Christoph Martin Wieland
Sympathien
Christoph Martin Wieland

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11.

Komm, meine Seele, und ersetze mir, was mir das Schicksal nicht gewährt hat! Sie starb, die liebenswürdige Ismene, und ihr Freund hat nicht ihren letzten entfliehenden Hauch aufgefaßt, noch ihr geheiligtes Grab mit Blumen bestreut. Aber keine Entfernung der Oerter soll den Geist, dessen Gedanken sich in keine Grenzen einschließen lassen, verhindern, in dieser mitternächtlichen Stunde das gebeinvolle Gefilde zu besuchen, wo deine werthe Asche mitten unter den Gräbern entschlafner Christen ruhet und vielleicht, wenn der Frühling zurückkommt, in jungfräuliche Blumen hervorbricht. Hier will ich mich, von der heiligen Todesstille umgeben, zu deinen Häupten lagern und den ernsten Träumen nachhängen, die, wie aus diesen Gräbern, in meine Seele empordünsten.

Seliger Schatten, wenn du hier um die morschen Trümmer deiner anmuthsvollen Hülle schwebest, oder bist du, von Sympathie und ewiger Liebe gezogen, bist du jetzt der Genius meiner Selima, – der edelsten und schönsten Seele, die noch im irdischen Leibe wallet – vergib diesen Thränen, welche die Zärtlichkeit, nicht der Schmerz vergießt. Wie süß 41 ist mir jetzt dein Angedenken! Welch eine selige Zufriedenheit ist die meinige, wenn ich an unsre Freundschaft zurückdenke, die von der Tugend gestiftet und von der Weisheit geleitet wurde. Wie billiget meine Seele sich selber. daß jene blühende Jugendfarbe und die reizende Anmuth, von denen jetzt unter diesem Todtenhügel keine Spur mehr übrig ist, mich nicht verblendeten, dich für etwas Andres als für eine Unsterbliche anzusehen, der ich nur darum auf ihrem Wege begegnen mußte, um ihr brüderlich die Hand zu bieten, um sie in der Glückseligkeit und Tugend zu befestigen, deren selige Folgen sie jetzt unter den vollendeten Frommen einsammelt. Wie glücklich, daß dein Freund damals so dachte, wie er jetzt auf deinem Grabe denkt! O ihr heilige, feierliche, ihr große Gedanken! Empfindungen, die jetzt meine Seele langsam emporheben, möchtet ihr nie wieder erlöschen! Ihr fromme Todesgedanken, die mein Herz liebt, und mit denen es sich gern wie mit vertrauten Freunden unterhält, welch eine heilsame und balsamische Kraft fließt von euch aus! Wie würdig unserer Bestimmung ist die ernste, geistige Freude, die ihr einflößt! Wie viel süßer, als die rauschenden, unbesonnenen Freuden der Thorheit! Wie viel harmonischer mit dem Zustand eines vom Himmel verbannten Geistes, der zur Prüfung seiner Standhaftigkeit und Tugend in einer Wüste herumirrt, wo er mehr leiden als thun und seine Glückseligkeit nur hoffen soll! Jauchzende Freuden sind für den Thoren, der alle seine Wünsche auf das thierische Leben einschränkt und im Arme der Wollust in sein altes Nichts zu zerfließen hofft. – Der Christ findet in diesem Vaterlande der Thiere nichts, das ihn entzücken oder seine Neigung an sich heften könnte, – nichts als Unschuld, Tugend und Weisheit, unsterbliche Schönheit, die im irdischen 42 Boden fremde Pflanzen sind, aber bald in die himmlischen Gefilde versetzt werden sollen, wo sie einheimisch sind und bis zur englischen Vollkommenheit aufblühen. Was ist außer diesen, das unsre Seele, ohne sich bald selbst widersprechen zu müssen, ein Gut nennen könnte? Erfahren wir nicht alle Tage, daß Alles Eitelkeit ist, was uns nicht in ein besseres Leben folgt? Wo ist eine vergängliche Freude, die unsre Hoffnung nicht betrogen habe? Und doch sind wir so schwach, daß wir uns immer in Gefahr setzen, von Neuem betrogen zu werden. O, kommt mir zu Hülfe, ihr feierliche Bilder des Todes, des nächtlichen Grabes und der ernsten Ewigkeit! Kommt und treibt meine Seele zurück, wenn sie sich von dem geraden Pfade entfernen will! Wenn eine schmeichelnde Lust mich der höchsten Schönheit, die ich allein zu lieben verpflichtet bin, ungetreu machen will; wenn Hoheit und Reichthum und Gewalt mir in einem Glanz erscheinen wollen, den sie nur durch eine kranke Einbildungskraft erhalten; wenn mein Eifer für das Gute träge wird, meine Standhaftigkeit vor den Hindernissen, die ihr im Wege liegen, erzittert; wenn ich, vom herrschenden Beispiel der Welt angesteckt, in irgend einem Fall aufhören will, so zu denken, wie ich rede, zu handeln, wie ich lehre, zu seyn, wie ich scheine; o, so kommt, ihr Todesgestalten, ihr Bilder der dunkeln Zukunft, ihr Erinnerungen an die letzte Stunde und den feierlichen Tag des Gerichts! kommt und machet die Phantome der Sinnlichkeit verschwinden; begeistert mein Herz mit neuem Muth und unüberwindlicher Stärke, den unedlern Theil meines Selbst zu besiegen und den Lauf immer schneller fortzusetzen, den ich mit Schwachheit angefangen habe! Die höchste Weisheit des Menschen ist, so zu leben, daß er beim Eintritt 43 in die Pforte der Ewigkeit ohne Schrecken und mit billiger Zufriedenheit zurücksehen könne. – Ja, himmlische Ismene, mein erhabner Stolz strebt darnach, hier schon so zu denken, wie du jetzt denkest, da du Leben und Tod und Ewigkeit in ihrem wahren Verhältniß gegen einander ansiehest! Der Beifall der Menschen ist mir nicht hinlänglich! Ich will von unsichtbaren Zuschauern gebilliget seyn! Ich will, daß du mit zufriednem Blick auf mich herablächeln könnest. Mein Geist hat seine eigne Würde erkannt; er weiß seine Geschäfte – sie sind, gleich den deinigen, Gott zu verherrlichen. Dieß sey meine unaufhörliche Bestrebung, wo ich auch seyn möge, im Leibe oder außer demselben, auf diesem oder jenem Striche des Erdbodens, in diesem fremden Lande oder daheim, im wahren Vaterlande der Geister. In diesen Gesinnungen soll deine Vollendung, o Ismene, diejenigen stärken, die dich liebten; denn wie können wir dir bessere Proben unsrer reinen und unsterblichen Liebe geben, als wenn wir uns würdig machen, auch noch jetzt von dir geliebt zu seyn und, nach Vollendung unsrer Pilgrimschaft, in den seligen Reichen der himmlischen Liebe wieder mit dir vereiniget zu werden?



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