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II

Auf den Wiesen zwischen den beiden Dörfern war das erste Heu geschnitten, und die Luft war süß von dem Duft der welkenden Halme. Die Wiesenschnarre rief die ganze Nacht, und eine Stunde nachdem die Sternbilder lautlos durch den Meridian gezogen waren, begann der Kuckuck in der Eiche über Jürgens Hütte zu rufen. Dann erwachte Jürgen aus seinem behutsamen Schlaf, wie ein Tier unter dem ersten Hauch der Frühe erwacht, und sah zum Herde, ob er allein sei. Es war selten, daß aus der Tiefe des Schlafes das blasse Bild sich erhob, und es schien die Erfüllung der Seele mit den Gedanken des Tages nötig zu sein, um in der abendlichen Dämmerung den schmalen Schatten zu erzeugen, der ohne Mahnung, Abwehr oder Drohung da war, der nur sein Dasein behauptete und verging, sobald er »erinnert« hatte.

Dann stand Jürgen auf in dem matten Licht der weißen Nächte, machte Feuer im Herd und trank den heißen Kaffee auf der Schwelle seiner Hütte. Nebel lag noch über dem Wasser, ein Hund bellte im schwarzen Dorf und erhielt wütend Antwort von der andern Seite, als sei der Haß der Menschen auch der der Tiere. Aber der Hauch der Erde stand noch unberührt über der Welt, im Nordosten war ein Tor schon weiß über dem Walde aufgeschlagen, und Jürgen wußte, daß die Sonne kommen würde. Die Toten gehen umher, dachte er, und die Menschen sind mir nicht gut, aber die Sonne kommt. Gras wächst, und die Fische gehen in das Netz … gut ist die Sonne, und jedem Ding gibt sie ihren Schatten.

Es dauerte lange, bis dieser Gedanke ablief in seinem Kopf, aber Trost lag in diesem Gedanken und die stille Ruhe, mit der er das schwere Tagewerk begann. Noch rauchte er eine kurze Pfeife mit getrocknetem Steinklee, und die kleine Glut in seinen Händen war ihm ein wärmender Herd, ihm allein zugehörig, von keinem Schatten bedroht, von keiner Dämmerung gefährlich entstellt. Dann fuhr er mit dem kleinen Zugnetz in die verschilften Buchten oder nahm die Sense und ging zu seinem Wiesenstück im Innern des Forsts.

Aber abends, mit dem schwimmenden Licht, stand die leise Sorge der Dämmerung wieder vor jedem Schritt.

Er hatte das Heu mit Heini zu Käpsen geschichtet, und die Sonne war schon hinabgestiegen hinter den schwarzen Wald. Sie saßen mit dem Rücken gegen das warme Gras und sahen hinüber, wie die Rehe rot und scheu heraustraten aus dem dunkelnden Gebüsch.

»Es gibt kein Netz für die Toten«, sagte Jürgen und schlug mit Stein und Zunder Feuer in seiner hohlen Hand, »wie für den Fisch oder das Tier … man kann sie nicht fangen, daß sie nicht mehr da sind, und so sind sie immer da …«

Heini wandte das alte Kindergesicht ein wenig zur Seite, wo die Wand des Waldes in einem dunklen Keil aus der Rundung sprang, aber dann sah er wieder geradeaus. Er hatte das Fürchten verlernt in dem Schatten des Mannes, der mit den Toten sprach. Seine langen Finger knüpften Knoten in einen grünen Halm. »Ich habe gelesen, daß sie umgingen, auch früher«, erwiderte er. »Man mußte sie umbetten und Steine auf sie häufen, in einem weiten Feld …«

Aber Jürgen schüttelte den Kopf. »Das Gewissen ging um, das Böse … damals … aber mit ihr ist es anders … ich bin ihr schuldig geblieben, und nun verlangt sie.«

»Und die Springwurzel?« fragte Heini leise.

»Nein, dafür nicht.«

»Ich sah ihn gestern«, fuhr Heini fort. »Auf seiner Eiche. Aber er hatte nichts im Schnabel. Ich bin hinaufgeklettert, aber es war nur Mulm im Loch und leere Nußschalen vom Eichhorn. Und er lachte mich aus, hinten überm Wald. Er lacht wie die Kinder, wenn sie einen Stein gegen meinen Rücken geworfen haben.«

Jürgen nickte. »Er hat einen roten Schopf, und manche sagen, daß er der Teufel des Waldes ist … aber keiner weiß, ob die Seele ist wie das Kleid.«

»Soviel möchte man wissen, Doskocil … soviel …« Und dann schwiegen sie, und nur das kleine Feuer glühte in Jürgens Pfeife leise rauschend auf, wenn er den Atem einzog.

Eine Woche später, am Tage vor der Sonnwendnacht, fuhr Jürgen mit Fischen zur Stadt. Die Sterne standen noch am Himmel, und drei Stunden lang glitt der schwere Kahn zwischen Wäldern, Wiesen und Moor dahin. Jürgen verkaufte seine Fische und behielt nur drei Netzbündel mit Schleien übrig. Als er sie aus dem Wasser im hinteren Teil des Kahnes hob, sah er eine Weile auf die sich ohnmächtig öffnenden und schließenden Kiemen und ging dann in den Laden am Fluß, wo man ihn kannte. Er legte die Fische unter den Ladentisch und trat still in den Hintergrund zurück, als sei die Reihe noch nicht an ihm.

»Schöne Fische, Herr Doskocil?« fragte der Inhaber liebenswürdig.

»Von heute früh«, erwiderte Jürgen und trat noch etwas tiefer in den Schatten zurück. »Aber es hat noch Zeit …«

Erst als der letzte Käufer an der Kasse stand, kam er aus seiner Ecke hervor, reichte die Fische über den Ladentisch und fragte so leise, daß der Kaufmann sich vorbeugen mußte, ob er dafür ein buntes Tuch und einen Ring haben könnte, einen schmalen, vielleicht mit einem roten Stein, wie man ihn so auf den Dörfern trage.

Der Kaufmann, seine Verwunderung gewandt verbergend, rechnete mit halb geschlossenen Augen schnell nach und sagte dann, daß es natürlich gehe. Nur einen goldenen Ehering, den könne man natürlich nicht dafür haben. Aber ein »Ringlein«, ja, das würde gehen.

Ein solches Ringlein würde genügen, meinte Jürgen. Er suchte lange und sorgfältig mit seinen vom Wasser ein wenig gekrümmten Fingern, legte ein rotes, weißgemustertes Tuch zur Seite und behielt nach einer Weile einen der schmalen Ringe in seiner hohlen Hand, der aus einem roten gläsernen Stein ein schwaches und unechtes Leuchten aussandte. Er knüpfte ihn, der wie ein Kinderring in seiner Hand aussah, in ein gemustertes Taschentuch, fragte, ob er noch etwas schuldig sei, bedankte sich und ging mit niedergeschlagenen Augen zur Tür, die Mütze in der Hand.

»Viel Glück!« sagte der Inhaber und lächelte wohlwollend.

Jürgen kehrte sich noch einmal um, sah ihn aus seinen schwermütigen Augen an und erwiderte leise: »Es ist nicht für das Leben.«

Als er das Boot fertig machte, sah ein Kind ihm bewegungslos zu, die Hände um einen verrosteten Faßreifen gelegt, mit dem es gespielt hatte. Sein blondes Haar war zu einem kleinen Zopf gebunden, und seine Augen folgten jeder Bewegung im Boote, wie die eines kleinen Hundes, der auf den Augenblick der Abfahrt wartet.

Jürgen sah sich vorsichtig um und legte die Kette noch einmal zurecht, obwohl an ihrer Lage nichts zu verbessern war.

»Möchtest du mitkommen?« fragte er schließlich und errötete vor dem kleinen Menschenwesen, das vor seiner Frage nicht zurückwich.

»Ich mache dir ein Kissen aus Heu hier hinten und kaufe dir eine Semmel …«

Schweigen.

»Ich habe ein Haus am See, und der Kuckuck ruft den ganzen Tag, und blaue Libellen sitzen im Schilf …«

Nicht einmal die Augensterne bewegten sich. Sie waren nur weit geöffnet, wie ein Brunnen, in den Wort, Bewegung, Gebärde hineinfielen.

»Kaffee trinken wir und Ziegenmilch, und ein Eichhorn will ich für dich fangen und eine blaue Mandelkrähe …«

Als nichts erfolgte, kein Laut, keine Bewegung der kleinen braunen Hände, gab Jürgen es auf. Er hielt noch eine Weile den Kahn mit dem Ruder in der Strömung und ließ ihn dann abwärts gleiten, das Gesicht noch immer zurückgewendet. Und mit dem Augenblick, als der Fluß ihn zu tragen begann, hörte die Verzauberung des Ufers auf. »Wassermann!« rief das Kind mit hoher, heller Stimme, setzte den Reifen an und lief neben der Böschung her. Das Klirren des Eisens auf dem holprigen Pflaster weckte ein lautes, drohendes Echo, das sich über das Wasser warf, und die helle Stimme stieß wie ein Vogelschrei auf die graue Gestalt im Boot, die sich wie eine Eule zusammenkauerte, um dem schmerzenden Schrei zu entgehen. »Wassermann! … Wassermann!«

Und während der ganzen Heimfahrt hingen Jürgens Augen an dem Bündel auf der Ruderbank, in das Tuch und Ring eingeschlagen waren.

Es gab keine Sonnwendfeier in den beiden Dörfern zur Johannisnacht, und so sah in dem Licht der Sterne und dem nördlichen Schimmer der weißen Nacht die graue Gestalt wie die eines gebeugten Tieres aus, das sich lautlos an dem Grabhügel zu schaffen machte, über den die Schatten des Waldes noch fielen. Kein Spaten stieß an einen Stein, nur die Hände hoben leise die Erde auf, bis eine tiefe Höhlung sich in den Hügel grub. Es roch nach dem Verborgenen durchfeuchteter Erde, und ein welker Geruch von verwesenden Kränzen stand um den Hügel. Dann war das leise Rauschen zu hören, mit dem ein geknotetes Tuch sich löste, ein matter Schimmer wie von blindem Metall leuchtete einmal auf, und dann füllten die Hände wieder die Erde in die Höhlung, behutsam, als würfen sie sie auf ein erstarrtes Gesicht statt auf die Falten eines roten Tuches, in denen ein winziger Ring sich verbarg.

Jürgen blieb auf den Knien liegen, die Hände auf die Erde gestützt, die Augen noch immer auf die Stelle geheftet, die dunkel und gewölbt aus dem glatten Sande hervortrat. »Wenn ich schuldig war«, sagte er leise, »will ich bezahlen … nie habe ich ein Tuch gebracht vom Markt: hier ist ein Tuch … nie habe ich einen Ring gebracht aus der Stadt: hier ist der Ring … ein Kind wollte ich haben in meinem Hause, aber es fürchtete sich vor mir und verlachte mich … ich kann nicht dafür … nimm das andere und geh nun in deinen Schlaf … komm nicht mehr wieder … trage das Tuch und stecke den Ring auf deine Hand … ich habe nicht Angst vor dir, aber ich will nicht, daß ich durchsehe durch einen Menschenleib … schwer genug ist es, durch das Wasser zu sehen auf den Grund, wo die Steine liegen, und mit Fischen zu sprechen, die die Kiemen aufmachen … laß es nun gut sein und schlafe in Frieden … Jesus Christus helfe dir mit seinem Blut und alles, was Macht hat im Himmel und auf der Erde und unter der Erde … Amen!«

Er lauschte, ob eine Antwort käme aus dem Grunde des Grabes, aber nur ein leiser Wind rührte die Bäume des Waldes an, und ein Wasservogel rief ferne über dem Strom. Aber als er den Kopf hob und lautlos aufstand aus seiner knienden Gebärde, schoß über der Mauer des Waldes ein Stern aus der bleichen Höhe herab, zog zerspaltend einen glänzenden Riß durch das auseinanderweichende Gewölbe und stürzte erlöschend hinter die Wipfelwand.

Jürgen dachte sich nichts dabei. Niemals waren seine Gedanken so schnell gelaufen, daß sie zwischen Anfang und Ende der leuchtenden Bahn einen Wunsch hätten formen können. Aber die Wärme eines Trostes und einer Verheißung stieg langsam in ihm auf, lange nachdem das Bild versunken und die weiße Nacht sich über der fliehenden Spur wieder geschlossen hatte.

Er verließ den Friedhof, vermied das Dorf und ging am Walde entlang zu seiner Hütte zurück. Wenn er die Finger seiner Hände öffnete und wieder schloß, fühlte er noch das lockere Dasein der Sandkörner an seinen Handflächen.

Zur gleichen Stunde, als über dem Friedhof der Stern niederschoß, stießen eine halbe Meile waldeinwärts zwei Menschenwege zusammen, die aus einer spurlosen Fremdheit einander berührten, sich für eine Wegstunde verbanden und wieder auseinanderglitten, nicht ohne daß der flüchtig geschürzte Knoten ihres Schicksals sich auf eine natürliche Weise um Jürgens Fährhütte legte.

Den einen der Wege ging Matthias Südekum, Schneider aus dem schwarzen Dorf. Er ging ihn auf eine seltsame Weise, im Zickzack, von den Bäumen der linken Seite zu denen der rechten, als stießen sie ihn einander wie einen Spielball zu. Er ging ihn auch in der dumpfen Erkenntnis, daß es nicht der richtige Weg sei, daß seine Füße einem unbekannten Gesetz gehorchten und daß sein Kopf nicht imstande sei, die vorgeschriebene Herrschaft über die untergeordneten und sich nun empörenden Fußorgane auszuüben. Und deshalb hob sich aus der engen Waldstraße unaufhörlich seine beschwörende, drohende, mahnende oder flehende Stimme zu dem weißen Himmelsstreifen empor, der auf eine gespenstische Weise unveränderlich über ihm hing, und deshalb hob er die eiserne Elle, die er mit sich trug, wie ein Schwert über eine zaghaft folgende Heerschar und bald wie ein Kreuz gegen das dunkel Andrängende eines Heiden- oder Gespenstervolkes.

Matthias Südekum, Schneider aus dem Dorf am Moor, Landfremder und bitterer Verächter von Volk und Landschaft, in denen er nun Heimatrecht besaß, war weit von dem entfernt, was man rund um das Moor unter einem Schneider sich dachte: ein körperlich verkümmertes, zu schwerer Arbeit untaugliches und demgemäß bescheidenes und verspottetes Wesen. Sondern in seinem langen, hageren Körper saß eine gefürchtete Kraft, geduckt in einem finsteren, höhnischen Schweigen, die im gewöhnlichen Lebenslauf mit verächtlichen Bewegungen die groben Stoffe zur Anprobe um eckige Bauernglieder warf, bis sie jedes Vierteljahr einmal unvermutet ausbrach und nach homerischen Reden sich jauchzend in eine schonungslose Rauferei warf, die im grünen Dorf so gut wie im schwarzen die Wirtshausstuben räumte, mit der nachträglich und lächelnd geformten Begründung, daß »man die Buckel derer bis auf die Haut kennen müsse, denen man sonst nur Kleider anpasse«.

Matthias Südekum, mit einer Frau gesegnet, die ihn ab und zu mit kochendem Wasser verbrühte, und mit sechs Kindern, von denen er mitunter die Namen vergaß, war unbefriedigt von der Sonnwendfeier, die er sich zugedacht hatte. Er hatte im Krug des Walddorfes gesessen, die Elle vor sich auf dem Tisch, und eine seiner aufmunternden Reden an das Waldvolk gehalten. »Ihr Blindschleichen«, hatte er in seinem blühenden Stil gesprochen, »Zeit ist es für Matthias Südekum, euch wieder etwas auf den Schwanz zu treten, daß ihr in den Sumpf zurückkehrt, in dem eure Mütter euch ausgespien haben. Unbescheiden geworden seid ihr, meine sumpfigen Freunde, und habt vergessen, die Mützen bis ans Knie zu ziehen, wenn ihr mich trefft. Unbescheiden sind eure Kröten von Kindern geworden, die hinter den Zäunen mit Steinen nach mir werfen, wenn ich dem Dorf die Ehre gebe. Unbescheiden sind eure Weiber geworden, die ihre Röcke ausziehen, wenn sie zur Anprobe zu mir kommen, und die alle stinken, weil sie sich nur zu Weihnachten waschen …«

Hier war das erste Bierglas geflogen und treffsicher erwidert worden, aber Czwalinna, der Krugwirt, war mit seinem Wolfshund erschienen, den der Gendarm ihm aufgeschwatzt hatte, damit die Anzeigen wegen Körperverletzung abnähmen, und es war nichts geworden. Südekum haßte Hunde, deren Augen grünlich schimmern konnten, und so hatte er nichts zu tun vermocht, als den ganzen Haufen seiner Feinde in die Lauge seines Hohnes zu tauchen und über den Tisch hinweg den Kautabaksaft in die verhaßten Gesichter zu landen. Denn er war ein Meister des Fernfeuers auf diesem Gebiet, und kein knurrender Wolfshund war imstande, die Geschoßbahn aufzuhalten oder sie abzulenken von ihrem bestimmten Weg.

Aber es war zu keiner körperlichen Berührung gekommen. Der Feind, reich an bitteren Erfahrungen, hatte das Feld geräumt, unter verbissenen Drohungen, und das einzige, was Südekum gelungen war, bestand in ein paar Ohrfeigen, die er, den Tisch an die Tür rückend, zum Abschied flüchtig hatte austeilen können. Aber das Heldentum ohne Widerstand hatte ihn nicht befriedigt, und als er den Krug als letzter verlassen hatte, in der Hoffnung, daß im nächtlichen Dunkel die ihm zustehende Schlacht noch entbrennen würde, war er über einen mit Wasser gefüllten Eimer gestürzt, den man vorsorglich auf die Treppe gestellt hatte. Es hatte nichts genützt, daß er wie Polyphem in das unsichtbare Gelächter seiner Feinde gebrüllt hatte. Er hatte seine Elle mühsam wiedergefunden, hatte den Weg verfehlt und zog nun grollend seine schiefe Bahn, dunkel ahnend, daß Schlacht und Bett für diese Nacht verloren seien.

Als die Sternschnuppe niederschoß, die den Mann am Grabe mit einer Verheißung des Trostes erfüllt hatte, trat der Schneider Südekum auf eine Schonung heraus, die er nicht kannte und von der er nur wußte, daß sie weit von seinem Hause entfernt sein mußte. Er starrte nach dem leuchtenden Streifen hinauf, lange nachdem er erloschen war, und versuchte die Erscheinung in den nebelhaften Fluß der Geschehnisse einzuordnen, auf dem er trieb. »Zauber!« sagte er laut und tadelnd. »Ver...zaubert haben sie mich … die Un... Unterirdischen gehen um diese Nacht … Priem am Himmel … kurios …«

Und er fiel nach schweren Zielversuchen auf einen frischen, von Harz überfließenden Baumstumpf, stützte den Kopf in die Hände und sah grübelnd in den Himmel hinauf, ob die Erscheinung sich wiederholen würde, die allen Naturgesetzen widersprach.

Den zweiten Weg unter dem hohen, von wandernden Lichtern erhellten Himmel dieser Nacht war der Kätner Michael Grotjohann mit seiner Tochter Marte gegangen. Auch er hatte den rechten Weg in dem ihm fremden Waldland verfehlt und war abseits des weiter östlich gelegenen Dorfes immer tiefer in den dünnen Nebel und die sich verdunkelnden Gründe der tiefen Wälder geraten, taub gegen die leisen Mahnungen seiner Tochter und gewiß, daß Gott mit einer Feuersäule ihm voranleuchten würde zu dem kleinen Hof eines Anverwandten, bei dem er in der sicheren Gemeinschaft des neuen Glaubens ausruhen wollte von den Schmerzen eines vielfachen Schiffbruches der letzten Jahre.

Denn der Kätner Grotjohann war zu Anfang des Frühlings »erweckt« worden, nicht von dem Pfarrer seiner Gemeinde, den er einen »Sendling der Finsternis« nannte, sondern von Mister MacLean, Wanderprediger der »Kirche der tausend Tage«, beheimatet in Great Salt Lake City, USA, Ausgesandter des Mormonenstaates, der in den verlassenen Gemeinden zwischen Wald und Moor eine eifrige und erfolgreiche Werbetätigkeit entfaltete. Diese Erweckung war der seiner Tochter vorausgegangen, die als ein schönes und unbekümmertes Menschenkind durch zahlreiche Abenteuer ländlicher Liebe gegangen war, ehe die finstere und asketische Erscheinung des Reverend Armstrong sie zu einer büßenden Magdalena gemacht hatte. Wobei ihrem etwas trägen und animalisch zuwartenden Sinn nicht bewußt geworden war, ob die geheimnisvollen Symbole der fernen »Goldenen Stadt«, die sie in Jahresfrist erblicken sollte, sie in die Süßigkeit einer hingebenden Zerknirschung gestürzt hatten oder die unheimlichen, immer verschleierten und nie sich offenbarenden Augen des Verkünders jener Symbole.

Es war dazugekommen, daß der neue Glaube, von dem das Gerücht einer ruchlosen Vielweiberei nicht zu trennen war, seinen Bekennern Hohn, Haß und Verfolgung durch die »untergeordneten Organe« des Staates und der Kirche eintrug und daß der Ruf einer freundlich-willigen Liebesempfänglichkeit noch weit über ihre Erweckung hinaus an ihre Person geknüpft blieb, so daß, wenn sie in ihrer Kammer mit dem Reverend Armstrong im Gebete kniete, mehrmals zur Nacht ein ungeduldiges Klopfen an ihrem Fenster ertönte und die finsteren Augen des Bekehrers sich mit einer drohenden Frage in die ihren senkten.

So hatte Michael Grotjohann, nachdem er wochenlang über den leuchtenden Ansichtskarten von Salt Lake City gegrübelt und wirre, tiefsinnige und ekstatische Reden gehalten hatte, kurzerhand sein Anwesen verkauft, um bei einem Vetter in der Waldgegend sich »im Gebet zu üben«, bis er der Reise in die »Goldene Stadt« würdig geworden sei, wo nach seinem naiven Glauben Gott, Gold und liebesbereite Frauen sehnsüchtig seiner warten würden. So saßen, kurz bevor der geschlagene Sieger Matthias Südekum auf seiner Suche nach Weg und Schlaf die Schonung betrat, der erweckte Kätner und seine Tochter im Schatten einer Linde auf einem Grabenrand, nur durch die Breite des Weges von dem Baumstumpf getrennt, auf den der Schneider ratlos und voller düsterer Erkenntnis vor ihren Augen sank.

Es war seinem umnebelten Blick nicht anzurechnen, daß er, ihn suchend in das Dunkel des Waldes richtend, den entblößten, von keinem Haar bedeckten Schädel des Mormonenjüngers für einen Pilz oder ein Stück verwesenden und leuchtenden Holzes hielt, so wenig es dem Kätner zuzurechnen war, daß er den murmelnden, mit einem Eisen Bewaffneten für einen Sendling der Hölle hielt, den die Sonnwendnacht ausgesandt habe, um an einem verrufenen Waldort mit lüsternen Hexen teuflische Unzucht zu treiben. Nur Marte, zu Tode ermüdet, gedachte weder der unheiligen Nacht noch des Teufels, sondern kühlte ihre bloßen Füße in der geringen Feuchtigkeit der Grabensohle, erkannte, daß hier ein Betrunkener nach seinem häuslichen Herde suchte, und konnte sich eines stillen Lächelns über die beschwörenden Bewegungen der nächtlichen Gestalt nicht erwehren. Auch sie sah den leuchtenden Weg des stürzenden Sternes, gedachte in einer dumpfen Unruhe der vorjährigen Sonnwendnacht und ihrer unheiligen Erlebnisse und hörte in einer seltsamen Erregtheit ihres müden Blutes den traurigen Unkenruf aus der Tiefe der Wälder, der unaufhörlich gleich einer unterirdischen Glocke läutend rief. Auf fernen Wiesen begann eine Wiesenschnarre ihren eintönigen Ruf, Nebel stand über den Erlengründen, und die Verzauberung der Stunde fiel fesselnd und betäubend über Verirrung, Weg und Ziel.

Sie wußte nicht, ob sie geschlafen hatte, aber sie öffnete die Augen, als ihr Vater in einem plötzlichen Entschluß, von lautlosem Gebet gestärkt, sich von dem Grabenrand erhob und mit beschwörend ausgestreckten Armen sich der zusammengekauerten Gestalt auf dem Baumstumpf näherte. »Im Namen des Heiligen der tausend Tage!« begann er mit seiner hohen Kinderstimme. »Wer du auch seiest, auf ruchlosen Wegen, ferne von den Straßen der ›Goldenen Stadt‹ …«

Ein Schrei unterbrach ihn, der hundertfältig aus den zusammenbrechenden Echogründen des Waldes widerklang, ein Gebrüll der Todesangst, das sich vor dem haarlosen, beinernen Schädel zurückbäumte, der wie aus den Tiefen der Erde vor Südekums Augen erschien.

»Im Namen des Vaters!« brüllte Matthias und warf sich zur Seite, als würden die Büsche der Schonung ihn gleich den Pforten einer rettenden Kirche aufnehmen. Aber das Harz unter seinem Hosenboden, von der Junisonne verschwenderisch geboren, hielt ihn mit einer Kraft, die der seiner trunkenen Glieder überlegen war. Unter dem kalten Schweiß seiner Stirn erkannte er, daß er gebannt war wie sonst nur in Träumen, wenn der Nachtalp über ihm lag, und seine willenlosen Lippen formten irre Worte, um in dem Vorhof der Gnade zu sein, bevor die ausgestreckten Knochenarme das Siegel des Todes auf seine Stirn drückten. Unter Gebrüll und beschwörendem Ruf erstarrte Grotjohann, und so blieben sie beide in der Versteinerung ihrer Gebärden, der eine mit ausgestreckten Armen auf der Mitte des Weges, der andere halb von seinem Sitz gesunken, mit der linken Hand in das feuchte Gras gestützt, um seinen Körper vor dem Sturz zu bewahren, die Rechte mit gespreizten Fingern dem würgenden Gespenst entgegengestreckt, das ihn inmitten eines fremden Waldes, unter speienden Sternen, fern von Frau und Kindern, in ein ungesegnetes Grab zu stürzen bereit war.

Bis sie beide den aus der Tiefe einer harmlosen Brust aufsteigenden Ton eines kindlichen Lachens vernahmen, das sich, zuerst unterdrückt, immer freier aus dem behexten Schweigen emporhob. Und als sie beide, zuerst nur lauschend und die entsetzten Augen noch nicht voneinander lösend, dann aber den Blick verstohlen nach dem Grabenrand richtend, dort den an den Fichtenstamm gelehnten Körper des Mädchens sahen, der im Übermaß der Heiterkeit nach einer Stütze verlangte, schien es ihnen doch, dem Trunkenen wie dem Teufelstreiber, daß die fromme Wirklichkeit der Erde noch ein wenig dasein müsse und nicht die ganze Welt in Spuk versunken und verzerrt sein könne.

»Wer bist du, armer Bruder?« fragte Grotjohann, mit der Anredeform, die er seit seiner Erweckung zu gebrauchen pflegte.

»Was heißt Bruder?« erwiderte Matthias, von der Seltsamkeit der Anrede mehr betroffen als von der Tatsache, daß der Tod zu sprechen begann. »Welcher Satan führt dich hierher, daß du die erschreckst, die in Frieden wandeln? Und weshalb hast du keine Haare auf dem Kopf, du Gespenst?«

Nach diesen einleitenden Formeln entwickelte sich ein sachliches Gespräch über Herkunft, Weg, Ziel und Verirrung, das Matthias mit der großartigen Versicherung beschloß, daß in einer Stunde der Herr »Jonathan« nebst seiner »Frau Gemahlin« unter dem gesegneten Dach seines Glaubensbruders sanft und behütet schlummern werde.

Von neuem der klingende Ton unterdrückter Fröhlichkeit hinter dem Grabenrand. Aufklärung über die Person der Tochter. Erneuter ergebnisloser Versuch des Schneiders, sich ritterlich von seinem Sitz zu erheben. Dumpfe Beschwörung von Teufelsspuk, Nachtmahr, Alp und den Gespenstern des Erlengrundes.

»Es wird Harz sein«, sagte Marte und trat aus dem Schatten auf den Weg.

Über ihre Erscheinung und diese Vermutung hatte Matthias lange zu grübeln. »Wenn es Harz ist«, sagte er endlich langsam, »muß ich die Hosen ausziehen.«

»Der Teufel riecht aus deinem Munde, Bruder«, bemerkte der Kätner tadelnd, als sie sich niederbeugten, um seine Hände zu fassen.

»Das Laster leuchtet von deiner Glatze, Bruder«, erwiderte Matthias.

Als sie ihn auf die Beine gestellt hatten, machte er nur eine große Handbewegung mit seiner Elle, sah einmal prüfend nach den Sternen und begann dann den Weg zurückzugehen, den er gekommen war. »Lassen wir das«, sagte er abschließend.

Noch immer waren ihm die Bäume fremd, aber ein dumpfer Instinkt, aus der verklungenen Todesangst der Begegnung geboren, trieb ihn wie ein erschrecktes Tier auf den Weg zu seiner Höhle. Die beiden, schwankend zwischen Furcht und Vertrauen, schlichen hinter ihm her.

Ob er den Weg auch ganz genau wisse? Es sei ihm, als rieche er Wasser, erwiderte der Schneider rätselvoll. Aber sie wollten nicht zum Wasser. Der Vetter wohne im Walde. Wie der Hirsch schreie nach dem frischen Wasser, so schreie seine Seele nach dem Wassermann, rief Matthias. Alle Wege kenne der Wassermann, auch die zum Vetter, auch die zu allen Vettern. Wer nun wieder der Wassermann sei? Das sei der Mann, der mit den Toten spreche …

Grotjohann drehte sich nach seiner Tochter um, aber sie lächelte ebenso wie auf der Schonung. Sie war viel zu müde, um sich zu fürchten.

Als der Wald sich öffnete und die Eichen über Jürgens Hütte in den weißen Himmel traten, wußte Matthias sich zu Hause. »Komm her, Glatzkopf«, sagte er und blieb stehen, »siehst du nun, daß ich alle Wege weiß? Dort unter den Eichen ist der Wassermann. Dort ist das Dorf der Blindschleichen, die mir einen Eimer vor die Füße gestellt haben, und bitterlich sollen sie noch weinen darum. Dort drüben ist das Dorf der Frösche, und es ist ebenso dreckig wie das hier. Und zwischen beiden geht die Fähre, und der Fährmann kann einen Kahn allein auf den Rücken heben. Wir lieben uns nicht, aber er ist stärker als ich, und deshalb soll ihn auch der Teufel holen …«

»Aber im Walde wohnt er, Bruder«, rief Grotjohann verzweifelt. »Und von keiner Fähre hat er mir geschrieben.«

Statt einer Antwort streckte Matthias seine eiserne Elle aus, legte den Winkel um Grotjohanns Nacken und zog den Widerstrebenden dicht unter seine Augen, die noch immer eine Neigung zur Verdoppelung einfacher Objekte hatten. »Einen schlechten Charakter hast du, Glatzkopf«, sagte er nach grübelnder Betrachtung des fremden Gesichts. »Deine Nase ist schief, sehr schief, und das ist schlimm. Der Krugwirt bei den Blindschleichen hat eine schiefe Nase, und deshalb hat er sich auch einen Wolfsköter zugelegt … schlimm, Bruder … wer weiß, was du für einen Vetter im Walde sitzen hast …« Und damit ließ er den sich unwillig Sträubenden los.

Jürgen saß im Ziegenstall und rieb seit seiner Heimkehr den Leib des stöhnenden Tieres. Es hatte den Pflock aus seiner Weide gerissen und war auf frischen Klee geraten. »Du Dumme«, sagte er leise, »was hast du nun davon … was fange ich denn an, wenn du auch fortgehst … so dumm seid ihr … immer mit dem Magen denkt ihr … so weh tut es … ja … noch ein Weilchen, du Dumme …«

Der Klöppel donnerte an die Pflugschar, als melde er den Jüngsten Tag. Jürgen richtete sich auf. Sterne tanzten von der Anstrengung vor seinen Augen, und seine Gedanken gingen zum Friedhof zurück, ob es vielleicht von dort komme. Aber er fühlte nichts von der leisen Kühle, die sich sonst zwischen Herz und Atem schob, wenn das Unsichtbare sichtbar wurde. So ging er langsam hinaus.

Da er nicht, wie erwartet, aus der Tür seiner Hütte kam, sondern mit seinen lautlosen Schritten um die Ecke des Hauses herum unter sie trat, wich das Mädchen mit einem leisen Schrei vor der grauen Gestalt zur Seite, die unheimlich aus der unheimlichen Erde mit einem Mal da war.

»Habt nicht Angst«, sagte er, »ich war bei der Ziege … sie war im frischen Klee.«

»Ja«, sagte der Schneider, »hier ist also der Glatzkopf. Sieh dir mal seine Nase an. Er will zum Vetter im Wald. Er wird gleich ›Bruder‹ zu dir sagen. Und außerdem hat er eine Tochter, die lacht, wenn der Tod dir im Genick sitzt. Du wirst sie mal hinbringen zu ihrem ›Vetter‹. Aber zuerst will ich rüber zu den Fröschen.«

Jürgen sah still von einem zum andern, nur an dem Mädchen sah er vorbei. »Wo ist es?« fragte er Grotjohann.

»Ich werde ihn übersetzen«, entschied er dann. »Setzt euch ein bißchen an den Herd so lange.«

Sie sahen ihm nach, wie er den Kahn durch die Strömung stieß. Das Wasser war weißlich und blind, wo die Milchstraße sich spiegelte. Nur die Ränder lagen schwarz zu beiden Seiten. Die jungen Birken rochen betäubend, und alles sah aus, als habe noch nie eines Menschen Stimme von Ufer zu Ufer gerufen. »Es ist wie in Amerika«, sagte Grotjohann nachdenklich.

Als Jürgen wiederkam, war die Tür der Hütte offen, und er ging schnell zum Ziegenstall, um noch einmal nach dem kranken Tier zu sehen, bevor er die lange Fahrt begann.

»Es geht ihr besser«, sagte die dunkle Stimme des Mädchens, »ich denke, daß du ruhig sein kannst.«

Sie kniete neben dem Tier und wendete ihren Kopf über die Schulter zu ihm hinauf. Er sah, daß sie etwas frisches Laub gepflückt hatte und daß das Tier die Blätter aus ihrer Hand fraß.

»Eine gesegnete Hand hast du«, erwiderte er und mußte inmitten des Satzes lauter sprechen, damit seine Stimme nicht zitterte. »Drei Stunden habe ich mich gequält, und nun kommst du, und alles ist gut.«

»Es liegt nicht an meiner Hand … du hattest sie eben schon durchgebracht.«

»Aber nicht jeder wäre gleich in den Stall gegangen … und müde bist du ja auch –«

Sie beugte sich wieder über das Tier, streichelte einmal über das feuchte Fell und stand dann auf. Er trat schnell zurück und schloß dann umständlich die Stalltür. Aber einmal mußte er sich doch umdrehen. Der Himmel war schon rötlich über dem Walde, und er fühlte, daß das Licht schonungslos in sein Gesicht fiel. Auch konnte er nicht vermeiden, daß sie ihn ruhig und prüfend ansah.

»Zum Besuch geht ihr?« fragte er, das Band an seinem Kahnschlüssel ohne Not aufbindend. »Er hat euch nicht gut geführt … ich meine … für euch … er hatte nur gedacht, nach Hause zu kommen …«

Er verstummte in ihrem Lächeln.

»Gut hat er uns geführt«, erwiderte sie nach einem spielerischen Schweigen lächelnd. »Nein, es ist kein richtiger Besuch, nach Amerika gehen wir …«

Nun sah er sie an, und in seinen schweren, müden Tieraugen lag der Schreck eines Kindes, dem ein Spielzeug über den Bootsrand fällt.

Sie sah zur Seite, über das Wasser hin, auf dem die ersten Vogelstimmen erwachten. Es sah aus, als stehe sie schon an Bord eines Schiffes. »Ja … Mormonen sind wir«, fügte sie hinzu.

»Das ist ein Glaube?« fragte er bedrückt.

»Ja …«

Als sie in die Hütte traten, schrak der Kätner aus dem ersten Schlaf empor. »Im Walde, Bruder …«, murmelte er, »mehr nach Osten …«

»Ihr könntet erst schlafen«, sagte Jürgen. »Es ist nicht gut auf dem Wasser jetzt. Der Nebel ist noch da. Ich bringe euch dann hin.«

Sie nahmen es beide dankbar an, und Jürgen schüttete noch ein Lager neben dem Herde für Grotjohann auf. Er schlief schon, als Jürgen sich noch einmal umsah, ob nichts vergessen sei.

»Und du?« fragte das Mädchen.

»O … ich habe viel Platz nebenan … und ich schlafe nicht viel. Decke dich gut zu und ruhe deine Füße aus.«

»Ganz allein lebst du?« fragte sie und legte das Kopftuch ab.

»Ja … aber es macht nichts aus … auch im Walde leben sie allein.«

Dann ging er leise hinaus.

Das Wasser schimmerte schon rötlich, und die Taucher riefen hell und durchdringend stromauf im See. Ein warmer Tag würde es werden, und das Heu konnte hereingebracht werden. Amerika …, dachte er, das ist hinter der Welt … Er ging noch einmal in den Stall, legte die Hand auf das Fell des Tieres, das nun trocken und warm war, und schlief dann zwei Stunden im Schuppen. Als er die Decke näher heranzog, fühlte er einen Hobelspan zwischen seinen Fingern. Sie war nicht da, dachte er noch, neben dem Herd … und nun schläft er da, der Mormone … vielleicht wird es nun gut sein …

Sie holte Wasser vom Brunnen, als er mit den Netzen zurückkam, und ging an die Fähre hinunter, um ihn zu erwarten. Es war nun alles hell an ihr, und als sie die Hand über die Augen legte, weil das Wasser in der Sonne spiegelte, war es eine freie und schöne Bewegung, die fleckenlos vor der großen Landschaft stand. Sie hob die Hand nach der Kette, um den Kahn festzumachen, und auch in dieser Gebärde lag die Vertrautheit mit den Dingen, die überall im Raum zu Hause war, den menschliche Ordnung erfüllte.

»Kaffee wollte ich dir kochen«, sagte sie, »und nun bist du wohl die halbe Nacht schon auf dem Wasser … war es gut mit dem Fang?«

»Ja, danke«, erwiderte er, »jetzt ist es eine gute Zeit.« »Du hast wohl die Mühle nicht gefunden«, setzte er hinzu, als er ausgestiegen war, »... und … ich habe nur gebrannte Gerste …«

»Da muß ein Knopf angenäht werden«, sagte sie, an seiner Verlegenheit vorbeilächelnd. »Es ist nicht gut, daß sich keiner um dich kümmert.«

»Sie ist im Frühjahr gestorben«, erwiderte er, »ich dachte, du hättest es vielleicht gehört in eurem Dorf.«

Sie schüttelte den Kopf. »Deshalb sagte er das …«

»Was sagte er?«

»Daß du … laß, er war betrunken … aber du hast ja auch merkwürdige Augen, die durch alles durchsehen … aber ich habe nicht Angst … schön ist es hier am Wasser, und wir hatten nur Wald um das Dorf, und die Eulen riefen in der Nacht …«

Er sah sich einmal um, als sei die Landschaft nun neu geworden durch ihr Lob, und da er nichts dazu zu sagen wußte, trat er an den Kahn zurück und begann den schweren Fischkasten herauszuziehen, an dem ein Brett zu faulen begann. Nein, sie dürfe nicht helfen, dazu sei er viel zu schwer. Es blieb ihm nichts übrig, als bis an den Leib in das Wasser zu treten und den Kasten über den Bootsrand auf seine Schultern zu heben. Er schwankte ein wenig in dem moorigen Grund, aber dann stieg er langsam zum Schuppen in die Höhe. Das Wasser floß aus den Löchern des Kastens ab, und das grünliche Holz leuchtete in der Sonne. So sah es dem Mädchen aus, als sei ein starkes Tier zur Nacht in den Strom gestiegen und kehre nun mit einer ungeheuren Beute in die taustillen Wälder zurück. »So hatte er recht«, sagte sie, als er schwer atmend neben der abgestellten Last stand, »daß du einen Kahn allein auf deine Schultern heben kannst.«

»Er hat immer große Worte«, wehrte er verlegen ab, »besonders wenn er getrunken hat … aber dich könnte ich wohl über den Fluß tragen … wenn du müde bist wie gestern.«

»Bis nach Amerika«, sagte sie, und das leise Lachen klang wieder tief in ihrer Kehle.

Es dauerte lange, bis Jürgen sich ein Herz gefaßt hatte, und der Kätner trug schon sein Bündel zum Kahn herüber, als er mit gänzlich mißglückter Gleichgültigkeit fragte, ob sie nicht jemand wisse, der zu ihm in den Dienst kommen möchte … aus ihrem Dorf vielleicht … bei dem Knopf sei es ihm doch wieder eingefallen … Ja, sie wüßte schon jemand. Es klang sehr nachdenklich. Ob dieser Jemand auch mit wenigem zufrieden sein würde? Sie sehe ja, daß er nicht auf Goldstücken schlafe, und mit dem Reden würde es auch nicht allzuweit her sein … höchstens wenn die Leute übergeholt werden wollten, dann gäbe es ein bißchen Unterhaltung … Ja, der, den sie meine, könne sich mit sich selbst ganz gut unterhalten, und außerdem sei ja die Ziege da … Ja, ob er einmal dorthin gehen und das Mädchen fragen könne? Nein, den Weg könne er sich sparen, da das Mädchen da sei und nicht zu dem Vetter im Walde wolle, weil er eine geizige Frau habe und weil sie noch etwas schaffen und verdienen wolle, ehe sie hinübergehe in das fremde Land.

Darauf sagte er gar nichts und sah sie nur ohne Verständnis an, als habe Gott einen Engel geschickt, und der Engel verkünde ihm, daß er von nun an bei dem Fährmann Jürgen Doskocil bleiben wolle. Und sie lachte eine Weile über sein Gesicht, aber ohne daß es ihm weh tat.

»Ja, Bruder«, sagte der Kätner und tastete rechts und links von seiner schiefen Nase mit den Wieselaugen über Hausrat und Netze und bewegliche Habe. »Du bist ja noch ein Irrender und noch nicht erleuchtet, aber es sieht ja aus, als ob du fleißig bist und ordentlich. Nur muß es ein guter Lohn sein und zwei Scheffel Kartoffeln, die du für sie aussetzt, und ein warmes Kleid zu Weihnachten, und besser wäre es, ich setzte es schriftlich auf und käme einmal herüber aus dem Walde, und vieles ist zu bedenken, denn da sie erleuchtet worden ist, und schwer ist es für mich, allein in das Walddorf zu gehen, und du dürftest auch nichts rechnen dafür, daß du mich jetzt hinfährst, weil es doch eine Gnade ist, daß Gott der Herr sichtbar bei dir eingekehrt ist …«

»Es ist nun Zeit, Vater«, sagte das Mädchen kurz.

Jürgen vermochte nichts zu sagen. Er nickte nur zu allem. Er nickte während der ganzen Fahrt und starrte mit halbgeschlossenen Augen auf das Spiegelbild des kahlen Kopfes, das gespenstisch neben dem Kahn durch das dunkle Wasser schwamm. Mit dem Vater ist es schlimm, dachte er nach einer Stunde. Mehr hat er in dieser Stunde gesprochen als ich in einem ganzen Leben. Ein Bienenkorb ist sein Kopf. Aber Feuer wird im Herd sein, wenn ich wiederkomme … vielleicht daß Amerika untergeht bis dahin … sie sagen, daß es da schwere Erdbeben gibt …

Er hatte bis zur Dunkelheit mit der Fähre zu tun, weil es Markttag war und die Wagen erst spät ins Moordorf zurückkehrten. Sie saß auf der Schwelle, als er von der letzten Überfahrt hinaufgestiegen kam.

»Schön klingt es«, sagte sie, »wenn sie drüben an das Eisen schlagen und ›Hol über!‹ rufen …«

»Ja«, erwiderte er, »nur manchmal narren sie mich. Dann sind es die Kinder von drüben. Und sie singen auch … da mußt du dir nichts draus machen.«

Ein Reiher zog niedrig und schwer den Strom entlang, und sein heiserer Ruf brach sich vielfältig an den Wänden der Nacht. Der Nebel stieg und schob sich langsam zwischen sie und die Welt.

»Ist es wahr«, fragte sie leise, »daß du mit den Toten sprichst?«

Er löschte behutsam die Laterne.

»Ich sehe manchmal …« erwiderte er demütig, »... einen zweiten Leib … hinter dem ersten Leib … aber nun kommt es nicht wieder, denn du bist nun die Gnade an meinem Herd …«

Eine Weile standen die Worte noch tönend und farbig im unbewegten Raum, und sie hörten jeder des anderen Atem, der zaghaft vor dem Bilde auswich, damit es nicht verlösche.

»Gute Nacht«, sagte sie dann leise und ging ins Haus.


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