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IV

Er hieß MacLean und war seit einem Jahr Prediger aller Mormonen der Landschaft. Er hatte neben der Pflugschar auf der anderen Seite des Stromes gestanden, in einen dunklen Mantel gehüllt, und gewartet, bis die Fähre an das Ufer gestoßen war. Ob die Schwester Marte Grotjohann im Fährhaus lebe, hatte er in einem harten, fehlerlosen Deutsch gefragt. Er sei ihr Priester. Jürgen hatte nicht einmal die Laterne gehoben, um in das fremde Gesicht zu leuchten. »Ja«, hatte er leise erwidert und ihn dann schweigend hinübergefahren. Dann hatte er an Martes Tür geklopft. »Dein Priester ist da.« Und dann war er in den Schuppen gegangen und hatte sich ein Lager neben der Hobelbank gemacht. Eine halbe Stunde später war die Klinke leise heruntergedrückt worden. »Warum schläfst du hier, Jürgen?« hatte Marte gefragt. »Er soll in meine Kammer. Ein Priester kann nicht im Stall liegen.« Eine lange Pause, in der er durch die geöffnete Tür den Regen rauschen hört. Dann rascheln ihre Füße in den trockenen Hobelspänen, und er spürt ihren schnellen Atem über seinem Gesicht. Er liegt wie ein toter Baum.

»Ich hab' Angst, Jürgen …«

»Wovor?«

»Er ist wie der Engel mit dem Feuerschwert … ich knie, aber er wird mich austreiben.«

»Glaubst du an seinen Gott?«

»Ja.«

»Und wovon wird er dich treiben?«

»Von hier.«

Er hebt mit der linken Hand die Decke von seinem Lager und breitet sie dann wieder über ihren zitternden Körper. Es riecht nach frischgeschnittenem Holz. Die Mäuse rascheln in den Hobelspänen, und der Regen rauscht über die dunkle Welt. »Arm ist es bei mir«, sagt er endlich, »und ein hartes Brot … weit ist die ›Goldene Stadt‹, und mein Rücken ist gekrümmt … die Toten sehe ich manchmal mit meinen Augen, und keine Rede ist mir gegeben, zur Abendzeit am Herd … aber wenn du nicht willst, wird niemand dich treiben. Nicht einmal das Lamm kann man treiben, wenn es nicht will. Man kann es auf die Schultern nehmen und forttragen, aber nicht treiben.«

Sie atmet einmal tief auf wie ein Kind, das zu Ende geweint hat, und die Wärme ihres ruhiger werdenden Blutes erfüllt nun den engen Raum unter der groben Decke, die sie umschließt. Jürgen weiß nichts von allen den Sagen der Liebe, in denen ein nacktes Schwert zwischen Mann und Weib liegt. Aber er weiß, daß sie in Angst und Verwirrung zu ihm gekommen ist, eine Wehrlose, die nicht mehr als ein schutzloses Kind ist. In seinen schweren Gedanken taucht der Mann auf, den er eben herübergeholt hat und dessen ferner Schatten ihm den ganzen Tag verdunkelt hat, und das Feld taucht auf, in das er den Hafer geworfen hat, und das Mädchen, dessen Atem er an seiner Schulter spürt. Und aus allem diesem, ohne daß er es zu erklären weiß, steht plötzlich ein kleines Glück vor ihm auf, Bild des Ackers, des Herdes, stiller Sonnenuntergänge, etwas, das wachsen wird, das man behüten muß mit zusammengelegten Händen wie eine junge Pflanze vor dem kalten Wind. »Niemand wird dich treiben«, sagt er noch einmal, »und nun geh, daß er nichts Böses von dir denkt.«

»Ja«, erwidert sie demütig. »Gute Nacht.«

Er hört ihre Füße in den Hobelspänen, der Regen rauscht lauter auf in der geöffneten Tür, und dann ist wieder alles wie zuerst, ein rinnender Strom des Dunkels, des Schweigens, der Zeit.

Er drückt sein Gesicht in die Wärme, die noch von ihr zurückgeblieben ist, und einen Augenblick lang klingt es so, als stöhne er unter einer Wunde.

Regen wie immer am nächsten Tag. Nebel über den Wäldern, ein gleichmäßiger grauer Himmel, ohne Spalt, ohne geformte Wolken. Jürgen war lange auf dem Wasser. Er sah, daß jemand versucht hatte, das Schloß an einem der Fischkästen zu sprengen, und er bedachte, daß er die Kästen in der Dunkelheit fortbringen müßte, oberhalb der Fähre am besten, wo niemand sie vermuten würde. Er saß noch eine Weile müßig im Kahn, die Hände gefaltet, und sah nach den beiden Dörfern hinüber, die wie zwei große Gräber im Nebel lagen. Ein schwerer Winter, dachte er. Wenn das Eis hält, werden sie stehlen, und dann werden sie sich totschlagen … Und er rechnete zusammen, was noch nötig war, bevor der Schnee kam, Mehl, Holz, Speck, Petroleum, das Futter für die Ziege, das Kleid für Marte … der Priester, ja das mußte heute ins reine kommen.

Als er in die Stube trat, saß MacLean am Herd. Eine Kaffeetasse stand neben ihm, und in den Händen hielt er ein Buch, das wie eine kleine Bibel aussah. Jürgen sah zuerst nur diese Dinge. Er hatte am Abend nur eine dunkle Gestalt gesehen und vermieden, ihr ins Gesicht zu sehen, und er sah auch jetzt nur die Hände, weiße, schmale und sehr lange Hände mit breiten, flachen Nägeln, die etwas heimlich Schaufelndes an sich hatten. Es schien ihm, als ob dort zwei Wesen säßen, eines, das aus diesen beiden Händen bestand, ganz allein und gefährlich wie zwei Höllentiere, und eines, das dahinter begann. Zu diesem zweiten hob er den Blick und sagte: »Guten Tag.«

Das Gesicht veränderte sich nicht unter seinem Gruß. Es war schmal, eckig, mit dunklem, glattem Haar und dicht zusammenstehenden Augen. Jürgen hatte nicht viele Gesichter in seinem Leben gesehen, und die er gesehen hatte, gute und böse, waren irgendwie ähnlich gewesen in der Dumpfheit einer begrenzten Form. Wie die Fische einander ähnlich sehen, gleichviel, ob es Hechte oder Schleie waren. Aber dies war ein Gesicht aus einer anderen Form, und Jürgen wußte, daß es kalt sein würde, wenn er es anfaßte.

»Guten Tag«, sagte MacLean so, als brauchte er die Lippen zum Sprechen nicht zu öffnen. »Sie sind also der Fischer?«

»Ja«, erwiderte Jürgen, »ich bin der Fischer.«

Er stand noch an der Tür, die er hinter sich geschlossen hatte, ein Ruder vor sich, um das er die beiden Hände gelegt hatte, in dem grauen Fischerrock, der ihm bis zu den Knien reichte, den Blick unter den schweren Brauen auf die schmale, schwarze Gestalt gerichtet, die gleich der eines Knaben war. Den prüfenden, etwas schwermütigen Blick eines Mannes, dem jede Veränderung des Wassers, des Himmels, des Hauses eine Sorge bedeutet, die er mit dem Blick bis zu den Wurzeln prüfend zu umfassen hat.

Der Fremde erwiderte diesen Blick, und während seine grauen Augen den Fischer einmal von den Füßen bis zu seinem wirren, schweren Haar umfaßten, glitt ein schmales Lächeln um seinen Mund, so schnell wie der Schein eines gedrehten Spiegels. Und in der Schnelligkeit dieses Scheins wußte Jürgen, daß es vielleicht nötig sein würde, diesen Mann zu erwürgen, und es war ihm seltsam, daß dieser Gedanke ihn nicht erschreckte. Er schüttelte unmerklich den Kopf, stellte das Ruder neben den Herd und zog den nassen Rock aus. »Wann will der Herr weiter?« fragte er ruhig.

MacLean hob die Hand mit der Bibel ein wenig, als wolle er einen Einwand abwehren, und ließ sie dann wieder fallen. »Die Stimme des Propheten muß bleiben bei denen«, erwiderte er streng, »die ihrer warten.«

»Kann sein, daß sie weit sind, die warten«, meinte Jürgen. »Immer ist die Sünde nahe.«

»Ich möchte dem Herrn den Weg zeigen«, sagte Jürgen, nahm eine Kohle aus dem Herd und legte sie auf den Tabak seiner Pfeife.

Das weiße Gesicht wurde noch schmaler. »Es scheint mir«, sagte er, »daß diese Tochter unserer Kirche meiner bedarf.«

Jürgen stand schon an der Tür. »Bei uns ist es so, Herr, daß jeder Mensch zu seiner Kirche gehen darf, aber es ist nicht so bei uns, daß die Kirche zu jedem Menschen kommt. Ich habe ein kleines Haus, und die Kirche ist zu groß dafür. Wo hat der Herr seinen Mantel?«

»You will repent of it«, sagte MacLean und stand auf. Jürgen öffnete die Tür und trat hinaus. »Dort ist das nächste Dorf«, sagte er und zeigte in den feuchten Nebel. »Der Weg führt hin. Sie trinken viel und fangen an zu hungern. Aber vielleicht kann der Herr dort eine Gemeinde sammeln.«

»Petrus war ein Fischer«, sagte MacLean und zog den dunklen Mantel fester zusammen, »aber nicht alle Fischer sind Menschenfänger wie er …«

Jürgen lächelte nur in das fremde und böse Gesicht hinein, aber sein Lächeln verlor sich, als die dunkle Gestalt im Nebel verschwand. Und bevor er ins Haus ging, drehte er sich plötzlich um, als könnte sie an einer anderen Stelle der weißen Wand heraustreten.

In diesem Herbst blieben die Felder um die beiden Dörfer ohne Wintersaat. Es regnete bis in den November. Dann sprang der Wind nach Osten, und am nächsten Morgen glänzte das Eis über den Äckern. Und wieder nach zwei Wochen begann es zu schneien, ohne Wind, und schneite drei Tage und drei Nächte. Und dahinter blieb ein lautloses, verhülltes Land. Strom und See waren gefroren, und drei Tage war Jürgen vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne unterwegs, um Löcher in das Eis zu schlagen, damit die Fische nicht erstickten.

Dann schärfte er Axt und Säge und nahm Arbeit in den großen Holzschlägen der Forste. »Die Tiere werden in die Häuser der Menschen kommen«, sagte er, »und nach den Tieren werden die Menschen kommen, die kein Brot haben. Man muß sorgen, daß man ihnen mehr zu reichen hat als ein Bibelwort.«

Dann saß er in der Dunkelheit vor dem Herd und aß die Suppe, die Marte gekocht hatte. Nur das Feuer erhellte den Raum, und wenn er zur Seite blickte, sah er den dunklen Kopf des Mädchens in den Kissen, das ihm schweigend zusah. »Unrecht ist es, in der Wärme zu bleiben«, sagte sie, »wenn du so hinausgehst, und noch einmal zu schlafen, wenn nichts als die dunklen Bäume um dich sind.« Aber er schüttelte den Kopf. »Jung bist du«, erwiderte er, »und ganz wie ein kleiner Vogel, den man wärmen muß. Still ist es den ganzen Tag. Schlafe nun ohne Sorgen.«

Am ersten Morgen, als er fertig war, Axt und Säge über der Schulter, die Fellmütze über der Stirn, und ihr zunickte, streckte sie die Hand aus den Kissen nach ihm aus. Er trat an ihr Bett und nahm vorsichtig die Hand, die sie ihm reichte. Er sah ihren Arm bis zur Schulter, weiß und zerbrechlich, wie ihm schien, und das Tagewerk erschien ihm leicht nach solcher Schönheit. Er sagte nichts, er strich nur einmal mit seinen harten Fingern über ihr Handgelenk, wo die Adern unter der dünnen Haut schimmerten. Und so blieb es von nun an jeden Morgen.

Es war Nacht, wenn Jürgen zum Walde ging, und es war Nacht, wenn er heimkehrte. Ein schmaler Pfad von seinen Füßen lief anderthalb Stunden schnurgerade durch den Wald zu seinem Arbeitsplatz wie die Furche eines Pfluges, und rechts und links von ihm lag das Unberührte des Schnees, der Stämme, des Schweigens. Nur am Waldrand wich der Pfad um ein weniges zur Seite und führte bis an den Rand des verschneiten Ackers. Wildspuren liefen über die weiße Fläche, und hier und da hatten die Schalen der Tiere den Schnee zur Seite gescharrt, um an die Saat zu gelangen. Hier stand Jürgen jeden Abend, blickte auf den Acker hinaus, hörte den Frost in den Stämmen des Hochwaldes klirren und beugte sich zur Erde, als lausche er dem Schlaf eines Kindes.

Der tote Tag der Woche war der Sonnabend. Das Feuer brannte im Herd, aber Marte war nicht da. Sie war in der Gemeinschaft der Heiligen. Niemand verstand, wie es möglich gewesen war, aber MacLean hatte eine Gemeinde im Dorfe gegründet. Sie hatten ihm eine verfallene Hütte am Waldrand gegeben, und jeden Sonnabend predigte er in einem der Bauernhäuser. »Gottes Zorn wird aufsteigen über diesem Lande«, pflegte er zu sagen. »Unfruchtbar wird seine Erde sein wie der Schoß eurer Frauen. Kinder wird man zum Kirchhof tragen und das tote Vieh zum Schindanger. Wölfe werden um die Häuser streichen, und aus den Wassern wird der Böse steigen. Aber ferne wartet die ›Goldene Stadt‹, und Gottes Hand ruht auf ihren Türmen. Korn wächst aus ihrer Erde, und Weintrauben bedecken ihre Hügel. Und Gott breitet die Arme aus, um die Gläubigen aller Erde zu empfangen, die sich bekehren zu seinem wahren Wort.« Dann weinten die Frauen und Mädchen, und die Bauern und Kätner sahen in das weiße, hagere Gesicht und sahen dahinter die Wogen des Ozeans und sich selbst hinausgleiten in das neue Paradies, ohne Hunger und ohne Not. Und auch Marte kniete in der dunkelsten Ecke, die Hände über dem Herzen gefaltet, und zwischen den goldenen Türmen sah sie das schwere, einsame Gesicht des Jürgen Doskocil, wie er vor dem Herd saß, die erstarrten Hände über den Flammen wärmend, und das Schweigen des Daches über seinem gebeugten Haupt.

Und einmal, als sie leise zurückkehrte, noch demütiger als sonst, fand sie ihn vor dem Herd, die Schultern gebeugt und eines ihrer Kopftücher in den Händen, als habe er es um eine Wunde geschlungen. »Es war … ja … es waren die Hände mir so kalt …«, sagte er und trug das Tuch wieder auf ihren Korb. Aber er machte einen Bogen um den Herd, als sitze dort ein Gast, und sie sah, wie er leise auftrat und daß die Angst eines Kindes in seinen Augen war. Da wußte sie, daß ein jenseitiger Gast dagewesen war und daß die Schatten wieder über ihn gefallen waren, während sie an ihrer »Goldenen Stadt« gebaut hatte.

Vor Weihnachten, als Jürgen in der Dämmerung den Holzschlag verließ, sah er die erste Wolfsfährte über seinen Pfad laufen. Er beugte sich hinab und legte die Finger in die tiefen Eindrücke. Der Schnee war kalt, aber es war ihm, als dränge sich noch etwas von der Wärme des fremden Tieres in seinen Körper hinauf. Er sah sich prüfend um, aber die Dickung zur Rechten war wie ein verschlossenes Haus, und zur Linken dämmerte der Hochwald, und die Stämme standen dunkel, regungslos und gefährlich. Es könnte ein wildernder Hund sein, dachte er noch. Aber dann schüttelte er den Kopf. Es fiel ihm ein, daß Marte im Dorfe war, und er begann zu laufen, gebückt, ein schweres Tier, und bei jedem Schritt klang die Schneide der Axt leise gegen das Blatt der Säge.

Er erwartete sie am Ausgang des Dorfes, noch vor der Hütte MacLeans. Der Prediger begleitete sie, und ihre gedämpften Stimmen gingen vor ihnen her. Jürgen sah nur ihre Gebärden, und bevor er ein Wort verstehen konnte, ging er ihnen entgegen. »Die Wölfe sind im Walde«, sagte er, »ich werde auf dich warten.« Dann kehrte er um und ging schnell von ihnen fort. »Fürchtet euch nicht vor den Wölfen des Waldes«, sagte MacLean mit seiner hohen, weithintragenden Stimme, »aber fürchtet euch vor den Wölfen, die Schafskleider anziehen …«

Er ging schneller bis zu dem ersten Busch, der halb verschüttet aus dem Schnee herausragte und wie eine Landmarke über dem weißen Meere stand. »Ich habe eine Spur gesehen«, sagte er nur, als Marte kam. »Es muß jemand bei dir sein.«

Erst als sie über die Schwelle traten, sah sie ihn an. »Wann wirst du Feiertag haben, Jürgen?« fragte sie.

»Wenn dein Gott erlaubt«, erwiderte er nach einer Weile.

 

Immer wenn Marte in der Morgendunkelheit den Arm ausgestreckt hatte, um Jürgen die Hand zu reichen, blieb sie noch eine Weile in dieser Gebärde liegen, den bloßen Arm im dunklen und kühlen Raum, und lauschte dem sich entfernenden schweren Schritt, unter dem der gefrorene Schnee knirschte, bis er in der Dunkelheit und den Wäldern erstarb. Noch erfüllte das Feuer mit rötlich flackerndem Schein den Raum, aber schon kam von allen Seiten das Dunkel und das Schweigen auf die Hütte zu, verengte den Kreis des Lebens, verschloß Schwelle und Fenster und baute hinter Wand und Dach der Hütte eine zweite Wand und ein zweites Dach, in dem nur sie allein das Lebendige war, der Schlag ihres Herzens, der tönende Gang ihres Blutes und die rieselnde Kälte auf der Haut ihres bloßen Armes.

Sie sah auf diesen Arm hinaus, der ihr zugehörte und der doch wie ein Fremdes außer ihr war. Auf die sanfte Führung seiner Umrißlinien, die Zartheit seiner Gelenke, die rötlich beschienene Weiße seiner Haut. Und der Einfachheit ihres Denkens bot das Bild sich an, als warte dieses lebendige und gegliederte Gebilde auf etwas, das nicht kommen wollte oder nicht zu kommen wagte, weil jenes Zweite an Wand und Dach zwischen dem Außen und ihr stand.

Dann begann das zunehmende Dunkel des Raumes sich mit flüchtigen Gesichten zu erfüllen, Gesichten der Vergangenheit und denen der Zukunft. Das Blut ihres Körpers, still geworden unter hartem Tagewerk und dem schweren Lebensgang ihres Dienstherrn, begann wieder zurückzudrängen zu der Vergangenheit ihres Lebens, die Bilder der Freude und Lust auszuspülen aus ihrer Bedeckung und hinauszufragen in den Raum, ob niemand es haben wolle. Und vor allen Gesichtern standen die beiden auf, das schwere und irgendwie mächtige Gesicht des Jürgen Doskocil und das glühende und bleiche Gesicht des Fremden, hinter dem die Zauber eines sinnlichen Glaubens brannten, die Wunder der »Goldenen Stadt«, die Erbarmungslosigkeit eines furchtbaren Gottes, dessen Glaube sich wie ein brennender Körper auf die Körper der Gläubigen warf.

Sie zergliederte das alles nicht zu gedanklichen Reihen. Sie trug nur das dumpfe Gefühl in ihrem Blute, daß sie begehrt wurde, von der Erde des Jürgen Doskocil wie von dem Himmel MacLeans. Sie dachte an die wenigen Minuten, die sie an Jürgens Seite gelegen hatte, unberührt von seinen Händen, aber überflammt von seinem schweren Blut, und aus den Erinnerungen ihrer Vergangenheit ging sie, gezogen und getrieben, den Weg ihrer Traumbilder weiter bis zu dem Punkt, wo er in der Seligkeit zerbrach. Und bei aller Fremdheit in der Wirrnis der Seele fühlte sie ohne Irrtum, daß sie in einer Seligkeit der Schwäche ertrank, wenn Jürgens Bild sie zum Ende führte, und sie in einer Seligkeit des Schauders zerbrach, wenn sie an den Abgesandten Gottes dachte. Es war ihr, als sündige sie mit Gott und als würde man nach seiner wilden Seligkeit nicht mehr leben können.

War sie so weit gekommen, so zog sie hastig und erschreckt den Arm zurück, als greife eine der beiden Gestalten nach ihr, und drückte ihn an die Wärme ihres Leibes, als komme sie gleichsam wieder zu sich. Aber der kurze Schlaf bis zur Helligkeit war schwer und gespannt, als lausche sie auf einen Schritt, der sich dem Haus nähere und sie mit entschlossener Tat aus der Unruhe ihres Blutes lösen würde … Aber selbst im Traum wußte sie nicht, welchen Schritt sie lieber erwarten sollte, und die beiden Gesichter verschmolzen, lösten sich voneinander und drängten sich wieder zusammen, bis sie im Brunnen des Schlafes ertranken.

Viele Tage lang, nachdem Jürgen sie am Ausgang des Dorfes erwartet hatte, dachte sie an sein bescheidenes und schwermütiges Wort: »Wenn dein Gott erlaubt.« … Und ihre Füße gingen den Weg ihres Tagewerkes wie in langen Schleiern, denn sie wußte nichts von Gott. Fern war der Gott der »Goldenen Stadt«, noch ferner als der Gott ihres Pfarrers, der sie eingesegnet hatte. MacLean war da an seiner Stelle, das Sichtbare und Hörbare, und was er reichte an Brot und Verheißung, an Drohung und Strafe, reichte er aus Gottes Hand in ihre Hand. Wenn MacLean erlaubt, dachte sie und kniete in den dunkelsten Ecken der Versammlungen, die Stirn bis auf den Boden geneigt, und verließ schnell den Raum nach der Gebetsstunde, damit er sie nicht einhole und mit seinen brennenden Augen bedränge.

Aber eines Abends, nach Weihnachten, holte er sie ein. Es schneite aus dunkler und stiller Luft, und sie hörte ihn erst, als er schon die Hand nach ihrem Arm ausstreckte. »Du fliehst«, sagte er leise. »Sündigst du, Schwester?«

Sie sah nur einen blassen Schimmer statt seines Gesichts wie von dem verwesenden Holz, das sie hinter dem Ofen aufbewahrte und das in der Dunkelheit zu leuchten begann. »Nein«, flüsterte sie. Aber sie mußte stehenbleiben, weil die Frage ihren Atem fing und nicht losließ.

Seine Hand lag noch um ihren Arm, so hart, daß es schmerzte, und die andere legte sich plötzlich auf ihre rechte Brust. »Er hat befohlen«, sagte er mit derselben leisen unveränderten Stimme, »daß kein Mann eine Jungfrau berühre, bevor Gott sie nicht berührt hat … durch … durch … seinen Priester … verstehst du?«

Sie neigte nur die Stirn, und nur aus dem Zittern ihres Körpers unter seinen Händen konnte er fühlen, daß sie verstanden hatte. So, wie er sie hielt, ohne die Lage seiner Hände zu verändern, führte er sie von der Straße fort, auf die Hütte zu, in der er wohnte. Aber in dem Augenblick, als sie den ersten Fuß auf den schmalen Steig setzte, wendete sie das erstarrte Gesicht an ihm vorbei, so daß sie hinter seinem Nacken auf die weißverhüllten Felder sah. Aus der regungslosen Luft, die alle Töne weithin trug, war ein gedämpfter Laut durch alle Erstarrung in ihr Blut gedrungen, wie der Laut einer zuschlagenden Tür, deren Angeln einen klagenden Ton gaben, ehe das Holz hell und hart an den Pfosten schlug. Die Tür ihres Hauses, wenn sie hastig zugeschlagen wurde und die zu ölen sie Jürgen heute morgen gebeten hatte. Und noch ehe MacLean den Widerstand ihres Schrittes in sein Bewußtsein aufgenommen hatte, erbebten sie beide unter dem schweren, dröhnenden Klang, der in den Feldern aufstieg, einmal, noch einmal, mit kaltem Erz sie berührend, streifend, zurücklassend: der Klang der Pflugschar an Jürgens Fähre.

Sie hatte sich aus seinen Händen gerissen, bevor er erkannt hatte, was für ein Ton es war. Die Dunkelheit verschlang sie, und als er ihr nachstürzte, war es zu spät. Zum drittenmal, nun leiser, wie ein beruhigender Nachklang, kam der Ton des Eisens über das Feld und stieß wie eine Wand gegen sein Gesicht, so daß er mit einem Fluch stehenblieb, den Körper vorgebeugt, als suche er nach einer Öffnung im Undurchdringlichen.

Dann kehrte er langsam in seine Hütte zurück, entzündete die Lampe und sah sich mit bösem Lächeln in dem kahlen Raum um. Ein hartes Lager auf einem Feldbett, ein Herd mit erstorbenem Feuer, ein Tisch mit einer Bibel und einem Kruzifix, ein Stuhl, ein Bild der »Goldenen Stadt« an der getünchten Wand. Eine finstere Härte stand bewegungslos im Raum, und sie wich auch nicht, als er mit kalten Fingern ein Feuer im Herd zu machen begann. Er blieb vor den knisternden Flammen sitzen, die Hände mit den breit auslaufenden Fingern gefaltet, und starrte in die schwache Glut. Dann bückte er sich, hob die Leiste an, die um den Herd lief, und hob etwas heraus. Es war in Ölpapier gewickelt und sah wie ein Bündel Briefe aus. Er schlug das Papier auseinander und ordnete die Blätter in seiner Hand. Es waren Photographien unbekleideter Mädchenkörper, kniend, den Blick zum Beschauer aufgeschlagen, und in jedem Antlitz stand der gleiche Ausdruck, aus Scham, Angst und büßender Hingabe gleichmäßig gemischt. Er hielt die Blätter wie ein Kartenspiel in der Hand, senkte sie zwischen seine Knie, daß der Schein des Feuers auf sie fiel, und saß so wie ein spielendes, etwas müdes Raubtier, das sich an gelähmter Beute erfreut.

Als der Schnee vor der Hütte leise knirschte, hob er nur lauschend den Kopf, nickte, als wisse er schon aus dem Schritt, wer es sei, schob das Paket unter die Leiste und öffnete den Riegel erst, nachdem es mehrmals immer drängender geklopft hatte.

Eine Bauerntochter, die mit fliegenden Augen sich im Raum umblickte. »Beichten?« – »Ja.« – »Zieh dich aus. Gott will dich segnen.«

 

Jürgen Doskocil stand noch neben der Pflugschar, als Marte aus der weißen Dämmerung der Felder auftauchte. Sie sprachen nichts und gingen zusammen ins Haus. Sie zog die Jacke aus, band das Tuch ab und hängte beides auf den Nagel neben ihrem Bett. Dann, nachdem sie sich einmal im Raum umgesehen hatte, als sei sie von einer Reise heimgekehrt, nahm sie die Bibel von ihrem Stuhl neben dem Herd und legte sie auf das Wandbrett am Kopfende des Bettes. Dann legte sie Holz im Herd nach. »Woher wußtest du es?« fragte sie, ohne das Gesicht zu wenden.

Er hielt das Messer nicht an, mit dem er schon an dem neuen Ruder schnitt. »Nichts wußte ich«, erwiderte er. »Aber die Dinge hier waren mit einem Male unruhig. Kennst du das? Sie bewegten sich nicht, und nichts fiel von der Wand, aber sie waren unruhig. Wie Tiere vor einem Gewitter. Und da ging ich eben hin … war denn etwas … etwas zu wissen?«

»Ja«, sagte sie leise, »und es war gut, daß du riefst.«

Spät am Abend, als Jürgen die Uhr aufzog und die dünnen Ketten mit den schweren Gewichten vorsichtig durch seine harten Hände gleiten ließ, hielt er plötzlich in der Bewegung inne und lauschte hinaus. Ein dumpfes Stoßen tönte aus dem Schuppen oder dem Stall, wie von einem Körper, der sich an eine Holzwand warf, und von einer Kette, die sich an einem Eisenring rieb.

»Grita!« rief Marte erschreckt.

Grita war die Ziege, und sie fanden sie mit feuchten, atmenden Flanken, in die Ecke des Stalles gedrückt, so weit die Kette ihr Raum ließ. Erst als Jürgen die Laterne anzündete, drückte sie sich zitternd an die menschlichen Körper und begann leise zu klagen. Sie sahen sich im Raume um, aber die niedrigen Wände waren unverletzt, und nichts Fremdes war zu sehen.

»Draußen sehen«, sagte Jürgen. Und dort, als sie mit der Laterne den Schuppen umschritten, sahen sie die tiefe Fährte und die Stelle, wo der Schnee unter der Türe zur Seite gekratzt war. »Der Wolf«, sagte Jürgen.

Es schneite noch immer, und in dem rötlichen Kreis, den die Laterne auf den Schnee warf, fielen die weißen Flocken ohne Übergang aus dem Dunklen, eine hinter der andern, als würde es nie mehr aufhören, lautlos und unerbittlich auf die Erde zu fallen und sie zu begraben. Und ebenso schweigend und unerbittlich lief das Dunkle, Gerade und Unaufhaltsame der Fährte durch den erhellten Kreis, kam aus dem Dunkel und ging in das Dunkel.

Sie standen beide, zur Erde gebeugt, und starrten in die dunklen Zeichen. Böses stand in der dunklen Spur, wie Böses im dunklen Eingang einer Höhle steht. »Die Otterstange«, murmelte Jürgen, »die Otterstange werde ich legen … für den Teufel.« Der Haß des Armen gegen das reißende Tier verdunkelte seine Stimme, und als er sich aufrichtete und in das Finstere hinaussah, wo die begrabenen Wälder im Dunkel lagen, öffnete sich seine rechte Hand, und Marte sah, daß sie imstande sein würde, Lebendiges zu erwürgen. »Böses geht um«, flüsterte sie. »Komm hinein.«

Jürgen holte die Otterstange aus dem Schuppen, ölte vor dem Herd die verrosteten Gelenke, knüpfte die feine Schlagschnur und begann, das Eisen vorsichtig zu stellen. Es waren zwei gerade Arme, jeder einen Klafter breit, mit scharfen, fingerlangen Eisendornen. Er drückte sie vorsichtig auseinander, bis die Schlagschnur gerade gespannt war, und schob mit einem langen Buchenscheit die Sicherungsfeder behutsam zurück. Wie ein Tausendfuß lag das Eisen auf der Diele. Dann berührte er, weit zurückgebogen, die Schnur, und mit einem knirschenden Laut sprang das Eisen wie ein lebendiges Wesen in die Höhe und schlug die gezackten Arme klirrend zusammen.

»Früher«, sagte er, auf das Eisen niederblickend, »sollen die Fischer Menschen damit gefangen haben, die in der Nacht ihre Netze stahlen … mein Großvater erzählte es mir, als ich klein war. Sie legten es ins Wasser, und wer sich fing, ertrank …«

»Wirst du es stellen?« fragte sie nach einer Weile.

»Ja … für den Wolf.«

Als Jürgen das Licht in seiner Kammer gelöscht hatte und auf den Schlaf wartete, kam Marte auf bloßen Füßen zu seinem Lager. »Es ist Zeit, Jürgen«, flüsterte sie an seiner Schulter. »Ich kann nicht mehr warten.«

Es dauerte lange, bis er zu sprechen vermochte. Dann hob er sie auf seine Arme und trug sie in ihr Bett zurück. »Zu kalt ist es für dich bei mir«, sagte er leise.

Sie drückte sich an seine Brust. »Aber du gehst nicht fort, Jürgen?«

»Niemals gehe ich jetzt fort«, erwiderte er.

Es entging MacLean nicht, daß Marte aufgehört hatte, sich zu fürchten. Sie kniete wie sonst in der Ecke des Versammlungsraumes, und sie war demütig wie sonst, wenn er auf dem Heimweg mit ihr sprach. Aber ihre Demut ging durch ihn als durch einen unpersönlichen Mittler hindurch zu Gott. Er war ein Priester geworden, der MacLean hieß, aber er hätte auch Armstrong heißen können oder Grotjohann. Ihre Stimme war leise, aber sie wich nicht vor der seinen zurück. Ihr Schritt war gehorsam wie sonst, aber ein dünner Faden lief von ihren Füßen bis zu jenem Haus am Wasser und gab ihnen eine sanfte Unbeirrbarkeit des Schreitens. »Der Teufel ist auf deinem Wege«, flüsterte er drohend. »Austreiben werde ich ihn aus deinem Leben.«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Gott ist zu mir gekommen«, sagte sie still. »Ich gehorche nur.«

Am Fastnachtsabend merkten sie zum ersten Male im Fährhaus, daß aus den Härten des Winters, des Hungers und der Hoffnungslosigkeit Böses gegen sie geboren wurde. Wie in jedem Jahr besuchten die Dörfer einander, bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und in allem Mummenschanz glühend von dem gesammelten Haß eines Jahres. Sie klopften auch diesmal an, so daß die Tür in den Angeln erzitterte, sprachen keinen Gruß wie sonst, sondern traten in den Schein des Herdfeuers vor, wo sie sich mit plumpen Bewegungen verneigten: ein Teufel, in Stroh gewickelt, ein Bär, ein Weib. Doch war auf den ersten Blick zu sehen, daß der Bär Jürgen sein sollte, von dem wilden Haarschopf, der ihm in die verhüllte Stirn fiel, bis zu den riesigen Schultern und den lappenumwickelten, mit Fischschuppen bedeckten Füßen. Zum Überfluß trug er ein kurzes Ruder in der Hand. Und ebenso deutlich war, daß das Weib Marte sein sollte, wozu man ihm eine rote Pelzjacke, wie das Mädchen sie trug, angezogen und eine Bibel unter den Arm gedrückt hatte.

Als der Teufel, in eine dunkle Ecke gedrückt, die Harmonika auseinanderzuziehen begann und der erste gequetschte Akkord sich erhob, öffnete sich noch einmal die Tür, und ein halbes Dutzend verkleideter Gestalten drängte sich stoßend und grinsend herein.

Dann begannen Bär und Weib zu der Musik des Teufels ihren Tanz, den die Zuschauer händeklatschend und johlend begleiteten. Nach den ersten Drehungen stand Jürgen lautlos auf und nahm eine leere Schöpfkelle, an der er geschnitzt hatte, in die Hand. Marte, totenblaß, wich an die hintere Wand zurück. Sie sahen beide, daß Schmutziges hier dargestellt wurde, daß der Bär den Körper des Weibes auf eine schamlose Weise betastete, und das Weib, scheinbar zurückweichend, sich diesen Bewegungen immer unverhüllter darbot, bis sie, umschlungen taumelnd, mit eindeutigen Gebärden sich zu Martes Bett bewegten.

In diesem Augenblick empfing der Bär den ersten wortlosen Schlag mit der Kelle, wurde, als er suchend in seinen Pelz griff, emporgehoben, gegen die andern geschleudert, und ehe der taumelnde Haufe sich aufgerichtet hatte, stand Jürgen in der geöffneten Tür und schleuderte sie einzeln in den Schnee hinaus, zuletzt den Teufel, dem er die Harmonika um die Ohren schlug, bevor er sie mit einem Fußtritt über die Schwelle warf.

Alles geschah wortlos, ohne Hast, wie der Stahlarm einer Maschine auf und nieder greift, spielend in seinen Lagern, aber mit einer erbarmungslosen Vorgeschriebenheit des Weges. Und erst als die Stube leer war, erinnerte sich Jürgen seines flüchtigen Gedankens zu Anfang der Szene, ob der fremde Priester nicht seine Hand im Spiel gehabt habe, und er stürzte mit einem dumpfen Stöhnen des Zornes in die Dunkelheit hinaus. Doch zerstob der Haufen flüchtend vor seinen Händen, und er hörte ihn zum Strome laufen, wo der Weg zum Moordorf über das Eis führte. Spät am Abend kam noch ein einzelner Fastnachtsgast, der Schneider Matthias Südekum. Sein rotes Teufelsgewand hing in Fetzen herab, der Teufelsschwanz schleppte an einem Bindfaden hinter ihm her, und statt der Maske war ein weißer Streifen um seine Stirn gebunden, aus dem es rötlich tropfte. Aber die Augen über seiner scharfen Nase funkelten vor Seligkeit, obwohl sein Mund sich leise verzerrte, als er sich an dem Herd niederließ und das rechte Bein ausstreckte … »Einen Stock, Bruderherz«, sagte er lächelnd, »einen kleinen Stock, damit ich mich stützen kann. Mit einer Feuerzange haben sie mir gegen das Schienbein geschlagen, die Hunde … aber Heulen und Zähneklappern ist bei den Blindschleichen, und die Weiber zerreißen ihre Hemden, um Binden zu machen. Selig sind die Kalten, denn sie verlangen nach dem Bügeleisen.«

»Schon zerreißen sie sich«, sagte Jürgen finster. »Was wird sein, wenn der Hunger kommt?«

»Was sein wird, du Simson am Wasser? Nach Amerika werden sie gehen, Mann und Roß und Wagen, nach der ›Goldenen Stadt‹, wo der Honig ihnen ins Maul fließt und jeder sechs Weiber haben möchte, damit er am Sonntag sitzen und ruhen kann … und du, Jungfer ›Tausendschön‹« – er hob unvermutet den Kopf und starrte Marte an –, »wirst auch du gehen, damit die Wasserschlange sich an dir wärmen kann?«

»Wir müssen erst unsern Hafer ernten«, sagte sie leise.

»Der Hafer«, wiederholte er grübelnd, »ja … wird eine komische Ernte geben im nächsten Jahr bei den Blindschleichen, paßt mal auf. Eine fruchtbare Religion, die dort gemacht wird … der Heilige Geist, der in die Mädchen fährt … na ja … also gib mir deinen Knüppel, du Wasserwolf, und dann schlaft in Frieden!«

»Auch bei ihm waren wir«, flüsterte er draußen in Jürgens Ohr, »bei dem Heiligen der tausend Tage. So nennen sie sich wohl. Wir kamen in seinen Tempel, Feldbett, Kruzifix, weißt du, und was tat er, der Heilige? Band sich ein Taschentuch um die Stirn. Hm? Erzählte, daß er hingefallen war, auf der Straße, und mit dem Kopf an den Zaun geschlagen war. Dachte, daß der liebe Gott seine Heiligen behütet, wenn sie hinfallen, hm? Schließ deine Tür gut zu, Simson, wenn du zum Holzschlag gehst. Wird so geflüstert, daß der Heilige Hunger auf weiße Mädchen hat und daß sie eine Hebamme einstellen wollen zum Herbst, in beiden Dörfern.«

Jürgen sagte nichts. Er drückte nur die Finger der linken Hand zur Faust zusammen, und da er vergessen hatte, daß er Südekums Arm stützend zwischen diesen Fingern hielt, erschrak er, als der Schneider aufschrie. »Nein, nicht du«, sagte er verwirrt, »ich hatte vergessen … ja, komm nun gut nach Hause … und geh nicht an meinen Ziegenstall, da liegt die Otterstange … der Wolf war da.«

Matthias humpelte lächelnd davon. »Wenn du ihn kriegst, den Wolf, Simson, dann in die Wuhne mit ihm, unters Eis, mit dem Wolf … Sehr still da unten und sehr dunkel, für den Wolf …«

Am nächsten Tage nach der Mittagspause, als Jürgen an die große Fichte ging, an der sie schlugen, blieb das Eisen der Axt im Stamm stecken, und er behielt den Stiel in den Händen. Als er ihn vor die Augen hob, sah er, daß er zur Hälfte durchgesägt war, dicht am Eisenblatt. Er sah sich langsam nach den beiden Kameraden seiner Rotte um, aber sie verwahrten gerade ihre Kaffeeflaschen, und sie hatten lange damit zu tun, denn ihre Finger schienen steif zu sein bei dem harten Frost. Es waren Kätner, Männer in seinem Alter, ruhige und schwerfällige Leute aus dem grünen Dorf. Er hatte niemals Streit mit ihnen gehabt. Er dachte nach und erinnerte sich, daß Jonas, der ältere von beiden, nicht zu sehen gewesen war, als er mit dem andern die Säge durch den Fichtenstamm gezogen hatte.

Er riß die Axt aus dem Holz, nahm Säge und Rucksack und ging zum Holzmeister. »In eine andere Rotte möcht' ich, bitte«, sagte er und hielt den Stiel der Axt etwas in die Höhe. Der Holzmeister fluchte und wollte, daß es sofort untersucht würde, aber Jürgen bat ihn, das nicht zu tun. »Der Frost hat alles ein bißchen verwirrt«, sagte er, »und sie haben nicht viel zu essen zu Hause, da kommen sie schon auf komische Gedanken.«

So kam Jürgen in eine andere Rotte, Fremde aus weit gelegenen Dörfern, die froh waren, daß der Riese zu ihnen kam. Denn sie arbeiteten im Akkord. Aber abends, als die Bäume blaue Schatten vor den gelben Himmel warfen und sie ihre Sachen zusammenpackten, hielt er Jonas am Arm zurück und wartete schweigend, bis der Kamerad nach scheuem Zurückblicken auf dem Steig in der Dickung verschwunden war.

»Weshalb tust du das?« fragte er bekümmert.

Zuerst leugnete er, mit vielen Beschwörungen und Flüchen, wie sie dort zu sprechen pflegten. Aber als Jürgen die Säge von der Schulter fallen ließ und die rechte Hand leise auf ihn legte, gestand er alles. Ja, der Heilige habe es gesagt. Nicht, daß er die Axt durchsägen solle, nein, aber daß er der Teufel sei, der auf dem Wege zur »Goldenen Stadt« liege und daß er Gott eine Seele entreiße, die Seele des Mädchens, die er zur Unzucht gezwungen habe, damit sie ihm nicht mehr entgehe. Und daß Gott denen danken werde, die den Teufel austreiben würden aus diesem Lande.

»So«, sagte Jürgen nur und ließ die Hand wieder fallen. »Meinen Vater habt ihr gekannt«, fuhr er nach einer Weile fort, »und meines Vaters Vater, und habt gewußt, daß sie nie Böses taten. Und nun kommt der Heilige und sagt, daß ein Teufel unter euch lebt, und da sammelt ihr Holz, um ihn zu verbrennen … im Wasser kann man stehen sein Leben lang, aber da kommt einer und sagt, daß man nicht im Wasser steht, sondern im Feuer. Jawohl, ruft ihr, natürlich ist das Feuer, seht ihr nicht? Ein Hund ist klüger als ihr. Er hebt die Nase und weiß, daß Wasser nicht Feuer ist … und er weiß nichts von Gott und der ›Goldenen Stadt‹.«

Aber Jonas zuckte nur finster mit den Schultern und machte sich davon. Er drehte sich noch ein paarmal zur Seite, um zu sehen, ob er etwa verfolgt würde, aber Jürgen hob die Säge wieder auf die Schulter und bog langsam in seinen Steig ein, der abseits von den andern durch die Wälder führte.

Am Abend war er beim Pfarrer und bestellte das Aufgebot.

 

Auf dem Rückweg blickte er zur Seite und sah das Licht in der Hütte des Propheten. Er zögerte, weil ihm die Worte nicht einfielen, die er sprechen mußte, aber dann drückte er doch die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen, und eine Stimme fragte, wer da sei. Er war schon im Begriff umzukehren, aber die Stimme hielt ihn fest. Wieder drückte er auf das kalte Eisen, aber die Stimme schwieg nun, und die Lautlosigkeit hinter der Tür zog wie ein Strudel. Da legte er die Schulter an das graue Holz und drückte mit einer leisen Bewegung das Schloß heraus.

Ein Fluch in einer fremden Sprache empfing ihn. MacLean stand neben dem Herd. Er hatte eine weiße Binde um die Stirn, über die seine schwarzen Haare fielen, und Jürgen dachte, daß es Grabtücher sein könnten, mit denen man früher die Toten band, wie er in der Bibel gelesen hatte. Es verwirrte ihn, und er wußte nichts zu sagen. So drückte er die Tür wieder hinter sich zu und blieb stehen, wie er eingetreten war. Er blickte aufmerksam in das weiße, steinerne Gesicht, und wieder stieg langsam der Wunsch in ihm auf, dies Gesicht zu erwürgen und es zu verscharren im Wald, wo die Brennesseln an Steinhaufen wuchsen. Er konnte nichts sprechen, denn beim ersten Wort würde er die Hände gehoben haben.

Auch MacLean sagte nichts. Er sah an Jürgens Augen, daß es nicht gut sein würde zu sprechen, und so wich er langsam, Schritt für Schritt, an sein Bett zurück. Und als seien sie durch einen unsichtbaren Faden verbunden, folgte Jürgen ihm lautlos, Schritt für Schritt, bis der Tisch mit dem Kruzifix ihn aufhielt. Neben dem Kruzifix brannte die Lampe, und in ihrem Licht lagen die Mädchenbilder, mit denen MacLean wie mit Karten zu spielen pflegte.

Sie lagen nebeneinander, eins das andere zur Hälfte bedeckend, und wo die Gesichter aufhörten, war die große Bibel der Mormonen darübergelegt, so daß von den Körpern nichts zu sehen war. Als ob die Gesichter aus der Bibel herauswüchsen, sah es aus.

Jürgen beugte sich nicht herunter. Sein Körper war ein gefrorener Baum, als er diese Bilder sah, und der Herzschlag war ihm so schwer, daß seine Lippen grau wurden. Er wollte umkehren, schnell davonstürzen, aber dann sah er doch von Bild zu Bild. Es waren fremde Gesichter und dann eine Reihe von Mädchen aus dem Dorf. Aber eins fehlte. Er sah sich um in dem kahlen Raum, aber außer dem Herd, dem Bett und dem Stuhl konnte er nichts sehen.

Er sah wieder nach MacLean hinüber, und der Blick streifte das Kruzifix, an dessen Fuß die Bilder lagen. Er streckte die Hand aus und hob es auf. Es war ein schweres Kruzifix, aus Blei gegossen, und Jürgen dachte, daß man damit einen Menschen erschlagen könnte, ohne die Hände um seinen verruchten Körper zu legen. Und während er diesen Gedanken wie einen bitteren Speichel hinunterwürgte, preßten sich seine beiden Hände um die beiden Enden des Kruzifixes und bogen es zusammen, daß im grauen Leib des Heilands feine Spalten aufbrachen.

Er starrte auf das herunter, was er ohne Besinnung getan hatte, erkannte, wo er mit seinen Gedanken gewesen war, erschrak und legte das verbogene Kreuz voller Verwirrung auf den Tisch zurück. Er öffnete die Lippen, sagte aber nichts, drehte sich um, ohne den Heiligen noch einmal anzusehen, und ging hinaus, gebeugt wie nach einem verlorenen Kampf.

Vor der Schwelle stieß er auf eine verhüllte Frauengestalt, die mit einem Schrei zur Seite ins Dunkel sich warf. Und erst dieser Schrei erweckte ihn. Er sah sich einmal um wie in einem fremden Wald und ging dann langsam den Weg nach seinem Hause hinunter. Kein Wort, dachte er, immer noch verwirrt, wir beide kein einziges Wort … beim ersten Wort wäre ich ein Mörder geworden … das Kruzifix hat mich bewahrt … Aber eine dumpfe Sorge stieg wie Nebel in ihm empor. Daß er Christus zerbrochen hatte. Ein Bild nur, aber doch Christus, und der Leib war aufgesprungen in grauen Spalten, und vielleicht, in der Nacht, würde Blut aus den Spalten tropfen, ein weißliches Blut, wie aus wieder aufbrechenden Wunden.

Es war ihm schwer, vom Pfarrer zu erzählen, und er schob es hinaus, bis er den letzten Kienspan geschnitten hatte. »Vielleicht war es dumm«, begann er, »und ich hätte dich fragen sollen.«

Sie hielt das Spinnrad an und sah zu ihm auf. Zum erstenmal hielt er ihren Blick aus. Zum erstenmal auch sah er auf ihr Gesicht wie auf ein Bild, das man in den Händen hält und das sich nicht wehren kann. Wie die Mutter Gottes, dachte er und erschrak von neuem über das, was er getan hatte. Sie errötete ein wenig unter seinem Blick, und in diesem Erröten, obwohl es nicht das erste zwischen ihnen war, drang zum erstenmal ganz eigentlich die Süßigkeit ihrer Liebe in die dumpfe Ungläubigkeit seiner Seele hinein. Er erschrak wie ein Mensch, unter dessen Füßen die Erde bricht, der stürzt und plötzlich wie im Märchen auf einer bunten Wiese steht. Sie war um ihn gewesen, fast ein Jahr, ihr Lächeln, ihre Sprache, die Bewegungen ihrer Glieder, sie war bei ihm gewesen, wie nur zwei Menschen beieinander sein können. Aber alles dieses war wie im Dunkel der Nacht geschehen, ein zerbrechlicher Traum, ein Irrtum vielleicht, ein Bild des zweiten Gesichts. Und Scheu und Scham hatten über ihm gelegen, als habe er, ein Bettler, sich als Königssohn ausgegeben und sie im Glauben gelassen, daß er es sei.

Und nun sah er sie an, ohne Bedrückung, wie er einen Vogel ansah oder einen Blumenkelch. Er öffnete gleichsam sein Gesicht, und sie wich nicht zurück vor dem Geöffneten, sie errötete nur, aber ihre Augen waren feucht vor Glück. Er sah die langen Wimpern und wußte nicht, wie ein Mensch solche Wimpern haben konnte. Er sah ihren Mund und begriff, daß dieser Mund ihn geküßt hatte. Ihre Arme und erinnerte sich, daß sie ihn umfangen hatten. Er erschrak so, daß er wider Willen stöhnte.

»Was ist, Jürgen?« fragte sie leise. »Was war dumm? Und was siehst du mich so an?«

»So … schön …«, sagte er atemlos, »so schön … bist du …«

Sie liebte nicht zum erstenmal, aber sie erzitterte unter seinen ungeschickten Worten, und einen Augenblick lang flog der Rausch ihrer Macht über ihre Seele wie der Wind über einen Baum. Dann stand sie auf und kauerte sich zwischen seinen Knien auf den Boden, die Arme auf seine Knie gestützt und von unten zu ihm aufblickend.

»Gefroren warst du, Jürgen, mein Lieber«, sagte sie leise, »und nun ist dein Eis gebrochen … süß wird das sein, in dir zu wohnen.«

Er legte behutsam seine Hände um ihr Gesicht. »Blind war ich«, murmelte er, »ganz blind … ein junger Hund mit Sorgenfalten, der sich vor dem Leben duckt … und nun sehe ich dich … und du zitterst nicht vor mir wie vor einem wilden Wolf? Plump bin ich, und die Kinder lachen über mich … du aber … mein Lieber, sagst du … was ist an mir, daß du so sagst?«

Ein leises Lächeln. Goldene Funken, die in den Augen aufblühten und sie tiefer machten wie einen erleuchteten Raum. »Dies ist es, Jürgen, daß du ein Kind bist, gut und sanft wie ein Kind. Daß du ein Mann bist, stark und tapfer wie ein ganzes Dorf. Und daß du ein Wolf bist, der einen aufhebt und trägt wie ein Lamm, und es gibt kein Wehren, nur ein süßes Sterben an deinem Mund …«

»Wie in der Bibel sprichst du«, murmelte er lauschend, »wie in den Märchen … keiner in meinem Leben hat so gesprochen, daß das Herz zerbricht … scheu war ich wie ein Tier, das im Dickicht bleibt, aber nun hast du mich gerufen und spielst mit mir, und kein Schrecken ist auf der Wiese, auf der du spielst … beim Pfarrer war ich, Marte, und habe es ihm gesagt, mit dem Aufgebot.«

Sie schrie leise auf, mit ganz hoher Stimme, wie ein Vogel im Traum. Dann saß sie auf seinen Knien, an seine Brust gedrückt. Ein Kind wollte sie nun haben, ein lebendiges Wesen, das sie festhalten würde an dieser Erde. Die »Goldene Stadt« … es hätte noch Zeit … vielleicht, daß sie zusammen einmal hingingen … aber zuerst das Kind … ruhig würde sie werden, sich nicht mehr fürchten … ein kleiner Wolf, der aus ihrem Leben trinken würde …

Und in dieser Nacht erst erfuhr Jürgen, daß er gesegnet war.

MacLean hörte es am selben Tage, an dem das Aufgebot von der Kanzel verkündet wurde. Er stand im Wald, den ganzen Tag, und starrte auf das Fährhaus. Einmal sah er den Fischer zum Eis hinuntergehen und von Wuhne zu Wuhne schreiten, aber er kehrte wieder um. Einmal sah er Marte aus der Haustür treten und zum Schuppen gehen, in der roten Pelzjacke, kein Tuch über dem Scheitel. Er biß in den Fichtenast, der vor seinem Gesicht hing, und erst der bittere Geschmack der Rinde und des Harzes brachte ihn zu sich. In der Dämmerung erst, als ein Wolf in den Dickungen zu heulen begann, kehrte er in seine Hütte zurück. Am nächsten Abend, als Jürgen aus dem Wald kam, sah er am Flechtzaun eine schwere, breite Spur um den Hof laufen. Der Mond stand hoch, und Jürgen sah, daß es die Abdrücke von Holzschuhen waren, wie man sie im Dorf, mit Stroh ausgestopft, bei schwerem Frost zu tragen pflegte. Er richtete sich auf und blickte auf den Hof. Das bläuliche Licht funkelte auf dem Schnee, und die Schatten von Schuppen und Haus lagen so scharf auf der Erde, daß die Ränder wie mit dem Messer geschnitten waren. Er sah Licht in dem kleinen Fenster des Schuppens und lief am Zaun entlang zu dem nächsten Schatten. Der Schnee knirschte leise, obwohl seine Füße mit Lappen umwickelt waren, wie es bei der Holzarbeit Brauch war.

So sehr blendete das Licht, daß er fast über die Gestalt gestolpert wäre, die aufrecht, nur etwas schief an der Wand des Schuppens lehnte, die Hände gegen das Holz gestützt. Im selben Augenblick sah er die Arme des Eisens wie eine geöffnete Schere aus dem Schnee steigen und fühlte seinen Fuß an die straff gespannte Kette stoßen, mit der es verankert war.

Eine wilde Freude schoß glühend in ihm hoch und erstickte seinen Atem.

Es war MacLean. Mit geschlossenen Augen. Regungslos und in diesem Augenblick auch atemlos. Er würde nicht anders ausgesehen haben, wenn er den ganzen Winter so an der Wand des Schuppens gelehnt hätte. Nur die feinen Schweißtropfen auf seiner Stirn zeigten sein Leben an. Jürgen bückte sich und sah, wie es gekommen war. Das Holz des rechten Schuhes war zusammengedrückt wie in einem Schraubstock, aber es hatte gehalten. Die Eisenstangen hielten nur den Fuß, und nur der unterste der Stachel war mit seiner Spitze durch das Leder gedrungen. Jürgen fuhr mit dem Finger um die getroffene Stelle und hob ihn vor die Augen. Er war feucht und dunkelrot. Aber das war alles. Es war so unwahrscheinlich wie ein Wunder.

Es nahm ihm den Zorn, bis er an das Licht im Stall dachte. Zweimal mußte er zufassen, bis er den Holzgriff öffnen konnte. Die Laterne stand auf der kleinen Futterkiste. In der Ecke kniete Marte in der Streu, die Arme um den Hals des Tieres geschlungen. Die Angst stand wie gefroren in ihren Gesichtern, und als Marte die Lippen öffnete, mußte er sich zu ihr niederbeugen, bis er verstand, daß sie nach dem Wolf fragte. Nein, sie hatte nichts gehört, nur daß das Eisen schlug und etwas gegen die Wand fiel, keinen Laut. Aber Grita hatte geklagt, ganz wie damals, und nun hätten sie auf ihn gewartet.

Er richtete sie auf und streichelte ihr Haar. »Nichts ist«, sagte er verwirrt und verbarg die blutige Hand hinter seinem Rücken. »Nur den Schuh hat das Eisen gefaßt und ein bißchen Fleisch … ein Wunder ist es …«

»Was für einen … Schuh?«

Er versuchte zu lächeln. »Der Prophet, ja … er wollte wohl zu dir … komm, du mußt mir helfen.«

Als MacLean den zweiten Schritt hörte, öffnete er die Augen. Sein Blick öffnete sich starr und finster auf ihr Gesicht. »Briefe wollte ich dir bringen«, sagte er langsam, als löse seine Stimme sich aus dem Eise, »von drüben … sie haben geschrieben, daß wir kommen sollen … alle … ich wußte nicht, daß sie Eisen legen für die Boten Gottes …«

»Für den Wolf war es«, flüsterte sie. »Er war hier … vor Monaten …«

»Er ist immer da«, murmelte er und schloß von neuem die Augen.

Jürgen preßte sein ganzes Gewicht auf die Feder, aber es war gefährlich, und wenn er abglitt, konnte es ein Unglück geben. »Der Schraubstock«, murmelte er und lief zur Hobelkammer.

»Verzeih«, flüsterte Marte. »Tut es weh? Hat es dich getroffen?«

Wieder öffnete er die Augen, und das bläuliche Mondlicht stand unheimlich in den tiefen Höhlen. »Es ist nicht das Blut«, sagte er. »Der dort zerbricht mein Kruzifix, und du verleugnest Gott … willst du beichten?«

»Ja«, flüsterte sie, »was ist mit dem Kruzifix?«

»Morgen?«

»... Ja.«

»Schwörst du?«

»... Ja.«

Als der Schraubstock die Feder niederdrückte, öffneten die Arme des Eisens sich, und MacLean zog ohne einen Laut den blutenden Dorn aus dem Fuß. Der Schnee färbte sich rot, wo er stand, und er schwankte, als er sich zum Gehen wandte.

»Komm herein, daß wir dich verbinden«, bat Marte.

Er drehte sich noch einmal zurück. »Wir?« erwiderte er, und seine Lippen verzogen sich, als ob er lächeln wollte. »Da sind Dinge, die nicht zu verbinden sind.«

Dann ging er in seiner alten Spur davon, langsam, gerade, ohne zu hinken.

Jürgen nahm das Eisen hinein und stellte es von neuem. Mitunter, zwischen zwei Handgriffen, vergaß er seine Arbeit und starrte grübelnd in das Feuer. Auch hob er manchmal den Kopf und lauschte heimlich hinaus. Aber nur das Eis schrie auf dem See, wenn eine Spalte von Wald zu Wald sich auseinanderriß. Es klang, als ob ein Stahltau risse.

»Und wenn es ihn erschlagen hätte?« fragte Marte, als sie die Strümpfe von den Füßen streifte.

Er sah nicht auf. »Vielleicht wäre es ihm besser gewesen«, sagte er nach einer Weile. »Ein Eisen ist barmherzig … und es gibt Schlimmeres …«

In der Nacht hörte er sie leise weinen, und er legte den Arm um sie, bis ihr Gesicht an seiner Schulter lag. Da wurde sie ruhig und schlief ein, aber er lag noch lange mit offenen Augen, über denen die Brauen gefaltet waren. Ein Fuchs bellte dicht hinter den Feldern, und der Mondschein stieg langsam an der Wand herauf, schmolz zusammen, wurde ein schmaler, feuriger Streifen und erlosch so plötzlich, als würde ein Licht hinter einer Türspalte gelöscht.

 

»Es geht niemand etwas an«, sagte Marte finster. Sie saß auf dem Stuhl neben MacLeans Bett, aber sie hatte die Jacke nicht ausgezogen und nur das Tuch in den Nacken geschoben.

Er trug die Binde um die Stirn nicht mehr, aber die Narbe hatte noch einen feinen Blutrand. Es war eine gerade Wunde mit zwei kleinen Nebenästen, wie ein Zweig mit wechselseitigen Blättern. Die ganze Zeit über mußte Marte denken, daß es der Abdruck einer Dornenkrone sei. Sie sah an der Farbe seiner Augen, daß er Fieber hatte, und der Zwang zum Mitleid machte sie härter und verschlossener, als sie sein wollte. Er hätte sich nicht hinzulegen brauchen, dachte sie, wo er wußte, daß ich komme.

Er lag unbeweglich und sah sie an. Sie wartete, daß er einmal die Lider niederschlage, aber sie waren unbeweglich, wie gefroren. Und obwohl sie fühlte, daß ihre Wurzeln dort im Fährhaus waren und durch den Schnee bis zu ihm reichten, von niemandem zerschnitten, floß aus diesem lidlosen, starren Blick eine wachsende Lähmung in sie hinein.

»Du wolltest beichten?« fragte er, eintönig, wie Menschen im Schlaf sprechen.

»Ich habe gesagt, daß wir heiraten werden und daß ich … daß ich sein eigen bin … mehr ist nicht zu beichten.«

»Aber wie es geschah? Wann? Wie oft?«

»Es geht niemand etwas an«, wiederholte sie.

Es begann zu dämmern, und alles noch bleibende Licht schien sich in dem weißen Gesicht zu sammeln, über das die rote Narbe lief. Auf der Straße ging jemand vorüber und zog einen Schlitten hinter sich her. Der Schnee knirschte, die Kufen kratzten über einen Stein, in der Ferne noch einmal, und dann war alles wieder still.

»Du möchtest vielleicht austreten aus der Gemeinschaft?«

»Nein.«

»Wir hatten drüben eine, die austrat. Sie verweigerte sich dem Priester vor der Ehe … wie du, und dann trat sie aus. Ihr erstes Kind war blind. Das zweite aß seinen eigenen Kot und kroch auf allen vieren. Noch andere Beispiele gab es, viele. Die Menschen wollten klüger sein, aber Gott war klüger …«

»Das kommt nicht von Gott«, flüsterte sie, weiß bis in die Lippen.

»Dann kommt es von meinem Gebet«, sagte er ebenso leise.

Sie fühlte, wie ihr Blut kalt wurde, gerann und gefror. Tief im Innersten ihres Leibes fühlte sie den grauen Hauch einer Eisdecke, dort, wo das Wunder der Geburt sich leise bereitete. Sie schloß die Augen, aber um so klarer und unerbittlicher sah sie das Bild, wie das Blut gefror und wie unter den geschlossenen Lidern des Kindes eine graue, kalte Haut sich über die Augen spannte. Sie stürzte auf die Knie, als seien ihre Gelenke erstarrt. »Bete nicht«, flüsterte sie, die Stirn auf der Bettkante, »bete um meine Blindheit, um meinen Tod, aber nicht darum.«

»Gehorche.«

»Nein.«

»Dann werde ich beten, morgens und abends und einmal in der Nacht, und …«

Sie schlug mit der geballten Hand zu, mitten aus ihrer Erstarrung, ohne zu sehen, wohin sie traf. Dann sprang sie auf, und ehe er ihr Kleid fassen konnte, war sie an der Tür. »Beide werden wir beten«, sagte sie, »morgens und abends und viele Male in der Nacht. Aber du wirst zum Teufel beten, und ich werde zu Gott beten, daß er deinen Teufel erwürgt.«

In der Nacht erwachte Jürgen von zwei Händen, die sich auf seine Augen legten. »Was ist?« fragte er. »Erschlage ihn«, flüsterte sie.

Er wußte alles, sofort. Sie fühlte, wie seine Lider unter ihren Händen sich aufschlugen und legte sich still zurück.

»Sünde ist es«, sagte er nach einer langen Weile. »Man soll keine Sünden denken.«

»Nein … ein böser Traum war es … schlafe nun.«

 

Ende März, als Marte abends auf dem Hof stand und nach dem Wald sah, ob Jürgen schon komme, zogen die Krähen nach ihren Schlafbäumen. Sie lärmten so, daß Marte zu ihnen aufblickte, und da sah sie, daß sie in der Luft, spielend scheinbar, sich umherwarfen, so daß, zwischen zwei Flügelschlägen, die dunklen Leiber sich einmal um sich selbst drehten. Da wußte sie, daß Tauwetter kommen würde, und sie atmete noch einmal tief die kalte Luft ein. Am Abend, vor dem Herde, fühlte sie zum erstenmal die Bewegung des Kindes, und mit dem süßen Zittern, das sie bis in die Fußspitzen durchbebte, durchfuhr sie die Gewißheit, daß es alles ein böser Wintertraum gewesen sei. Sie ließ das Spinnrad ruhen, beugte sich mit geschlossenen Augen vor und lauschte. »Hörst du etwas?« fragte Jürgen.

»Ja … es schmilzt …«

Er sah sie vorsichtig an und ging zum Fenster. »Ist ein Hof um den Mond, aber noch ist es nicht.«

»Das Eis, Jürgen«, sagte sie lächelnd, »das Eis schmilzt.«

Sie schlief nicht, denn es kam wieder in der Nacht. Ein Traumwandler war in ihr, und sie lag regungslos, um über ihm zu wachen. Wind war aufgekommen, der stoßend und unregelmäßig über die Erde ging. Sie hörte am Ton, daß es kein Ostwind war. Aber um Mitternacht stieg der erste Schrei aus dem Walde, ein Baum, in dem der Frost zerbrach. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, in der ein leise ziehender Schmerz war, und preßte die Finger zusammen, um zu lauschen, ob sie sich nicht getäuscht habe. Aber ein zweiter Schrei antwortete, weit weg, wie ein Schuß, der aus einem Hause brach. Jürgen bewegte sich im Schlaf, als rufe es von fern nach ihm. Sie schob das Gesicht ganz leise zur Seite, bis ihr Haar seine Schulter berührte, und lag nun in einem tiefen, immer wachsenden Glück, weich und gelöst, als öffne sie sich nach einer Erstarrung. Wieder ein Schuß im Walde … nun lief ein feiner Sprung durch die Eishaut der jungen Augen … der Wind, der ans Dach stieß und den Atem bis in den Lehmherd warf … nun bröckelte eine feine, graue Scholle, zerfasert an den Rändern, ließ das Blau der Augen wie erlöstes Wasser frei, die Hände hoben sich, um den kalten Schlaf fortzuwischen, und stießen leise an die warme Wand ihres Leibes … o du Segen Gottes, mit dem Tauwind gekommen über Blindheit und Frost … eine Saite riß in der Eiche vor der Tür, und über den See donnerte ein weißgezackter Spalt. »Auferstehen …«, flüsterte sie, »auferstehen wirst du …«

Vor der Morgendämmerung begann es vom Dach zu tropfen, zuerst in einzelnen Tropfen. In langen Zwischenräumen, so schwach, daß es auch der Wurm im Holz sein konnte. Aber dann wurde es eiliger, lauter, gewisser … Dumpf fiel der Schnee von den Fichtenästen, und in den Pausen des Windes hob die leise Unruhe der Erde sich bis an ihr Ohr. Es war nun kein Zweifel mehr, und als der erste matte Schein das Fenster aus der Schwärze der Wand hob, legte sie sich tief atmend zurück, schloß die Augen und fühlte, an der Grenze des Schlafes, ihren Leib gleichsam von sich fortgehen, als habe sie schon geboren und lege ihre Hände um das neue Geschlecht, in das ihr Blut eingegangen war.

Am nächsten Tage ging sie zum Pfarrer, sagte, daß sie aus der Gemeinschaft der Mormonen austreten möchte, und bat ihn, sie wieder aufzunehmen in seine Kirche, sie und das Kind, das sie trage.

Gleich darauf war ihre stille Hochzeit. Michael Grotjohann, der Erweckte, kam am Abend, nicht als ein Hochzeitsgast, sondern als ein Abgesandter der Mormonenkirche, um die abtrünnige Tochter wieder zurückzuführen auf den Weg zur »Goldenen Stadt«. Er saß vor dem Herdfeuer, kümmerlich, erfroren, mit seinem haarlosen Schädel und der schiefen Nase, wie eine gerupfte Krähe, bat, beschwor, drohte und fluchte. »Ich hab' es gewußt«, sagte er, die wimpernlosen Augen zu seiner Tochter aufhebend, »schon als wir ankamen hier. Der Teufel empfing uns im Wald, und sein Atem roch nach den Dämpfen der Hölle … in die Irre hat er uns geführt, und nun haben sie deine Seele entwendet …«

»Laß es sein, Vater«, sagte sie.

Aber er hockte wie ein Wurm vor dem Herd, tastete mit seinen Fühlern umher und schrotete an seinen Worten und Sorgen wie ein Käfer im Holz. »Was ist schon ein Fischer«, mäkelte er verächtlich. »Schuppen hat er an den Händen und im Haar, und wenn er alt wird, reißen ihm alle Glieder. Ein goldenes Bett hättest du gehabt in der ›Goldenen Stadt‹. Propheten hättest du geboren, und nun werden es Frösche sein oder Kröten.«

»Sprich nicht weiter«, sagte sie streng. »Auch du bist in keinem goldenen Bett geboren …«

»Siehst du«, sagte er, als Jürgen aus dem Walde gekommen war, »daß sie ausgetreten ist … weißt du, wie es in unserem Glauben ist? Neun Nächte müssen sie vor dem Bett knien nach der Hochzeit und sich nicht berühren, daß es eine Lust der Seele wird und nicht eine Lust des Fleisches … und nun, werdet ihr knien?«

Jürgen mußte ihn erst eine Weile ansehen. »Neun Nächte?« fragte er und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß sie das will … es ist … ja, einfacher ist das bei uns, weißt du … und schöner hat sie es gehabt, ohne knien, glaube mir.«

Es dauerte eine Weile, bis Grotjohann das zu sich genommen hatte. Sein Kehlkopf bewegte sich, als würge er Wort für Wort hinunter. »Und wegen Aussteuer«, sagte er dann, »da ist natürlich nicht daran zu denken, weil sie abtrünnig geworden ist.«

»Auch der Teufel hat eine weiße Seite«, meinte Jürgen freundlich.

In der Frühe stand eine Stange auf dem Hof, und von ihrer Spitze hing ein Strohkranz herab. Jürgen sah schnell nach dem Fenster zurück und trug das Ganze in den Schuppen. Den Kranz band er auf und verstreute das Stroh in dem Ziegenstall. Dann ging er zu seinem Acker und schob den feuchten Schnee mit den Händen zur Seite, bis ein kleiner Kreis dunkler Erde zu sehen war. Er kniete nieder und beugte sich über die Öffnung. Grüne Halme lagen dicht und stark am Grunde des schmalen Schachtes. Es roch nach Erde, Wurzeln und Wald, und hinter seinen geschlossenen Augen war es ihm, als sei es der gleiche Geruch, der aus Martes Haar und Haut aufstieg. Ein Feld und einen Sohn, dachte er, das andere kommt von den anderen … aber dies kommt von uns selbst …

An der Kirchentür nahm Michael Grotjohann Abschied. Nein, er wollte nicht in das Haus der Abtrünnigen, und er müsse heim, denn eine Erweckung sei heute abend in einer andern Gemeinde, und er müsse zum »Vorbereiten« da sein, daß der Lichtlose weich werde und die Gnade in ihn fallen könne wie in einen Acker. Er solle ihn nicht zu sehr kneten, meinte Jürgen, denn aus einem Acker, den man zu sehr knete, werde Staub. Marte gab ihm nur wie einem Fremden die Hand.

Es gab keine Störung, nur daß der Pfarrer zweimal nach Jürgens »Ja« fragen mußte. So leise sprach er. Und als sie die Ringe tauschten und seine schwere Hand zitterte, beugte Marte sich herunter und küßte sie. Jürgen wurde glühend rot, und der Pfarrer lächelte ganz leise, ohne Spott, wie zu einem Kinde. »Du getreuer Fährmann«, sagte er so, daß nur sie beide es hörten.

»Er ist zu gut«, sagte Jürgen am Abend, als sie noch wach lagen. »Getreu, siehst du, das ist ein großes Wort. Christus, oder auch Petrus, oder ein Kaiser, die können getreu sein … aber ich bin ein Fischer, ein einfacher Mann, es ist zuviel Lob vor dir …«

Aber sie lächelte und legte die Wange an seine Brust. »Wie es klopft«, sagte sie, »wie eine Uhr in einem großen Haus … nicht einmal ein Kind würde sich fürchten, so ruhig klopft es, so … getreu.«

 

Jürgen sah nach seiner Fähre, die noch fest im Eise lag, und nach seinen Kähnen. Am Rande stand schon das Wasser, und über den Strom liefen kreuz und quer breite Risse, aus denen helle Blasen stiegen. Ab und zu, wenn stromaufwärts, in der Ferne, ein dumpfer Donner über die Erde lief, zitterte die Fähre, auf der er stand, und ein leises, knirschendes Beben schien über das graue Eis zu laufen. Der Sturm brüllte aus den Wäldern und war wie eine nasse, warme Mauer, wenn er die Hand gegen ihn hob.

Es gefiel ihm nicht, das Ganze. Besonders nicht, daß es stromab alles still war. Das See-Eis lag fest, ohne Ton, und wenn der Strom aufging, würde das Eis sich stauen. Er hatte es schon erlebt und dreimal auf dem Boden des Hauses gesessen, viele Tage und Nächte lang, und sein Vater und Großvater hatten noch Schlimmeres erlebt. Aber dann schüttelte er den Kopf, bedachte, daß er ängstlich geworden war, seit er ein Weib hatte, prüfte noch einmal die Verankerung der Fähre, zog die beiden Kähne noch ein paar Meter das Ufer hinauf und bückte sich dann nach seinem Werkzeug.

Aber in dem Augenblick, in dem er die Hand nach der Eisaxt ausstreckte, hörte er einen feinen, klagenden Ton oberhalb der Fähre. Er schien aus der Erde zu kommen und auch wieder in sie zurückzufallen, als ob eine schwere Tür in ihren verrosteten Gelenken sich seufzend hebe und wieder senke. Ein ganz feines Knistern stand in den Rändern des Tons, als bröckelte etwas bei der seufzenden Bewegung ab. Und gleichzeitig sah er, noch immer tief zur Erde gebeugt, eine Veränderung der Welt, auf der er stand. Als hebe das graue Strombett sich in der Mitte auf, mit einer sanften Wölbung, in der die Eisgelenke an beiden Ufern knirschten, und sinke wieder langsam zurück zu der Ebene eines grauen, von feinen Rissen durchzogenen Spiegels. Gleichzeitig stieg an den Ufern ein gurgelnder Schwall dunklen Wassers empor, der von grauen Blasen kochte, stand als ein schmaler Wall am Eisrand und versank wieder in der Tiefe, wobei ein unterdrücktes Stöhnen sich unter der Erde verlor.

»So …«, sagte Jürgen. Er nahm die Eisaxt über die Schulter und ging schnell am Rande des Stromes das Ufer entlang, der unsichtbaren Strömung entgegen. Aber überall war das Bild das gleiche, ein graues, von Falten durchzogenes Gesicht, in dem es leise zuckte. Es dämmerte schon stark, und Jürgens Augen tränten, sobald er, dem Sturm entgegen, in die Ferne zu spähen versuchte. Krähen trieben an ihm vorüber, mit ausgebreiteten Schwingen im Sturm stürzend, und in den Wäldern heulte es von unsichtbaren Stimmen. Er schützte die Augen mit der Hand, aber in dem fahlen Dämmerlicht verschmolzen Strom und Himmel. Eine Regenwand zog über das Moor zur Linken, mit dunklen Streifen aus den Wolken stürzend und wie ein schwerer Vorhang über die Erde schleppend. Er sah ihm nach, die Stirn sorgenvoll gefaltet. Und in diesem Augenblick, als er sich wenden wollte, geschah es. Aus dem Strombett, wo es in der Ferne mit der Erde verschwamm, hob es sich empor, etwas Graues, Schweres, wie eine an den Rändern gezackte Wand, hob sich lautlos, bis sie schräg stand, weißlich aufschimmernd in der grauen Luft, und neigte sich ebenso lautlos zurück. Als ob ein Toter auferstehe und sich wieder lege. Und erst lange nachher lief ein unterirdischer Donner bis zu Jürgens Füßen und zerstob in knisternden Zweigen. Es war die erste Scholle, die sich in der Strömung hob. Er lief zurück und versuchte, die Stärke des Eises an der Stromseite der Fähre zu messen, aber als er den Arm in das Eisloch stecken konnte, ohne auf Wasser zu stoßen, gab er es auf. Alle Pferde beider Dörfer hätten die Fähre nicht von der Stelle bewegt. Noch einmal stand er im Dunklen lange Zeit lauschend, aber das Eis war nun still, und nur der Sturm brauste, und Regentropfen begannen in sein Gesicht zu schlagen. Es war ein warmer Regen, und das beruhigte ihn etwas. Aber er ging doch noch im letzten Licht auf dem Hofe umher und trug, was er bewegen konnte, in Schuppen und Haus.

»Was ist, Jürgen?« fragte Marte am Abend. »Wartest du auf etwas?«

Er schüttelte etwas verlegen den Kopf. »Ist alles still«, erwiderte er. »Das Eis wird kommen … niemals kann man wissen, wie es ist.«

»Ach, du Getreuer«, sagte sie lächelnd, »es wird unsere Fähre schon liegenlassen.«

Er nickte, verlor etwas seine Sorgen und dachte lange darüber nach, daß sie »unsere Fähre« gesagt hatte. Er blieb noch sitzen, nachdem sie sich niedergelegt hatte, rauchte eine Pfeife, legte ein Birkenscheit nach und empfand nach dem Sturm am Strome die Wärme und das rötliche Licht wie einen Sonntag. Wenn es gut geht mit dem Hafer, dachte er … eine Menge habe ich verdient im Holzschlag … vielleicht, daß ein Pferd im nächsten Frühjahr … Und dann dachte er nach, wie sie den Sohn taufen und welchen Namen sie dem Pferd geben würden.

Sie lächelte im Schlaf, als er sich zu ihr legte.

In der Nacht erwachte er. Es war noch dunkel, aber er fühlte, daß es dicht vor dem Morgen sein mußte. Der Sturm brüllte so, daß er das leise Zittern zu fühlen glaubte, das über das Holz des Bettes lief. Er hob den Kopf und lauschte. Das Herz schlug ihm schwer, als habe der Alp auf seiner Brust gelegen, aber zwischen den Stößen seines Blutes hörte er, daß hinter dem Sturm noch etwas anderes war. Es donnerte im Schornstein und heulte in den Fichten hinter dem Hof, aber hinter dem Donnern stand ein knirschender, mahlender Ton, wie von Steinen, die etwas zwischen sich zerrieben.

Er setzte sich auf, behutsam, um Marte nicht zu wecken, und vernahm einen zweiten Laut, verstohlen, als ob Wasser in einen tiefen Becher tropfe oder in einem leisen Strudel sich in die Tiefe fresse. Er wußte nicht, wie spät es war und wie lange er geschlafen hatte, aber er war nun ganz wach und klar, und seine Gedanken liefen schon schnell und geordnet zu allem, was zu tun war. Das Boot, die Ziege, die Leiter, Betten, Holz, Brot, Mehl, der kleine Ofen aus dem Schuppen … nichts durfte vergessen werden. Der Acker …, dachte er noch in einem dumpfen, schnellen Schmerz, aber schon hatte er die Decke vorsichtig zur Seite gelegt und setzte die Füße auf die Dielen.

Er stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Die Kälte fuhr wie ein Schlag gegen sein Herz, und einen Augenblick lang stand er in einer kalten Betäubung. So …, dachte er wieder, sieh mal an … Dann weckte er Marte.

Er hatte alles bedacht, und er arbeitete schweigend, planvoll, ohne Überhastung. Nichts entglitt seinen Händen, kein Weg wurde zweimal gemacht, kein Blick ging an Dinge, die des Ansehens nicht wert waren. Das Wasser war da, und im Wasser war er zu Hause. Sobald die Betten, Ofen, Holz und Lampe auf dem Boden waren, mußte Marte hinaufgehen. Als sie sich sträubte, nahm er sie in die Arme wie ein junges Tier und trug sie die Leiter hinauf. »Das Kind«, sagte er nur. »Eiswasser ist nicht gut für Kinder.« Sie lag in ihren Kissen, blaß, aber ohne Angst, und jedesmal, wenn er die Leiter hinaufkam, mit der Ziege, einem Sack Mehl, einem Berg von Holz, lächelte sie ihm zu. »Der See ist nicht auf«, sagte er einmal, »davon kommt es. Und die Brücke stopft. Aber wenn der Sturm nachläßt, ist es vielleicht schon abends gut.«

Dann lief er zum Strom, um die Boote zu holen. Es war nun ganz hell, und der Strom war ein brüllender Schacht, in dem das Eis kochte. Die Decke war nicht getaut, sondern von unten aufgebrochen worden. Ganze Wände hoben sich plötzlich aus dem quirlenden Brei, standen auf, rissen donnernd in den Gelenken und schmetterten schäumend zurück. Das schwarze Wasser kochte mit weißen Blasen. Über der Fähre türmte sich ein weißliches Gebirge, unter dem Erdbeben dröhnten. Abseits, wo der Strom mit scharfer Kehre im Uferwald verschwand, stand eine zitternde Mauer, über die einzelne Schollen als weiße Platten hinausschossen.

Das Wasser reichte ihm bis über die Knie, und so weit er sehen konnte, sah er kein festes Land. Die Wälder standen wie über dem Horizont, und beide Dörfer lagen wie eine Zeichnung auf einem Papier. In den Pausen des Sturmes zischte das Rohr an den Ufern wie unter einer Sense, wenn die jagenden Schollen es abschnitten. Der Himmel im Osten war weiß, mit fahlen Flecken und Bändern. Die Sonne war nicht zu sehen.

Er versuchte, eine zweite Stahltrosse um eine Eisenkrampe am Rand der Fähre zu schlingen. Das Eis zerschnitt ihm die Hände, aber er konnte den Knoten festmachen und das andere Ende um die nächste Eiche binden. Dann schleppte er die beiden Boote zum Haus. Die Strömung drückte schon gegen seinen Körper, und er mußte seitwärts gehen, um mit dem Tau über dem gebeugten Rücken das Boot halten zu können. Die Wasserfläche abseits des Strombettes war von Schollen frei. Der Sturm warf Blasen über die Oberfläche, aber wenn Jürgen sich bückte, sah er, daß das Wasser gefurcht war und daß die im Eis gestaute Kraft unter ungeheurem Druck die ganze Fläche zu beiden Seiten vor sich hertrieb. Der Pfarrer wird sprechen, dachte er, mit den Pionieren, daß sie sprengen kommen … wenigstens Eis wird nicht auf den Acker kommen … der Wald ist vor.

Ab und zu trieb ein Ast vorüber, ein Grasbüschel, ein Bündel geschnittenes Rohr. Verloren sahen sie aus in der ungeheuren Fläche und drohender, als wenn es große Eisschollen gewesen wären. Der Zaun war schon halb versunken. Die Pflugschar berührte mit dem unteren Rand das Wasser, und wenn etwas Treibendes sie streifte, gab es einen feinen, klingenden Ton, der aus dem Wasser aufzusteigen schien wie ein Vogel und sich wieder fallen ließ. Einmal, als Jürgen stehenblieb, um das Tau noch einmal um seine Hand zu wickeln, schien ihm das Wasser plötzlich still zu stehen, und das ganze Gehöft, Haus, Schuppen, Eichen und Zaun, rasten lautlos an ihm vorüber. Er erschrak, merkte, daß seine Augen müde waren von der fließenden Auflösung alles Sichtbaren, und hörte mit der Arbeit erst auf, als beide Boote im Windschatten des Hauses lagen und er die Taue auf einer Leiter bis zum Bodenfenster gehoben hatte.

Während dieser ganzen Zeit lag Marte still und ohne Angst auf dem Lager, das Jürgen ihr aus Kissen bereitet hatte. Sie war ein wenig aufgewesen, um Feuer im kleinen Eisenofen zu machen und den Kaffee für Jürgen aufzustellen. Sie hatte die Lampe gelöscht und aus den beiden kleinen Fenstern gesehen, von denen sie zuerst die Spinngewebe abwischen mußte. Es war ein drohendes und großartiges Bild für sie, und sie hatte niemals ähnliches gesehen. Aber es ging nur bis in ihre Augen. Sie sah Jürgen an der Fähre arbeiten und war ohne Furcht um ihn. Ein Riese schlug dort mit der Axt ins Eis, um eine Stahlleine festzubinden, und wenn er wollte, schlug er Fähre und Strom und Wald zusammen. Er hatte den Fischkasten auf seinen Schultern getragen, am ersten Morgen, als sie in diesem Haus gewesen war, er würde auch das Haus auf seine Schultern nehmen, wenn es nötig wäre, das Haus und sie und das Kind, und durch das Wasser gehen mit seinen schweren Schritten und alles wieder vorsichtig hinstellen, wo kein Wasser war, kein Eis und kein Sturm. Ein getreuer Fährmann, getreuer als Kaiser und Könige.

Und sie sah aus dem andern Fenster, nach dem Dorf hinüber, das seltsam klar und sauber auf dem Wasser lag, und sah die Hütte am Anfang, etwas abseits gelegen, dicht hinter dem Kiefernbusch, der nur noch mit ein paar Armen aus der Flut griff. Aber auch die Hütte gelangte als ein Bild nur bis an ihre Augen. Sie sah ihn auf seinem Lager ausgestreckt liegen, die gezackte Narbe über der Stirn, aber nicht mehr als eine flüchtige Falte ging über ihre Stirn. Mochte er ertrinken, mochte er schwimmen, mit Bett und Tisch und Kruzifix. Weit war das alles, Tod und Menschen und die »Goldene Stadt«, denn alles Leben war in ihr versammelt, in ihrem gesegneten Leibe, in dem es sich tastend bewegte. Sie legte sich wieder, faltete die Hände unter ihrer Brust und blickte in das Balken- und Sparrenwerk hinauf. Vielleicht würde das Wasser stehenbleiben. Wochen und Monate, und das Kind würde hier auf dem Boden geboren werden. Gerade wie in der Arche Noah. Sie dachte nach, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob in der Arche ein Kind geboren worden war. Ihre Gedanken gingen schwerfällig zurück bis zu ihrer Schulzeit und zum Konfirmandenunterricht, glitten ab, zum Gesicht des Lehrers, zu ihren Mitschülern, zu den weißen Händen eines Vikars, den sie aus der Ferne mit Schmerzen geliebt hatte. Aber immer wieder kehrten sie zu der Arche zurück, und ob in ihr ein Kind geboren wurde.

Und plötzlich fiel wie ein kalter Stein die Erkenntnis in ihre Brust, daß die Bibel unten geblieben war. Der Pfarrer hatte ihr eine Bibel geschenkt, als er sie wieder in die Kirche aufgenommen hatte, und sie war auf dem Wandbrett hinter ihrem Bett liegengeblieben. Ihre Hände wurden kalt. Sie warf die Kissen zurück, zog den warmen Rock an und stieg in Jürgens alte Fischerstiefel, die ihr bis zum Leib reichten. Sie lief zu den beiden Fenstern, aber Jürgen war nicht zu sehen. Er würde böse werden, aber sie mußte die Bibel holen. Es war, als wollte sie ohne Gott hier oben leben.

Ihr Körper war schon schwerfällig, und es stieg sich mühsam in den hohen Stiefeln hinunter. Es sah nicht gut aus in der Stube. Das Wasser stand schon über dem Herd, und der Tisch schwamm mit einer leise drehenden Bewegung vor dem Fenster. In den Ecken flüsterte und gurgelte das Wasser, als sei da ein verborgener Ausweg, der es mit leisen Strudeln in sich hineinzog. Sie schloß zuerst die Augen, aber dann ging sie tapfer in die Ecke, in der das leere Bettgerüst stand. Das Wasser reichte ihr bis zum Leib und umhüllte ihre Beine wie mit Eisbinden. Als sie die Bibel mit beiden Händen ergriff, mußte sie die schweren Schäfte der Stiefel loslassen, und das Wasser stürzte hinein. Abreiben werde ich mich, dachte sie, dann wird es nichts schaden. Die Stiefel muß ich ins Dunkle stellen, daß er nichts merkt … Es war schwer, die Leiter wieder hinaufzusteigen. Sie konnte sich nur mit einer Hand halten, und bei jeder Sprosse gurgelte das Wasser in den Stiefeln. Die Füße waren schwer wie Blei und ohne Empfindung. Als sie auf die vierte Sprosse stieg, hörte sie, daß Jürgen vor der Schwelle war. Sie faßte mit der Hand nach oben, aber die Tür ging schon auf. Sturm, Licht und Wasser warfen sich hinein in den engen Flur, auf die Leiter, auf sie. Sie wollte nach oben laufen, zwei Sprossen auf einmal, glitt ab, schrie und fiel von der Leiter herunter, mit der freien Hand um das Holz geklammert, in das aufspritzende Wasser.

Es war kein schwerer Sturz. Sie kam auf die Füße zu stehen, aber sie knickte in den schwachen Knien ein, und das Wasser bedeckte sie bis zu den Schultern. Jürgen hob sie auf und trug sie hinauf, wortlos, aber sein Gesicht war grau vor Schreck. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und sie sah von unten in sein Gesicht hinein, das vom Schweiß der Arbeit bedeckt war. »Die Bibel«, sagte sie und streichelte mit der freien Hand seine Wange. Eine große Rührung überkam sie, voll Glück und Mitleid und Kindlichkeit, und sie hätte lange so bleiben mögen, hoch über dem Wasser, an seiner Brust, ohne sich zu rühren, nur getragen von seinen Armen. Er rieb sie ab, bis ihre Haut brannte, und auch aus diesem Hingegebensein stieg eine tiefe Seligkeit und bedeckte sie ganz. Nie hatte sie bei Tageslicht sich ihm so gezeigt, aber sie fühlte keine Scham unter seinen Händen. Und als er fertig war und sie fragte, ob sie es nun warm habe, legte sie seine Hand um ihre linke Brust und lächelte nur mit geschlossenen Augen. Er machte eine Steinkruke mit heißem Wasser für sie zurecht, legte frisches Holz nach, zog die Leinen, an denen die Boote hingen, durch die Fenster und stieg noch einmal hinunter, um Heu für die Ziege zu holen.

Als er wiederkam, saß Marte aufrecht in ihren Kissen, mit blassen, verzerrten Lippen. Ihr Haar an den Schläfen war naß, und sie hatte die gefalteten Hände mit einer sinnlosen Gebärde vor sich hingestreckt. »Das Kind«, flüsterte sie. »Jürgen … das Kind …«

Er ließ das Heu fallen, wo er stand. Die Arme hingen ihm herab, und seine Schultern fielen mit einer schweren Bewegung nach vorn. Sein erster Schritt war nach den Booten, aber sie rief ihn zu sich und klammerte sich mit beiden Händen um seinen Arm. »Nicht fort, Jürgen«, flüsterte sie, »nicht fort … keiner wird mit dir fahren … keiner soll es wissen, nur wir beide, nur wir beide … verzaubern werden sie meinen Schoß für ewig … nicht fort … hörst du?«

Er nickte nur, blind und dumpf. Das Wasser hatte ihm seinen Sohn gestohlen, wie es seinen Acker stehlen würde. Nichts würde sein, um es in den Händen zu halten, weich und vorsichtig. Der Strom brüllte hinter der Wand, und hinter dem Brüllen stand hoch und durchdringend wie ein Kinderchor der vergessene Vers: »Doskocil … kann nicht viel …« Er streichelte gedankenlos Martes nasse Stirn. »Vom Fall ist es«, sagte er. »Weine nicht, zu Weihnachten wirst du ein Christkind haben.«

»Ja«, flüsterte sie, »viele Kinder, viele … mit hellen Augen … ganz blau wie Vergißmeinnicht …« Aber dunkle Falten waren um ihren Mund gegraben, und ihr Herz preßte sich zusammen unter der Erkenntnis, daß sein Gebet stärker gewesen war. Nicht ertrinken durfte er, kein Leid durfte ihm geschehen, denn vorher mußte er aufhören zu beten, mußte den Fluch von ihrem Leibe nehmen.

Um die Mittagszeit wurde es geboren. Es sah keinem Menschenbild ähnlich, und Jürgen schlug es in ein Tuch und legte es in den dunklen Winkel auf den alten Webstuhl. Er verstand nichts von allem diesem. Er tat, was Marte ihn tun hieß, schwankend, betäubt, stumm. Dann wusch er sie, deckte sie zu und saß bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Sie hatte nicht geschrien, aber er sah nun, daß sie ein anderes Gesicht hatte. Ein Gesicht wie nach einem Nachtfrost. Wo war Trost für sie? Gab es Trost in dieser Welt? Man arbeitet, aber das Eis kommt und nimmt die Arbeit mit sich fort. Man tut nichts Böses, weder an Menschen noch an Tieren, aber sie sägen dir die Axt vom Stiel. Ein Kind zeugt man und legt es in den willigen Leib wie ein Samenkorn in die Erde, aber das Wasser kommt und nimmt das Samenkorn, und nur Erde bleibt, in ein Tuch geschlagen, und man hat es nicht einmal begraben. Ein getreuer Knecht, sagt der Pfarrer, aber was ist Treue? Jeden Morgen dasselbe Werk, jeden Abend dieselben Schmerzen. Viel Schweiß und eine kümmerliche Saat. Der Herr aber fährt vom Hof, mit zwei Pferden, mit einem stolzen Wagen, und der Knecht bleibt zurück und wartet auf seiner Streu, bis er wiederkommt, und spannt die Pferde aus und hat seinen kargen Schlaf, bis die Vögel in den Bäumen rufen. Von neuem werden wir beginnen, ja, mit dem Acker und mit dem Kind … Neue Dielen werden wir legen müssen, und wenn die Fähre zerschlagen ist, werden wir eine neue bauen. Der Anfang, das ist das Leben. Nicht das Ende.

Er saß, ohne sich zu rühren, den Kopf in beide Fäuste gestützt. Marte schlief, und er sah das Kissen über ihrer Brust sich heben und senken. Mitunter stieß etwas an das Haus, eine Eisscholle oder ein Baum. Dann rieselte der Mörtel hinter der Wand, und ein gespannter, klagender Ton ging durch das Balkenwerk. Vor der Dämmerung stieg ein hoher, klingender Schrei aus dem Strom und nach ihm ein zweiter. Es klang, als ob eine schwingende Saite gespannt werde und risse. Die Fähre, dachte Jürgen. Aber er stand nicht auf. Er würde sie wieder holen, vom See, oder eine neue bauen. Solange Holz im Walde wuchs, konnte man Fähren bauen.

Erst als es dämmerte, stand er auf. Er merkte nun erst, daß der Sturm vorbei war. Nur das Gurgeln und Rauschen des strömenden Wassers umhüllte das Haus. Er sah aus dem Fenster. Das Wasser würde ihm jetzt bis zum Halse reichen, aber wenn der Wind nicht mehr drückte, würde es nur langsam steigen. Er ging zum Webstuhl und nahm das Tuch. Er mußte es fortbringen, draußen an die Leiter legen oder unter einen Balken. Aber wenn Marte aufwachte, durfte es nicht mehr da sein.

Er stieg die Leiter ein paar Sprossen hinunter und sah sich um. Die Mauer der Stube hatte einen Vorsprung im Flur. Wenn er sich weit zur Seite beugte, konnte er es dorthin legen. Er sah sich um, nach einer Stange, mit der er sich stützen könnte, aber er fand nichts. Er mußte umkehren und ein Ruder holen. Die Flurtür war offengeblieben, und in dem schwimmenden weißlichen Licht sah er das fahle, strömende Wasser, das mit dunklen Wirbeln ins Haus drang. Die Tür zur Stube war aufgesprungen und bewegte sich lautlos auf und zu. Als ob ein Kind am Drücker hinter der Tür hinge und sie spielend bewegte. Der Herd wird neu gesetzt werden müssen, dachte er. Wenn der Pfarrer alte Kacheln hätte, dann brauchte man ihn nicht aus Lehm zu …

Hier schnitt es seine Gedanken ab. In der sich öffnenden Stubentür stand das Graue, nebelhaft Aufgelöste, das ohne Gesicht, das nur verfließende Form war. Ein Körper, der sich mit schattenhaften Schultern über das Wasser hob und mit unsichtbaren Armen rudernd gegen die Strömung tastete. Und als es auf der Schwelle stand, hob es den einen Arm und machte eine unklare, aber irgendwie verlangende Bewegung, eine Art von Winken, aber langsam, aufgelöst gleichsam und vergessen in sich zerfließend. Eine Eisscholle kam zur Tür herein, nicht größer als eine Spanne im Durchmesser, stieß an die Leiter, drehte sich um sich selbst und glitt durch die geöffnete Tür in die Stube hinein. Sie glitt durch das Graue hindurch, schnitt es entzwei, dicht über den Schultern, und nahm es mit, so daß nur das dunkle Wasser zu sehen war, auf dem kleine weiße Blasen schwammen.

Jürgen zog den Arm zurück. Er glaubte verstanden zu haben, daß der Schatten etwas wollte, aber Jürgen wollte nicht. Er wollte seine Ruhe nicht mit etwas erkaufen, was in Martes Leib gewachsen war. Er blieb noch ein wenig auf der Leiter sitzen. Wie immer nach solchen Gesichten waren seine Knie müde, und eine kühle Hand drückte auf sein Herz. Alle Gedanken erstarben. Eine feuchte Kühle durchdrang ihn bis ins Mark, wie Herbstnebel auf dem nächtlichen Strom. Ein Kind hätte ihn hinunterstoßen können von seinem Sitz, und er hätte sich nicht gewehrt. Nur die Scholle schwamm noch immer vor seinen Augen und ihr weißlicher Rand, der den Schatten zerschnitt. –

Sie sprachen nicht mehr viel. Der Wind war nun ganz vergangen, und sie waren in einem Boot mit dünnen Wänden, hinter denen die Strömung rauscht.

Einmal fragte sie, ob das Dorf noch stehe. Ja, es stand noch. Alle Häuser? Ja, alle.

Zu Beginn der Nacht erzitterte das Haus unter den ersten Sprengungen am Seeufer. »Die Soldaten sind das«, sagte Jürgen. Aber sie nickte nur. Ihre Augen waren groß aufgeschlagen und sahen etwas Unsichtbares an. »Jürgen«, sagte sie in der Nacht und griff nach seiner Hand, »glaubst du, daß Gott das Böse verdirbt, von selbst?«

Er mußte lange nachdenken, denn er war sehr müde vom gewesenen Tag. »Ich glaube, daß es wie mit dem Weizen ist«, erwiderte er endlich. »Wir können jäten, und es hilft nichts. Aber wenn der Weizen Kraft hat in seiner Wurzel, dann wächst er so dicht, daß das Böse erstickt.«

»So meinst du, daß man Kraft haben muß in seinen Wurzeln? Daß man sehr gut sein muß, jeden Tag besser, daß dann das Böse von selbst erstickt?«

»Ja, so meine ich.«

Aber nach einer Weile schüttelte sie finster den Kopf. »Gott läßt sich betrügen«, sagte sie hart. »Er erstickt das Kind im Mutterleib.«

Er erschrak, aber er wußte nichts zu sagen. Und dann taten sie, als schliefen sie, aber sie wachten beide, und Jürgen dachte, daß es gut gewesen wäre, wenn statt der kleinen Eisscholle der dunkle Priester über die Schwelle getrieben wäre, auf dem Rücken hegend, mit weiten offnen Augen, wie er einmal einen Ertrunkenen im Strom gefunden hatte.

Nach zwei Tagen konnten sie hinunter. Es war nicht viel geschehen. Die Soldaten brachten die Fähre zurück, und Jürgen spülte den Schlamm aus der Stube hinaus und brachte den Herd in Ordnung. Die Dielen hatten sich etwas geworfen, und der Keller mußte mit Eimern ausgeschöpft werden. Doch war das Wetter warm und sonnig, und es trocknete schnell. Was zurückgeblieben war, war ein kaum merklicher Geruch, der unkörperlich zwischen den Wänden stand, nach Wasser, warmem Wind und verwesendem Schilf. Jedesmal wenn Jürgen in die Stube kam, hielt er den Atem an und hoffte, es sei vorüber. Aber es war nicht vorüber. Er verbrannte Wacholderzweige, und den ganzen Tag blieben Fenster und Tür geöffnet. Aber der Geruch blieb, und Jürgen wußte, daß es der Schatten war, von dem der Geruch kam. Die Verwesung des Schattens, den die Eisscholle über den Schultern zerschnitten hatte.

Während er arbeitete, vom Morgen bis in die Nacht, lag Marte in ihren Kissen in der Sonne. Sie rührte keine Hand. Jürgen hatte ihr den Kopf hochgelegt, und nun starrte sie auf den Strom hinaus, auf dem das graue Eis noch immer trieb, und über ihn hinaus auf das Moor, über dem die Kiebitze klagten. Sie war nicht feindlich gegen Jürgen. Sie streichelte sogar mit zwei Fingern seine Hand, wenn er die Kissen zurechtschob. Aber sie war fort, schon während sie ihn streichelte. Sie lag hier wie auf einer Station, ein fremder Name, ein fremdes Land, und ihre Seele war weit voraus an dem Ziel, zu dem der Zug sie donnernd führen würde.

Sie hatte über einfache Dinge zu grübeln. Wenn sie nicht hinuntergestiegen wäre nach der Bibel, wäre dann alles nicht gewesen? Wäre es geboren worden zu seiner Zeit, gesund und stark? Wenn das war, dann müßte sie Jürgen zu sich nehmen, sobald sie gesund war, um ein zweites Kind zu haben. Aber wenn es nicht so war? Wenn jene Augen über ihr blieben und sie durchdrangen, ihren Leib durchdrangen und sich hineinbohrten bis in den Schlaf der Frucht? Wenn sie an der Haut der Blindheit leise spannen, der Krankheit, der Verkrüppelung? Was half es, wenn sie fliehen würden? Bis ans äußerste Meer? Er würde ruhig in seiner Hütte bleiben können, vor seinem Herd sitzend und die Hände faltend, und von dort würde es ausgehen, über Länder und Meere, das Gebet seiner Lippen, und sie erreichen, ihren Schoß, ihre Frucht. Und nur mit seinem Tode würde es aufhören oder … mit ihrem Gehorsam. »Begrabe es«, sagte sie am ersten Abend zu Jürgen. Er fragte leise, wie es mit dem Pfarrer sei. Nein, sie wolle keinen Pfarrer. Nicht unter den Eichen, nein. Am Waldrand.

So schlug Jürgen den kleinen Sarg zusammen und legte das Bündel hinein. Er schlug das Tuch nicht zurück. Er hielt es lange in den Händen, bevor er es hineinlegte. Wie eine vergeudete Saat war es, und er wußte nun, daß die Tote es geholt hatte. Nichts hatte geholfen, nicht das Tuch, nicht der Ring. Stärker war sie gewesen als er. Vielleicht mußte man es an ihrer Seite begraben, aber dann würde er Marte bestehlen. Auch am Walde war es gut. Die Unterirdischen würden kommen und es ihr bringen. Oder sie würden einen Gang graben, unter Acker und Feld hindurch, bis zu jenem Grabe. Sie würde ihr Recht haben und still sein. Immer war sie still geworden, wenn sie ihr Recht bekommen hatte.

Er ging ins Haus und fragte Marte, ob sie ihre Hand auf den Sarg legen wollte. »Nein«, sagte sie, mit dem Gesicht zur Wand.

Da begrub er es unter den grauen Fichten. Der Spaten klirrte an den Steinen unter der Erde, und wenn er sich aufrichtete, um sich auszuruhen, hörte er die Nachtvögel über dem Strom rufen. Alles hatte das Wasser ihm gestohlen, aber schon rief und zog es ihn wieder zu seinem stillen, dunklen Rauschen, seiner Unergründlichkeit, seinem Duft, der aus der Tiefe kam. Er stellte den Sarg in die tiefe Höhlung, warf die Erde wieder hinein und stellte ein Kreuz zu Häupten des Grabes, das er zusammengeschlagen hatte. Er wollte beten, aber es fiel ihm nichts ein. Er stand eine Weile, die Hände um den Spatenstiel gefaltet, sah, wie die Wolkenschatten unter dem Mond durch den Wald krochen, und ging dann den Grenzgraben entlang zu der Lichtung, auf der sein Acker lag. Er war seit dem Eisgang nicht dagewesen. Er hatte sich gefürchtet. Aber nun, von dem kleinen Grabe her, konnte er hingehen. Er sah, daß das Buchengestrüpp über dem Grenzgraben mit abgetriebenem Heu und Schilf angefüllt war und daß der Schlamm dahinter nun schon getrocknet und von Rissen durchzogen war. Es könnte ja sein, dachte er. Die Strömung war stark, und auf dem Hof liegt nicht mehr als ein Fingerbreit … nur wo es gestanden hat, da ist es mehr, wie in der Stube … aber drei Tage waren es, und es reichte mir bis an den Hals …

Er hatte die Augen zugekniffen, daß er nur gerade seinen Weg sah. Der Mond stand über der Lichtung, und der fahle Schein fiel auf eine grüne Wiese. Jürgens Herz begann plötzlich schwer zu klopfen, und er lief ein paar Schritte vorwärts, um aus dem Wegschatten herauszukommen. Unsinn, dachte er, was für ein Unsinn. Und noch als er auf der Erde kniete und mit beiden Händen über die starke grüne Saat fuhr, wiederholte er immer das gleiche Wort. Aber auch als er die Augen ganz weit öffnete, blieb das Bild unverlöscht liegen: ein grünes, gesundes, leuchtendes Feld, durch das schon quer vor ihm eine Rehfährte zog, die sich tief in den weichen Boden eingedrückt hatte. Das Wasser hatte seinen Acker nicht gestohlen.

Er umschritt das ganze Feld. Er sprach mit sich, laut und immer noch verwirrt. Er sprach zu der jungen Saat, zu dem Wasser, das sich verlaufen, zu dem Wind, der es getrocknet hatte. Er sprach wie zu einem jungen Tier, das sich verirrt und ihm viele Sorgen gemacht hatte und das er nun auf den Armen heimtrug, mit leisen Vorwürfen, noch voller Erinnerung an den Kummer des Suchens, aber übertönt von der tiefen Freude der Rettung.

Und erst als das Grab ihm wieder einfiel, schwieg er beschämt und ging langsam zu seinem Hause zurück, zu der, die das meiste verloren hatte. »Es hat dem Hafer nichts geschadet«, sagte er, als er an ihrer Seite lag.

Sie wendete ihr Gesicht im Dunklen zu ihm, und er hörte an ihrem Atem, daß das Wort durch ihre Zugeschlossenheit in sie eingedrungen war. »Er hat das Böse erstickt«, sagte sie nach einer Weile, »Brot wirst du haben, Jürgen …«

Es nahm ihm viel von seinem Schlaf, daß sie »Du« gesagt hatte, und wieder begannen seine Gedanken zu wandern, um eine dunkle Gefahr, an der er vorüber wollte, aber die sich immer wendete und in seine Augen sah, wie der Kopf einer Kreuzotter sich immer wendet, auch wenn man ihr in den Nacken zu kommen versucht.

 

Auf den Äckern um die beiden Dörfer konnte nicht gesät werden. Bis in den Mai hinein saß der Frost im Boden, und danach versanken die Pferde bis zu den Knien im Acker. Und als sie Ende Mai die Saat auszuwerfen begannen, geschah es unter Gelächter und allerhand Narrenspiel, das von Feld zu Feld und von Gespann und Gespann ging. Aber das Gelächter war bitter, und inmitten eines Narrenspiels griffen zwei Kätner zum Forkenstiel und mußten beide von ihren Angehörigen vom Felde getragen werden. »Im Herbst kommen die Papiere«, sagten sie, wenn sie abends vor ihren Haustüren saßen, »dann hat das ein Ende hier, dies verfluchte Land.«

Wenn Jürgen einen von ihnen mit der Fähre über den Strom setzte, war ein finsteres Schweigen während der ganzen Fahrt, und die Münzen wurden auf den Fährbord gelegt statt in seine Hand. Nur die Jungen waren anders, halfen ihm beim Übersetzen, fragten nach Strom und Fischfang und blieben am Ufer noch eine Weile stehen, an einem Zweige zupfend oder mit dem Stock in der Erde bohrend, als bedrücke sie noch etwas, ein gemeinsames Geheimnis oder eine gemeinsame Pflicht, aber Jürgen fragte nicht, und so gingen sie mit einem unbeholfenen Wort davon. Mit dem ersten Gras auf den spärlichen Weiden kam Heini zu seinem Hirtenamt zurück, der den Winter über bei Verwandten seiner Mutter in der Stadt gewesen war. Schustersleute, bei denen er Mädchen, Laufjunge, Kinderfrau und der Schemel war, auf den sie abstellten, wozu sie sonst keinen Raum hatten: Last, Zorn, Hohn, Schmutz und Abfälle. Er ist noch verkrümmter geworden, und seine langen, schmalen Hände sehen aus, als hätten sie den Winter über in der Erde gelegen. Er betrachtete Marte mißtrauisch, und jedes Wort, das Jürgen an sie richtet, scheucht ihn tief zurück in die Höhle seiner Krüppeleinsamkeit. Jürgen weiß nichts davon, aber Marte faßt einmal, als der Fischer hinausgeht, mit der Faust in sein Haar, schüttelt seinen Kopf, beugt sich dicht über ihn und sagt mit strahlenden Augen: »Beide dürfen wir ihn liebhaben, nicht wahr?« Sein gefaltetes Gesicht wird ganz weiß. Zuerst will er seinen Kopf befreien, dann hält er ganz still und dann, als sie losgelassen hat, geht er leise aus der Tür und kommt drei Tage nicht wieder. Und dann ist er demütig und gehorsam und treu wie ein gerettetes Tier.

Sie pflügen wieder beide, oder sie fischen zusammen, und an den langen Abenden, wenn er die Herde in das Dorf zurückgetrieben hat, sitzen sie am Strom, sehen die Sterne aufziehen, hören den Reiher über dem Schilf schreien, die Rohrdommel am See, den Regenpfeifer über dem Moor, sprechen wenig und haben Feierabend in ihrer Seele. Manchmal sitzt Marte bei ihnen, die Hände um die Knie geschlungen, manchmal hören sie sie im Hause leise singen, ein schwermütiges Lied, das langsam und tief wie ein dunkler Vogel über die Wiesen geht.

Manchmal erzählt Heini von der Stadt und seinem Leben bei den Schustersleuten. »Wie die Bremsen waren sie«, sagt er. »Mann, Frau und die Kinder. Aber die Frau war die schlimmste. Er schlug nur oder brüllte oder warf mit Stiefeln. Aber sie stach und ließ den Stachel drin. Die Kinder waren wie die Teufel, und wenn ich mich gewehrt hatte, verklagten sie mich, und ich mußte abbitten. Das Jüngste war vier Jahre, ein Gesicht wie eine Kellerassel. Vor dem mußte ich hinknien und abbitten. Zuerst wollte ich nicht. Da wartete sie, bis er betrunken nach Hause kam. Da band er mich fest und schlug mit dem Riemen.«

Jürgen stöhnte vor Leiden: »Weshalb liefst du nicht fort?«

»Wohin? Zu Hause hätte sie mich verbrüht … wer nimmt einen Krüppel? Einmal, ja, da wollte ich sie umbringen, alle zusammen, aber zuerst die Frau …«

»Heini!«

»Ja, das wollte ich. Ich hatte eine Ahle aus der Werkstatt genommen. Sie ist scharf und reicht bis ins Herz. Ich ging in ihre Kammer und stand so lange im Dunkeln, bis ich alles erkennen konnte. Sie atmeten wie die Wölfe, und ich wußte, daß sie von mir träumten und was sie am nächsten Tag mit mir anstellen konnten. Es tat mir nicht leid. Gar nicht. Dann ging ich zu dem Bett, wo sie beide schliefen. Er lag an der Wand und roch nach Schnaps, aber sie lag vorn, ganz bequem. Ich bückte mich ganz tief, bis ich alles sah … ja, und dann konnte ich es nicht mehr. Ihr Hemd war zerrissen, sie hatten alle nur Lumpen unter den Kleidern. Und die linke Brust war nicht bedeckt, da, wo es zum Herzen ging. Ja, und sie war ganz verwelkt, weißt du, voller Falten und erbärmlich, und das in der Mitte war wie ein Geschwür. Sie war schon tot, weißt du, eingeschrumpft wie ein Pilz auf der Herdplatte, mit dem Fuß fortzustoßen, aber nicht zu töten. So widerlich war sie, wie ein gelber Wurm, der unter Steinen liegt. Da bin ich umgekehrt, und am nächsten Tag ging es wieder von vorn los. Aber es war nun leichter. Wenn ich sie ansah, sah ich alles und daß sie in meiner Macht gewesen war. Es war so gut, als wenn ich sie umgebracht hätte …«

»Manchmal denkt man solche Dinge«, sagt Jürgen nach einer langen Pause.

»Wenn man denkt, ist es schon zu spät«, erwidert Heini, als ob er täglich eine Familie umbringe. –

Manchmal glaubte Jürgen, daß es mit Marte wie früher sei. Aber auf dem Wasser, wenn er viele Stunden allein war und nur der Strom vorüberglitt und die Netze durch seine Finger liefen, wußte er, daß es nicht so war. Sie war nicht mehr finster. Sie sprach wie sonst. Sie lachte auch wie sonst. Aber dazwischen waren Pausen, in denen sie nichts tat und vor sich hin auf einen Punkt starrte, den er nicht sah. Auch war ihr Gesicht anders geworden. Es war wie ein Haus, in das man eine neue Wand eingezogen hatte. Die Türen waren an der alten Stelle, das Fenster, die Nägel, aber doch war es eine neue Wand. Sie war ihm vertraut gewesen wie ein junges Tier, das man im Hause hat. Aber nun war das Tier älter geworden und ging manchmal aus dem Hause in den Wald, ganz allein. Und wenn es zurückkam, war es ein andres Tier. Die Wälder rochen noch aus seiner Spur und seinen Augen. Es ließ sich streicheln, aber vielleicht fühlte es die Hand gar nicht, sondern den Wind der Lichtungen und der Berge. Es hatte eine wilde Haut um sich, so war es. Und so war es auch mit Marte. Sie ging nicht in den Wald, aber sie hatte eine andre Haut, und Jürgens Hand war dieselbe geblieben.

Marte hatte sich ihm viele Wochen entzogen. Er hatte geglaubt, daß es noch zu früh sei, und niemals gefragt, auch nicht mit den Augen. Sie war ein Wunder für ihn, und man mußte warten, bis das Wunder kam. Man hatte kein Recht, das Wunder aufzusuchen. Aber als es eines Nachts kam, war es anders als früher. Selbst das schwere Blut Jürgens begriff, daß es anders war. Und dann wußte er, daß sie kein Kind mehr von ihm haben wollte. Es legte sich schwer über ihn, und obwohl die Lust ihm Freude machte, war Bitterkeit in ihrem Geschmack und eine traurige, mutlose Leere. Er kannte es nicht anders, als daß Pflanze und Tier um der Frucht willen liebten, und er empfand in einer dumpfen Beschämung Martes Unfruchtbarkeit als seine eigene. Doch war er scheu und sah, daß Martes Augen fortgingen, als er einmal leise danach fragte. Da bedachte er, daß man ihr Zeit lassen müsse und daß es schrecklich für sie sein würde, noch einmal ein totes Kind zu haben.

Als der Roggen auf kümmerlichen Halmen kurze Ähren zu schießen begann, die die Leute Bremsenköpfe zu nennen pflegten, kam das Gerücht zu ihm, daß man den Priester nachts auf dem Heimweg von einem anderen Dorfe überfallen und halb totgeschlagen habe. Nur der Förster, der unterwegs gewesen war, weil seit dem Frühjahr viel gewildert wurde, hatte verhindert, daß man ein Ende mit ihm gemacht hatte. Keiner der Täter wurde entdeckt. Ihre Gesichter waren mit Ruß bedeckt gewesen, und niemand hatte während des ganzen Vorganges auch nur eine Silbe gesprochen.

Wieder waren es die Jungen, die mit Jürgen darüber sprachen, und ihre Gesichter waren so, als ob sie einen Schatz gefunden hätten. »Er sagt«, erzählten sie, »da sei einer mit so breiten Schultern dabeigewesen, wie sie nur einer in der Gegend habe, verstehst du? Lange hat ihm das Maul gewässert, und er möchte gern, daß der Wolf gefangen wird, der das weiße Lamm bewacht. Er weiß ganz gut, daß der Wolf nicht dabei war, aber es ist so eine gute Gelegenheit, siehst du.«

»Es ist wegen seines Glaubens?« fragte Jürgen langsam.

»Nein, es ist deswegen, daß in diesem Sommer sechs Mädchen aus dem Dorf ein Kind bekommen werden … sie sagen, daß sie es vom Heiligen Geist empfangen haben.«

»Er hat bei mir im Ottereisen gesessen«, sagte Jürgen.

»Ja, auch davon erzählt er so nebenbei.«

»Alles machen sie nur halb«, sagte Marte finster, als er es ihr erzählte.

Er war schon wieder auf dem Wasser, als ihm plötzlich ein zweiter Sinn in diesen Worten aufging. Daß er ihr nachstellte, hatte er gewußt. Aber es war gleichsam in heiligen Bezirken gewesen, und man wußte nie, wo die Seele aufhörte und der Leib begann. Ein scheues Tier aber soll man nicht jagen, sondern zur Ruhe kommen lassen. Nun aber … konnte es nicht sein, daß sie die siebente war? »Erschlage ihn«, hatte sie in der Nacht gebeten. Aber hätte sie nicht froh sein müssen, daß das Kind geboren wurde, ehe von der Stirn etwas zu lesen war?

Er ließ die Ruder sinken und trieb den Strom hinunter. Ein dunkler Wirbel begleitete das Ruderblatt, tief hineinmahlend in das schwarze Wasser. Der Kahn drehte sich steuerlos, streifte das Schilf am rechten Ufer und glitt wieder mit der Strömung nach der Mitte. Aber der Wirbel blieb, ein treuer Begleiter, und Jürgens Augen konnten sich nicht lösen von ihm. Er sah erst auf, als Weidenwurzeln den Kahn fingen, sah sich um wie ein verlorener Mensch und ruderte dann den langen Weg zurück. Er glaubte nicht, aber er mußte sie fragen. Einen Boden unter den Füßen mußte man haben, sonst konnte man nicht leben. Sie war nicht schuld, aber wenn es so war, dann konnte man eben die andere Hälfte tun, von der sie gesprochen hatte. Langsam würde Jürgen tun, was zu tun war, aber nicht halb wie die andern.

Als er das Haus sah, kam von der Moorseite der Gendarm auf die Fähre zu. Ein bißchen spät kommst du, dachte Jürgen, aber immer noch zu früh. Er wartete gar nicht auf das Zeichen, sondern fuhr ihm entgegen, um ihn überzusetzen.

Er war sehr stramm und sehr gebürstet, der Gendarm, und Jürgen verstand niemals, wie ein Mensch so gerade gehen konnte. Auch auf dem Rad sah er so aus, als seien die Beine, die sich mit den Pedalen krümmten, nur geborgt und der Mensch lebe nur im Oberkörper. Dieser Oberkörper schwebte unberührt und unantastbar über dem blitzenden, rollenden, tretenden Untergestell wie ein Herrscher über einem Untertan.

»Morjen«, sagte der Gendarm, obwohl es Abend war, und legte einen Finger an den Helm, »habe mit Ihnen zu reden, Doskocil.«

Jürgen nickte und setzte ihn über. Sie blieben gleich an der Fähre stehen, und der Gendarm zog sein Notizbuch und machte den Bleistift an den Lippen naß. Nein, Jürgen wußte nichts, als was man ihm erzählt hatte. Er sei verfeindet mit dem Prediger? Davon sei ihm nichts bekannt, wenn er ihm auch keine Geburtstagsgeschenke gemacht habe.

»Zur Sache, bitte«, sagte der Gendarm streng.

Man erzähle sich, daß seine Frau plötzlich aus der Mormonensekte … ja, und die Sache mit dem Ottereisen? Mitten im Satz eine scharfe Wendung des Kopfes und ein durchbohrender Blick, als ob das Ottereisen zuschlage und den Fährmann Jürgen Doskocil zwischen seine erbarmungslosen Stacheln nehme.

Ja, da habe er drin gesessen, meinte Jürgen. Der Wolf wäre ihm lieber gewesen. Womit er zum Ausdruck bringen wolle, daß er das Eisen gegen Wölfe gestellt habe? Ja, das wolle er. So … und die fragliche Nacht? Alibi? Jürgen wußte nicht, was ein Alibi war, aber er deutete nur mit der Hand nach dem Haus. »Gehen Sie und fragen Sie«, sagte er. »Es war ja wohl gut, daß ich nicht auf dem Wasser war.«

Nein, Jürgen war nicht auf dem Wasser gewesen. Marte behauptete, ein sehr gutes Gedächtnis zu haben, wahrscheinlich weil sie stets nur ein Kopftuch statt eines Helmes getragen habe. Sie erhielt eine Verwarnung, öffnete aber das Fenster und rief Jürgen zu, daß der Herr Wachtmeister gern einen Bärenfang trinken möchte. Nachdem dies geschehen war, eröffnete der Wachtmeister, seine Haltung etwas lockernd, daß »keinerlei Verdachtsmomente« vorlägen, und war bereit, ein kleines Gericht Schleie mitzunehmen, die er korrekt, wenn auch billig, bezahlte. Darauf stieg er wieder von hinten aus auf sein Rad, teilte sich in eine unbewegliche und eine bewegliche Hälfte und verschwand auf dem Weg zum Dorfe.

In dieser Nacht noch fragte Jürgen. Er lag still und preßte die Finger zusammen, daß die Gelenke ihn schmerzten. »Das Kind«, sagte er, »siehst du, sie sprechen so viel von den Mädchen im Dorf …, daß der Heilige Geist …« Er stöhnte und hielt den Atem an, weil er nicht wollte, daß sie sein Leiden hörte.

»Nun?« sagte sie hart. Sie wollte ihm nicht helfen. Sie wollte auch nicht, daß er ihr half. Sie wollte, daß dies alles in ihren eignen Händen bleibe. So schwer ging er in seinem Tagewerk und auf seinem Lebensweg, daß man ihm nicht eine neue Last auf die Schulter legen durfte.

»Ich will nicht wissen«, fuhr er noch leiser fort, »ob der Vater ich war oder der … der Heilige Geist … nur, ob es so bleiben wird, so ohne Kind … nur mit der Lust …«

Sie lag unbeweglich wie er, die Arme unter dem Kopf verschränkt, die Augen in das Dunkel aufgeschlagen. Es verging eine lange Zeit, bis sie antwortete. »Zu leicht machst du es deiner Frau, Jürgen«, sagte sie dann, »und im Dunklen soll man nicht lügen. Du willst es wissen, natürlich willst du es wissen. Zu demütig bist du, Jürgen.«

»Vielleicht«, erwiderte er, »vielleicht will ich es nicht wissen, weil ich nicht töten will. Wenn dir Gewalt geschehen ist, muß ich töten … einen Menschen mit den Händen erwürgen, das ist nicht leicht, Marte … einen Wolf, siehst du, ja, aber ein Wolf kann nicht sprechen.«

Sie schloß die Augen, weil es nun entschieden war. »Du wirst ein Kind haben, Jürgen«, sagte sie und legte die Hand auf seine Brust. »Und du allein bist der Vater gewesen, hörst du? Ich lüge nicht. Nur Zeit lassen mußt du mir etwas, ja? Es ist noch … zu früh ist es noch … laß uns den Sommer noch so leben, mit der Lust, wie du es nennst, ja?«

Sie wachte noch lange, als sie an seinem Atem hörte, daß er schon schlief. Das weiße Licht vor dem Fenster wurde rötlich, und die Kraniche riefen vom Moor. Bevor sie fortziehen, dachte sie, muß ich ihn fragen, ob er aufhören will zu beten … und wenn er nicht aufhören will, muß ich es tun … das eine oder das andere … und bis dahin muß ich wissen, welches leichter sein wird …

Als Jürgen zum Strom ging, tat sie, als ob sie schliefe. Aber als sie die Kahnkette klirren hörte, legte sie die Arme vor sich auf die Decke, spreizte die Finger und blickte lange auf ihre festen, braunen Hände, die sich abwechselnd öffneten und schlossen.

Dann stand sie langsam auf und ging mit hartem Gesicht an ihre Arbeit.


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