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Drittes Kapitel

Um halb eins am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von Curzon Street nach dem Albany hinüber, um seinem Onkel einen Besuch zu machen. Lord Fermor war trotz seiner etwas rauhen Art ein heiterer alter Junggeselle, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, den man aber in der Gesellschaft freigebig nannte, weil er den Leuten, die ihn amüsierten, zu essen gab. Sein Vater war Gesandter in Madrid gewesen, als die Königin Isabella noch jung war, und man von Prim noch nichts wußte. Er hatte sich aber in einem launischen Augenblicke aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil er sich ärgerte, daß man ihm den Gesandtenposten in Paris nicht angeboten hatte, zu dem er sich durch seine Geburt, seine Trägheit, das gute Englisch seiner Berichte und seine maßlose Vergnügungssucht berechtigt glaubte. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war, hatte mit ihm zugleich den Abschied genommen, was man damals für etwas töricht hielt. Als er dann einige Monate später im Majorat nachfolgte, hatte er sich ernstlich der großen aristokratischen Kunst, absolut nichts zu tun, gewidmet. Er besaß zwei große Häuser in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu wohnen, weil das weniger Umstände machte und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig mit der Ausbeutung seiner Kohlenminen im Midland-Bezirk und entschuldigte diese industrielle Tätigkeit mit dem Hinweis darauf, der einzige Vorteil, selbst Kohlenwerke zu besitzen, sei der, daß es so einem Gentleman möglich werde, im eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories an der Regierung waren, in welchem Falle er sie radikales Gesindel schalt. Er war der übliche Held für seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England hätte ihn hervorbringen können, und er sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den Hund komme. Seine Grundsätze waren veraltet, aber für seine Vorurteile ließ sich manches sagen.

Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem rauhen Jagdrock, eine Zigarre im Munde, über der »Times« sitzen.

»Nun, Henry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich habe immer geglaubt, daß ihr Dandies nie vor zwei Uhr aufsteht und nie vor fünf Uhr sichtbar werdet.«

»Reine Familienliebe, aufs Wort, Onkel George; ich brauche etwas von dir.«

»Geld, vermute ich«, sagte Lord Fermor und zog ein saures Gesicht. »Also gut, setz' dich und sag' mir alles darüber. Ihr jungen Leute bildet euch heutzutage ein, daß Geld alles ist.«

»Ja,« murmelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch zurecht rückte, »und wenn die jungen Leute älter werden, dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel George. Ich zahle meine nie. Kredit ist das Vermögen eines jüngeren Sohnes, und man kann glänzend davon leben. Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und infolgedessen hab' ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, eine ganz wertlose Auskunft.«

»Ich kann dir alles sagen, was je in einem englischen Blaubuche gestanden hat, obwohl diese Burschen heutzutag einen Haufen Unsinn zusammenschreiben. Als ich noch Diplomat war, waren die Dinger besser. Aber ich höre, daß man jetzt auf Grund einer Prüfung Diplomat wird, also was kann man da noch erwarten! Prüfungen sind der reine Humbug von Anfang bis zu Ende. Wenn ein Mensch ein Gentleman ist, weiß er genug; wenn er kein Gentleman ist, so mag er wissen, was er will, es hilft ihm nichts.«

»Mr. Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord Henry nachlässig.

»Mr. Dorian Gray, wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenziehend.

»Das möchte ich gerade Von dir erfahren, Onkel George. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Er ist der Enkel des letzten Lord Kelso, seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß du mir etwas über seine Mutter sagst. Wie war sie? Wen hat sie geheiratet? Du hast doch so ziemlich alle Leute in deiner Zeit gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich im Augenblick sehr für Mr. Gray. Ich habe ihn erst ganz kürzlich kennengelernt.«

»Kelsos Enkel, Kelsos Enkel – natürlich, ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube sogar, daß ich bei ihrer Taufe war. Sie war ein ganz außerordentlich schönes Mädchen, diese Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Leute toll gemacht, weil sie mit einem jungen Burschen davongelaufen ist, der keinen Heller gehabt hat und auch sonst gar nichts war, irgendein Subalternoffizier bei der Infanterie oder so irgend etwas. Natürlich, ich erinnere mich jetzt an die ganze Sache, als wäre sie gestern geschehen. Der arme Kerl wurde dann bei einem Duell in Spaa umgebracht, nur ein paar Monate nach der Hochzeit. Man erzählte damals eine häßliche Geschichte darüber. Die Leute sagten, daß der alte Kelso irgendeinen Schuft, einen Abenteurer, einen belgischen Kerl, gemietet hätte, um seinen Schwiegersohn öffentlich zu insultieren, ihn dafür bezahlt hätte, einfach bezahlt, und daß dann dieser Kerl sein Opfer umgebracht hätte, als wäre es eine Taube. Die Geschichte wurde dann natürlich vertuscht, aber freilich, Kelso mußte im Klub eine Zeitlang sein Kotelett allein essen. Er brachte seine Tochter wieder mit, hat man mir erzählt, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. Ja, ja, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann auch, starb kaum ein Jahr später. Sie hat also einen Sohn zurückgelassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was ist er für ein Bursch? Wenn er seiner Mutter ähnlich sieht, muß er ein hübscher Kerl sein.«

»Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei.

»Ich hoffe, er wird in gute Hände kommen«, fuhr der alte Mann fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso seine Pflicht getan hat. Seine Mutter hat übrigens auch Geld gehabt, der ganze Selbysche Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso, hielt ihn für einen niedrigen Hund. Was er übrigens war. Er kam einmal nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich seiner schämen. Die Königin pflegte mich nach dem englischen Aristokraten zu fragen, der immer mit den Kutschern über die Taxe stritt. Sie machten eine ganze Geschichte daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe nur, er hat seinen Enkel besser behandelt als die Kutscher.«

»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, daß es dem jungen Mann an nichts fehlen wird. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir selbst gesagt. Und … seine Mutter war also sehr schön?«

»Margaret Devereux war eines der schönsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe, Henry. Weshalb in aller Welt sie tat, was sie getan hat, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann, den sie hätte haben wollen, heiraten können. Earlington war wahnsinnig verliebt in sie. Aber sie war romantisch. Alle Frauen dieser Familie waren es. Die Männer waren eine traurige Gesellschaft, aber bei Gott, die Weiber waren wunderbar. Earlington lag auf den Knien vor ihr. Hat-s mir selber gesagt. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein einziges Mädel, das nicht hinter ihm her gewesen wäre. Übrigens bei der Gelegenheit, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das für ein Unfug, den mir dein Vater erzählt, daß Dartmoor eine Amerikanerin heiraten will? Sind die englischen Mädel nicht gut genug für ihn?«

»Es ist gerade Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel George.«

»Ich halte englische Weiber gegen die ganze Welt«, sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das Wetten steht zugunsten der Amerikaner.«

»Sie halten nichts aus, hat man mir gesagt«, murmelte der Onkel.

»Ein langes Rennen erschöpft sie, aber für die Steeplechase sind sie glänzend. Sie nehmen die Hindernisse im Fluge. Ich glaube aber nicht, daß Dartmoor Aussichten hat.«

»Wie ist die Familie?« raunzte der alte Herr. »Hat sie überhaupt eine?«

Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind klug genug, ihre Eltern zu verbergen, genau so klug wie englische Frauen, die ihre Vergangenheit verbergen«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen.

»Ich vermute also, es sind Schweineschlächter.«

»Das hoffe ich, Onkel George, in Dartmoors Interesse. Man hat mir erzählt, Schweinschlachten soll der einträglichste Beruf in Amerika sein nach der Politik.«

»Ist sie hübsch?«

»Sie benimmt sich so, als wäre sie schön. Das tun die meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres Reizes.«

»Warum können diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande bleiben? Sie sagen doch immer, daß es das Paradies für die Frauen ist.«

»Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie genau so wie Eva so gern weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel George. Ich komme zu spät zum Lunch, wenn ich noch länger bleibe. Ich danke dir für die Auskunft, um die ich dich gebeten habe. Ich habe immer das Bedürfnis, so viel wie möglich von meinen neuen Freunden zu hören und so wenig wie möglich von meinen alten.«

»Wohin gehst du zum Lunch?«

»Zu Tante Agatha. Ich habe mich mit Mr. Gray dort angesagt. Er ist ihr neuester Schützling.«

»Hm, sag' der Tante Agatha, Henry, sie soll mich nie mehr mit ihren Wohltätigkeitsdingen quälen. Ich habe sie über. Weiß Gott, das gute Frauenzimmer glaubt, ich habe nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen Vereine auszuschreiben.«

»Abgemacht, Onkel George, ich werde es ihr sagen, aber es wird gar nichts nützen. Leute, die sich mit Wohltätigkeit abgeben, verlieren alle Menschlichkeit; das ist ihre hervorstechende Eigenschaft.«

Der alte Herr nickte zustimmend und klingelte dem Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in die Richtung von Berkeley Square.

Das war also die Geschichte von Dorian Grays Abkunft. So plump sie ihm auch gesagt worden war, sie hatte ihn doch durch die Suggestion einer seltsamen, geradezu modernen Romantik erschüttert. Eine schöne Frau, die alles für eine wahnsinnige Leidenschaft hingab. Ein paar wildglückliche Wochen, jäh abgebrochen durch ein abscheuliches, heimtückisches Verbrechen. Monate stummen Todeskampfes, und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tod weggeholt, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. Ja, es war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn gewissermaßen noch vollkommener. Hinter jedem auserlesenen Ding der Welt steht eine geheime Tragik. Welten müssen in Aufruhr sein, damit die kleinste Blume erblühen kann … Und wie entzückend war er am Abend vorher beim Diner gewesen, als er mit verlegenen Augen, die Lippen in scheuem Vergnügen offen, im Klub ihm gegenüber gesessen und die roten Lampenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen vollen reichen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war so wie auf einer wundervollen Geige spielen. Er gab jeden Druck, jeder zitternden Berührung des Bogens nach. Es lag ein unerhört aufregender Reiz darin, auf jemand zu wirken. Keine andere Tätigkeit kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine schöne Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen lassen; seine eigenen Gedanken im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Töne der Leidenschaft und Jugend; sein eigenes Temperament in ein anderes versenken, als wäre es die allerfeinste Flüssigkeit, ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust, vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die uns übrig geblieben ist, in einer so begrenzten und gewöhnlichen Zeit wie die unsere ist, in einer Zeit, die so materiell in ihren Genüssen und so gewöhnlich in ihren Begierden ist … Dieser junge Mensch, den er durch einen so sonderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, konnte jedenfalls in einen wunderbaren Typus verwandelt werden. Anmut war sein Besitz und die weiße Reinheit der Jugend und eine Schönheit, wie man sie sonst nur bei alten griechischen Statuen findet. Nichts gab es, was man nicht aus ihm machen konnte. Man konnte einen Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Wie schade, daß solche Schönheit dahinschwinden mußte … Und Basil? Wie interessant war auch er für den Psychologen! Diese ganz neue Art von Kunst, diese ganz frische Weise, das Leben anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die äußerliche Gegenwart eines Menschen geschenkt wurde, der von alledem nichts wußte; er war ihm der geheime Geist, der im dunkeln Walde wohnt und dann ungesehen ins offene Feld hinaustritt, plötzlich wie eine Dryade erscheinend und furchtlos, weil in der Seele, die nach ihm begehrt hat, nun jene wundersame Vision erweckt ist, in der nur die außerordentlichen Dinge enthüllt werden; dann werden die bloßen Formen und Abbilder der Dinge gleichsam edler und bekommen eine Art von symbolischem Wert, als wären sie selbst nur Abbilder anderer vollkommener Formen, deren Schatten sie verwirklicht haben; wie merkwürdig war das alles! Er erinnerte sich, daß er in der Geschichte so etwas gelesen hatte. War es nicht Plato, dieser Künstler der Gedanken, der als erster eine solche Analyse gegeben hat? War es nicht Buonarotti, der so etwas in den farbigen Marmor einer Sonettfolge gemeißelt hatte? In unserem Jahrhundert aber war es etwas Seltenes. Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, was dieser Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das prachtvolle Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, ihn zu beherrschen, hatte in der Tat das schon fertig gebracht. Er wollte diesen wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas Fesselndes in diesem Kinde der Liebe und des Todes.

Plötzlich blieb er stehen und sah zu den Häusern hinauf. Er entdeckte, daß er an dem Haus seiner Tante bereits vorbeigegangen war, und ging lächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Lunch. Er gab einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.

»Spät wie immer, Henry«, rief seine Tante, ihm zunickend.

Er erfand eine leichte Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn scheu vom Ende des Tisches, und seine Wangen wurden vor Freude im geheimen rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Konstitution und gutem Charakter, die jeder gern mochte und deren Körper jenen erhabenen architektonischen Aufbau hatte, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Leibesfülle bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikaler Abgeordneter, der im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der mit den Tories dinierte und mit den Liberalen stimmte, damit einer weisen und wohlbekannten Lebensregel folgend. Den Platz an ihrer Linken nahm Mr. Erskine of Treadley ein, ein alter feiner und gebildeter Herr, der allerdings die schlechte Gewohnheit des Schweigens angenommen hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine eigene Nachbarin war Mrs. Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so schlampig, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlecht gebundenes Gebetbuch denken mußte. An ihrer anderen Seite saß zu seinem Glück Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in mittleren Jahren, so kahl wie die Antwort eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus. Mit ihm unterhielt sie sich in jener intensiv-ernsten Weise, die, wie er selbst einmal bemerkte, der einzige unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen und dem keiner von ihnen völlig entgeht.

»Wir sprechen über Dartmoor, Henry«, rief die Herzogin ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie wirklich, daß er die berückende junge Dame heiratet?«

»Ich glaube, sie hat sich fest vorgenommen, ihm einen Antrag zu machen, Herzogin.«

»Wie schrecklich,« rief Lady Agatha aus, »dann sollte wirklich jemand dazwischen treten.«

»Ich habe aus einer ganz ausgezeichneten Quelle die Nachricht, daß ihr Vater ein Schnittwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einer überlegenen Gebärde.

»Mein Onkel dachte an Schweineschlächterei, Sir Thomas.«

»Schnittwaren? Was sind amerikanische Schnittwaren?« fragte die Herzogin, ihre großen Hände verwundernd erhebend und jede Silbe betonend.

»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln.

Die Herzogin machte ein verlegenes Gesicht.

»Geben Sie nicht acht auf das, was er spricht, Liebe,« flüsterte ihr Lady Agatha zu, »er meint nie, was er sagt.«

»Als Amerika entdeckt wurde«, sagte der radikale Abgeordnete und begann einige langweilige Tatsachen mitzuteilen. Wie alle Menschen, die ein Thema erschöpfen wollen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und übte ihr Vorrecht, zu unterbrechen aus.

»Ich wünschte zu Gott, es wäre überhaupt nie entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist sehr ungerecht.«

»Vielleicht ist trotz allem Amerika überhaupt nie entdeckt worden«, sagte Mr. Erskine. »Ich für meinen Teil würde eher sagen, man ist dahinter gekommen.«

»Oh, ich muß gestehen, ich habe Exemplare seiner Bewohnerinnen gesehen,« antwortete zerstreut die Herzogin, »ich muß zugeben, daß die meisten von ihnen ausgesprochen hübsch sind. Und außerdem ziehen sie sich sehr gut an, sie bekommen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.«

»Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«, gluckste Sir Thomas, der einen großen Vorrat abgelegter Scherze hatte.

»In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« fragte die Herzogin.

»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.

Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat große Vorurteile gegen dieses Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz bereist in Salonwagen, die mir von den Direktionen zur Verfügung gestellt wurden. Die Leute sind in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere Ihnen, es ist außerordentlich bildend, das Land zu bereisen.«

»Aber müssen wir wirklich Chikago sehen, um unsere Bildung zu vervollständigen?« fragte Mr. Erskine wehmütig. »Ich fühle mich wirklich der Reise nicht gewachsen.«

Sir Thomas winkte mit der Hand. »Mr. Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Menschen des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen und nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftmenschen. Ich denke, das ist ihr hervorstechendstes Charaktermerkmal. Ja, Mr. Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern.«

»Wie gräßlich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir zuwider. Ich finde immer, daß ihr Gebrauch unanständig ist. Vernunft ist so viel weniger wert als Geist.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Sir Thomas und wurde sehr rot.

»Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Mr. Erskine lächelnd.

»Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut …«, nahm der Baronet wieder auf.

»War das ein Paradoxon?« fragte Mr. Erskine. »Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es doch eins; im übrigen, der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxie gepflastert zu sein. Um die Wirklichkeit auf die Probe zu stellen, müssen wir sie auf dem straffen Seile sehen. Erst wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.«

»O Gott, o Gott,« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren ihr Männer doch habt! Ich verstehe kein einziges Wort von dem, was ihr redet. Mit dir, Henry, bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben Mr. Dorian Gray vom East-End abzubringen? Ich versichere dir, er würde für uns dort unschätzbaren Wert haben; den Leuten würde sein Spiel über alle Maßen gefallen.«

»Mir ist es lieber, daß er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd, sah am Tische hinab und fing einen fröhlichen Blick als Antwort auf.

»Aber die Leute sind in Whitechapel so unglücklich«, nahm Agatha wieder auf.

»Ich kann mit allem Möglichen Sympathie haben«, sagte Lord Henry, die Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der modernen Sympathie für die Leiden ist etwas unglaublich Krankhaftes. Man sollte sympathisieren mit den Farben, mit der Schönheit, mit der Lebensfreude. Je weniger man über die traurigen Seiten des Lebens sagt, desto besser.«

»Und doch, das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.

»Sicher,« antwortete der junge Lord, »es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es dadurch zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.«

Der Politiker sah ihn daraufhin mit einem forschenden Gesicht an. »Welche Änderung schlagen Sie also vor?«

Lord Henry lachte. »Ich habe überhaupt nicht das Verlangen, in England etwas zu ändern außer dem Wetter. Ich begnüge mich mit einer philosophischen Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch seine übermäßige Ausgabe an Sympathie Bankerott gemacht hat, so möchte ich vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese die Dinge wieder in Ordnung bringt. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns auf Abwege führen, und der Vorteil der Wissenschaft liegt darin, daß sie mit Gefühlen nichts zu tun hat.«

»Aber auf uns liegen so schwere Verantwortlichkeiten«, warf Mrs. Vandeleur schüchtern ein.

»Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein.

Lord Henry sah zu Mr. Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich viel zu ernst, das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen können, dann wäre die Weltgeschichte anders ausgefallen.«

»Ihre Worte richten mich auf«, trillerte die Herzogin. »Ich habe bisher immer ein heftiges Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besucht habe. Ich nehme nämlich nicht das geringste Interesse an dem East-End. In Zukunft werde ich ihr ins Gesicht sehen können, ohne zu erröten.«

»Erröten steht den Damen sehr gut«, bemerkte Lord Henry.

»Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, dann ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird.«

Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich,« fragte er dann, sie fest über den Tisch hin ansehend, »können Sie sich an irgendeinen Irrtum erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?«

»Leider an eine ganze Menge!« rief sie aus.

»Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur seine Narreteien zu wiederholen.«

»Eine entzückende Theorie! Ich muß sie ausprobieren.«

»Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen zusammenpressend.

Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie mußte doch lachen. Mr. Erskine hörte still zu.

»Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage gehen die meisten Leute an einer Art von schleichendem Menschenverstand zugrunde, und erst, wenn es zu spät ist, entdecken sie, daß die einzigen Dinge, die man niemals bedauert, seine Fehler sind.«

Nun lachte der ganze Tisch.

Er spielte mit diesem Einfall und wurde übermütig; warf ihn in die Luft und wandelte ihn um; ließ ihn entwischen und fing ihn wieder auf; ließ ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, weitete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches System aus; die Philosophie selber wurde dabei jung und tanzte, die tolle Musik der Genüsse als Begleitung, gleichsam in weinbeflecktem Gewande und mit Efeu bekränzt, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens und höhnte den plumpen Silen, weil er nüchtern war. Die Tatsachen flüchteten vor ihr wie erschreckte Waldbewohner. Ihre weißen Füße traten die ungefüge Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurnen Wellen um ihre nackten Glieder floß oder in rotem Gischt über die dunkeln, träufelnden schiefen Seiten der Kufe rann.

Es war eine ganz außerordentliche Improvisation. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, dessen Temperament er zu fesseln wünschte, gab seinem Witz Schärfe und seiner Einbildungskraft Farbe. Er war geistreich, phantastisch, außer Rand und Band. Er bezauberte seine Zuhörer, aus sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie der Pfeife des Rattenfängers. Dorian Gray wandte seinen Blick nicht von ihm ab und saß wie unter einem Zauber da, während ein Lächeln auf seinen Lippen das andere ablöste, das Staunen in seinen dunklen Augen immer tiefer wurde.

Schließlich betrat im Kleide der Gegenwart die Wirklichkeit das Zimmer in der Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß der Wagen warte. Sie rang ihre Hände in komischer Verzweiflung. »Wie unangenehm!« rief sie aus. »Ich muß fort. Ich muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er präsidieren soll. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher wütend; in dem Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er hält das nicht aus. Ein rauhes Wort würde ihn ruinieren. Nein, liebe Agatha, ich muß gehen. Adieu, Lord Henry, Sie sind ein ganz entzückender Mensch und demoralisieren in einer fürchterlichen Weise. Ich weiß wirklich nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen an einem der nächsten Abende mit uns speisen. Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?«

»Für Sie würde ich jede andere Verabredung fahren lassen, Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend.

»Das ist sehr nett und sehr unrecht von Ihnen; vergessen Sie also nicht zu kommen«, rief sie ihm zu und rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den übrigen Damen begleitet.

Als Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, kam Mr. Erskine zu ihm hinüber, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm. »Sie reden besser wie ein Buch,« sagte er, »warum schreiben Sie keins?«

»Mr. Erskine, ich lese viel zu gerne Bücher, als daß ich Lust hätte, eins zu schreiben. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman schreiben, einen Roman, der so entzückend wäre wie ein persischer Teppich und ebenso unwirklich, aber in England gibt es ja kein Publikum außer für Zeitungen, Fibeln und Konversationslexika. Von allen Völkern der Welt haben die Engländer am wenigsten Sinn für die Schönheit der Literatur.«

»Ich fürchte, Sie haben ganz recht«, antwortete Mr. Erskine. »Ich selbst habe in früheren Jahren einigen literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn lange aufgegeben. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, darf ich an Sie die Frage richten, ob Sie wirklich all das glauben, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?«

»Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry lächelnd. »War es sehr arg?«

»In der Tat, sehr arg. Ich glaube wirklich, daß Sie ein sehr gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgendein Unglück zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal ein langes Gespräch über das Leben haben. Meine eigene Generation ist zu langweilig. Wenn Sie einmal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley und setzen Sie mir bei einem wunderbaren Burgunder, den zu besitzen ich glücklich genug bin, Ihre Philosophie der Genüsse auseinander.«

»Ich werde mich sehr freuen. Ein Besuch in Treadley ist eine große Gunst. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene Bibliothek.«

»Sie werden es vervollständigen«, antwortete der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer ausgezeichneten Tante Adieu sagen. Ich muß ins Athenäum, es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.«

»Sie alle, Mr. Erskine?«

»Vierzig in vierzig Fauteuils. Wir üben uns für eine künftige englische Akademie.«

Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus.

Als er durch die Tür schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. »Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er.

»Ich dachte, Sie hätten Basil Hallward versprochen, ihn zu besuchen«, antwortete Lord Henry.

»Ich möchte lieber mit Ihnen kommen. Ja, wirklich, ich fühle, ich muß mit Ihnen kommen. Bitte, lassen Sie mich und versprechen Sie mir, die ganze Zeit mit mir zu sprechen. Niemand kann so wunderbar reden wie Sie.«

Lord Henry lächelte. »Ich denke, ich habe für heute genug geredet. Alles, was ich jetzt möchte, ist, Leben sehen. Sie können mitkommen und mitsehen, wenn Sie wollen.«


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