Christoph Martin Wieland
Die Natur der Dinge oder Die vollkommenste Welt
Christoph Martin Wieland

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Vorbericht

zur dritten Ausgabe von 1770

(mit einigen Auslassungen und Zusätzen)

Das System dieses Lehrgedichts hat einen Ursprung, wodurch es sich vielleicht von allen andern Systemen unterscheidet, die seit Erschaffung der Welt zur Auflösung der unauflösbarsten aller Aufgaben ausgebrütet worden sind. Es war die Frucht eines enthusiastischen Spaziergangs eines noch sehr jungen und sehr platonischen Liebhabers mit seiner Geliebten, an einem sehr heißen Sommertage des Jahres 1750, nach Anhörung einer etwas kalten Predigt über den Text: Gott ist die Liebe; und wenn die Musen die poetische Darstellung so gewiß eingegeben hätten, als die Liebe das System, so würde es die Nachsicht, womit es im Jahre 1751 aufgenommen wurde, wenigstens von Einer Seite gerechtfertiget haben. Doch, die Musen hätten thun mögen was ihnen beliebt hätte, wenn das Werk nur unter den Augen derjenigen geschrieben worden wäre, für die es anfänglich zunächst bestimmt war. Vermuthlich würde es dann eine ganz andere und gefälligere Gestalt gewonnen haben. Der Verfasser würde von denjenigen Theilen desselben, welche eigentlich in das Gebiet der Einbildungskraft gehören, mehr Vortheil gezogen haben; die unverständliche und einschläfernde Methaphysik des zweiten und dritten Buchs würde weggeblieben, der Vortrag nicht 4 so platt und trocken, und das Ganze überhaupt interessanter und mit sich selbst übereinstimmiger geworden seyn. Da es aber in einer sehr schwermüthigen Einsamkeit aufgesetzt wurde, und der Verfasser überdieß, zur bösen Stunde, den Gedanken gefaßt hatte, zu einem so antilucrezischen Gedichte den Lucrez zum Muster zu nehmen; so blieb die Ausführung, schon aus diesen beiden Ursachen, weit unter der ursprünglichen Idee, zumal da der Dichter in einem Alter war, wo man impatiens limae zu seyn pflegt, und der letzte Vers des sechsten Buchs kaum auf dem Papiere stand, da, vermöge einer andern Untugend dieses Alters, schon der Plan zu einer neuen Unternehmung sich aller seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung bemächtigte.

Es ist wohl kaum nöthig hinzuzusetzen, daß man – ungeachtet des zuversichtlichen dogmatischen Tons, der im Ganzen herrschtUnd vornehmlich in den vorläufigen Anmerkungen, die sich noch in der Ausgabe von 1770 finden, und aus der gegenwärtigen billig weggelassen worden sind., und einem Jüngling von siebzehn Jahren eben so billig zu gut gehalten wird, als es billig ist, ihn (zumal bei hyperphysischen Speculationen) an Männern lächerlich zu finden – das System dieses Gedichts und die Hypothesen, die darin behauptet werden, für nichts Besseres als wachende Träume eines philosophirenden Dichters, oder Visionen eines poetisirenden Platonikers, in herba, ausgibt. Wie viel oder wenig Scheinbarkeit ihnen dieser gegeben, oder, wenn er ein tieferer Denker und geübterer Dichter gewesen wäre, etwa hätte geben können, läßt man dahin gestellt seyn; genug, daß seine Hauptabsicht löblich, die Mittel wenigstens unschuldig und seine Hypothesen, eine in die andere gerechnet, immer so gut als andere ehrliche Hypothesen sind.

5 Was die Poesie dieses Lehrgedichts, zumal in der ersten Ausgabe von 1751 betrifft, so dürften wohl wenig andere Dichterwerke geschickter seyn, einen Lehrer der poetischen Aesthetik mit Beispielen aller möglichen Fehler, die dem schönen Styl und Vortrag entgegen stehen, reichlicher zu versehen; und in der That würde es, wenn man die Zeit, worin es geschrieben wurde, aus den Augen ließe, unerklärbar seyn, wie und wodurch es bei seiner ersten Erscheinung in einem Bodmer, Breitinger, Hagedorn, Sulzer und andern principibus viris derselben Zeit eine so günstige Meinung von den Fähigkeiten des jungen Aspiranten hätte erregen können, als wirklich geschehen ist. Wie tief dieser erste Versuch unter dem ist, was er (seiner Ueberschrift nach) seyn sollte und seyn müßte, um einen Platz unter den Lehrgedichten zu verdienen, hat schwerlich jemand stärker gefühlt als der Verfasser selbst, da er sich bei dieser neuen Ausgabe genöthigt sah, es nach einem Verlauf von 27 Jahren (seit der letzten Ausgabe) noch einmal mit Aufmerksamkeit zu durchlesen. Auch hätte ihn keine andere Rücksicht bewegen können, es in die gegenwärtige Sammlung aufzunehmen, als die Betrachtung, daß es gewissermaßen zur Geschichte unsrer Literatur gehört, zu sehen, von welchem Punkt er ausging, und welch einen Zwischenraum er zurückzulegen hatte, um 15 Jahre später nur zu Musarion zu gelangen. Ueberdieß würde ein nicht unbeträchtlicher Theil der Geschichte seines Geistes und seiner Schriften, die er zu geben versprochen hat, unverständlich und ohne allen Nutzen seyn, wenn er, von einer falschen Scham verleitet, die Erstlinge seines Geistes und seines ihm selbst damals noch wenig bewußten Dichtertalents hätte unterdrücken wollen.

Indessen war es ihm doch nicht möglich, dieses Gedicht wieder aus der Hand zu legen, ohne alles, was die 6 Natur der Sache verstatten wollte, zu versuchen, um den Liebhabern wahrer Sprache und Dichtkunst eine cursorische Durchsicht desselben weniger unangenehm zu machen. Ungeachtet er sich in dieser Hinsicht schon bei der zweiten und dritten Ausgabe viele Mühe gegeben hatte, so fanden sich doch unter der großen Menge noch Stellen, die eine Verbesserung bedürftig, viele, die derselben auch fähig waren. Manche mußten (mit Horaz zu reden) wieder auf den Amboß gebracht werden; den meisten war durch die Feile, verschiedenen, besonders im sechsten Buche, bloß durch den Schwamm zu helfen. Bei allen mehr oder weniger umgeschmolzenen Stellen oder Versen mußte indessen, so viel möglich, der Ton der Urschrift beibehalten werden; und es kostete vielleicht weniger Mühe, manches besser, als es nicht (verhältnißweise) gar zu gut zu machen. Da aber gleichwohl durch alle diese Arbeit den wesentlichen Mängeln und Gebrechen des ganzen Werkchens nicht abzuhelfen war, so verlangt der Verfasser auch keinen Dank, und ist völlig zufrieden, wenigstens seinen guten Willen, Horazens Vorschrift (Epist. ad Pisones v. 445. sq.) genug zu thun, an den Tag gelegt zu haben. – Da es aber unziemlich gewesen wäre, durch diese Veränderungen jüngere oder künftige Leser, denen dieses Gedicht in seiner ersten Gestalt nie zu Gesicht gekommen, zu täuschen und zu einer bessern Meinung von demselben zu verleiten, als es verdient: so hat man für gut befunden, alle bei gegenwärtiger Ausgabe beträchtlich veränderten oder gänzlich umgearbeiteten Stellen mit einfachen › ‹ vor den übrigen auszuzeichnen. 7

 


 


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