Christoph Martin Wieland
Moralische Briefe
Christoph Martin Wieland

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Zweiter Brief.

Zufriedenheit war stets die Mutter unsers Glückes.
Haller.
              Wie liebenswürdig ist der ungeschminkte Geist,
An dem kein Afterschein unächter Künste gleißt;
Der eigenthümlich schön und nicht zu viel gezieret,
Zu jeder Wahrheit weich, vom Irrthum unverführet,
Der Unschuld gleicht, die, nur von keuscher Scham bemalt,
Den ausgesuchten Putz der Hoffart überstrahlt.
Ihr Seelen ohne Kunst, euch hab' ich mir vor allen
Zu Schülern ausersehn, euch wünsch' ich zu gefallen!
In euch, und däuchtet ihr Sophisten noch so klein,
Fließt ohne Widerstand die leichte Wahrheit ein.
Kein blödes Hirngespenst, das vor gelehrte Blicke
Oft dicke Nebel streut, hält euern Sinn zurücke
Die Wahrheit einzusehn, die mancher ohne Frucht
In mottenvollem Staub bei später Lampe sucht.
Wenn dort ein Pansophus, vor lauter Kunst und Wissen,
Sokratens Kunst verlernt, und glaubt sie leicht zu missen;
Lehrt euch der Weiseste, wie nichts der Weise weiß,
Und spornt nach besserm Ziel den unverdross'nen Fleiß.
Ja, wohl hat er gelehrt, der Griechen erste Zierde;
Wie glücklich, wenn ihn noch die Nachwelt hören würde! 156
Der du der Schöpfung Bau im ersten Plan gesehn,
Und die Gesetze fandst, wornach sich Welten drehn,
O Newton, sprich für mich, du kennest unsre Gränzen,
Und drangst so weit als uns noch matte Strahlen glänzen:
Sprich selbst, wie oft hielt dich der innern Schwere Zug,
Der größten Geister Loos, zurück vom kühnen Flug?
Du großer Verulam, der mit erhabnen Blicken
Das ganze Feld umfing, wo wir nur Blumen pflücken,
Du Leibnitz, du o Bayl', ihr sahet unsre Nacht,
Und habt oft insgeheim, wie Sextus, uns verlacht.Ist Sextus der Skeptiker, Sextus Empirikus.
Der kleine Wahrheitskreis, den unser Geist umfasset,
Gleicht nur dem matten Glanz, der dort im Thal erblasset,
Wenn einsam, über uns, der Mond, in Duft gehüllt,
Mit ungewissem Licht die Mitternacht erfüllt.
Die Farben wechseln stets, die uns die Dinge malen,
Begriffe, die uns jetzt in vollem Lichte strahlen,
Verdunkeln sich sogleich, sobald man sie zerlegt.
Wer ist der uns erklärt, wie sich der Körper regt?
Wie aus der Wesen Quell sich unsre Kräfte nähren?
Wer kennet die Natur des Stoffes und des Leeren?
Wer mißt die Schöpfung aus? wer gibt dem fernsten Strahl
Ein undurchdringbar Ziel? Wer faßt der Geister Zahl?
Wer mißt die stete Zeit? Wer jener Sterne Leben,
Die sich so oft verschönt aus ihren Trümmern heben?
Wer zählt die Federn ab, durch die der Himmel Lauf
In seinen Kreisen bleibt? wer lös't die Knoten auf,
Die Sextus, Karnead und Zenon uns gebunden,
Und die oft Leibnitz selbst zerschnitten, nicht entwunden?Zenon, der Skeptiker (zum Unterschiede von dem Stoiker) witzig, scharfsinnig und beredt, der Urheber der Dialektik und Sophistik, wird hier angeführt wegen der Widersprüche, die er mit vieler Spitzfindigkeit in dem empirischen Realismus nachwies. Man war nämlich im Philosophiren auf den großen Knoten gestoßen, ob die Wahrheit der Erkenntniß ihren Grund habe in dem Denken durch Vernunft, oder in den Wahrnehmungen der Sinne, in dem erkannten Gegenstand oder in dem Erkennenden, in der Natur der Dinge oder der Natur der Seele. – Karneades von Kyrene, erst Stoiker, dann Akademiker, bemerkte, daß jede Vorstellung ein doppeltes Verhältniß haben müsse, eins zum Object, und eins zum Subject. Nach Sextus Empirikus, der sich ebenfalls gern in diesem Kreise bewegt, war er der Erste, der eine Theorie der Wahrscheinlichkeit aufstellte. Leibnitz suchte jenes Problem zu lösen durch seine prästabilirte Harmonie, welche die Gemeinschaft und Wechselwirkung des Geistigen und Materiellen, der Seele und des Körpers erklären sollte, aber nicht erklärt.

Doch ach! wie leicht entbehrt man diese Wissenschaft,
Worein der Vorwitz oft, bis er erblindet, gafft!
Allein daß selbst in dem, was wir ergründen können, 157
In hundert Secten sich die Untersucher trennen;
Daß man noch zweifeln kann, ob der auch möglich ist,
Den aller Sphären Lied als ihren Schöpfer grüßt;
Daß Demokrit sich noch in unsrer Zeit verjünget,Demokrit läugnete die Unsterblichkeit der Seele, und der, in welchem er sich zu unsrer Zeit verjüngte, ist Hobbes, der aber bei allem diesem Läugnen sich doch im Dunkeln vor Gespenstern fürchtete.
Und in Lucrezens Ton so mancher Dichter singet;
Daß auch der Weisere, der Gott und Seele kennt,
Der Tugend Werth erweis't, und sie nur glücklich nennt,
Den Geiz am Crassus schmäht, Fabrizens Tugend adelt;Fabricius, das Gegenstück zu Crassus, war in eben so großem Grade arm als edel, und die Römer, die noch Geist und Tugend gebührend zu achten wußten, fanden in seiner Armuth kein Hinderniß, den würdigen Mann, dessen Töchter vom Staat ausgestattet wurden, zu den höchsten Würden zu erheben. Seine ganze Seelengröße leuchtet besonders bei seiner Gesandtschaft an Pyrrhus hervor, wo weder Gold noch Schrecken ihn zum Abfall bewog.
Daß er, des Wahnes Sklav, den er an andern tadelt,
Gott, den er kennt, nicht liebt, und den gottgleichen Geist,
Von seinem Ursprung fern, mit Schaum der Erde speis't
Daß er es Ehre nennt, des Thoren Knecht zu heißen,
Um dessen leeres Haupt geborgte Strahlen gleißen,
An einem GilliasGillias von Agrigent besaß große Reichthümer. Er besaß sie, denn er gebrauchte sie zum Dienst seiner Mitbürger: er zierte die Stadt mit öffentlichen Gebäuden, er sorgte vor dem Mangel der Lebensmittel, er stattete arme Jungfrauen aus, er griff unglücklichen Handelsleuten unter die Arme, er bewirthete die Fremden; kurz, sein Vermögen war ein allgemeines Gut, und ganz Agrigent und die umliegenden Gegenden waren voll Wünsche für sein Wohlergehen. — Valer. Max. des Reichthums Brauch erhebt,
Uns einen Kimon rühmt, und selbst sein Gold vergräbt;
Daß in der Weisheit Schooß wir ihr zur Schande leben,
Bethörte Sterbliche! wer wird uns das vergeben?
Wie wird der große Mann, deß diamantner Fleiß
Mehr als Chrysippus schreibt, und mehr als Kircher weiß,Chrysippos, der Stoiker, der seinen Meister an Tiefsinn und Subtilität noch übertraf, wird als einer der schreibseligsten Philosophen des Alterthums genannt. Allein gegen einen Trugschluß schrieb er 11 Bücher. – Der Jesuit Athanasius Kircher aus Fulda, der vielleicht nicht weniger geschrieben hat, war ohne Zweifel ein Mann von der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit im 17ten Jahrhundert. Sein tiefer Forschungsgeist lenkte ihn häufig auf das Räthselhafte, damit er wissen möchte, was sonst kein anderer wußte.
Der Sammelplatz der Kunst der Neuern und der Alten,
In klugen Augen klein, wenn von Timon'schen Falten
Die strenge Stirne starrt, und wie er andre scheut,
Das kritische Gespenst ein jeder haßt und meid't?
Was ist ein Lakydes,Von diesem Lakydes wird eine lächerliche Anekdote berichtet. Um von seinen Sklaven nicht betrogen zu werden, versiegelte er allezeit beim Ausgehen seine Thür, und schob das Siegel nach innen. Die Sklaven hatten dieß bald bemerkt, öffneten die Thür, nahmen, was sie wollten, und brachten alles wieder in Ordnung. Da nun Lakydes das Siegel stets wieder, in dem Zimmer aber vieles nicht wieder fand, was er vorher darin gesehen hatte, so fing er an, an der Zuverlässigkeit der Sinne zu zweifeln, und ging deßhalb zur Secte der Akademiker über. – Schon Brucker hielt die Anekdote für eine Erfindung der Stoiker.

Prodikus, der mit so vieler Beredsamkeit die Wollust der Tugend aufopfern lehrte, war, dem Philostratus zufolge, selbst geldgierig und wollüstig. – – Daß Brutus durch seinen Tod das schönste Leben verdunkelt habe, und daß seine letzten Reden bei Plutarch und Dio Cassius von Vorurtheil, Scheintugend und Verzweiflung zeugen, war stets Wielands Meinung.

den kein Beweis vergnüget,
Kein Zeno überzeugt, und den sein Knecht betrüget?
Was Prodicus, der uns die Wollust fliehen heißt,
Und, daß sie glücklich macht, in ihrem Arm beweis't?
Was Brutus, der das Glück nie bei der Tugend misset,
Und doch durch einen Dolch sein besser's Leben schließet?

Verwünschtes Vorurtheil! du Mutter unsrer Pein!
Wie würden, ohne dich, so viel Sokraten seyn! 158
Du blendest den Verstand mit trügerischer Klarheit;
Mit manch entlehntem Zug der göttlich schönen Wahrheit
Schmückst du Idolen aus, die nimmermehr Cardan,
Der Weisen Don Quixot, verwirrter sehen kann.Cardano, berühmt als Arzt und Geometer, gehört gewiß zu den subtilsten Köpfen des 16ten Jahrhunderts, aber auch, wie seine Selbstbiographie zeugt, zu jenen seltsamen, von denen man zuweilen nicht weiß, ob sie nicht toll sind. Er rühmte sich eines eigenen Dämons, und sah eine solche Menge Wundererscheinungen, die sonst niemand sah als er, daß die Benennung »der Weisen Don Quixote« für ihn sehr treffend ist.

Getäuscht vom Vorurtheil sitzt Mops auf seinem Kasten,
Und übt sich in der Kunst vor Ueberfluß zu fasten.
Im Vorurtheil berauscht und in Falerner-Wein,
Wälzt sich dort Nomentan, ein epikurisch Schwein.
Vom Vorurtheil geblend't, strebt ein Sejan nach Kronen;
Durch Vorurtheil und Gold rühmt Pindar Hieronen.
Wär' ohne Vorurtheil Thrax ein Papinian?
Pantil so liederreich, und Jourdain Edelmann?Nomentan ist den Lesern des Horaz als ein berüchtigter Verschwender und Wollüstling bekannt. – Sejan strebte nach dem Sturz des Ungeheuers Tiberius, und konnte dann allerdings darauf rechnen, den erledigten Thron selbst zu besteigen. Seinen traurigen Glückwechsel berichtet Dio Cassius, B. 58, und in einer vorzüglichen Stelle Juvenal. Sat. 10, 61–107. – Hieron, Nachfolger des vortrefflichen Gelon von Syrakus, wird von Diodor zu sehr getadelt, von Pindar zu sehr erhoben. Durch den Umgang mit dem Philosophen Simonides und andern Weisen soll Hieron um vieles gebessert worden seyn. – Papinian ist der Name eines berühmten römischen Rechtsgelehrten; – die Wanze Pantilius ist den Lesern des Horaz eben so bekannt als Monsieur Jourdain den Lesern des Molière aus le bourgeois gentilhomme. – Sinn der drei letzten Beispiele: ohne Vorurtheil würde keiner werden wollen, wozu er kein Geschick hat.
Kein Laster schänd't die Welt, kein Unglück trifft den Thoren,
Es wird vom Vorurtheil befruchtet und geboren.
Wie würde sonst ein Geist, den nur des Guten Schein,
Nur Lust und Hoffnung reizt, des Elends Sklave seyn?
Wie weit ist sein Gebiet? wie groß ist sein Vermögen?
Ihm ist sein stärkster Feind, selbst Bacon, unterlegen.Der große Bacon war auch ein Gehülfe der Ungerechtigkeiten des Lord Buckingham, und wurde durch Ehr und Geldgeiz gestürzt.

Gott, Schöpfer unsers Glücks, du Quell von Welt und Zeit,
Ach, kennte dich der Mensch, der jetzt dein Antlitz scheut!
O! möcht' ein Strahl voll Kraft in seine Seele dringen!
Dann öffnete sich ihm das Herz von allen Dingen.
Dann würd' er seinen Zweck in dir und Tugend sehn,
Und Wahn und Leidenschaft, wie würden sie vergehn!
Du bist's, Unendlichkeit, von der die Wesen stammen,
Aus deinem ew'gen Feu'r entspringen unsre Flammen,
Dein nachgeahmtes Bild verkläret jeden Geist,
Auch, den der fernste Kreis der Schöpfungen verschleußt,
Dem Wurme selbst, verschmäht von ungeschärften Blicken,
Dir aber werth wie ich, erlaubst du fortzurücken;
O Herr, o Quell, o Ziel vom ganzen Geisterreich, 159
Wie wird mein schmelzend Herz in deinem Strahle weich!
Wie dehnt sich meine Brust von wallenden Gedanken!
Mir schwinden Erd' und Zeit und meiner Menschheit Schranken!
Mein Blick läuft ungehemmt in jene Zukunft hin,
Wo ich den Engeln gleich, und dir geähnlicht bin.
O wie vom Schicksal mir die Schlüsse sich entsiegeln!
Wie deine Züge sich in allen Dingen spiegeln!
Wie, was den blöden Blick des Menschen widrig rührt,
Des Ganzen Zier erhöht, und Unform Ordnung wird!
O Hoffnung! o wie werth, daß wir, dich zu genießen,
Die ungetreue Lust der niedern Erde missen!
Ja, wärst du nur ein Traum, und was der Thor empfind't
Wär' lauter Wirklichkeit, so wie es Schatten sind,
Doch überträfest du die Wollust niedrer Seelen!
Wie freudig wollt' ich dich vor ihren Gütern wählen!

Erkennt, Unsterbliche, den Zweck der Ewigkeit
(Die Zeit erschöpft ihn nicht!) und daß ihr göttlich seyd!
Zerstreut die alte Nacht, die eure Blicke trübet,
Laßt dem geringen Vieh die Trebern, die ihr liebet.
Der Stoff, der ewig fließt, sein eitles Schattenspiel
Nährt eine Seele nicht, die vom Olympus fiel;
Die reine Götterkost von lautern stillen Freuden,
Die nur im Himmel blühn, muß ihre Sinnen weiden.

Wer mit so hellem Blick der Dinge Wesen mißt,
Ist's Wunder daß er frei, daß er glückselig ist?
Er, der nichts Sterbliches zum Muster sich erlesen,
Bild't seinen ew'gen Theil nach dem vollkommnen Wesen.
Er ist ein Menschenfreund, und ehrt der Gottheit Strahl
In jeglichem Geschöpf. Kein Land und keine Wahl
Schränkt ihn im Wohlthun ein, und ohne Mißvergnügen
Sieht er ein prächtig Glück auf andrer Schultern liegen; 160
Sein Geist, von Eigennutz und Mißgunst nicht geschwächt,
Verbreitet seine Kraft aufs ferneste Geschlecht.
Oft wenn die Mitternacht ihr schlummervoll Gefieder
Um andrer Häupter schwingt, beweint er seine Brüder,
Die, oft aus fremder Schuld, am innern Auge blind,
Ein Raub der Leidenschaft, des Elends Sklaven sind.
Wenn er sein keusches Glück in freier Ruh' genießet,
Wenn reine Lust, die stets aus Lieb' und Tugend fließet,
Aus seinen Augen strahlt, wie innig wünschet er,
Daß doch ein jeder Mensch nicht minder glücklich wär'!
Er ist kein Knecht der Lust; allein ihr zu entgehen,
Schleicht er in keinen Wald. Er flieht des Hofes Höhen,
Ihr Afterglanz reizt nur ein blöderes Gesicht;
Und wo ein Pallas herrscht, taugt Epiktetus nicht.Pallas war ein Freigelassener, der mit Narcissus das Herz des Kaisers Claudius getheilt hatte. – Unter Brutus Z. 21 ist der ältere zu verstehen, der mit Collatinus die tyrannischen Könige vertrieb.
Ihm ist kein Glück zu klein, und glänzt an seinen Wänden
Kein Gold noch Elfenbein, noch was die Perser senden,
So schmückt sie Platon aus, so steht dort Seneca
Am weisen Tacitus und bei Plutarchen da.
Hier unterred't er sich mit alter Helden Schatten,
Aus Zeiten, wo zum Lob die Dichter Helden hatten.
Hier lebt noch ein Lykurg; hier rührt ihn Brutus Muth;
Hier strömt Lucretia ihr unentheiligt Blut:
Unnachgeahmt wird stets der Heldin That entzücken!
Hier stirbt Leonidas vor den erstaunten Blicken
Den allerschönsten Tod, den Tod fürs Vaterland;
Hier reizt ihn Aristid, wenn ihn Athen verbannt.
Wie mächtig rühren ihn die unvergess'nen Namen!
Sein edelmüthig Herz klopft, ihnen nachzuahmen.
Mit tugendhaftem Stolz fühlt er, indem er lies't,
Wie groß der Tugend Reiz, wie schön die Menschheit ist. 161

 


 


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