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Vierzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade herein und öffnete die Läden. Dorian schlief ganz friedlich; er lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder beim Lernen müde geworden ist.

Der Diener mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, und als er dann die Augen öffnete, ging ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er noch in einem entzückenden Traume befangen. Er hatte aber überhaupt nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der Freude, noch von Bildern des Schmerzes verwirrt worden. Doch die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer größten Reize.

Er drehte sich um, lehnte sich auf den Ellbogen und begann die Schokolade zu schlürfen. Die milde Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war klar, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.

Allmählich schlichen sich die Geschehnisse der vergangenen Nacht auf leisen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort wieder mit fürchterlicher Deutlichkeit auf. Er erschauerte bei der Erinnerung an alles, was er erlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte der sonderbare Haß auf Basil Hallward wieder zurück, der ihn dazu getrieben hatte, den Freund, als er im Stuhl saß, zu töten; er wurde kalt vor Leidenschaft. Der Tote saß noch da oben und jetzt im hellen Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, nicht an den Tag.

Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig werden würde, wenn er darüber brütete. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in dem Augenblicke, da man sie begeht, und seltsame Siege, die dem Stolz mehr schmeicheln als der Leidenschaft und dem Geist ein stärkeres Lustgefühl geben, als es je die Sinne verschaffen können. Aber das war keine von diesen. Man mußte die Vorstellung aus dem Geiste verjagen, sie mit Mohnsaft vergiften, sie ersticken, da sie einen sonst ersticken würde.

Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirne, stand dann rasch auf und zog sich mit fast noch größerer Sorgfalt als gewöhnlich an, indem er sehr viel Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehrmals wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück lange Zeit, kostete von verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Diener über neue Livreen, die er den Bedienten in Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefe durch. Bei einigen lächelte er. Drei ärgerten ihn. Einen las er mehrmals und zerriß ihn dann mit einem leichten Ärger. »Was für ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist!« hatte Lord Henry einmal gesagt.

Als er eine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er sich die Lippen langsam mit einer Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch hinüber und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen gab er dem Diener.

»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Mr. Campbell nicht in London ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.«

Sobald er allein war, zündete er eine Zigarette an und begann Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturzierate und schließlich menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er zeichnete, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und nahm, ohne zu wählen, ein Buch heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene nicht früher zu denken, als es unbedingt notwendig war.

Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des Buches. Es waren Gautiers » Emaux et Camées«, die Ausgabe von Charpentier auf japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus zitronengelbem Leder mit einem Muster von goldenem Fächerwerk und hineingetupften Granatäpfeln. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er die Blätter umschlug, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand » du supplice encore mal lavée«, mit ihrem roten Flaumhaar und ihren » doigts de faune«. Er blickte auf seine eigenen weißen, spitzen Finger und schauderte unwillkürlich zusammen. Dann las er weiter, bis er zu den wunderbaren Versen auf Venedig kam:

» Sur une gamme chromatique,
Le sein de perles ruisselant
,
La Vénus de l'Adriatique
Sort de l'eau son corps rose et blanc
.

Les dômes, sur l'azur des ondes
Suivant la phrase au pur contour
,
S'enflent comme des gorges rondes
Que soulève un soupir d'amour
,

L'esquif aborde et me dépose,
Jetant son amarre au pilier,
Devant une façade rose,
Sur le marbre d'un escalier.
«

Wie schön die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die Empfindung, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Vorderteil und lang herabhängenden Vorhängen durch die grünen Wasserstraßen dieser rosenroten und perlfarbigen Stadt zu gleiten. Schon die Zeilen allein sahen aus wie jene geraden, türkisblauen Linien, die einem folgen, wenn man nach dem Lido hinausfährt. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten an den Schimmer jener Vögel mit opal- und irisfarbenen Hälsen, die um den schlanken, wie eine Wabe durchlöcherten Kampanile flattern oder mit so vornehmer Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden stelzen. Zurückgelehnt mit halbgeschlossenen Augen, sagte er immer und immer wieder zu sich:

» Devant une façade rose,
Sur le marbre d'un escalier.
«

Das ganze Venedig war in diesen zwei Zeilen enthalten. Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine wunderbare Liebe, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik an jedem Ort. Aber Venedig hatte wie Oxford den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für die wahre Romantik ist der Hintergrund alles, fast alles. Einen Teil der Zeit war Basil mit ihm gewesen und war ganz toll vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme Basil! Was für eine schreckliche Art zu sterben!

Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die aus und ein fliegen in dem kleinen Café in Smyrna, wo die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen zählen, und die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen rauchen und ernst miteinander sprechen; er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in seiner einsamen, sonnenlosen Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotusbedeckten Nil, wo es Sphinxen gibt, rosenrote Ibisse und weiße Geier mit goldenen Klauen, Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden Schlamm kriechen; er fing an über die Verse nachzugrübeln, die Musik aus von Küssen beflecktem Marmor locken und von jener sonderbaren Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem » monstre charmant«, das in dem Porphyrraum des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel das Buch seinen Händen. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall überkam ihn. Was sollte geschehen, wenn Alan Campbell nicht in England war? Tage verstrichen unter Umständen, bevor er zurückkommen konnte. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was konnte er dann tun? Jeder Augenblick entschied über Leben und Tod.

Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren fast unzertrennlich. Dann war die Intimität plötzlich aus. Wenn sie sich in Gesellschaft trafen, lächelte nur noch Dorian Gray, niemals Alan Campbell.

Er war ein außerordentlich gescheiter junger Mann, wenn er auch kein wirkliches Gefühl für die Kunst hatte und das bißchen Sinn für die Dichtung, das er besaß, vollständig von Dorian stammte. Die intellektuelle Leidenschaft, die ihn beherrschte, war die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und war mit einem guten Examen in den Naturwissenschaften abgegangen. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie ergeben. Er hatte ein eigenes Laboratorium, in dem er sich den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer seiner Mutter, die ihr Herz daran gesetzt hatte, daß er ins Parlament käme, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, der Rezepte mache. Außerdem war er ein ausgezeichneter Musiker und spielte sowohl Geige als Klavier besser als die meisten Dilettanten. Die Musik hatte Dorian Gray und ihn auch zuerst zusammen gebracht – die Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er es wünschte, und in der Tat oft ausübte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an dem Abend getroffen, als Rubinstein dort spielte, und man sah sie dann immer zusammen in der Oper und überall dort, wo gut gespielt wurde. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war stets entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles Wunderbaren und Reizvollen im Leben. Ob dann ein Streit zwischen ihnen vorgefallen war oder nicht, wußte niemand; aber plötzlich bemerkten die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und daß Campbell aus jeder Gesellschaft früh aufbrach, in der Dorian anwesend war. Er war verändert, merkwürdig melancholisch bisweilen und schien die Musik fast zu hassen; er spielte nie mehr selbst, gab, wenn man ihn darum bat, als Entschuldigung an, er gehe so sehr in der Wissenschaft auf, daß er keine Zeit zum Üben habe. Das war auch sicher wahr. Er schien sich jeden Tag mehr für biologische Studien zu interessieren, und sein Name war ein paarmal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen merkwürdigen Experimenten genannt worden.

Das war der Mann, auf den Dorian wartete. Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als die Minuten vergingen, wurde er furchtbar erregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen wie ein schöner Vogel im Käfig. Er schritt weit aus und hatte etwas Lauerndes in seinem Gang. Seine Hände waren merkwürdig kalt.

Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren Stürmen dem zackigen Rand eines tiefen, schwarzen Abgrunds zugeschleudert wurde. Er wußte, was dort seiner harrte; er sah es leibhaftig, und schaudernd preßte er mit feuchten Händen seine brennenden Lider, als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die Pupillen in ihre Höhlen zurückdrängen. Umsonst. Das Gehirn hat seine eigene Nahrung, mit der es sich mästet, und die Einbildungskraft, durch den Schrecken zum Grotesken gesteigert, krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Puppe auf einem Schaugerüst und grinste durch Masken. Dann blieb die Zeit auf einmal für ihn stehen. Ja, dieses blinde, langsam atmende Wesen kroch nicht mehr, die Zeit war tot und nun stürzten sich gräßliche Gedanken behend nach vorn, zerrten eine greuliche Zukunft aus dem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf. Der Schrecken versteinerte ihn.

Endlich öffnete sich die Tür und der Diener trat ein. Er sah ihn mit gläsernen Augen an.

»Mr. Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Diener.

Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen, und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.

»Bitten Sie ihn, sofort hereinzukommen, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war vorbei.

Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit strengem Gesicht und sehr bleich. Seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunklen Augenbrauen noch verstärkt.

»Alan, das ist freundlich von Ihnen … Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

»Ich hatte die Absicht, nie wieder Ihr Haus zu betreten, Gray. Aber Sie schrieben, es handle sich um Leben oder Tod.«

Seine Stimme war kalt und hart. Seine Sprache langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in den festen, forschenden Augen, die er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit der er begrüßt worden war, nicht bemerkt zu haben.

»Ja, es handelt sich um Leben oder Tod. Und für mehr als einen, Alan. Setzen Sie sich.«

Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, daß das, was er tun werde, schrecklich sei.

Nach einem peinlichen Augenblick des Schweigens beugte er sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes, den er hatte holen lassen, ablesend: »Alan, in einem verschlossenen Giebelzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt zehn Stunden tot. Rühren Sie sich nicht und sehen Sie mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die Sie nichts angehen. Was Sie zu tun haben, ist …«

»Hören Sie auf, Gray. Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was Sie gesagt haben, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden ab, mich in Ihr Leben einzumischen. Behalten Sie Ihre fürchterlichen Geheimnisse für sich! Sie interessieren mich nicht mehr.«

»Alan, sie werden Sie interessieren müssen. Dies eine wenigstens. Es tut mir sehr leid um Sie, Alan, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Sie sind der einzige Mensch, der imstande ist, mich zu retten. Ich bin gezwungen, Sie in diese Sache zu ziehen. Ich habe keine Wahl. Alan, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Sie verstehen etwas von Chemie und diesen Dingen. Sie haben Experimente gemacht. Was Sie zu tun haben, ist: dieses Wesen, das da oben ist, zu zerstören, so zu zerstören, daß keine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf keine Spur von ihm hier gefunden werden. Alan, Sie müssen ihn verwandeln, ihn und alles, was ihm gehört, zu einer Handvoll Asche machen, die ich in die Luft streuen kann.«

»Sie sind wahnsinnig, Dorian.«

»Ah, wie ich darauf gewartet habe, daß Sie mich wieder Dorian nennen!«

»Sie sind wahnsinnig, sage ich Ihnen – wahnsinnig, daß Sie sich einbilden, ich rühre auch nur einen Finger für Sie, wahnsinnig, daß Sie mir dies ungeheuerliche Geständnis machen. Was es auch ist, ich will nichts damit zu tun haben. Glauben Sie, ich setzte meine Ehre für Sie aufs Spiel? Was geht es mich an, was für ein Teufelswerk Sie anrichten?«

»Es war ein Selbstmord, Alan.«

»Das freut mich. Aber wer hat ihn dazu getrieben? Sie, vermute ich.«

»Weigern Sie sich noch immer, das für mich zu tun?«

»Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu tun haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für ein Unglück über Sie kommt. Sie verdienen es gewiß. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich Sie entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie können Sie es wagen, mich, gerade mich von allen Menschen auf der Welt in diese schrecklichen Dinge mischen zu wollen? Ich hätte geglaubt, Sie wüßten mehr vom Charakter der Menschen. Ihr Freund, Lord Henry Wotton, kann Sie nicht viel Psychologie gelehrt haben, was er Sie auch sonst gelehrt hat. Nichts wird mich dazu bringen, auch nur einen Schritt zu tun, um Ihnen zu helfen. Sie sind an einen falschen Mann gekommen. Gehen Sie zu Ihren Freunden, nicht zu mir.«

»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Sie wissen nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Was auch mein Leben ist, er hat mehr dazu getan, daß es so geworden und so zerstört worden ist, als der arme Henry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.«

»Mord! Guter Gott, Dorian, sind Sie soweit gekommen? Ich werde Sie nicht anzeigen. Das ist nicht mein Amt. Aber auch, wenn ich mich nicht in die Sache mische, werden Sie gewiß gefaßt werden. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne eine Dummheit dabei zu begehen. Ich will nichts damit zu tun haben.«

»Sie müssen etwas damit zu tun haben. Warten Sie noch einen Augenblick, hören Sie mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist ein gewisses wissenschaftliches Experiment. Sie gehen in Spitäler und Leichenhäuser, und das Schreckliche, das Sie dort tun, rührt Sie nicht. Wenn Sie in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in einem modrigen Laboratorium den Mann auf einem Metalltisch mit roten Röhren, aus denen das Blut ausfließen kann, liegen sähen, dann würden Sie ihn einfach als ein wunderbares Studienobjekt betrachten. Kein Härchen würde sich Ihnen sträuben. Sie hätten nicht das Gefühl, ein Unrecht zu tun. Im Gegenteil, Sie würden wahrscheinlich glauben, damit der menschlichen Gesellschaft eine Wohltat zu erweisen, die Summe der menschlichen Kenntnisse zu bereichern oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder etwas dergleichen. Ich will nur, daß Sie tun sollen, was Sie oft vorher getan haben. In Wirklichkeit muß es viel weniger schrecklich sein, einen Leichnam zu zerstören als das, was Sie gewöhnlich machen. Und bedenken Sie: es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn der Körper entdeckt wird, bin ich verloren; und er wird gewiß entdeckt werden, wenn Sie mir nicht helfen.«

»Ich habe keinerlei Wunsch, Ihnen zu helfen. Sie vergessen das. Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts mit ihr zu tun.«

»Alan, ich beschwöre Sie. Denken Sie an die Lage, in der ich bin. Gerade ehe Sie gekommen sind, war ich fast ohnmächtig vor Schrecken. Vielleicht lernen Sie selbst einmal den Schrecken kennen. Nein, denken Sie nicht daran! Sehen Sie die Sache nur vom wissenschaftlichen Standpunkt an. Sie forschen doch sonst nicht nach, woher die Toten kommen, mit denen Sie experimentieren. Fragen Sie auch jetzt nicht. Ich habe Ihnen sowieso zu viel gesagt. Aber ich bitte Sie, tun Sie es. Wir waren doch einmal Freunde, Alan.«

»Sprechen Sie nicht von den Tagen, Dorian. Sie sind tot.«

»Die Toten verweilen manchmal. Der Mann oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit gebeugtem Haupt und ausgestreckten Armen. Alan! Alan, wenn Sie mir nicht zu Hilfe kommen, bin ich verloren. Sie werden mich aufhängen, Alan. Begreifen Sie das nicht? Sie werden mich hängen für das, was ich getan habe.«

»Es hat keinen Sinn, diese Szene zu verlängern. Ich lehne es durchaus ab, etwas damit zu tun zu haben. Es ist wahnsinnig von Ihnen, mich darum zu bitten.

»Sie lehnen ab?«

»Ja.«

»Ich beschwöre Sie, Alan.«

»Es ist vergeblich.«

Wiederum kam der mitleidige Blick in Dorian Grays Augen. Dann streckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. Nachdem er das getan hatte, stand er auf und ging zum Fenster.

Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es las, wurde sein Gesicht gespensterhaft bleich und er fiel in seinen Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überkam ihn. Ihm war, als ob sich sein Herz in einem hohlen Loch zu Tode schlüge.

Nach zwei oder drei Minuten eines furchtbaren Schwelgens drehte sich Dorian um, ging zu dem andern hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Es tut mir sehr leid für Sie,« flüsterte er, »aber Sie haben mir keine Wahl gelassen. Ich habe schon einen Brief geschrieben. Hier ist er. Sie sehen die Adresse. Wenn Sie mir nicht helfen, werde ich ihn abschicken. Sie wissen, was dann geschieht. Aber Sie werden mir helfen. Jetzt können Sie nicht mehr nein sagen. Ich habe versucht. Ihnen das zu ersparen. Sie müssen gerecht genug sein, das zuzugeben. Sie waren hart, scharf, beleidigend. Sie haben mich behandelt, wie kein Mensch je gewagt hat, mich zu behandeln – wenigstens kein lebender Mensch. Ich habe alles ertragen. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.«

Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und erschauerte.

»Ja, jetzt ist an mir die Reihe, Alan. Sie wissen, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Kommen Sie, regen sich nicht auf. Die Sache muß geschehen. Finden Sie sich damit ab, tun Sie es.«

Ein Stöhnen kam von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Körper. Das Ticken der Uhr auf dem Kamin schien ihm die Zeit in getrennte Atome der Verzweiflung zu teilen, von denen jedes einzelne zu schrecklich war, als daß er es hätte ertragen können. Er hatte das Gefühl, als ob ein eiserner Ring langsam um seine Stirn straff gespannt würde, als ob die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon auf ihm läge. Die Hand auf seiner Schulter hatte das Gewicht von Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu erdrücken.

»Alan, Sie müssen sich gleich entscheiden.«

»Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten Worte etwas ändern.

»Sie müssen. Sie haben keine Wahl. Hassen Sie keine Zeit vergehen.«

Er zögerte einen Augenblick. »Ist ein Feuer in dem Raum oben?«

»Ja, ein Gasofen mit Asbest.«

»Ich muß nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.«

»Nein, Alan, Sie dürfen das Haus nicht verlassen. Schreiben Sie auf ein Blatt Papier, was Sie brauchen, und mein Diener wird Ihnen die Sachen holen.«

Campbell kritzelte ein paar Zeilen, trocknete sie und schrieb auf das Kuvert den Namen seines Assistenten. Dorian nahm den Brief und las ihn sorgfältig durch. Dann klingelte er und gab ihn dem Diener mit dem Auftrag, so rasch wie möglich zurückzukommen und die Sachen mitzubringen.

Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand von seinem Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er zitterte in einer Art Schüttelfrost. Nahezu zwanzig Minuten sprach keiner der beiden Männer. Eine Fliege summte lärmend durch das Zimmer, und der Schlag der Uhr war wie der Fall eines Hammers.

Als es eins schlug, drehte sich Campbell um und sah, daß die Augen Dorian Grays mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, das ihn wütend machte. »Sie sind infam, ganz infam«, flüsterte er.

»Ruhig, Alan. Sie haben mein Leben gerettet«, sagte Dorian.

»Ihr Leben? Gott im Himmel, was für ein Leben ist das! Sie sind von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt haben Sie im Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich jetzt tun werde, was Sie mich zu tun zwingen, so denke ich gewiß nicht an Ihr Leben.«

»Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte. Sie hätten den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit Ihnen habe.« Er drehte sich während dieser Worte um und stand da, in den Garten hinausblickend. Campbell gab keine Antwort.

Etwa nach zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein; er trug einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, dazu eine lange Rolle Stahl- und Platindraht und zwei merkwürdig geformte Eisenklammern.

»Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell.

»Ja«, antwortete Dorian. »Und es tut mir leid, Francis, aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?«

»Harden, gnädiger Herr.«

»Richtig, Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden selbst aufsuchen und ihm sagen, er soll doppelt so viel Orchideen schicken, wie ich bestellt habe, und zwar so wenig weiße wie möglich. Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ist ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht belästigen.«

»Ganz zu Befehl, gnädiger Herr. Um wieviel Uhr soll ich zurück sein?«

Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird Ihr Experiment dauern, Campbell?« fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart einer dritten Person im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut zu verleihen.

Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird ungefähr fünf Stunden in Anspruch nehmen«, antwortete er.

»Dann ist es Zeit, wenn Sie um ein halb acht zurück sind, Francis. Doch halt: legen Sie meine Kleider zurecht. Sie können dann den Abend für sich haben. Ich speise nicht zu Hause, brauche Sie also nicht.«

»Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Diener und verließ das Zimmer.

»Alan, jetzt ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten ist! Ich werde ihn für Sie tragen, nehmen Sie die anderen Sachen.« Er sprach sehr rasch und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen das Zimmer zusammen.

Als sie die oberste Stiege erreicht hatten, nahm Dorian den Schlüssel heraus und drehte ihn im Schloß um. Dann blieb er stehen. Ein Zug von Verwirrtheit trat in seinen Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er.

»Das ist mir ganz gleichgültig. Ich brauche Sie nicht«, sagte Campbell kalt.

Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er das tat, sah er, wie ihn das Gesicht seines Bildes im Sonnenlicht anschielte. Davor lag auf dem Boden der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen Nacht zum ersten Male vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn stürzen, als er mit einem Schauder zurückschreckte.

Was war dieser widerliche, rote Fleck, der naß und glänzend auf einer der Hände schimmerte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! In diesem Augenblick schien er ihm weit schrecklicher als das schweigsame Wesen, das, wie er wußte, über den Tisch gebeugt war, das Wesen, dessen grotesker, verunstalteter Schatten auf dem befleckten Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wie er es verlassen hatte.

Er atmete tief, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewendetem Kopf rasch hinein, entschlossen, auch nicht ein einziges Mal den Toten anzusehen. Er bückte sich dann, nahm den Vorhang aus Gold und Purpur auf und warf ihn gerade über das Bild.

Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzudrehen, und seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Tapetenmuster. Er hörte Campbell den schweren Kasten hereinbringen, die Eisenklammern und die anderen Geräte, die er für seine fürchterliche Arbeit verlangt hatte. Er fragte sich, ob Campbell und Basil Hallward einander je begegnet waren und wenn ja, welche Meinung sie voneinander gehabt hätten.

»Lassen Sie mich jetzt allein«, sagte eine strenge Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und lief hinaus, eben noch gewahrend, daß der Tote in seinen Sessel zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein gelbes, schimmerndes Gesicht starrte. Als er hinabging, hörte er, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde.

Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in das Bibliothekszimmer trat. Er war bleich, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.«

Dorian sagte nur: »Sie haben mich vor dem Untergang gerettet, Alan. Ich kann das nicht vergessen.«

Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er nach oben. Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Wesen, das am Tisch gesessen hatte, war fort.


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