Siegmund ein gutes Zeugnis brachte.

»Vater, darf ich auch ein Lateiner werden?« fragte Siegmund einmal. »Der Herr Pfarrer ist in der Schule gewesen und er sagt, ich habe gute Gaben.«

»Weiß noch nicht, was du werden sollst,« sagte der Vater, und sein Gesicht sah wieder ganz ernst dabei aus.

»Was bist denn du, Vater?« fuhr Siegmund plötzlich heraus; »sie fragen mich oft in der Schule, und ich hab's nicht gemußt.«

»Ich baue meinen Acker,« sagte der Vater mit abgewandtem Gesicht.

»Ja, bist du denn Bauer? Du bist doch nicht angezogen wie ein Bauer, und warum heißt man dich Meister Schotter?«

»Wirst es schon noch erfahren,« sagte der Vater, und es schien ihm lieb zu sein, daß Türk, der große Hund, der immer ein Liebling der Kinder war, eben in großen Sätzen auf sie los gesprungen kam. Siegmund mochte nicht mehr fragen, er wußte nicht recht warum.

Im Pfarrhaus.

Der Herr Pfarrer, der die Kinder in die Schule eingeführt, hatte auch schon einigemal nach ihnen gesehen; er hatte besonders eine Freude an der sanften, freundlichen Anita. Einmal begegnete er ihr an einem trüben Regentag, als sie die Schule verließ. Bruder Siegmund kam rasch um die Ecke. »So, willst du dein Schwesterlein abholen zum Mittagessen?« fragte der Herr Pfarrer; »gut, daß ihr nicht weit habt in das Schneidershaus bei dem garstigen Wetter.« »Wir können heute nicht hin,« sagte Siegmund, »unsere Schneidersleute sind alle verreist zu einer Hochzeit. Komm, Anita, schlage dein Röcklein über den Kopf! Schirm haben wir keinen.«

»Kommt mit mir, Kinder!« sagte der gute Herr Pfarrer, »ihr könnt bei mir essen. Fräulein Richter wird nichts dagegen haben,« sagte er etwas besorglich halblaut vor sich hin.

So erstaunlich freundlich sah die Dame nicht aus, als er mit den zwei Kindern kam. »Nun, Fräulein Richter, da bringe ich ein paar kleine Gäste; Sie werden schon noch einen Teller Suppe für sie haben.«

»Nun ja ... mit Suppe allein ist's dem jungen Volk doch nicht gedient... wir haben heute Pfannkuchen, die sind eben gerade für unseren Tisch gerichtet,« sagte Fräulein Richter etwas zögernd. – »Ei, da backt man noch ein paar dazu,« erwiderte der freundliche Pfarrherr. »Führen Sie die Kinder zu Klärchen hinüber!«

»Sie können wohl im Küchenstübchen essen,« meinte Fräulein Richter halblaut; »man weiß im Hause, wem die Kinder gehören.«

»Ich weiß es auch,« sagte der Herr Pfarrer; »sie essen mit uns.«

Nach Tisch war Klärchen sehr vergnügt, daß sie in ihrem Stübchen den Kindern ihre Reichtümer zeigen durfte. So schön wie diese Puppenstube und wie dieses reizende kleine Service hatte Anita doch noch nichts gesehen, wenn ihr auch der Vater schon manches nette Spielzeug gebracht, und Klärchen hatte bis heute noch nicht gewußt, wie hübsch es sich mit den schönen Sachen spielen lasse, obgleich sie sonst viel feinere Gespielen hatte als die Anita von der Heide. Siegmund war ganz vertieft in die prächtigen Bilderbücher; da kam der Herr Pfarrer, um nach den Kindern zu sehen; gerade betrachtete er einen stattlichen General, hoch zu Roß, im Federhut, als der Pfarrherr zu ihm trat. »So möchte ich einmal einer werden!« rief er kecker als sonst mit blitzenden Augen.

»Nun, General wird man nicht gleich auf einmal,« sagte lächelnd der Pfarrer; »lerne du einstweilen tüchtig, dann kannst du immer etwas Rechtes werden.« Dabei betrachtete er aber den Knaben ernst und nachdenklich.

»Man fragt nach den fremden Kindern!« rief mit ihrer scharfen Stimme Fräulein Richter herein. Draußen stand Katharine, mit einem großen Regenschirm bewaffnet, um ihre Pfleglinge heimzuholen. Sie hatte im Schulhaus erfahren, daß sie diesmal der Herr Pfarrer mit sich genommen, und war sehr geehrt und vergnügt darüber. Auf Herrn Pfarrers Geheiß gab Fräulein Richter ihnen noch eine Brezel mit; aber sie gestattete nicht, daß Klara sie unter die Hausthür begleitete, und als Anita rief: »Klärchen, kommst du nicht auch einmal wieder zu uns hinauf?« da sagte sie, ehe diese antworten konnte: »Das ist für Klara viel zu weit; adieu!«

Auf dem Heimweg hatten die Kinder wieder viel miteinander zu plaudern; Katharine ging schweigend nebenher. »Höre,« sagte Siegmund, »so ein Offizier möchte ich doch werden wie auf dem Bilde; weißt, da kriegt man eine Uniform und so einen schönen Säbel.« – »O Bub', schwätz' nicht immer von einem Säbel!« sagte Katharine. – »Ich will keinen,« sagte Anita; »aber, Katharine, sage doch auch zum Vater, daß er hinunterzieht in die Stadt, wo andere Kinder wohnen! Ich fürchte mich da oben, und die Kinder kommen gar nicht zu mir herauf.«

»O Kinderle, fragt nichts und macht nichts aus!« rief Katharine; »seid zufrieden, solange ihr klein seid. Guckt, da kommt der Türk!« Und in hellen Sprüngen kam der Türk, der getreue Hofhund, dem Vater voraus, dem die Kinder so viel zu erzählen hatten, daß sie nicht mehr an ihre Zukunftspläne dachten.

Nach fünf Jahren.

Fünf Jahre waren vergangen, seit die Kinder von der Heide zum erstenmal in die Schule heruntergewandert waren. Anita war der Schule der Jungfer Sibylle lange entwachsen; sie besuchte die bürgerliche Mädchenschule, und wenn sie in den Wissenschaften nicht die Allererste war, nicht die Flinkste im Kopfrechnen und die Sicherste im Rechtschreiben, so war sie doch gewiß die folgsamste Schülerin, still und friedfertig, immer in Ordnung mit all ihrem Schulgerät; Bücher und Hefte sauber und reinlich gehalten, und wenn man sie einen Tintenfleck auswaschen sah, so war es nie an ihrer eigenen Schürze, nur an der einer Schulkameradin.

Aber es war sonderbar, obgleich Anita freundlich und gefällig war gegen alle und jeder zuliebe that, was sie von ihr begehrte, so hatte sie eigentlich doch keine rechte Freundin, seit sie bei den großen Mädchen war. Sie riefen sie nicht, wenn sie in der freien Viertelstunde hinaussprangen zum Spielen, und Anita war zu still und schüchtern, um unaufgefordert mitzuspielen; so blieb sie in der Schulstube sitzen oder setzte sich auf die Bank vor der Thür des Schulhauses, wo die zwei kleinen, dicken Kinder der Frau Schulmeisterin herumquaddelten. Mit denen konnte sie nett spielen, machte ihnen Püppchen aus Flecken, die sie von der Schneidersfrau bekam, und die Frau Schulmeisterin war deshalb freundlich gegen sie. Auch die Schneidersfrau, bei der sie nach dem Wunsch ihres Vaters an hellen Nachmittagen noch eine Stunde oder zwei im Nähen und Stricken unterrichtet wurde, war gut gegen sie und rühmte ihre geschickte Hand. Oft aber kam ihr vor, wenn junge Mädchen oder Nachbarinnen der Schneidersfrau in die Stube kamen, als sähen sie die Leute an und redeten leise zusammen über sie, und sie wußte doch nicht was. Das machte sie scheu und schüchtern, sie setzte sich am liebsten mit ihrer Arbeit in eine Ecke.

Siegmund war wirklich Lateinschüler geworden; der Herr Pfarrer hatte mit seinem Lehrer gesprochen, der ihn für sehr talentvoll erkannte, und auch sein Vater hatte eingewilligt. Er hatte sich sehr darüber gefreut; schon das große, staatliche Gebäude des Gymnasiums gefiel ihm besser als die deutsche Schule, und daß man ihm einen ganz neuen Anzug machen ließ, das sagte ihm auch zu; Siegmund mochte gern seinen Kopf etwas hoch tragen. Er hatte freilich gehört, daß Katharine vor sich hinbrummte, als er in der hübschen neuen Juppe und der schottischen Mütze kam; auch die Schneidersfrau hatte er murmeln hören: »Wie's dem Mädchen recht, so wär's dem Buben billig gewesen; der Bub' will zu hoch 'naus; wer weiß, wie das ausgeht?« Auch sah er wohl und es that ihm leid, daß Anita in ihrer Art viel einfacher gekleidet blieb als er; aber ihm gefiel's denn doch, den andern gleich zu sein.

Allein bald fand er es nicht mehr so schön in der Lateinschule, wie er sich's gedacht. Das Lernen wurde ihm nicht zu viel, er hatte Freude daran; auch die Spiele waren schöner als vorher, und da er ein kräftiger, rüstiger Bursche war, der's den andern zuvor that, so war anfangs er der Oberst beim Soldaten-, der Hauptmann beim Räuberspiel. Das blieb aber nicht lange so; er wußte es sich nicht zu erklären. Die Jungen waren oft schon am Spiel, wenn er kam, und keiner rief ihn dazu; sie forderten ihn nicht mehr auf, mitzukommen, wenn's hinaus ins Freie ging oder wenn für einen freien Nachmittag ein Spaziergang oder eine kleine Kahnfahrt ausgemacht wurde. Siegmund fühlte das bald; fragen mochte er keinen, so zog er sich trotzig zurück, und da man allein nicht spielen und springen kann, so kam er ans Lesen, auch von andern als Schulbüchern. Daheim hatte er in einer Kiste auf dem Dachboden eine Menge alter Bücher gefunden; er hatte den Vater nicht gefragt, ob er sie lesen dürfe, und dieser hatte nicht acht darauf gegeben. Das waren grausige Geschichten von Rittern, von Räubern und von Geistern, eine ärger als die andere. Anita mochte nichts davon hören, wenn er ihr daraus erzählen wollte. Da er bei gutem Wetter meist im Wäldchen las, sah der Vater nicht, was der Knabe trieb, und meinte, er lerne für die Schule; daß aber Siegmund immer stiller wurde, mürrischer, trotziger zuzeiten, das bemerkte er auch nicht. Die Kinder selbst hatten den Vater nie heiter gesehen: solange sie wußten, war es auch daheim selten fröhlich hergegangen. Anita meinte, das müsse so sein, und ihre stillen Freuden hatte sie doch, wenn sie dem Vater ein schönes Lied singen konnte, das sie in der Schule gelernt hatte; wenn sie neue Blumensamen und Pflanzen für das Gärtchen brachte, wozu ihr die gute Schneidersfrau verhalf, oder Püppchen aus Flecken zusammenschneiderte, mit denen sie da und dort Kinder erfreute. Des Bruders trübseliges Wesen war so nach und nach gekommen, daß es auch ihr nicht aufgefallen war.

Ein Geheimnis.

Es war an einem hellen Herbstabend, wo die Geschwister wieder einmal miteinander heimwärts wanderten, die Höhe hinauf. »Jetzt ist bald Herbstvakanz und die Trauben werden reif,« sagte Anita fröhlich; »meinst du, daß Schneiders uns zu ihrer Weinlese einladen werden?« – »Nein,« sagte Siegmund kurz, »uns ladet niemand ein.« – »Ja warum denn nicht?« fragte Anita betrübt. – »Ja warum? Das weiß ich nicht; aber ist's denn nicht wahr? Hat mich einer von den Jungen in der Schule einmal heißen in sein Haus kommen? oder dich eines der Mädchen? Sagt Pfarrers Klara noch ein Wort, daß du sie besuchen sollest?« – »O ja, Klara hat mich schon freundlich wiederkommen heißen, auch der Herr Pfarrer.« – »Nun, dann ist die spitznäsige Jungfer schuldig, daß wir nie mehr hinkommen sollen; ich will auch gar nicht,« rief er zornig; »wenn kein Mensch etwas von mir will, dann will ich auch nichts von den Leuten!«

»Warum aber sollten die Leute gerade von uns nichts wollen,« sagte Anita fast weinend, »wir thun ja niemand etwas zuleide.«

»Das will ich dir sagen,« sagte Siegmund mit leiser Stimme ganz dicht an ihr Ohr, »darfst aber keiner Seele davon sagen, auch der Katharine nicht: ich glaube, es ist wegen unseres Vaters.«

»Was sollte aber unser Vater den Leuten thun? Er kommt ja fast gar nie hinunter in die Stadt.« – »Ich weiß warum,« sagte Siegmund mit ganz leiser Stimme und bleichem Gesicht, »dir will ich's sagen, dir allein: ich fürchte, unser Vater ist ein Räuber.« – »O Siegmund!« rief die Schwester zitternd, »wie fällt dir das ein? Liest du das aus den grausigen Büchern? Kannst du das vom Vater denken?«

»Ja, in den Büchern habe ich schon allerlei gelesen. Warum wohnt er denn so allein da droben, so nahe beim Wald? Und warum kommen nie ordentliche Leute Zu uns? Und warum sieht er nie vergnügt aus?«

»Aber, Siegmund, das ist eine Sünde, so etwas von deinem Vater zu denken; solche Räuber wie in den Geschichten gibt's ja gar keine mehr.«

»Freilich gibt's!« rief der Knabe heftig und sah auf ein gedrucktes Blatt, das er in der Hand hielt, »das weiß ich besser als du.«

»Ach sieh, und wenn's solche gäbe,« sagte halb weinend die arme Kleine, »so werden sie eingesperrt und wohnen nicht frei in einem Hause.« »So etwas weiß man eben nicht gleich,« belehrte sie Siegmund, der sich schon tief in solche Geschichten hineingelesen hatte. »Man gibt im stillen auf verdächtige Leute Achtung und traut ihnen nicht recht. Ich habe gelesen, daß es Räuber gibt, die vornehm wie die Herren leben und aussehen; die haben dann geringere Räuber, wie unseren Michel und Hans, im Dienst; sehen die nicht so aus?«

»Ach freilich,« sagte ganz bange Anita, die sich immer vor den rohen, wilden Kerlen gefürchtet hatte.

»Nun sieh, die haben mir's selber verraten.« Die Schwester sah ihn schreckensbleich an und sagte kein Wort.

»Neulich am Sonntag,« berichtete der Bruder, »wie einmal der Vater nicht da war und du unten saßest mit der Katharine, trieb ich mich im Hof herum; so recht an ihre Hütte hingehen mag ich nie, weil's so schlecht riecht. – ›Na, warum geht der junge Herr nicht in die Stadt und macht Besuche?‹ fragte höhnisch der Michel. – ›Ich mag nicht,‹ habe ich ihm geantwortet. – ›Glaub's schon‹ sagte er mit Lachen; ›man weiß drunten auch, wer Herr Papa ist, der sich zu vornehm vorkommt, um nur mit uns zu reden‹ – › Was ist mein Vater?‹ habe ich gerufen. – ›Gehe der junge Herr nur in die obere Kammer, da wird er's sehen,‹ lachte er und lief weg.

»Ich ging zurück ins Haus und mußte jetzt erst denken, warum wir denn noch gar nie in der oberen Stube gewesen sind. Sie wird wohl verschlossen sein, dachte ich, bin aber doch hinaufgestiegen, du und Katharine haben mich nicht gehört; der Schlüssel ist in der Thür gesteckt, ich drehte um und ging hinein...« »Und was war's?« fragte zitternd Anita.

»O, allerhand unheimliches Geräte von Eisen und ein kleiner Stuhl; ich konnte nicht alles sehen, es war auch dunkel n der Stube; aber an der Wand, Anita, an der Wand ...« Sie sah ihn nur angstvoll an. »An der Wand da hing ein großes, breites Schwert, viel größer als ein Soldatensäbel; ich wollte noch näher hingehen und es ansehen, da habe ich unten des Vaters Tritt gehört und bin schnell hinuntergesprungen und habe den ganzen Abend nicht mehr reden können vor Herzklopfen.«

»Ach Gott, was soll das bedeuten!« seufzte Anita. »Ich glaube doch nichts Böses von unserem Vater!«

»Ja, und sieh, wie ich heute in der Schule, war, da steckten sie ihre Köpfe zusammen in einen gedruckten Zettel und sprachen leise miteinander und sahen mich an. Ehe ich heimging, streckte mir einer das Papier hin: ›Da, Scholter, zeige das deinem Vater! Er wird sich bald auf den Weg machen müssen,‹ und er ließ mir den Zettel, als sie miteinander davonsprangen.«

»Und was steht darin?«

»Da steht,« sagte Siegmund, indem er ihr den grobgedruckten Zettel zeigte, »die Geschichte von einem grausigen Raubmord, der kürzlich, nicht sehr weit von hier, an zwei Kaufleuten verübt worden ist und daß man den Räubern schon auf der Spur sei.«

»Und du meinst, Siegmund ...?«

»Aber wie kommt ihr heute so spät?« tönte mit einemmal die tiefe Stimme des Vaters, und beide Kinder fuhren im Schrecken zusammen. Der Vater nahm sie bei der Hand; Anita erzählte leise, daß sie bei der Schneidersfrau noch habe zu thun gehabt, und der Vater fragte nicht weiter.

Siegmund redete kein Wort beim Abendessen; er konnte den Gedanken nicht mehr los werden, daß sein Vater, der gerade in der letzten Woche verreist und auch seitdem besonders still und trüb gewesen, des Verbrechens schuldig sei und daß er ihn warnen müsse, und doch, wie sollte er den Mut fassen, so etwas gegen ihn auszusprechen!

Er schlief in des Vaters Stube, der meist später als er zu Bett ging. Diesmal blieb er wach, bis er kam. »Warum hast du noch Licht, Siegmund?« fragte der Vater. Siegmund faßte Mut und richtete sich auf im Bett. »Vater,« sagte er leise, aber mit fester Stimme, »ich sollte dir etwas sagen.« – »Und was denn. Junge?« fragte der Vater verwundert.

Siegmund bot ihm den Zettel hin: »Weißt du davon, Vater?« Der Vater sah den Zettel genau an, aber nur einen Augenblick. »Ob ich's weiß, Siegmund?« sagte er mit sehr ernstem Ton; »gewiß, und es ist keine Freude für mich.«

»Kannst du noch entfliehen, Vater?« fragte Siegmund bebend.

»Entfliehen? – Nein, das darf ich nicht, wo mein Amt ist zu bleiben; die Räuber sind heute schon gefangen und eingesperrt worden.«

»So warst du nicht dabei?« rief, sich selbst vergessend und erleichtert, Siegmund.

»Ich?« sagte der Vater und trat mit dem Lichte an des Sohnes Bett, »und das fragst du deinen Vater, Knabe?«

Zitternd und stammelnd bekannte der sonst so kecke Junge dem Vater, wie er besonders durch seine vielen Räubergeschichten und durch das unfreundliche Wesen seiner Schulkameraden nach und nach auf den Verdacht gekommen sei, man traue seinem Vater Böses zu; wie er kürzlich ein Schwert in der verschlossenen Kammer gesehen, und wie er heute, als die Schuljungen ihm die Räubergeschichte zugesteckt, gedacht habe, sein Vater könne wirklich an dem Verbrechen schuldig und in Gefahr sein.

»Und das hast du von deinem Vater geglaubt?« fragte dieser noch einmal tief traurig.

»O Vater, verzeih!« bat reuevoll der Knabe, »aber sieh, ich habe manches nicht verstanden, und ...«

»Sei nur ruhig, Siegmund!« sagte der Vater ohne Unwillen; »ich weiß, du hast auch viel entbehrt. Nun schlafe du in Ruhe! Dein Vater ist kein Verbrecher und nicht in Gefahr, morgen sollst du alles erfahren.« Und Siegmund schlief bald ein, obgleich er sich nicht denken konnte, was er denn erfahren sollte. Der Vater hat nicht viel geschlafen in dieser Nacht.

Was der Vater war.

Siegmund wachte früh am Morgen auf; der Vater stand angekleidet an seinem Bett, aber er sah nicht zornig und nicht finster aus. »Zieh dich an, Siegmund, und komm mit!« sagte er ruhig. Siegmund machte sich fertig und folgte dem Vater mit geheimem Herzklopfen. Er ging hinauf in die verschlossene Stube, die der Vater nun öffnete. Die Läden waren schon offen und das helle Morgenlicht fiel an die Wand, an der das große Schwert hing, das Siegmund nicht ohne geheimes Beben ansehen konnte; es stand darunter geschrieben in klarer Schrift: »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden« (1. Mos. 9, 6). – »Das Schwert ist mein,« sagte der Vater ernsten Tones, »aber ein Räuberschwert ist es nicht, mein Sohn, es ist ein Richtschwert. Komm, setze dich zu mir!« sagte er und rückte die Bank näher; »ich will dir erzählen, wie das alles gekommen ist, du bist bald vierzehn Jahre alt, du kannst mich wohl verstehen. – Es sind mehr als zweihundert Jahre her,« hub der Vater an, »und war eine wilde, wüste, unordentliche Zeit in allen Ländern; von den langen Kriegen war viel wildes Gesindel geblieben, das sich mit Morden und Stehlen umtrieb, so daß kein Bürger in abgelegener Wohnung, kein Kaufmann auf seinen Reisewegen mehr sicher gewesen ist vor Raub und Mord. Die Gesetze waren streng, fast grausam, und es konnten nicht Henker und Scharfrichter genug aufgebracht werden, um die Verbrecher zu richten. Denn während der Soldat hoch in Ehren steht, der auf seines Kriegsherrn Befehl den Feind tötet, der weder ihm noch sonst einer Seele etwas zuleide gethan, war der Diener des Gesetzes, der nach dem Befehl der Obrigkeit die Verbrecher richtete, verachtet oder gemieden und ehrlos angesehen; so wollte sich niemand gern dazu hergeben. In jener Zeit war es der Urgroßvater meines Großvaters – seinen wirklichen Namen haben wir nie gewußt, es soll ein Adeliger gewesen sein –, der durch ein Vergehen bei dem Militär sein Leben verwirkt hatte. Vielleicht war es aus Mitleid mit dem jungen, frischen Blut, daß man ihm anbot, ihm sein Leben zu schenken, wenn er den Dienst eines Scharfrichters, zu dem damals hier niemand vorhanden war, übernehmen wolle; ich weiß nicht, warum ihm sein Leben so lieb war, daß er dies schwere Amt dem Tode vorzog. Er nahm den Namen Scholter an und war der erste Scharfrichter an hiesiger Stätte, die ihm zum Besitze für sich und seine Nachkommen gegeben wurde. Es scheint aber, daß sich von ihm her ein ernsterer und besserer Sinn als bei vielen andern, die dies Amt verwaltet, auf sein Geschlecht vererbt hat.

»Neben aller Scheu vor den Scharfrichtern, die so groß war, daß sie nie in die Gesellschaft ehrlicher Leute sich mischen durften; daß sie in der Kirche ihren eigenen Platz hatten, den nie ein anderer Mensch einnahm; daß keiner mehr aus einem Glase trank, an das im Wirtshaus ein Scharfrichter seinen Mund gesetzt, hatte man doch wieder eine Art Respekt vor ihnen und traute ihnen in früherer abergläubischer Zeit allerlei geheime Mittel und Heilkünste zu. Das trieb schon meine Vorfahren, in der Einsamkeit, in der sie lebten, an, die Kräfte zu suchen und zu erforschen, die nicht durch unheimliche Mächte, sondern durch Gottes Weisheit in die Natur gelegt worden sind, und so haben sie als Heilkünstler wegen ihrer Kräutertränke und Salben in der Stille einen großen Zulauf gehabt, den ihnen auch die Obrigkeit nicht verwehrte. Warum keiner von ihnen dazu gekommen ist, dies traurige Amt abzuschütteln, weiß ich nicht; das war früher wohl sehr schwer, auch fügte es sich, daß in einer Generation immer nur ein Sohn geboren wurde. »Mein Vater hat von dem seinen die Erlaubnis erzwungen, daß er Medizin studieren dürfe; aber – schon der Weg durch die Schule ist ihm durch die Zurücksetzung, die er von seinen Mitschülern erfahren, schwer geworden, wenn auch die Zeiten etwas besser waren und ein Scharfrichter nicht mehr so geächtet war wie früher. Statt nun in stillem Fleiß sich einen Besitz an Wissen zu sammeln, suchte er, obwohl für das Studium sehr begabt, durch wildes, lärmendes Studententreiben sich in Ansehen zu setzen. Da gab's einmal eine gewaltige Schlägerei zwischen Studenten und Bürgern, bei der er auch beteiligt war; gerade ihm hat man es besonders übel genommen und er wurde von der Universität verwiesen.

»Sein Vater, der ihm große Opfer gebracht hatte, wollte ihm keinen andern Beruf mehr gestatten. Bald darauf war ein schwerer Verbrecher zu richten – mein Großvater fühlte sich krank und schwach –, so mußte denn mein Vater sein Meisterstück als Scharfrichter machen und ist es geblieben...

»Bei mir,« fuhr der Vater fort, »war nicht mehr die Rede von einem andern Beruf, weil der Versuch bei deinem Großvater mißglückt war. Er hat mich aber gut erzogen und alles gelehrt, was er selbst wußte. Meine Mutter war eine brave, verständige Frau; sie hatte ihn lieb gehabt in besseren Tagen und hat sein Los nachher geteilt, obgleich er Scharfrichter wurde.«

»Und meine Mutter, Vater?« fragte Siegmund, »ich kann mir ihr holdseliges, liebes Gesicht noch denken; woher ist meine Mutter gekommen?«

»Deine Mutter segne Gott in Ewigkeit,« sagte der Vater mit feuchten Augen, »sie hat eine traurige Geschichte gehabt. Ich war berufen, eine Frau zu richten, die wegen schweren Verbrechens zum Tode verurteilt war; sie hatte eine vornehme Dame, bei der sie erste Dienerin war, mit einer Arznei vergiftet. Ob sie nicht durch zu große Härte der alten Dame gereizt war, ja ob sie überhaupt die That gethan und nicht durch andere Diener verleumdet worden ist, das weiß ich nicht; aber die Richter hatten sie verurteilt, und ich mußte das Urteil vollziehen.

»So schwer es mir wurde, so ließ ich mich doch an dem Abend vor der Hinrichtung in das Gefängnis zu der Armen führen; ich wollte nach einer alten Sitte sie bitten, keinen Groll auf mich zu haben und das heilige Abendmahl mit mir zu nehmen als Zeichen der Versöhnung. Ich fand – eine Tote; der barmherzige Gott hatte sie durch einen sanften, stillen Tod erlöst und vor sein eigen Gericht gestellt.

»Als ich den Kerker verließ, stand unter der Thür ihre Tochter, eine zarte Jungfrau, sie hieß Anita. Ich fragte sie, wohin sie gehen wolle. – ›Ich weiß es nicht‹ sagte sie, ›ich habe keine Heimat auf der weiten Welt.‹ Ich kannte eine brave Frau, zu der ich sie führen konnte und bei der ich für sie sorgte. Später hatte ich den Mut, sie zu fragen, ob sie meine Frau werden wolle; sie hat den Mut gehabt, es zu werden, und sie ist mir ein guter Engel geblieben, solange sie der liebe Gott bei mir gelassen hat. Ich habe gethan, was ich konnte, alles Rohe und Gemeine fern von ihr zu halten; ich habe das Blumengärtlein für sie angelegt und schön gepflegt, und wir haben in unserer Einsamkeit da oben eine gute, friedevolle Zeit verlebt. Nun sind es zehn Jahre, seit sie tot ist; ihr zuliebe ist Katharine bei uns geblieben, und ich habe ihr versprochen, euch Kinder zu allem zu erziehen, was recht ist und gut. Der Herr Pfarrer, der uns getraut hat und euch getauft, den ich auch kenne von meinem schweren Amte her, der hat mir bis jetzt dazu verholfen. Aber ich hätte nicht gedacht, daß mein Sohn mich für einen Räuber halten würde,« endete er traurig.

»O Vater, lieber Vater,« bat Siegmund tief bewegt, »verzeih mir's doch! Aber sieh die Buben, der Zettel von den Räubern...«

»Der hat auch mich tief erschüttert,« sagte der Vater, »weil ich indes erfahren, daß man die Mörder gefangen hat, und weil ich fürchte, daß ich hier nach langen Jahren meinen peinlichen Beruf wieder ausüben muß; das werden auch die Schuljungen gedacht haben, als sie dir den Zettel gaben.«

Vater und Sohn gingen miteinander hinunter wo Anita und Katharine schon lange warteten. Siegmund war es, als sei er mit einemmal dem Vater näher gekommen und könne nicht genug thun, um ihm den schlimmen Verdacht und sein trauriges Los zu vergüten. Der Schwester sagte er nur leise ins Ohr: »Anita, unser Vater hat nichts Böses gethan.«

»Aber, Vater,« fragte Siegmund, als er wieder allein mit ihm war, »was thun denn der Michel und der Hans?«

»Mit meinem traurigen Amt,« sagte ihm der Vater, »war früher oft die Abdeckerei verbunden, das heißt das Geschäft, gefallene Tiere wegzuschaffen, ihnen die Haut abzuziehen und sie zu verscharren, auch kranke Tiere zu töten. Dies Geschäft ist zu allen Zeiten noch viel verachteter gewesen als das des Scharfrichters. Mein Urahne schon und meine Vorväter haben die Abdeckerei immer durch besondere Knechte versehen lassen, die dann auch besonders gewohnt und gelebt haben.«

»Vater,« fragte Siegmund noch, »habt ihr denn immer hier so ganz im Verborgenen gelebt? Es ist ja gar nicht weit von der Stadt.«

»Früher, wo die Felder noch nicht so weit heraufreichten und kaum ein gangbarer Weg bis zu uns führte, war es abgelegener. Ein Geheimnis ist es nie gewesen, wer hier oben wohnt; aber,« sagte der Vater mit traurigem Lächeln, »es sind nie gute Freunde heraufgekommen zum Hause des Scharfrichters.«

Siegmunds Berufswahl.

Dem Siegmund war eine Last vom Herzen genommen, seit er wußte, daß auf seinem Vater keine Schuld liege. Aber vergnügt konnte er darum doch nicht sein. Seine Schulkameraden hatten ja auch gewußt, daß er keinem Räuber gehöre, aber sie hatten ihn doch gering geachtet und nicht als Gespielen gelten lassen; er hatte keine Lust mehr in die Schule zurück und dann – was sollte es später mit ihm werden?

Gut, daß der andere Tag ein Sonntag war; so durfte er doch nicht zur Schule. Es war ein so schöner, sonnenheller Morgen, da war es auch freundlich vor dem Heidehaus. Der Vater saß neben Anita auf der Bank im Gärtchen; er hatte ihr ein schönes Arbeitstäschchen geschenkt, das einmal ihrer Mutter gehört hatte, und erzählte ihr von derselben, wie er fast noch nie gethan. Anita hörte zu mit glänzenden Augen und betrachtete ganz glücklich die zierliche Schere, den glänzenden Fingerhut und die farbigen Seideröllchen; vergnügt sprang sie hinein, es der Katharine zu zeigen.

Siegmund trat schüchtern dem Vater näher, der aber bot ihm besonders freundlich die Hand. »Guten Morgen, mein Junge! Was willst du?«

»Vater,« sprach jetzt Siegmund mit einemmal sein Anliegen aus, »Vater, was soll ich denn einst werden?«

»Was du willst, Siegmund,« sagte der Vater freundlich. »Verhüte Gott, daß ich dich zwinge zu dem Amt, das mir so schwer geworden! Ich habe das auch deiner Mutter versprochen, die mein einsames Los so treulich mit mir getragen hat. Ich bin freilich nicht reich, aber auch nicht arm; nicht unser trauriger Beruf, wohl aber unsere geheime Heilkunde, die wir mit gutem Gewissen üben durften, hat meinen Vätern und mir ein bescheidenes Vermögen erworben, das ausreicht, daß du und deine Schwester lernen könnt, wozu ihr Fähigkeit habt und was euch gut ist; dann sollst du dir einen Beruf erwählen ...«

»Offizier will ich werden!« rief Siegmund mit blitzenden Augen, »Hauptmann, Oberst, General; dann sollen sie Respekt vor mir kriegen und keiner soll mir mehr meine Abstammung vorwerfen! Dann will ich's ihnen zeigen!«

»Das geht so rasch nicht,« sagte mit dem alten traurigen Lächeln der Vater. »Wer einen Beruf ergreift, nur um darin angesehen zu werden, der ist noch selten ein Segen für andere und für sich selbst geworden. Siegmund, ich habe dich als Kind nicht gern mit Säbeln spielen lassen und möchte dich nicht in einem Beruf sehen, dessen Aufgabe das Blutvergießen ist. Was meinst du, möchtest du nicht ein Arzt werden, der die Kräfte der Natur erforscht und ihre Wunder, der helfen und heilen kann und Wunden verbinden, die andere geschlagen haben?«

»Gern, Vater!« rief Siegmund mit dem rasch beweglichen Eifer lebhafter Knaben. »Da darf man auch schöne Reisen machen und – nicht wahr, Vater, ein geschickter Doktor wird auch von den Leuten geehrt?«

»Gewiß, Siegmund.«

»Aber jetzt, in der Schule?« fragte der Knabe leis.

»Wird ja auch gehen,« sagte der Vater wieder etwas gedrückt. »Aber, Siegmund, die dummen Räubergeschichten, die werfen wir ins Feuer; du sollst gute Bücher haben, und wenn du keine Spielkameraden hast, so gehen wir miteinander in den Wald; gib acht, ich kann dir da manches zeigen an Bäumen und Moosen und Käfern, woran du eine Freude hast. Ich habe auch studiert. Junge, in meiner Einsamkeit da oben, wenn auch bei keinem Professor, und mein Vater hat mich noch manches gelehrt, was er von der Studienzeit her behalten.«

Siegmund freute sich darauf; trotz des traurigen Amtes seines Vaters fühlte er doch Respekt vor ihm, und er war ihm erst recht eigen geworden, seit er ihm sein Vertrauen geschenkt hatte. An die Schule wollte er einstweilen lieber nicht denken.

Anitas nächste Zukunft.

Aber der Vater dachte daran; ihn bekümmerte es, daß seine Kinder nicht sollten wie andere sich ihrer Jugend freuen können, und er wußte, wenn nun in der nächsten Zeit die Verbrecher hingerichtet würden, so würde von ihm und seinem Amte wieder mehr gesprochen werden, und das müßte auch die Kinder treffen.

Nachmittags zog er seine schwarzen Sonntagskleider an, in denen er gar ehrbar und stattlich aussah, und schickte sich an, zur Stadt hinunterzugehen, was selten geschah, so daß Katharine und die Kinder verwundert aufschauten; fragen wollten sie nicht. Aber siehe, wie er eben um die Ecke des Gärtchens bog, da kam der Herr Pfarrer heraufgestiegen, fast der einzige Mensch, der als Freund das Heidehaus besuchte. Mit großer Freude führte ihn Meister Scholter herauf; Anita legte eilig ein Tuch auf die Bank vor dem Hause, wo er gern zu sitzen pflegte; sie fragte schüchtern: »Hat Klärchen nicht mitkommen wollen?« – »Klärchen ist krank,« sagte der Pfarrherr, »die könnte nicht so weit gehen. – Ich wollte wegen meines Kindes mit Ihnen sprechen,« sagte er zu Scholter.

Der war darüber hoch verwundert; denn daß der Herr Pfarrer etwas von seinen Säften und Tränken für sein Kind wolle, glaubte er doch nicht. »Geht in den Wald und sucht noch schöne Brombeeren!« sagte er zu Anita und Siegmund, der eben den Herrn Pfarrer höflich begrüßt hatte; er dachte, dieser habe vielleicht ihm allein etwas mitzuteilen.

Etwas Gefährliches war es nicht. »Fräulein Richter, die seither mein Haus und mein Kind besorgt hat, wird zu einem Bruder ziehen,« sagte ihm der Pfarrer. »Es kommt nun eine herzensgute, verwitwete Pfarrfrau, eine Base, zu mir. Die wird mein Klärchen treulich versorgen, nur hat das Kind, das so selten ausgehen kann, eben keinen Umgang zu Spiel und Lernen an ihr; da dachte ich, wenn Ihr Töchterlein über Mittag und in den Zwischenstunden der Schule zu Klärchen käme, könnte sie mit ihr lernen, spielen, arbeiten und ins Freie gehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Sie, Herr Pfarrer, Sie haben daran gedacht, mein Kind zur Gespielin Ihrer Tochter aufzunehmen?« rief Meister Schotter in höchstem Erstaunen.

»Ehrlich gesagt, war's nicht mein Gedanke,« sagte der Pfarrer, »obwohl ich ja Ihre Anita als ein braves, frommes Kind kenne; ich hatte auch in der Stadt drunten manches Kind gewußt. Aber mein Klärchen, etwas verwöhnt wie kränkliche Kinder und eigenwillig, hat zu Anita eine besondere Zuneigung gefaßt; es hat manchen Streit mit Fräulein Richter gegeben, die sie nicht einladen wollte, deshalb konnte ich auch früher nichts sagen. Und so erklärt sie, kein anderes Kind zur Gespielin ins Haus zu wollen als Anita; denn keine könne so nett und still mit ihr sich unterhalten, so hübsch ausschneiden und ihr alles so schön in Ordnung halten.«

»Ja, 's ist wahr,« sagte Meister Schotter mit feuchten Augen, »das Kind muß die geschickte Hand seiner Mutter geerbt haben, obgleich diese sie nichts mehr hat lehren können; die war gar geschickt und gut unterrichtet, sie hätte ein Kammerfräulein für eine Prinzeß gegeben. Aber, Herr Pfarrer, meines Kindes Herkunft?«

»Davon werden die Leute nicht lange reden, wenn sie einmal in meinem Haus ist, und Klärchen, wie ich Ihnen sagte, nimmt gar keinen Anstoß daran.«

Mit freudiger, dankbarer Seele gab der Vater seine Einwilligung; hier hatte ihm der Herr ja, ehe er recht gebeten, die Sorge um dieses Kind abgenommen. Und nun schüttete er dem Pfarrherrn auch das Herz aus über seinen Siegmund, den das unfreundliche Benehmen seiner Kameraden zu dem finsteren Wesen, der verkehrten Leserei und zuletzt zu den grausigen Gedanken über seinen Vater gebracht. »Wie kann ich den Knaben in der Schule lassen, wo er sich wie ein Geächteter vorkommt?« fragte er. »Wird nicht der Scharfrichterssohn wie ein Schatten auf allen seinen Wegen liegen und ihn hindern an frischer, freudiger Entwickelung, wie das dereinst bei meinem Vater war?«

»Hätte Ihr Vater tüchtig das Seinige gelernt und wäre in der Stille seines Wegs gegangen, so wäre er auch an ein gutes Ziel gekommen, obwohl damals vielleicht noch mehr Vorurteile herrschten. Es wird aber auch nicht so schlimm bleiben. Die Sache ist ungewöhnlich; es ist das erste Mal, daß ein Schüler dieses Standes ins Gymnasium kommt, und vielleicht hat ein dummer Junge den Anstoß zu dem widerwärtigen Benehmen gegeben. Knaben stecken einander leicht an und Siegmunds eigenes, trotziges, zurückgezogenes Wesen hat ihn bald von den andern abgesondert, und das blieb alle Klassen hindurch. Lassen Sie mich einmal mit seinem Lehrer reden! Buben schlagen ebenso leicht zur Großmut um, wenn einer einmal das Zeichen gibt. Er soll tüchtig arbeiten und nichts Verbissenes in sich aufkommen lassen, so wird sich's schon geben. In ein paar Tagen fangen die Herbstferien an, lassen Sie ihn so lange daheim; wenn er nachher wieder ins Gymnasium kommt, so wird es besser werden.«

»Aber wegen dieser traurigen Mordgeschichte wird in nächster Zeit wieder viel vom Scharfrichter gesprochen werden,« sagte Scholter düster.

»Lassen Sie sich's noch nicht bekümmern!« tröstete ihn der Pfarrherr; »verdient haben die Räuber den Tod, aber unser fürstlicher Herr unterschreibt nicht gern Todesurteile; ich glaube nicht, daß noch oft ein Richtschwert gebraucht wird in unserem Lande.«

Die Kinder kamen vom Walde mit roten Wangen und mit Körbchen voll prächtiger Brombeeren, die der Herr Pfarrer freundlich annahm und sogar versprach, dem Klärchen davon zu bringen. Anita hörte wie in einem glücklichen Traum, daß sie nun so oft bei Klärchen sein, mit ihr spielen und lernen solle; aber dabei war es ihr lieb, daß sie an allen guten Tagen abends zum Vater heimkommen und sein Kind bleiben solle. Von Siegmund ließ sich der geistliche Herr seine Bücher und Schriften zeigen, gab ihm guten Rat darüber und sagte ihm, wenn er neben dem Lernen noch Zeit zum Lesen habe, soll er sich bei ihm Bücher holen.

Es war, als ob der Tag aufgegangen sei in Siegmunds Gesicht nach diesem Sonntag, und auch des Vaters Auge wurde heller nach allem Ernsten und Trüben, was er mit seinem Knaben besprochen hatte; in die verschlossene Stube sind sie aber nicht wieder gegangen. Es war eine alte Sage, daß das Richtschwert klirre, ehe es ein Strafamt zu vollziehen habe. Ob wohl der Scharfrichter manchmal danach hingehorcht hat?

Siegmunds Kameraden.

Die Kinder der Heide brachten die Ferien still und vergnügt miteinander zu. Es freute Siegmund, daß der Vater Interesse zeigte an dem, was er bis jetzt gelernt hatte in der Schule. Dem Vater war es schwer aufs Herz gefallen, daß sein Sohn ihn hatte für einen Räuber halten können; jetzt suchte er das Beste hervor, was er je gelernt und gelesen hatte, um es seinen Kindern mitzuteilen und mit ihnen leben und verkehren zu können; sie machten oft ganz heitere Gänge in den Wald und weiter in die Gegend hinaus.

Es war nicht lange, nachdem die Ferien begonnen hatten. Siegmund saß an dem Tisch vor der Hausthür und blätterte in seinen Büchern. Siehe, da kamen den Weg am Gärtchen her zwei gut gekleidete Knaben seines Alters. Sollte er seinen Augen trauen? Das war Seeger und Bergmüller, zwei seiner Mitschüler, Söhne aus angesehenen Häusern; einer war sein Nachbar in der Schule, aber sie hatten nie miteinander mehr geredet, als nötig war. Er schaute sie verwundert, fast kampflustig an; kamen sie vielleicht herauf, ihn zu verhöhnen und zu beleidigen? Bergmüller war's, wie er glaubte, gewesen, der ihm den Räuberzettel zugesteckt hatte. Auch die Jungen kamen etwas verlegen näher; Seeger aber, der Aufgewecktere von beiden, nahm das Wort.

»Scholter,« sagte er, »weil du die letzten Tage vor den Ferien nicht mehr gekommen bist, so bringen wir dir da die Schulaufgaben; was nicht aufgeschrieben ist, wollen wir dir mündlich sagen.«

Nun, das war doch viel, daß die Knaben heraufkamen den weiten Weg, nur um ihm seine Aufgaben zu bringen. Siegmund war ganz betroffen von solcher Gefälligkeit; nach und nach aber tauten sie aneinander auf; der muntere Seeger entdeckte im Gärtchen den Käfig mit dem Eichhorn; sie erzählten ein paar Schulereignisse, die in den letzten Tagen noch vorgefallen waren, und Siegmund, als das Eis gebrochen war, wußte gar nicht, wie er ihnen seinen Dank zeigen sollte.

Obgleich sie auf der verrufenen Heide waren, fanden sie doch das Wohnhaus und das Gärtchen so freundlich, den Baum mit purpurroten Äpfeln am Zaun und Siegmunds reichlichen Haselnußvorrat so unverfänglich, daß sie bald nach Herzenslust schmausten und die besten Freunde zusammen waren.

»Am zwanzigsten Oktober fängt das Gymnasium wieder an,« sagte Bergmüller, »sei nur morgens beizeiten da! Während der Vakanz spielen mir nachmittags auf dem alten Schloßplatz, da mußt du auch einmal kommen und mitthun. Und höre, kannst du uns nicht jetzt den Heimweg durch den Wald zeigen? Wir möchten gern da hinunter.«

Ganz rot vor innerlicher Freude und mit Gott und Welt versöhnt, wanderte Siegmund mit den neu gewonnenen Kameraden durch den Wald. Der Vater hatte verwundert vom Fenster aus der neuen Freundschaft zugesehen. »Das kommt vom Herrn Pfarrer,« dachte er.

Ja, so war's. Der Pfarrherr hatte mit dem Lehrer des Gymnasiums gesprochen, und dieser mit den Knaben. Er hatte ihnen nicht gesagt, daß Siegmund seinen Vater für einen Räuber gehalten habe; aber er hatte ihnen vorgestellt, daß sie einen tüchtigen und talentvollen Mitschüler unglücklich und einsam gemacht dadurch, daß sie ihn das traurige Amt seines Vaters hatten entgelten lassen; er zeigte ihnen, wie solche Verachtung, gegen einen von der Obrigkeit eingesetzten Stand noch ein Rest des finsteren Mittelalters sei und früher oft zu den rohesten Ausbrüchen geführt habe; er rief ihre Großmut an für den armen Knaben, der eine einsame Heimat gehabt und dem nun aller Freundesverkehr, alle Jugendfreude sollte genommen sein, weil sich eine Scheu an den Stand seines Vaters knüpfe.

»Ach, das wäre auch nicht so geworden, wenn er selber nicht so trutzig und übelnehmig gewesen wäre,« sagte Seeger; »mir kommt's gar nicht darauf an, ich will ihm die Aufgaben hinaufbringen.« – »Ich auch!« rief Bergmüller; und wenn der Lehrer nicht davon abgeraten hätte, so wäre am Ende eine ganze Schar auf die Heide hinaufgezogen. Es wurden aber laut und leise allerlei großmütige Vorsätze unter den Schülern, gefaßt, wie man dem Scharfrichterssohne sein bisheriges trübseliges Leben vergüten wolle. Der Lehrer und der Herr Pfarrer konnten beruhigt sein.

Noch vor dem Ablauf der Ferien kam der Pfarrer abermals auf die Heide und brachte Meister Scholter die Nachricht, daß die beiden Verbrecher zum Tode verurteilt, durch den Beschluß des Landesherrn aber begnadigt seien.

»Gott sei Dank!« sagte der Scharfrichter; »ich glaube, verdient hätten sie den Tod nach dem strengen Gesetz, aber bis in alle Ewigkeit hinein darf ja die Gnade mächtiger sein als das Gericht. Ich kann es nicht entscheiden, ob es recht ist, ein so schweres Verbrechen nicht mit der höchsten Strafe zu belegen, mir selbst aber ist ein Stein vom Herzen genommen, und ich danke Gott dafür; wir wollen ihn bitten, daß den Verbrechern das geschenkte Leben, das ja auch ein schweres wird, zur Besserung und zum Heil gereiche.«

Und das große Richtschwert siegelte er ein in der Hoffnung, es nie mehr ziehen zu dürfen.

Neues Leben.

Wie freudigen Herzens schritten die Kinder der Heide zur Stadt hinunter, als die Schule wieder begann! Siegmund hatte während der Ferien noch einen Besuch seiner neuen Freunde erhalten und war sogar von Bergmüller zur Weinlese geladen worden. Die Schüler grüßten ihn freundlich beim Eintritt in den Schulhof; es war ihm fast eine Verlegenheit und er war froh, daß die Schule gleich begann.

Es rückte keiner mehr zur Seite, wenn er neben ihn kam; sie zeigten ihm die Stellen in den Büchern, die er wissen mußte; borgten ihm das Federmesser und was sonst so kleine Gefälligkeiten des Schullebens sind, und es gab im Laufe der Tage Gelegenheit genug, daß Siegmund, der ein kräftiger, geschickter Bursche war, ihnen wieder einen Gefallen thun konnte; auf dem Turnplatz war er bald einer der Ersten und Kecksten; in den Lektionen wollte er auch nicht zurückbleiben, das hatte er sich fest vorgenommen; sie sollten sehen, daß ein Scharfrichterssohn auch etwas zustande bringen könne! Und es ging wirklich gut; wem es ernst ist mit dem Lernen, dem wird es auch zur Freude, und Siegmund konnte bald gar nicht mehr begreifen, wo er vorher nur die Zeit hergenommen, so viel unsinnige Geschichten zu lesen. Er lernte nach und nach guten Bescheid über Hannibal und Cäsar, über die Länder- und Völkergeschichte aller Zeiten; er gehörte bald unter die Erster seiner Klasse, und da er zu einer Art von Schützling der Schule geworden war und gegen alle freundlich und dienstfertig sich zeigte so wurde er auch nicht beneidet; die Mitschüler machten vielmehr Staat mit ihm, und an guten Freunden fehlte es ihm nicht.

Anita war zuerst gar schüchtern ins Pfarrhaus gekommen da sie sich von den Zeiten des Fräuleins Richter her noch fürchtete. Klärchen aber und die gute alte Pfarrfrau nahmen sie sehr freundlich auf.

Der Herr Pfarrer dachte, der alten Frau könnte es doch ein wenig unheimlich sein, wenn sie die Herkunft des jungen Gastes wüßte. So sah sie zunächst nur ein mutterloses Bürgertöchterlein in ihr und freute sich, daß sie so säuberlich war und pünktlich, so fleißig und gefällig, solch zierliche, geschickte Finger hatte zu jeder Arbeit und das oft trübselige, kranke Klärchen so nett aufheitern, unterhalten und pflegen konnte. Das Kind wurde nach und nach ganz ihr Herzblatt, so daß Klärchen fast eifersüchtig geworden wäre, und als sie später erfuhr, wem Anita gehöre, so tröstete sie sich: »Die Kleine kann ja nichts dafür, und am Ende wird's bald keine Scharfrichter mehr geben; nur daß sie sie Anita getauft, ist ein bißchen ein Übermut, Hannele hätt's auch gethan, oder Nike.«

Anita blühte auf wie ein Röslein und wußte nicht, was sie Gott und Menschen alles zuliebe thun sollte zum Dank, daß es ihr so gut ging. An kalten und regnerischen Tagen hatte sie ihr Quartier im Pfarrhaus; aber so oft es möglich war, ging sie mit Siegmund hinauf, um dem Vater den einsamen Abend zu erheitern.

Da wurde gemeinsam gelesen, nicht Räuberhistorien, aber schöne Geschichten aus alter und neuer Zeit; Anita sang ihre lieblichen Lieder, und der Vater erzählte ihnen von ihrer guten Mutter – er vergaß oft ganz, wie viele schwere und trübe Stunden er schon hier oben erlebt hatte.

Auch die alte Katharine lebte wieder auf dabei; sie war aus Liebe zu der seligen Frau, die sie schon als Kind gepflegt, mit heraufgezogen und hatte getreulich bei den Kindern ausgehalten, mit denen sie oft großes Mitleid gehabt, daß sie nicht leben sollten wie andere Kinder; nun war sie glücklich, seit es ihnen besser ging und sie so geschickt und beliebt wurden.

Sein Amt niederlegen und von der Heide herabziehen wollte der Meister nicht. »Ich passe nicht mehr in die Welt und unter die Leute,« sagte er. Er hatte dem Herrn Medizinalrat seine Heilmittel, seine Tränke und Pulver gezeigt und erklärt, wie er sie bereite, und gefragt, ob er sie denn noch verkaufen dürfe.

»Da oben thun Sie's immerhin,« sagte dieser lächelnd. »Da drückt man ein Auge zu. In der Stadt würde es nicht angehen.« – So hatte er denn seine friedliche und stille Arbeit auf seiner Heide und freute sich, daß er seine Kinder so glücklich wachsen und gedeihen sah.

Schluß.

Und doch habe ich gehört, daß Meister Scholter, der sein Schwert nicht mehr hat ziehen dürfen, heruntergestiegen sei von seiner kahlen Höhe und gelernt habe, im Thale zu leben mit seinen Kindern.

Das war fünfzehn Jahre nach dem Tage, wo er sein Schwert eingesiegelt; er war inzwischen ein alter Mann geworden.

Ziemlich weit weg von der Heide, in einer gar freundlichen Stadt im Rheinthal, sieht man einen schön bepflanzten, sonnigen und schattenreichen Garten, darin ein großes, freundliches Haus, das gar schön und bequem eingerichtet ist für kranke Kinder. In luftigen Sälen stehen die guten, reinlichen Bettchen; schöne Bücher, Geschirrlein, Puppen, Bilder und Spielsachen sind zur Unterhaltung bereit. Am liebsten ist es den armen Kleinen, wenn sie bei warmem Wetter in den Garten zu Blumen und Vöglein gebracht werden können.

Die Kinder haben ihren Arzt, den Herrn Doktor Siegmund, sehr gern, obgleich er sie manchmal plagen muß mit Schneiden und Verbinden; er ist so freundlich gegen sie und weiß immer ein Späßchen mit ihnen zu machen, und sie sehen auch, wie oft es besser wird unter seiner Kur, selbst wenn er ihnen zuerst weh gethan hat.

Wen sie aber am allerliebsten haben, das ist seine Schwester, die Tante Anita genannt. Die kommt wie ein freundlicher Engel an all die Krankenbetten; sie tröstet und erquickt die Kinder in Schmerzen, sie spielt mit ihnen am guten Tag; sie liest ihnen vor, sie singt ihnen liebliche Lieder und erzählt ihnen; es ist ein Jubel selbst unter den kränksten und müdesten Kindern, wenn Tante Anita ins Zimmer tritt, und es ist eine Belohnung für die artigsten und geduldigsten, wenn sie länger bei ihnen verweilt.

Wer Anita ist, das habt ihr wohl alle erraten; sie hat sich, solange ihr Bruder seine Studien und Reisen machte, in die Pflege Klärchens und ihres Vaters geteilt, der mitunter leidend wurde; sie hat dabei, so viel als möglich, alles gelernt, womit sie andern zu Dienst und zu Liebe sein konnte. Klara ist nun gesund und verheiratet; Anita aber ist auf des Bruders Bitte zu ihm gezogen, als sie sah, wie gut er sie brauchen konnte.

Doktor Siegmund – er hat mit des Vaters Bewilligung den Namen Scholter abgelegt – hat recht tüchtige Studien gemacht und war einige Zeit ärztlicher Gehilfe in dem Kinderkrankenhause, das er nun zu eigen hat. Die Leute meinen, der Herr Doktor sei ganz dazu geschaffen, ein Kinderarzt zu sein; man hätte es früher dem trutzigen Siegmund kaum zugetraut.

Als droben auf der Heide die Katharine gestorben und der Vater ganz allein war, da kam er endlich auf die Bitten seiner Kinder von der einsamen Höhe herab und blieb bei ihnen.

Er wandelte wie ein fremder Gast unter den Menschen, mit denen er eigentlich nie gelebt hatte; doch hatten die Kinder den »Großpapa«, wie sie ihn nannten, lieb und betrachteten ihn mit großem Respekt. Mit Kindern spielen und ihnen Geschichten erzählen, das hatte er nie recht verstanden; es waren aber unter den kleinen Kranken oft aufmerksame, nachdenkliche Kinder, denen er allerlei mitteilen konnte von dem stillen Leben der Natur, unter Vögeln und Käfern, Pflanzen und Bäumen, wie er es in langen Jahren auf seiner einsamen Höhe beobachtet hatte. Auch dem Sohn war er vielfach ein nützlicher Gehilfe, wenn der gleich seine Kräutersäfte und Salben nicht gelten lassen wollte.

So hat der alte Mann noch einen gar friedlichen und freundlichen Lebensabend gehabt, glücklich im Glücke seiner Kinder, ehe er entschlafen durfte.

Unter seinem geringen Nachlaß fand sich das große, versiegelte Richtschwert. Der alte Spruch vom Menschenblut stand nicht mehr dabei, wohl aber auf einer Seite die Worte: » Der Herr hat nicht Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß sich der Gottlose bekehre und lebe«; auf der andern: » Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr«. Sie haben das Schwert dem Rathause der Stadt Eberburg zur Aufbewahrung übergeben.

Die Kinder der Heide aber führen vielleicht noch heute ein thätiges, glückliches, segensreiches Leben im grünen Thale drunten.


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