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III

Der Sommer geht mit vielen Gewittern über die Erde, und vor den Gewittern wandern die Fische und füllen das Netz. Es ist ein gutes Fangjahr, und wenn Jürgen heimkehrt, geht er durch Haus und Hof, bis er Marte gefunden hat. »Du hast das Glück gebracht«, sagt er. Sie hebt die Augen von ihrer Arbeit und lächelt. »Du mußt das Glück nicht auf meine Schultern legen«, erwidert sie, »denn wenn es einmal herunterfällt, bin ich schuld gewesen, und das ist nicht gut.« Er versteht es erst nach einer Weile, und er begreift niemals, daß ein Mensch mit leichten Lippen Dinge sprechen kann, die man erst entwirren muß wie ein Netz, in dem ein Hecht eine halbe Nacht getobt hat. »Es sucht wohl nicht die breiten Schultern«, sagt er schon im Fortgehen. »Sonst hätte es ruhig bei mir wohnen können …«

In diesem Sommer beginnt Jürgen mit Plänen umzugehen. Es war sonst nichts dagewesen in seinem Leben als der Kahn und die Netze, die Fähre und eine kleine Wirtschaft, in deren Mittelpunkt die Ziege stand. So würde es bleiben, und nur wenn er einen Goldklumpen aus dem See höbe, würde man die Wände ein wenig hinausrücken können, daß vielleicht eine Kuh in den Grenzen des Lebensraumes erschiene oder gar … aber es war vermessen, an ein Pferd zu denken.

Aber nun war so etwas wie eine Mauer unter seinen Füßen gewachsen, die ihn höher hob von Tag zu Tag und auf der man sich zurechtstellen konnte, um eine schwere Last mit leichtem Herzen auf die Schultern zu heben. Denn das Haus war jetzt sauber, und Kresse blühte vor den Fenstern, und im Abendlicht, wenn er in die Stube trat, brannte die stille Flamme im Herd, und kein Schatten saß kalt und durchsichtig daneben.

Und so unterschrieb Jürgen Doskocil, als die jungen Mandelkrähen schon in den Erlen am Wasser saßen, den Pachtvertrag mit der Forstverwaltung und Umschrift, als er im Abendlicht zurückkam, den Grund und Boden, den er erworben hatte, eine wüste Lichtung am Saume des Hochwaldes, von ein paar graugrünen Findlingen bedeckt, den verkohlten Stümpfen einiger Schirmfichten, die hier gestanden hatten, und einer Wildnis von Weidenrosen, deren rote Blüten wie ein junger Wald sich wiegten. Er kniete neben einem der Steine nieder, schob die Gras- und Flechtennarbe zur Seite und hob dann aus der Tiefe die dunkle, kühle Erde ans Licht, die schwer wie Brot in seinen Händen lag. Hafer wird es geben, dachte er, goldene Körner wie aus den Höhlen der Unterirdischen … Pferdebrot zuerst … und dann … dann vielleicht einmal Menschenbrot.

Er ließ die Hand in der kühlen Tiefe, und er erinnerte sich der Nacht, in der er vor dem Grabe gekniet hatte, um Ring und Tuch für die Tote zu opfern. »Jesus Christus helfe dir mit seinem Blute«, sprach er lautlos zur Erde hinab, aber die unmutigen Falten in dem Gesicht der Toten, die vor seinen Augen aufstanden, verwandelten sich in das feine Wurzelgeflecht der Haferhalme, die hier wachsen sollten, und wiewohl seine Gedanken langsame und schwere Wege gingen, war es ihm, als tausche sich durch seine Hand das Blut der Erde mit dem seines Herzens und als verwandle auf diesem Wege der Tod sich in das Leben.

Er kam noch einmal mit Matte wieder, als nur noch das Abendrot über dem Moor ein rötliches Licht auf seine neue Erde warf. Er umschritt mit ihr die Lichtung und deutete dann einmal mit der Hand auf den dunklen Boden, über dem schon der Tau lag. »Brot«, sagte er. »Unser täglich Brot …«

Erst während sie zurückgingen, erzählte er es der Reihe nach. »Und alles du selbst?« fragte sie sorgenvoll. »Mit deinen Händen?«

Er lächelte. »Mit den Schultern«, erwiderte er. »Die schmalen für das Glück und die breiten für das Brot.«

Von diesem Abend ab erfüllte sich täglich nach Sonnenuntergang die wüste Lichtung mit einem verschwiegenen Leben. Auf dem Findling in der Mitte, den Jürgen liegen zu lassen beschlossen hatte, »weil die Unterirdischen des Waldes unter ihm wohnten«, saß der Verwachsene, die langen Arme um die heraufgezogenen Knie gefaltet, und sah zu, wie in dem weißlichen Licht der hohen Nächte die riesige Gestalt des Fischers sich auf die Steine oder die tiefen Fichtenwurzeln warf. Sein Schatten, breit und kurz, war wie der Schatten eines Bären, und nichts war von seiner Arbeit zu vernehmen als der dumpfe Atem seiner Brust und ab und zu der helle Klang, mit dem die Brechstange vom Stein glitt, oder das Knirschen, mit dem eine Wurzel sich aus der Erde riß.

Zuerst war es so, daß der Verwachsene mit schmerzenden Augen in das Dämmerlicht starrte, ohnmächtig vor dem Bild der Kraft, die vor ihm die Erde aufriß, so sehr ein Zeuge des Werkes, daß seine schwachen Arme bei jeder Bewegung schmerzten, mit der er unter Jürgens Händen den Stein sich heben, den Baumstumpf sich lockern sah. Aber dann begann seine Seele hinter den finsteren Augen sich doch unaufhaltsam mit dem zu erfüllen, was außer ihm war: mit den schwarzen Umrißlinien der Wipfel und dem roten Schein hinter ihnen, mit dem Glanz des Mondes, dessen Scheibe lautlos über die Wälder stieg, mit dem Klagelaut der Vögel, die hoch über dem Wasser nach ihresgleichen riefen, mit dem bitteren Duft der Erlen und des Schilfes, deren Blätter im Nachttau atmend sich öffneten.

Und dann streckte er die Hand nach der Schalmei von Birkenrinde aus, hob sie an die Lippen und begann eine jener langsam fallenden Weisen aus ihr zu erwecken, mit denen er von den Hügeln über der Herde das Echo zu rufen pflegte, daß es ihn seines Daseins vergewissere und des Widerklanges, den die Menschen ihm versagten. Bald klang es wie ein Vogel im dunkelnden Geäst, bald glich es dem Klageruf eines Kindes in einem einsamen Haus, und bald war es nichts anderes als der Gang des Windes über Schilf und Gras und der Fall von Tropfen im verschleierten Wald. Aber es war dem Zorn wie dem Schmerz gleich weit entglitten und schon wie ein einsames Sprechen vor dem Schlaf, und es hob sich nicht wie ein Fremdes unter das Mondlicht, sondern war wie das Tönen des Steins, auf dem er saß, sehr alt und sehr heilig, und kein Tier des Waldes würde erschreckt den Gang angehalten haben vor seinem Lied.

Dann stand Jürgen in der Höhlung, die er in die Erde gewühlt hatte, auf das Brecheisen gelehnt, und empfing die Töne, als spreche die dunkle, unfruchtbare Erde, die er aufbrach, mit ersten, verworrenen Lauten zu ihm, wie das Wasser zu ihm sprach oder der Wind. Denn das Leben endete ihm nicht mit dem atmenden Menschengesicht, und vor seinen schweren Augen standen nicht nur die Toten auf, sondern da waren Gesichter der Steine und Gesichter der Tiere, und eine sanfte Dämmerung umhüllte ihm alles Geschaffene, weil nur das Ungeschaffene leblos war.

Einmal, als sie nach ihrem Werk beieinandersaßen, auf dem Stein, der wie der Sitz von alten Göttern war, sahen sie ein dunkles Tier am Rand der Lichtung lautlos stehen. Die Hand des Verwachsenen preßte sich um Jürgens Arm, und sie fühlten beide, wie ein kühler Windhauch im Laube aufstand, über sie hinglitt und hinter ihnen erstarb. Eine Wolke schob sich langsam über den Mond, begrub und erstickte ihn und verlöschte das bläuliche, tröstende Licht. Und nachher war der Rand der Lichtung wie ehedem, und das Laub hing regungslos vor dem glühenden Licht.

»Ein Wolf? War das ein Wolf?« flüsterte Heini. Aber Jürgen schüttelte den Kopf. »Sie fühlen, daß ich grabe«, sagte er. »Die Erde zittert unter ihrem Fuß, und sie kommen nachzusehen, was hier geschieht.«

Aber es blieb ein leiser Zauber über dem werdenden Feld, und Jürgen hob die Wurzeln sorgsam heraus, als hebe er die Decke von einem schlafenden Gesicht.

Sie saß noch am Herd und spann, wenn er heimkam, und schon vor der Tür hörte er den leise singenden Ton des Rades, in dem das Holz der Balken zu zittern schien. Sein erster Blick ging zu der Dämmerung hinter dem Herd und kehrte dann erst bei dem Lampenlicht ein. »Niemand war da«, sagte sie leise. »Ruh dich nun aus.«

Er flickte noch an seinen Netzen und empfing noch für eine Weile den Frieden ihrer Augen, ehe das Dunkel seiner Kammer ihn umschloß. »Bald werden die Wildgänse ziehen«, sagte er hinter den Wolken seiner Pfeife. »Weißt du, wohin sie ziehen?«

Nein, sie wußte es nicht. Der Lehrer habe zwar gesagt, daß sie nach Afrika zögen, aber er habe immer von allem etwas wissen wollen, und sie traue ihm nicht. Sie glaubte, daß so graue Vögel nicht nach Afrika hinpaßten auf den Nil ... auf dem Nil sei das Körbchen mit dem Mosesknaben geschwommen, und was sollten die grauen traurigen Vögel auf solchem Wasser?

»Ob sie … vielleicht fliegen sie bis Amerika?« meinte er leise. »Amerika ist weit …«, erwiderte sie und sah an ihm vorbei auf das kleine Fenster, hinter dem dunkel und lautlos die Nacht stand.

»Ja, sehr weit muß es wohl sein …«, sagte er und starrte in die schwarze Höhlung des Herdes.

Es kam vor, daß um diese späte Stunde noch der dröhnende Ton der Pflugschar vom andern Ufer herüberkam. Es waren mehr Menschen unterwegs als sonst um die ausgehende Sommerzeit, Fremde, die nach dem Wege fragten, nach Hunger und Sattwerden, und die, wenn sie das Geldstück in Jürgens Hand legten, schon halb abgewendet bemerkten, daß es anders werden müsse auf der Welt, gerecht und gleich und ohne Sklaverei. Es war nichts, worauf Jürgen eine Antwort zu geben verstanden hätte, aber mitunter stand er noch eine Weile, auf die Stange gestützt, und sah dem Fremden nach, wie er in dem Schatten der Eichen verschwand.

Jedesmal stand Marte auf der Schwelle und sah ihm mit unruhigen Augen entgegen. »Wartest du?« fragte er einmal.

»Nein, aber ich fürchte mich … unheimlich ist es, wenn es von drüben so ruft … soviel kann unterwegs sein in der Nacht …«

»Wasser und Menschen sind immer unterwegs«, erwiderte er. »Fürchte dich nicht, meine Hände sind stark.«

»Es ist nicht wegen der Hände«, sagte sie abwesend.

Versprochen ist sie, dachte Jürgen. Sicher ist sie versprochen, und einmal wird es an die Pflugschar schlagen und »Hol über!« rufen. Und dann wird er da sein. Ein Stadtmensch wahrscheinlich, mit einem Stehkragen und Handschuhen. »Fräulein Grotjohann da? So … Sie sind wohl der Dienstgeber, hm? Ja, sie ist nämlich meine Braut. Hoffe, daß sie es gut gehabt hat in dieser Fischhütte.« Und dann wird er an seinem Herd sitzen, und sie wird ihm Kaffee kochen, und er, ja, er wird wohl nach der Ziege sehen oder nach seinem neuen Acker oder nach den Netzen … ein alter Kahn, und wenn der neue da ist, schiebt man den alten beiseite. Wasser zieht durch die brüchigen Fugen, Moos setzt sich an … fertig … erledigt … Im September war die Lichtung soweit, daß er pflügen konnte. Er wollte keine Pferde, aber die Steine, die tief im Boden lagen, schlugen Heini die Pflugschar aus den Händen. So lieh er die beiden Pferde vom Pfarrer, und am Abend lag die Scholle schwarz und glänzend da. Er brachte das Gespann zurück und ging noch einmal auf dem Heimweg zum Acker. Es regnete leise aus tiefhängenden Wolken, und er hob eine Handvoll Erde an sein Gesicht. Sie duftete nach Schlaf und Tiefe, und als er sie zwischen den Händen zerbröckelt hatte, blieb der Geruch bei ihm und ging mit ihm, als schlüge er Wurzeln in seinem Körper.

Als er vom Wasser hinaufgestiegen kam, von dem er ein vergessenes Netz geholt hatte, sah er im rötlichen Schacht des Lichtes, der aus dem Fenster fiel, eine dunkle Gestalt. Von unten sah es aus, als stehe ein Baum da, aber Jürgen wußte, daß dort kein Baum stand, und er sah die gespannte Haltung eines Lauernden, der ein Wild bewacht. Zuerst war es ihm, als stehe er eingefroren im grauen Eise, aber dann erkannte er, daß es der Sohn des Krugwirts aus dem Dorfe war, von dessen Liebeshändeln viele Geschichten im Umlauf waren. Ach, mein Lieber, dachte er fast dankbar, das ist nun kein guter Weg für dich … Nur das feuchte Gras drückte sich unter seinen bloßen Füßen nieder, und seine Hand faßte zu, als sei sie eben aus dem leeren Raum und seiner Luft herausgewachsen. »Was vergessen?« fragte er leise.

Einen Augenblick knickte die Gestalt vor ihm zusammen. Dann deckte sie beide Hände vor das Gesicht und versuchte, sich mit einem jähen Sprung in das Dunkel zu werfen. Aber Jürgens Hand ließ nicht los. »Man muß dich in den Strom hängen«, sagte er, »daß du abkühlst. Oder einen Ring durch die Nase wie beim Bullen auf der Domäne … das nächste Mal, Freundchen, behältst du kein Glied ganz, verstanden?« Und er gab ihm einen Fußtritt, daß er aus dem Schacht des Lichtes wie in einen Abgrund stürzte. Hinter den fliehenden Füßen schloß das Schweigen sich wieder zu, und erst nach einer Weile, vom Dorfende her, erklang der Pfiff auf zwei Fingern, den Jürgen kannte. Er starrte in die Schwärze hinein, die sich gespalten zu haben schien, und von dort auf das rötliche Fenster, das wehrlos in der ungeheuren Nacht leuchtete. Einmal wird es der Richtige sein, dachte er noch, bevor er ins Haus ging.

Ob sie Freundschaften im Dorf habe, fragte er nach dem Essen. Sie sah ihn verwundert an. Nein, sie habe keine Freundschaften. Sie gehe einkaufen, spreche ein paar Worte mit dem Krugwirt und komme zurück.

»Sei vorsichtig«, sagte er nach einer Weile, als er schon an einem neuen Netz knüpfte. »Verschließe das Haus, wenn ich auf dem Wasser bin … sie sind hier wie die Stiere …«

Sie erwiderte nichts, aber als er lange danach aus dem Schatten seiner Brauen auf sie blickte, war sie errötet, und das Blut stand noch unter ihren Haarwurzeln.

Die Veränderung ihres Gesichts traf ihn gleich dem schweren Stoß einer Woge und wusch die schützende Decke von seiner dumpfen Verschlossenheit. Er erzitterte bis in die schweren Hände hinein, die an den Maschen des Netzes arbeiteten. Er sah ihren geneigten Scheitel und sah, daß sie wie eine Heilige in der Armut seines Hauses und seines Lebens war. Streicheln müßte man sie, dachte er, streicheln wie über eines Kindes Haupt … aber sie würde glauben, daß auch ich … ein schmutziges Wort habe ich gesagt … von den Stieren …

Er stand schnell auf und hängte das Netz an den Holzpflock in der Balkenwand. Der Regen schlug an das Fenster. »Gut ist es für den Acker«, sagte er, »warm wird das Korn liegen wie bei einer Mutter.«

»Ja«, sagte sie, ohne aufzusehen.

Er ging noch einmal vor das Haus, stand im Dunkel des kleinen Hofplatzes und lauschte hinaus. Der Regen fiel in sein Haar und baute eine rauschende Wand um sein Gesicht. Das letzte Licht erlosch im Dorf. Er glaubte Schritte zu hören, ein atemloses Schleichen um das Haus, aber es war sein Blut, das zum Herzen floß. Niemand war da, nur der leise Ton, mit dem die Erde den Regen trank. So war es gewesen, wenn das Kind getrunken hatte, das nicht sein eigen gewesen war und das nun lange unter der Erde lag. Tropfen rannen nun wohl über den kleinen Sarg, langsam und dunkel wie in seinen Adern. Schön mußte es sein, ein Kind zu haben, etwas Hilfloses, um das man die Hände legen könnte.

Er erwachte erst, als die Tropfen aus seinem Haar über die Wangen flossen, umkreiste noch einmal das Haus, schlug ein heimliches Zeichen nach allen vier Winden und ging dann in seine Kammer. Bevor er sich niederlegte, verschloß er die Tür und hängte den Schlüssel unter den alten Kupferstich, den sein Großvater erworben hatte und der Petri Fischzug darstellte.

Von diesem Abend ab blieb der Regen über dem Land. Nebel stand über den Wäldern, und die Erde floß über, so daß der dunkle Strom nicht als ein Abgrund, sondern als eine Brücke erschien. Das Sommergetreide verdarb, auf den Winteräckern stand dunkles Wasser, die Kartoffeln begannen zu faulen, ehe sie in die Keller kamen. Aus den ertrinkenden Wohnungen der Erde stand das Getier auf und floh in die Scheunen der Menschen, wo es die ärmlichen Vorräte zerstörte.

Zuerst standen die Menschen vor ihren Türen, sahen nach den Wolken und warteten. Dann sah man sie um die Mittagszeit auf den Feldern stehen, die Hand in eine Garbe stecken, eine triefende Kartoffelstaude aus der Erde ziehen. Und dann blieben die Dörfer schweigend, dunkel, tot. Die Krähen sammelten sich in den welkenden Bäumen über den Höfen, ein Hund strich über die Felder und kratzte die letzten Mäuse aus ihren Löchern. Es war, als sei der Regen bitter und vergiftet. Nicht nur wuchs das Moos auf den feuchten Dächern, nicht nur bedeckten sich die Eggen und Pflüge, die noch immer wartend auf den Feldern standen, mit Rost, sondern auch in die Seele der Menschen fraß sich langsam und zerstörend der erste Hauch des kommenden Schicksals ein. Garben verschwanden von den Feldern, Kartoffeläcker wurden des Nachts von Unbekannten abgeerntet. Speicherschlösser wurden mit Gewalt geöffnet, und an den frühen Abenden hob sich mitunter der Lärm eines Streites, der Haß einer Schlägerei über das dunkle Dorf, vom Heulen der Weiber, vom Gebell der Hunde begleitet.

Nur die Fische wanderten nach wie vor, und zweimal in der Woche fuhr Jürgen mit dem großen Kahn in die Stadt. Wieder stand er in dem Laden und handelte um ein buntes Tuch, aber als er neben dem Herd saß und die Hände vor die Flamme hielt, wagte er nicht, zu seiner Kammer zu gehen und mit dem knisternden Seidenpapier zurückzukehren. Sie könnte meinen, daß ich sie bestechen will zu bleiben, dachte er, und so packte er nur aus, was er für die Wirtschaft gekauft hatte.

Dann saßen sie vor dem Feuer, Marte mit ihrem Nähzeug, Jürgen mit seinen Netzen. Der Regen baute eine tönende Wand um das Haus. »Der Hafer«, sagte Jürgen manchmal und hob lauschend den Kopf. »Wenn wir nicht einsäen können …« – »Die ›Goldene Stadt‹ ist in der Wüste gewachsen«, erwiderte sie still. »Auch der Hafer wird wachsen, wenn Er will.« Dann knüpfte er wieder die Maschen im zerrissenen Gewebe, aber seine Augen sahen durch sie hindurch in die Flammen im Herd. Mauern und Türme bauten sich dort auf, funkelnd von Gold. Brücken schwangen sich auf und zerbröckelten hinter flüchtigem Fuß. Paläste brannten auf, von Funken überflammt, Tore stürzten ein, Tempel stiegen empor. Und über allem stand ein fremder, ferner, klagender Ton, der Ton einer anderen Welt, in der ein Menschengesicht verschwand. Ende Oktober säte Jürgen den Hafer ein. Zwei Tage ging ein kalter Wind über das spiegelnde Feld, und aus den grauen Häusern kamen die Menschen mißtrauisch heraus. Jürgens Acker war wie ein Brunnen, der das Wasser trank, und am zweiten Tage, um die Mittagszeit, konnte er den Hafer auf seinen kleinen Wagen laden und das Sälaken umbinden. Er ging noch einmal hinein, weil er eine Schnur vergessen hatte, und blieb auf der Schwelle stehen. Marte kniete neben dem Herd auf den Dielen und hatte die Stirn auf die gefalteten Hände gelegt. Er erschrak so, daß wider seinen Willen ein wortloser Ton aus seiner Brust kam, aber sie hob ihm ihr ruhiges Antlitz entgegen und sagte leise: »Es ist so bei uns, daß wir beten, wenn etwas in die Erde kommt, ein Mensch oder ein Korn.« – »Ja«, sagte er, ohne zu denken, und machte die Tür wieder leise zu.

Draußen stand er verwirrt neben seinem Wagen, legte den Zuggurt um seine Schulter, vergaß aber, daß er auf das Feld wollte. Fremd ist sie, dachte er, ein Gesicht aus der »Goldenen Stadt« … Gott könnte mit ihr leben, aber nicht ich … ein Tier bin ich wahrscheinlich vor ihrem Gesicht …

Dann zog er die Last durch die schwere Erde bis an sein Feld. Blaue Flecken erschienen am bewegten Himmel, aber das Herz war ihm schwer. Als er das Laken umgebunden hatte und die Hand in das kühle Korn tauchte, war er einen Augenblick lang versucht, niederzuknien wie das Mädchen, aber Scham erfüllte ihn wie vor einer Lüge, und seine Gedanken gingen verstohlen zu den Unterirdischen und baten um Hilfe für die junge Saat. Und dann schritt er den Acker hinauf und hinab und warf das Korn in die schwärzliche Erde. Kraniche zogen über ihn hinweg, und der Hochwald brauste im schweren Wind. Aber er sah nicht auf. Vor seinen Händen sah er des Mädchens fernes, fremd verklärtes Gesicht, und mit jedem Schritt fühlte er, wie eine dunkle Wurzel sich tiefer und tiefer in sein Herz senkte, seine Kraft zerspaltend und mit einem bitteren Geschmack es langsam erfüllend.

Er verbarg es vor sich, aber in der früh fallenden Dämmerung, als er schon die Egge hinter sich herzog, wußte er, daß das Schwere in ihm saß, aus dem heraus seine zweiten Augen sich aufzutun pflegten, um ein Gesicht zu sehen, das nicht da war. Plötzlich sich schüttelnd wie ein Tier, das aus irgendeiner Tiefe taucht, blieb er stehen, hob den Kopf und richtete seine Augen in den Schatten des Waldes. Aber nichts war zu sehen als schwankendes Geäst, finstere Stämme und ein zerrissener Himmel, aus dessen Spalten ein gelbliches Licht kalt und böse fiel. Er sah eine Weile hinaus, schüttelte das schwere Haupt und schritt dann ruhig bis an das Ende seiner Arbeit, wobei er jedesmal, wenn er sich wendete, das rötliche Licht aus dem Fenster seines Hauses immer tröstlicher in das zunehmende Dunkel wachsen sah.

Als er den Wagen in den Schuppen zog, fielen die ersten Tropfen, und er blieb noch vor der Schwelle stehen und sah mit müden Augen den Regen auf die Körner fallen und dachte, daß es gut gewesen sei, zu säen vor der neuen Sintflut. Niemand saß am Herd. »Es wächst«, sagte er leise, als er in das Lampenlicht trat.

Seine Glieder schmerzten, aber er öffnete immer von neuem die schweren Lider. Dunkel erfüllte die Kammer, und er saß aufrecht auf seinem Lager und blickte in das Gestaltlose hinein. Der Regen rauschte auf das niedrige Dach, und jeder Tropfen, der in die Regentonne fiel, teilte die Zeit mit einem hellen, mechanischen Ton. Es klang wie eine Uhr, deren Zeiger rückte, gleichmütig, aber unerbittlich. Es kam jemand, Jürgen sah ihn nicht, aber er fühlte, daß irgendwo die Nacht sich zerteilte, der Regen sich spaltete, das Rauschen sich hinter etwas wieder schloß. Der dröhnende Klang der Pflugschar erschreckte ihn nicht mehr. Die alte Uhr in der Kammer nahm den Ton auf, ließ ihn nachklingen, lange, nachdem er erstorben war. Leise und hastig zog er sich an, warf den Ölmantel über, nahm Schlüssel, Stange und Laterne.

Aber Marte stand auf der Schwelle. Ihr Gesicht war weiß. Die Lampe brannte über dem Herd. »Es hat gerufen«, flüsterte sie. »Zum Markt«, erwiderte er. »Weshalb ängstigst du dich? Ist es das erstemal?« Aber sie sah durch ihn hindurch, nach dem anderen Ufer, und als der Ton zum zweitenmal über das Wasser kam, ging Jürgen hinaus.


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