Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht; er verbrachte den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer, erschüttert von einer wilden Todesfurcht und doch dem Leben selbst gegenüber gleichgültig. Das Bewußtsein, verfolgt, gejagt, aufgespürt zu werden, begann ihn zu beherrschen. Wenn die Vorhänge nur im Wind erzitterten, schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die Butzenscheiben geweht wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Entschlüsse und ungestümen Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht des Matrosen, wie es durch das nebelbeschlagene Glas blickte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal die Hand aufs Herz zu legen.

Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und die gräßlichen Gestalten der Strafe vor ihn gestellt hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber in der Kraft der Einbildung war eine furchtbare Logik. Die Einbildungskraft hetzte die Gewissensbisse auf die Sünde. Die Einbildungskraft zeugte aus jedem Verbrechen neue scheußliche Ungeheuer. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen werden die Schlechten so wenig bestraft wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehört den Starken. Unglück trifft die Schwachen. Das ist alles. Übrigens, wäre ein Fremder um das Haus herumgestrolcht, so hätte ihn einer der Diener oder Wächter entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen auf den Beeten gefunden worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja, es war nur Einbildung gewesen. Sibyl Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu töten. Er war auf seinem Schiff fortgesegelt, um in irgendeiner winterlichen See zu ertrinken. Vor ihm war er sicher. Der wußte nicht, wer er war, konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet.

Und doch, wenn es auch bloß Einbildung gewesen war, wie schrecklich, daß das Gewissen so fürchterliche Phantome erstehen lassen, ihnen sichtbare Form geben und sie vor unseren Augen bewegen konnte! Was für ein Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht die Schatten seiner Verbrechen aus stillen Winkeln nach ihm spähen, ihn von geheimen Stellen aus höhnen, ihm in die Ohren flüstern würden, wenn er beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als dieser Gedanke durch sein Hirn schlich, wurde er blaß vor Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter zu sein. In welcher wild-wahnsinnigen Stunde hatte er den Freund umgebracht! Wie gespenstisch war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah nun alles wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit erhöhtem Schrecken in sein Gehirn zurück. Aus den schwarzen Höhlen der Zeit, schrecklich und in Scharlachrot gehüllt, erstand das Bild seiner Sünde. Als Lord Henry um sechs Uhr eintrat, fand er den Freund schluchzend, wie wenn ihm das Herz brechen wollte.

Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. In der klaren, nadelduftenden Luft dieses Wintermorgens schien etwas zu liegen, das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust wiedergab. Aber nicht nur die physischen Bedingungen seiner Umgebung hatten diesen Wechsel veranlaßt. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die seine sonst vollendete Ruhe zu zermalmen und zu zerstören versucht hatte. Bei feinen, subtil organisierten Naturen ist es immer so. Bei ihren heftigen Leidenschaften gibt es nur ein Biegen oder Brechen. Entweder sie erschlagen den Menschen oder sie sterben selbst. Oberflächliche Leiden, oberflächliche Liebe können weiter leben. Große Liebe und große Leiden werden durch ihre eigene Fülle vernichtet. Dann hatte er sich auch überzeugt, daß er das Opfer einer durch Schrecken verwirrten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Angst mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück.

Nach dem Frühstück ging er eine Stunde mit der Herzogin im Garten spazieren und fuhr dann durch den Park, um die Jagdgesellschaft zu treffen. Der zart gekräuselte Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der Himmel sah aus wie eine umgestülpte blaue Metallschale. Eine dünne Eisschicht säumte den seichten, schilfbewachsenen Teich.

Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Er sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle das Pferd nach Hause fahren, und ging dann durch das welke Farnkraut und das rauhe Gestrüpp auf seinen Gast zu.

»Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« sagte er.

»Nicht besonders, Dorian. Die meisten Vögel sind wohl auf die Felder gegangen. Vielleicht wird es am Nachmittag besser, wenn wir auf frischen Grund kommen.«

Dorian schlenderte neben ihm her. Die starke, aromatische Luft, die braunen und roten Lichter, die im Wald flimmerten, die heiseren Schreie der Treiber, die von Zeit zu Zeit laut wurden, und der scharfe Knall der Flinten, der folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit einem Gefühl wunderbarer Freiheit. Er war beherrscht von sorglosem Glück, von der hohen Gleichgültigkeit der Lust.

Plötzlich fuhr aus einem Büschel alten Grases, vielleicht zwanzig Meter von ihnen weg, ein Hase auf, die schwarzgesprenkelten Löffel hoch erhoben und die langen hinteren Läufe nach vorn werfend. Er lief nach einem Erlendickicht. Sir Geoffrey legte das Gewehr an die Schulter. Aber in der beweglichen Anmut des Tieres lag etwas, das Dorian auf eine seltsame Weise entzückte, und er rief zugleich aus:

»Schießen Sie ihn nicht, Geoffrey. Lassen Sie ihn laufen!«

»Was für ein Unsinn, Dorian«, sagte sein Begleiter lachend; und als der Hase in das Dickicht setzte, schoß er. Man hörte zwei Schreie: den Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden Mannes, der weit ärger ist.

»Herr Gott, ich habe einen Treiber getroffen!« schrie Sir Geoffrey. »Was für ein Esel der Mann war, vor die Büchsen zu laufen! Hört auf zu schießen!« rief er, so laut er konnte. »Ein Mann ist verwundet.«

Der Wildhüter kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen.

»Wo, Herr? Wo ist er?« schrie er. Im selben Augenblick hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf.

»Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht zu. »Warum, um Himmels willen, halten Sie Ihre Leute nicht zurück? Jetzt ist meine ganze Jagd für heute zum Teufel.«

Dorian beobachtete sie, wie sie in die Erlenpflanzung eindrangen und die biegsamen, schwankenden Zweige zur Seite stießen. Nach ein paar Minuten kamen sie wieder heraus und zogen einen Körper ins Sonnenlicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Unglück überallhin. Er hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot sei, und die bejahende Antwort des Hüters. Der Wald schien sich jäh mit Gesichtern zu beleben. Man hörte das Getrampel von unzähligen Füßen und das leise Summen von Stimmen. Ein großer Fasan mit kupferfarbiger Brust flog flatternd durch die Äste über ihren Köpfen.

Nach einigen Augenblicken, die ihm, verstört wie er war, endlose schmerzliche Stunden schienen, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er schrak zusammen und wandte sich um.

»Dorian,« sagte Lord Henry, »ich will den Leuten lieber sagen, daß die Jagd für heute zu Ende ist. Es würde nicht gut aussehen, weiter zu jagen.«

»Ich wollte, sie wäre für immer zu Ende«, antwortete er bitter. »Die ganze Sache ist gräßlich und grausam. Ist der Mann …?« Er konnte den Satz nicht vollenden.

»Ich fürchte«, antwortete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die Brust bekommen. Er muß gleich gestorben sein. Kommen Sie, wir wollen nach Hause gehen.«

Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu, vielleicht fünfzig Meter, ohne zu sprechen. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Henry, das ist ein böses Vorzeichen, ein sehr böses Vorzeichen.«

»Was?« fragte Lord Henry. »Oh – der Unglücksfall! Mein lieber Freund, da kann man nichts machen. Der Mann trägt ja selbst die Schuld. Warum ging er vor die Flinten? Übrigens ist es nicht unsere Sache. Natürlich, für Geoffrey ist es ziemlich unangenehm. Es geht nicht an, Treiber niederzupfeffern. Die Leute denken dann, daß man ein Sonntagsjäger ist; und Geoffrey ist es nicht. Er schießt ganz ordentlich. Aber es hat keinen Sinn, über die Sache weiter zu reden.«

Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Vorzeichen, Henry. Ich habe das Gefühl, daß einem von uns etwas Schreckliches zustoßen wird. Mir selbst vielleicht«, fügte er hinzu und fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie einer, der Schmerzen hat.

Der Ältere lachte. »Die einzige schreckliche Sache in der Welt ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, außer wenn die Leute noch beim Diner über die Sache reden. Ich muß Ihnen sagen, daß das Thema Tabu ist. Und Vorzeichen – so etwas gibt es nicht. Das Schicksal schickt uns keine Herolde. Es ist zu weise oder zu grausam dazu. Übrigens, was auf der weiten Welt sollte Ihnen geschehen, Dorian? Sie haben alles, was ein Mann wünschen kann. Es gibt niemand, der nicht gern mit Ihnen tauschen würde.«

»Es gibt niemand, mit dem ich nicht tauschen würde, Henry. Lachen Sie nicht so! Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der gerade gestorben ist, war besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Vor dem Sterben ängstige ich mich. Die ungeheuerlichen Flügel des Todes scheinen rings um mich herum in der bleiernen Luft zu schweben. Herr im Himmel, sehen Sie denn nicht, daß dort hinter dem Baum ein Mann auf mich wartet, mich beobachtet?«

Lord Henry sah in die Richtung, in die die zitternde Hand wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe, daß der Gärtner auf Sie wartet. Er will Sie wohl fragen, welche Blumen heute auf den Tisch kommen sollen. Wie lächerlich nervös Sie sind, mein Lieber! Sie müssen zu meinem Doktor gehen, wenn wir wieder in London sind.«

Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner näherkommen sah. Der Mann legte die Hand an den Hut, blickte zuerst zögernd auf Lord Henry und nahm dann einen Brief heraus, den er seinem Herrn gab. »Ihre Gnaden hat mir aufgetragen, auf eine Antwort zu warten«, flüsterte er.

Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, daß ich komme«, sagte er kühl. Der Mann drehte sich um und ging rasch dem Hause zu.

»Wie gerne die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry lachend. »Es ist eine ihrer Eigenschaften, die ich am meisten bewundere. Jede Frau ist bereit, mit jedem Menschen auf der Welt zu flirten, solang andere Leute zuschauen.«

»Wie gerne Sie gefährliche Dinge sagen, Henry! In diesem Falle aber sind Sie auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.«

»Und die Herzogin liebt Sie sehr, aber Sie hat sie weniger gern. Sie beide passen also ausgezeichnet zusammen.«

»Was Sie da sagen, ist Klatsch, Henry, und man hat eigentlich nie eine Grundlage für Klatsch.«

»Die Grundlage für jeden Klatsch ist die Verläßlichkeit der Unmoral«, sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an.

»Sie würden jeden von uns opfern, Henry, um einen Witz zu machen.«

»Die Welt legt sich freiwillig auf den Opferaltar«, war die Antwort.

»Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian, einen tiefen, pathetischen Ton in der Stimme. »Aber es scheint, ich habe die Kraft zur Leidenschaft verloren, und vergessen, wie man begehrt. Ich bin zu sehr von mir selber eingenommen. Meine eigene Persönlichkeit ist eine Last für mich geworden. Ich möchte fliehen, weggehen, vergessen. Es war albern, daß ich überhaupt hergekommen bin. Ich glaube, ich werde nach Harvey telegraphieren, man soll die Jacht instand setzen. Auf einer Jacht ist man sicher.«

»Vor was sicher, Dorian? Sie haben Sorgen. Warum sagen Sie mir nicht, was es ist? Sie wissen, daß ich Ihnen helfen möchte.«

»Ich kann es nicht sagen«, antwortete er traurig. »Ich vermute, es ist alles nur Einbildung. Der Unglücksfall hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Ahnung, daß mir etwas Ähnliches zustößt.«

»Unsinn!«

»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich habe einmal das Gefühl. Ach, da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem Tailor-made-Kostüm. Sie sehen, wir sind zurück, Herzogin.«

»Ich habe schon alles gehört, Mr. Gray«, antwortete sie. »Der arme Geoffrey ist fürchterlich aufgeregt. Ich höre, Sie hatten ihn gebeten, den Hasen nicht zu schießen. Wie seltsam!«

»Ja, es war sehr merkwürdig. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich es getan habe. Irgendeine Laune, vermute ich. Er sah aus wie das entzückendste kleine Wesen. Aber es tut mir leid, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es ist ein peinliches Thema.«

»Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach Lord Henry. »Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn noch Geoffrey die Sache absichtlich getan hätte, dann wäre er interessant. Ich würde gern jemand kennen, der einen wirklichen Mord begangen hat.«

»Wie schrecklich von Ihnen«, antwortete die Herzogin. »Nicht wahr, Mr. Gray? Henry, Mr. Gray ist krank. Er wird ohnmächtig.«

Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts,« antwortete er, »meine Nerven sind sehr in Unordnung. Das ist alles. Ich fürchte, ich bin heute morgen zu viel gegangen. Ich habe nicht gehört, was Henry gesagt hat. War es sehr arg? Sie müssen es mir ein anderes Mal erzählen. Ich muß Sie jetzt verlassen und mich hinlegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?«

Sie waren an die große Treppe gekommen, deren Stufen aus dem Wintergarten auf die Terrasse führten. Als die Türe hinter Dorian geschlossen war, drehte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit seinen verschlafenen Augen an. »Lieben Sie ihn sehr?« fragte er.

Sie gab eine Weile keine Antwort und stand, auf die Landschaft blickend, da. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie schließlich.

Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Unglück. Nur die Ungewißheit hat Reiz. Der Nebel macht die Dinge wunderbar.«

»Man kann aber in ihm den Weg verlieren.«

»Alle Wege enden am selben Fleck, meine liebe Gladys.«

»Wie heißt der?«

»Enttäuschung.«

»Sie war mein Debüt im Leben«, seufzte sie.

»Sie kam mit einer Krone zu Ihnen.«

»Ich bin der Herzogskrone überdrüssig.«

»Sie steht Ihnen gut.«

»Nur in der Öffentlichkeit.«

»Sie würde Ihnen fehlen«, sagte Lord Henry.

»Ich werde mich von keiner Zinke trennen.«

»Monmouth hat Ohren.«

»Alter ist schwerhörig.«

»War er nie eifersüchtig?«

»Ich wollte, er wäre es gewesen.«

Er blickte sich um, als suche er etwas.

»Was suchen Sie?« fragte sie.

»Den Knopf Ihres Floretts«, antwortete er. haben ihn fallen lassen.«

»Ich habe noch die Maske.«

»Sie macht Ihre Augen noch hübscher«, war die Antwort.

Sie lachte wieder. Ihre Zähne sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachroten Frucht.

Oben in seinem Zimmer lag Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder Fieber seines zuckenden Körpers. Das Leben war plötzlich für ihn eine so schwere Last geworden, daß er es nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier erschossen war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast ohnmächtig geworden bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte.

Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und gab ihm den Auftrag, den Koffer für den Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen. Er war entschlossen, nicht noch eine Nacht in Selby Royal zu schlafen. Es war ein Ort der bösen Vorzeichen. Der Tod ging dort am hellen Tage umher. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt.

Dann schrieb er ein paar Zeilen an Lord Henry, teilte ihm mit, daß er in die Stadt fahre, um den Doktor zu konsultieren, und bat ihn, seine Gäste inzwischen zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und der Diener teilte ihm mit, daß der Wildhüter ihn sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Schicken Sie ihn herein«, murmelte er nach einigem Zögern.

Als der Mann eingetreten war, nahm Dorian sein Scheckbuch aus einer Lade und legte es vor sich hin.

»Ich vermute. Sie kommen wegen des Unglücksfalles von heute morgen, Thornton«, sagte er und nahm eine Feder.

»Ja, Herr«, antwortete der Wildhüter.

»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er für Angehörige zu sorgen?« fragte Dorian mit einem gelangweilten Gesicht. »Wenn so, dann möchte ich nicht, daß sie in Not geraten, und will ihnen jede Summe geben, die Sie für notwendig halten.«

»Wir wissen nicht, wer er ist, gnädiger Herr. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, herzukommen.«

»Sie wissen nicht, wer er ist?« sagte Dorian gleichgültig. »Wie meinen Sie das? War es nicht einer Ihrer Leute?«

»Nein, Herr, ich habe ihn nie früher gesehen. Er steht aus wie ein Matrose.«

Die Feder fiel aus Dorian Grays Hand, und er hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf. »Sagten Sie, ein Matrose?«

»Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose, die beiden Arme tätowiert und überhaupt die ganze Art …«

»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit erstaunten Augen an. »Irgend etwas, das seinen Namen sagt?«

»Nur Geld, gnädiger Herr. Nicht viel, und einen sechsläufigen Revolver. Keinerlei Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber etwas roh. Wir halten ihn für einen Matrosen.«

Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchzuckte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie. »Wo ist der Leichnam? Rasch, ich muß ihn sofort sehen.«

»Er liegt in einem leeren Stall bei den Hauptgebäuden, gnädiger Herr. Die Leute wollen so etwas nicht in ihren Häusern haben. Sie sagen, ein Leichnam bringt Unglück.«

»Bei den Hauptgebäuden! Gehen Sie sofort hin und warten Sie dort auf mich. Sagen Sie einem der Stallknechte, er solle mein Pferd herbringen. Nein, lassen Sie es, ich werde selbst in den Stall gehen. Das wird rascher gehen.«

Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian die lange Allee, so rasch er konnte, entlang. Die Bäume schienen an ihm in gespenstischem Zuge vorbeizufliegen und wilde Schatten auf den Weg zu schleudern. Einmal scheute die Stute an einem weißen Pflock und warf ihn fast ab. Er peitschte sie mit der Gerte auf den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine sprangen unter ihren Hufen.

Schließlich erreichte er die Stelle. Zwei Männer gingen im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einen von ihnen die Zügel zu. In dem fernsten Stall schimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß der Leichnam dort liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die Hand aufs Schloß.

Er zögerte einen Augenblick und spürte, er sei an der Schwelle einer Entdeckung, die ihm entweder das Leben neu geben oder es zerstören würde. Dann stieß er die Tür auf und trat ein.

Auf einem Bündel Säcke in dem entferntesten Winkel lag der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem rauhen Hemd und blauen Hosen. Ein getupftes Taschentuch war über sein Gesicht gebreitet. Eine elende Kerze, in eine Flasche gesteckt, flackerte daneben.

Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er mit seiner Hand nicht dieses Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Leute.

»Nehmen Sie das Ding vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und mußte sich an den Türpfosten anklammern.

Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorne. Ein Freudenschrei brach von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war James Vane.

Er stand einige Minuten da und sah auf den toten Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen voll Tränen, denn er wußte jetzt, daß er sicher war.


 << zurück weiter >>