Christoph Martin Wieland
Sympathien
Christoph Martin Wieland

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4.

In welchen Gefilden irrest du jetzt, von der Morgenröthe umgeben, o Cyane? Welche Schatten, welche selbstgewachsene Laube bedeckt dich? Welche Blume zieht dein immer heitres Auge auf ihre sittsame einfärbige Schönheit, als ob sie sich sehnte, an deinem Busen aufzublühen? – Oder hörst du still lauschend der wirbelnden Lerche zu, die ihre frohen Gefühle, Hymnen dem Gott, der sie zur Freude empfindlich schuf, dem Tag entgegensingt? Wie zufrieden lächelt dein denkendes Antlitz, aus dem eine ungeschminkte Seele glänzt? Wie verschönert sich die Natur um dich her, da dein Geist die Gegenwart seines Schöpfers fühlt, die Gegenwart des unsichtbaren Genius der ganzen Welt, dessen Athem alle diese Kräfte der Natur bewegt und namenlose unzählbare Lieblichkeiten über alles Sichtbare ausbreitet! Wie froh wandelst du in diesen einsamen Gebüschen! Deine Empfindungen antworten, gleich der Nymphe in Felsen, den Stimmen der Natur, die dich zum süßen Gefühl deines Daseyns erwecken. Keine Sorge, keine lüsterne Begierde bewölkt den reinen Himmel deiner Seele. Unentweiht von den Sitten der verdorbenen Welt, kennest du kaum die Namen der Verstellung, der Ziererei, der geschminkten Tugenden und der schlauen Künste städtischer Buhlerinnen – Buhlerinnen um Ruhm oder Wollust. Du entbehrest leicht, mit 21 deiner eignen Anmuth gezieret, ihren erbettelten gothischen Putz. Ungesehen, wie diese balsamische Feldrose im Gebüsche blüht, unbewundert, ohne Verlangen nach Ruhm, blühest du. Du weißt nicht, du schöne Unschuld, daß du Zeugen um dich her hast. Ich sehe sie ihr goldlockiges Haupt aus Purpurwolken herab neigen oder gleich Frühlingslüften an deiner Seite hinschweben; sie lächeln dich brüderlich an. – Denn Engel umgeben allezeit die Unschuld, Engel bewachen die Seelen, deren himmlische Namen im Buche des Lebens schimmern. Wie oft empfindest du ihre leisen Eingebungen! Ergetze immerfort, o Cyane, ihr Auge; beschäftige sie unaufhörlich mit deinen frommen Thaten; denn sie sind befehligt, sie alle aufzuschreiben. Die kleinste Handlung, die ein reines Herz, eine zärtliche Sorgfalt, die Pflichten unsers Berufs zu erfüllen, zur Quelle hat, ist wichtig in den Augen des Ewigen, der unser Richter seyn wird.



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