Ernst Wichert
Der Schaktarp
Ernst Wichert

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Was hatte sich nun inzwischen in Gilge ereignet? Wie kam es, daß Endrik den ganzen Winter durch von sich nichts hören ließ? War er wirklich mit seiner Mutter völlig ausgesöhnt, wie im Karolinenbruch das Gerede ging?

Keineswegs. Sie hatten nur, mehr stillschweigend als ausdrücklich, eine Art von Waffenstillstand miteinander geschlossen, wobei jeder meinte, seine Position festhalten zu können, in der Hoffnung jedoch, daß der andere jetzt weniger eigensinnig sein und mit der Zeit, wenn nicht in allem, so doch in wichtigen Punkten nachgeben werde. Der Frieden war ihnen beiden mehr Bedürfnis, als sie sich und ihren Freunden zugestehen wollten; aber es fand sich nicht so leicht eine Formel dafür, die jedem recht gab, und recht mußte natürlich jeder haben.

Als Frau Grita Endromeit hörte, daß ihr Sohn ins Dorf zurückgekehrt sei, war sie innerlich recht froh darüber gewesen. Er war trotzig fortgegangen und fand sich nun wieder, ohne gerufen zu werden, in der Heimat ein; das sah doch aus wie ein Schritt rückwärts und zugleich ein Schritt entgegen. Endrik war aber gar kein verächtlicher Gegner; er hatte ihr tüchtig zugesetzt. Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, es imponierte ihr doch gewaltig, daß »der Junge«, den sie gemeint hatte, ganz nach ihrem Willen lenken zu können, sich nicht hatte einschüchtern lassen. Im Ärger sagte sie wohl dies und das, was ganz resolut klang und dann, womöglich in noch schrofferer Fassung, im Dorfe herumgetragen wurde; aber mit sich allein war sie meist recht kleinlaut. Wer da meinte, daß Labuttis ihrem Herzen irgend etwas angetan habe, der war in großem Irrtum. Nicht einmal die Annahme traf zu, daß sie ihm in geschäftlichen Angelegenheiten volles Vertrauen schenkte. Er selbst wußte am besten, wie mißtrauisch sie ihn auf Schritt und Tritt beobachtete, und mit wie wenig Respekt sie ihn behandelte, wenn sie miteinander allein waren. Er mußte immer schleichen und schmeicheln wie ein Kätzchen, während sie allemal grob zufuhr. Sie meinte wohl, ihr Sohn könnte es am Ende dazu bringen, daß sie ihm zum Tort den Schulmeister heiratete, aber mit Eifer war sie keineswegs darauf aus. Da war es ihr denn ganz recht, daß Endrik zurückkam, um aufzupassen. Sie konnte nun ruhiger schlafen.

Mutter und Sohn waren einander zuerst nach der Kirche auf dem Kirchhof begegnet. Sie trafen am Grabhügel des Endromeit zusammen. Das schien ganz zufällig zu kommen, und doch gab es keinen Ort, an dem ein Treffen zu dieser Zeit so wahrscheinlich war, so daß man einen besseren gar nicht hätte verabreden können. Der Sturm hatte den kleinen Vogel von seinem Drahtgewinde herabgeworfen, und Endrik suchte ihn wieder daran zu befestigen. Seine Mutter fand nun die günstigste Gelegenheit, ein Gespräch anzuknüpfen, indem sie den Tischler, den schlechten Menschen, schalt, der ihr soviel Geld abgenommen und doch schlechtes Material verwendet habe. Der eine der beiden größeren Vögel sitze auch nicht mehr fest. Und die Farbe sei auch schlecht aufgetragen, meinte Endrik; das Holz hätte erst tüchtig grundiert werden müssen.

Gerade so hätten sie auch miteinander hier sprechen können, wenn nichts vorgefallen gewesen wäre. Und dann sagte die Witwe, hinabdeutend: »Wenn der noch lebte, so wäre manches anders.«

Und er antwortete: »Ja, es wäre manches anders, wenn der noch lebte.« Sie wischte sich mit dem Sacktuch über die Augen, und er tat das gleiche mit dem Rücken der rechten Hand. Die Predigt und der Kirchengesang hatten sie beide weich gestimmt.

»Es ist mir gar nicht so sehr um eine zweite Heirat, wie die Leute meinen und ausschreien«, bemerkte sie.

»Und ich mache mir aus Streit und Zank gar nichts«, warf er ebenso hin, »es läßt sich nur nicht ausweichen, wenn man gezwungen wird.«

So stockte nun das Gespräch, und doch verließ keiner seinen Platz.

»Wenn du einmal nach den Kähnen und Netzen sehen wolltest, Endrik«, begann sie nach einer Weile wieder. »Der Labuttis versteht von der Fischerei gar nichts und läßt alles zuschanden gehen.«

»Das glaub' ich«, entgegnete der Sohn. »Wie soll der Schullehrer etwas von der Fischerei verstehen? Er hat nicht einmal sein Amt gut verwaltet und ist abgesetzt worden.«

»Aber er versteht gut zu schreiben und zu rechnen«, sagte sie, »und ist sonst sehr brauchbar.«

Endrik warf den Kopf zurück. »Er schreibt manchmal allzu scharf, und wem er zugunsten rechnet, kann man doch noch nicht wissen.«

»Ja, man muß ihm auf die Finger sehen. Geld vertrau' ich ihm allemal ungern an.«

Darauf erwiderte er nichts.

»Du kommst also wegen der Kähne«, sagte sie zuletzt, »der große muß aufs Land und neu kalfatert werden.« Damit ging sie fort.

Er war nun doch ins Haus eingeladen worden und vergab sich nichts, wenn er im Hafen arbeitete und die Netze über dem Feuerraum revidierte.

So schien es sich denn auch ganz von selbst zu verstehen, daß er mit den Knechten auf das Haff hinausfuhr, solange das Wasser offen war, und später die Winterfischerei leitete, als das Eis festlag. Seine Mutter ließ ihn da ganz selbständig schalten und walten und erlaubte sich keine Einrede oder Weisung, was sicher nicht geschehen wäre, wenn er sich nie vom Hause entfernt gehabt hätte. Nun meinte sie, sich vorsichtig zurückhalten zu müssen, daß er sich nicht wieder verstören lasse. Wenn ihn die Nachbarn wegen seiner Tüchtigkeit und Umsicht rühmten, so hörte sie das gern.

Und als der Fischmeister einmal ansprach und sagte: »Der Endrik versteht die Fischerei wie der erfahrenste Wirt, das muß man ihm lassen«, da schmunzelte sie geschmeichelt und antwortete: »Ja, Herr Kapitän, er hat etwas gelernt bei seinem Vater, und was die Ordnung und Wachsamkeit angeht, da hat er an mir stets ein gutes Beispiel gehabt. Wir könnten uns ganz gut vertragen, wenn er nicht so ein Dickkopf wäre. Und in Richtigkeit miteinander sind wir auch noch nicht – das sag' ich im Vertrauen. Es will nur keiner ins Wasser blasen, daß es Wellen schlägt. Herr du mein Gott, wie muß ich mich in acht nehmen und bin doch die Mutter und die Wirtin! Na, vielleicht sieht er mit der Zeit noch ein, daß alles zu seinem Besten war.«

Sie merkte wohl, daß er die Else nicht besuchte, und nahm das für ein gutes Zeichen. Es gefiel ihr wenigstens, daß er soweit auf seine Mutter Rücksicht nahm und Ärgernis vermied. Aber viel war damit freilich nicht gewonnen. Wenn er in diesem Punkte nachgeben wollte, von dem doch aller Streit ausgegangen war, warum setzte er dann den Prozeß fort? Und das tat er mit der alten Hartnäckigkeit.

Wenn ein neuer Gerichtsbrief ankam, hatte Frau Grita tagelangen Verdruß. Dann war Labuttis wieder obenauf, wurde mittags und abends traktiert, mußte Bogen um Bogen vollschreiben. Dann schickte sie ihn auch fort, Holzankäufe zu besorgen oder Zahlungen zu leisten und ließ zur Nachbarin ein Wörtchen fallen, daß das Trauerjahr bald vorüber sei und zum Sommer dies und das geschehen könnte. Es sei immer soviel Geld unterwegs, und wenn man ihm nicht nachlaufe, rolle es leicht fort. Das sei nichts für eine Witwe, die mit ihrem Sohn prozessiere.

Labuttis sah bei alledem sehr gut ein, daß sein Glück auf schwankenden Füßen stand. Bei allem Diensteifer und bei aller Großtuerei mit seiner Geschäftskenntnis konnte er es doch nicht dahin bringen, seine Stellung sicher zu befestigen. Wie er auch schmeichelte und streichelte und allen Launen gefügig nachgab, er erlangte doch kein Versprechen. Überzeugt, daß es der Witwe mit der Heirat nicht Ernst sei, änderte er sein Ziel: es galt jetzt, möglichst viel Geld in die Hand zu bekommen, damit über die Grenze zu gehen und von drüben zur Sicherung seines Raubes unverschämte Entschädigungsforderungen für seine Dienste zu stellen.

Zu diesem Zwecke gab er sich den Anschein, als ob er mit russischen Juden ein ungewöhnlich großes Holzgeschäft einleiten wolle. In den Briefen, die er erhielt und vorlas, stand geschrieben, daß ein Edelmann von Wechselgläubigern verfolgt werde und deshalb seinen Wald niederschlagen lasse. Er verschleudere seinen Besitz, wenn er nur sofort bezahlt werde. Wer also bare Mittel flüssig habe, könnte zu Spottpreisen kaufen und später bei offenem Wasser hundert Prozent verdienen. Nur sei größte Eile nötig; das Geld müsse in acht Tagen bereitliegen, Je mehr, desto besser.

Labuttis kannte die schwache Seite seiner Herrin: sie liebte das Geld und vermehrte es gern.

»Was bei diesem Geschäft gewonnen wird«, zischelte er ihr ins Ohr, »das geht die Erben nichts an. Wir machend für eigene Rechnung. Da ist einmal etwas im großen zu verdienen und ohne alles Risiko. Denn wenn das Holz bezahlt ist, so können wir's flößen, sobald wir wollen. Für tausend Taler kaufen wir so viel wie sonst für zweitausend, und ich wette darauf, nach einem Monat können wir's an Ort und Stelle dafür losschlagen. Eine solche Gelegenheit, reich zu werden, kommt nicht so bald wieder. Aber still muß die Sache gehalten werden, sonst sind auch andere so klug – ganz still.«

Frau Grita griff nicht sogleich zu; es schien ihr eine ängstliche Sache, Labuttis soviel Geld in die Hand zu geben. Aber sie wies ihn doch auch nicht ab und hatte eine sehr unruhige Nacht. Einen Augenblick ging es ihr durch den Kopf, ob sie nicht bei einer so wichtigen Angelegenheit ihren Sohn um Rat fragen solle. Ihr Stolz aber ließ es nicht zu. Und als dann Labuttis noch einen Eilbrief brachte und auf rasche Entscheidung drang, gab sie ihre Zustimmung und begnügte sich mit seinem Empfangsschein. Noch denselben Tag reiste er ab. das schöne Geld in der Tasche.

Nun wollte es aber der Zufall, daß wenige Tage darauf einer von den russischen Juden, auf welche Labuttis sich berufen hatte, nach Gilge kam, um dort die alten Geschäftsverbindungen zu befestigen. Er besuchte natürlich gleich zuerst die Witwe Endromeit, die nicht wenig erstaunt war, zu hören, daß weder er noch seine Freunde an Labuttis Briefe geschrieben hätten, und daß von den Verlegenheiten des adeligen Gutsherrn drüben nicht das mindeste bekannt sei; er dächte gar nicht daran, seinen Wald niederzuschlagen.

Frau Grita wurde bleich vor Schreck und dann blau vor Ärger. »Der Schurke hat mich betrogen«, rief sie, »er hat mir mein Geld gestohlen! Oh, der nichtswürdige Schurke, der Dieb, der Räuber! Ist eine solche Lügenhaftigkeit in der Welt? Mein Geld – mein Geld! Meiner Kinder Erbe zu stehlen – mein Geld!« Sie riß die Mütze vom Kopfe und raufte ihr Haar, warf sich auf die Erde und lamentierte so gewaltig, daß alle Hausgenossen zusammenliefen.

Endrik versuchte lange vergebens, sie zu beruhigen.

»Der Dieb ist entwischt«, jammerte sie, »über die Grenze entwischt. Es gibt keine Gerechtigkeit drüben – er besticht die Polizei und die Richter. Mit meinem Gelde besticht er sie, der Spitzbube, der Räuber! Mit dem gestohlenen Gut besticht er sie! O – o – oh! ich Leichtgläubige, Betrogene!«

Endrik hatte Mitleid mit ihrem Kummer, und der Verlust ging auch ihm nahe. »Mutter«, sagte er, »es wäre doch möglich, daß wir ihm den Raub abjagen. Ich kenne drüben viele von den Beamten, mit denen mein Vater zu tun gehabt hat, und sie sind ihm immer gern behilflich gewesen, weil er ihnen so manchen Rubel in die Hand gesteckt hat. Es ist ihnen daran gelegen, mit uns Holzhändlern auf gutem Fuße zu stehen, weil sie von uns eine sichere Einnahme haben. Vertraue mir also den Empfangsschein an, damit ich mich ausweisen kann, und laß mich dem Schurken nachsetzen. Er ahnt nicht, daß er so bald schon ertappt ist, und wird sich nicht zu weit entfernt haben. Veitel Itzigsohn, hoff' ich, begleitet mich und zeigt mir zugleich das Holz, das er zu verkaufen hat. Ohne Verlust wird's nicht abgehen; aber das Ganze wollen wir doch nicht verloren geben.«

Das war ein verständiger Vorschlag, und der Jude, der wohl wußte, daß die Witwe ihre Mittel nicht erschöpft hatte, erklärte sich gern bereit, durch seine Verbindungen zu helfen. So wurde nun Endrik zur Reise ausgerüstet und fuhr mit ihm zu Schlitten sogleich nach der Grenze ab.

Es geschah dies nicht lange vor der Zeit, in die während des Schaktarp die geschilderten unglücklichen Ereignisse fielen. Endrik war also weit fort, als Else sich in Todesgefahr begab, um den Fischmeister und seine Familie zu retten. Sein Geschäft drüben war auch so schwierig, daß sich seine Rückkehr in Wochen nicht erwarten ließ. Bald nach Aufgang des Eises aber kam ein Brief an seine Mutter, worin Endrik berichtete, daß man Labuttis auf der Spur sei. Er halte sich zwar noch versteckt, mache aber durch Unterhändler schon Vergleichsvorschläge. Indes sei er von der Polizei umstellt und könne nicht entweichen; hoffentlich gelinge es, ihm den größten Teil des Raubes abzujagen. Man erzähle, daß er für den schlimmsten Fall Waffen bei sich trage; wenn aber erst sein Schlupfwinkel ausgekundschaftet sei, sollten sie ihm nicht viel helfen.

Durch diesen Brief wurde die Stimmung der Wirtsfrau sehr verbessert. Sie zeigte ihn auch dem Fischmeister, als derselbe durch Gilge kam, um nach Abgang des Eises das Haff zu revidieren und die Zeichen legen zu lassen, und sagte dabei: »Der Endrik ist doch ein tüchtiger Mensch; das ist ihm nicht abzustreiten. Zwar hat er seinen Kopf für sich, und vernünftig mit ihm reden hält schwer. Aber wenn's gilt, tätig einzugreifen und das Richtige zu treffen, da läßt er's nicht an sich kommen und vergißt allen Groll. Die Winterfischerei hat in vielen Jahren nicht so guten Ertrag gehabt, und wenn ich ihn jetzt nicht drüben hätte, wär' Labuttis längst auf und davon. Er ist von seines Vaters Art, und davon bringen wir ihn nicht ab. Wünscht man sich auch manches anders bei den Kindern, zuletzt muß man doch zufrieden sein und sie nehmen, wie sie der liebe Gott beschert hat.«

Grünbaum seufzte tief und goß das Glas Portwein hinunter, das frisch eingeschenkt war. »Das ist leider ein wahres Wort, Frau Gevatterin«, bestätigte er knurrig. »Den Teufel noch eins! Die lieben Eltern meinen immer, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben, und hinterher machen die Kinder sie doch klug. Meine Julie . . . Ach, ich hätt' auf das Mädchen schwören mögen – und so was muß nun in meinem eigenen Hause passieren! Ich hatte gesagt: ›Ich will's nicht!‹ Und damit sei's denn nun auch aus, meint' ich. Ja, prosit die Mahlzeit – noch lange nicht! Wie's an Kopf und Kragen geht, da kommt's heraus. Ich glaubte, der Schlag sollt' mich auf der Stelle rühren. Aber der Mensch hat ein zähes Leben – wahrhaftig! Na, viel hat nicht gefehlt, dann hättet ihr einen andern Fischmeister bekommen. Wenn die Else nicht ganz toll gewesen wäre – was ist denn davon zu reden? Sie hat's gut gemeint. Und heute denk' ich auch nicht mehr so, wie in dem Augenblick. Es hilft nichts, die Segel gegen den Wind zu stellen – man muß das Wetter nehmen, wie es kommt. Gegen den Görich, den Schlingel, ist sonst nichts zu sagen; er versteht seinen Beruf. Heraus ist's nun einmal, daß er im Hause gewesen ist; warum sollen die Leute erfahren, daß er in der Kammer gesteckt hat? Ist also alles mit meinem Wissen und Willen geschehen, und nun steht das Brautpaar fertig. Man muß noch froh sein, daß es sich so gefügt hat. Wenn ich denke, was für ein Skandal . . . Noch ein Glas, Frau Gevatterin, und das letzte. Was soll man sich Gedanken machen?«

Frau Grita nickte eifrig mit dem Kopfe. »Ja – ja – ja! Das Fräulein . . . Du lieber Gott, wenn sich einmal einer im Herzen festgesetzt hat! Und gleich und gleich gesellt sich gern. Wär' man vor einem Jahre so klug gewesen, es hätt' jetzt vielleicht manches ein anderes Aussehen. Ja – ja – ja! Was ich sagen wollte, Herr Kapitän – also die Else hat sich wirklich so brav gehalten? Das freut mich. Denn sie ist doch in meinem Hause aufgewachsen, und ich hab' immer große Stücke auf sie gehalten. Ist es denn wahr, daß sie die Medaille bekommen soll?«

»Berichtet ist deshalb an die Regierung«, sagte Grünbaum, »und wenn's nach dem Rechten geht, wie ich nicht zweifle, bekommt sie das Ding am Bande, wie gebeten wurde. Denn vier Menschen hat sie vom sicheren Tode gerettet und ihr eigenes Leben nicht einmal, sondern zweimal aufs Spiel gesetzt wegen meines verdammten Eigensinns. Es standen da Männer genug am Ufer und sperrten das Maul auf, aber gewagt hat's keiner. Das Mädel hat sie alle beschämt. Daß die Sache auch schlimm ablaufen konnte, sieht man an Jurgeitis. Wie der zwischen das Eis kam und die Balance verlor, war's auch gleich aus mit ihm. Wer weiß, wozu es sonst gut ist! Aber die Else tut mir leid – ihr Vater war er doch einmal. Na – ich habe für sie geschrieben, Bogen um Bogen, und alles nach der Wahrheit dargestellt, daß den Herren, wenn sie's lesen, ganz gruselig werden soll. Hilft's nichts, so ist's nicht meine Schuld.«

»Der Vater des Krügers drüben«, bemerkte die Frau, »hat einmal drei Fischer gerettet, und dafür die Medaille bekommen. Und nach seinem Tode hat sein Sohn sie auf ein Blatt Papier gesteckt und unter Glas einrahmen lassen und in der Herrenstube an die Wand gehängt. Wenn nun ein Fremder kommt und fragt, was das zu bedeuten hat, so erzählt er die Geschichte, und die ganze Familie hat große Ehre davon. In Inse hat auch einer die Medaille; den hatten sie nach Tilsit geschickt, als der Kronprinz da war, und er hat gleich mit ihm gesprochen. Daß aber eine Frau oder ein Mädchen die Medaille bekommt, das ist gewiß sehr selten.«

»Natürlich!« rief der Kapitän, »weil die Weiber selten soviel Mut haben, ihr Leben dranzusetzen, um einem das Leben zu retten, der sie eigentlich gar nichts angeht. Für den Mann oder Bräutigam springen sie allenfalls ins Wasser, wenn's nicht allzu tief ist. Na – 's mag auch im allgemeinen in der Ordnung sein; aber wenn alle Jubeljahr einmal etwas Außerordentliches passiert, soll's auch anerkannt werden. Übrigens ist es, recht von vorn angesehen, verdammt egal, ob sie den Orden bekommt oder nicht; denn getan hat sie doch, was sie getan hat, und der liebe Gott wird es ihr schon anrechnen. Wenn ich nicht ein so alter Knabe wäre, wissen Sie, was ich täte?«

»Ach, Herr Kapitän . . .«

»Ja, wahrhaftig, das tät' ich! ›Else‹, sagt ich, ›ich heirate dich.‹ Hm – es wär' freilich noch die Frage, ob sie mich wollte.«

»Und wo wird sie nun bleiben?«

»Das arme Frauenzimmer! Ja, vom Moosbruch muß sie fort. Ich glaube, sie hat das kleine Haus schon unter der Hand verkauft. Ist sie eigensinnig, so kann ich ihr nicht helfen; wenn sie aber zu mir kommen will, soll sie gehalten werden wie mein eigenes Kind. Einen Sack voll Geld kann ich ihr leider nicht schenken.«

»So – so – so –« knurrte die Alte; »nun – es wird sich ja etwas für sie finden.« Sie schenkte Grünbaum noch einmal das Glas voll und fing wieder an, von Endrik zu sprechen. Sie begleitete den Fischmeister hinaus bis zum Hafen und wechselte mit ihm noch Worte, als er schon seinen Kutter hinausschob. Es war, als ob sie noch etwas auf dem Herzen hätte, das gern herunter wollte und doch nicht konnte.

In den nächsten Tagen war sie voll geschäftiger Unruhe und keineswegs in angenehmer Stimmung. Dann kam wieder ein Brief von Endrik, in dem er schrieb, daß sie den Schulmeister gefaßt hätten. An dem Gelde, das sie ihm abgenommen, fehle noch nicht viel. In der Nacht habe man ihn in seinem Versteck überrascht, und er sei frech genug gewesen, auf seine Angreifer mit einem Revolver zu schießen. Er habe aber im Dunkeln schlecht gezielt, und der Streifschuß am linken Arm wolle nicht viel bedeuten.

Nun schien Frau Grita rasch zu einem Entschluß zu kommen. Sie ließ das große Boot ausrüsten und mit Lebensmitteln für zwei Tage versehen, ordnete im Hause die Wirtschaft für die Zeit ihrer Abwesenheit und sagte den Knechten, sie wolle nach Nemonien gefahren sein. Dort blieb sie aber nicht, sondern kommandierte die Weiterreise stromauf. Erst bei der Schenke am Moor ließ sie anlegen, und dort fragte sie, wo des Jurgeitis Kate auf dem Moosbruch sei. Sie fand sich leicht zurecht. Als sie aber an der Tür stand, zögerte sie doch eine ganze Weile, bis sie klopfte, und ihre Stirn war so voll Runzeln, daß sich von ihrem Besuch nicht viel Freundschaftliches erwarten ließ.

Else saß am Spinnrocken und summte ein schwermütiges Lied vor sich hin, während die alte Frau am Herd stand und im Kessel rührte. Als die Witwe eintrat, stand sie auf, behielt aber den Faden in der Hand. Ihr bleiches Gesicht rötete sich ein wenig, und die Fußspitze suchte den Pantoffel, der unter den Rocken geschlüpft war. Auch Frau Endromeit ging nicht sogleich auf sie zu, sondern verweilte an der Tür und rückte ihr Tuch zurecht. Sie nickte nur mit dem Kopfe, worauf die alte Frau am Herd gleichfalls mit einem Kopfnicken antwortete. Endlich sagte sie:

»Na, guten Tag, Else.«

»Guten Tag, Frau«, gab das Mädchen ihr zurück.

»Du hast andern Besuch erwartet?«

»Ich – ich dachte nicht, daß du es sein würdest.«

»Ja, es hat sich so gemacht.«

Das schien Else zu genügen. Sie wischte mit der Schürze über die Platte eines Stuhles und lud damit zum Sitzen ein. Dann ging sie zu der alten Frau, zischelte ihr etwas ins Ohr und legte ihr ein Geldstück in die Hand. Frau Grita, die es sich inzwischen bequem gemacht und ihren Korb neben sich an den Stuhl gestellt hatte, folgte mit den Augen allen ihren Bewegungen.

»Meinetwegen kannst du dein Geld sparen«, sagte sie. »Es ist möglich, daß ich bald wieder gehe. Wenn ich aber doch länger bleibe, esse ich von deiner Suppe mit, und die Zutat hab' ich hier für dich in den Korb gepackt. Du wirst doch nicht so stolz sein und dich weigern, von mir etwas anzunehmen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte sie sich seitwärts, packte aus dem Korbe zwei Würste und ein Stück Speck aus und legte sie auf den blaugestrichenen Kasten nebenan. Es schien sich nun ganz von selbst zu verstehen, daß die Alte den Auftrag nicht weiter ausführte. Else dankte aber auch nicht, sondern setzte sich an den Spinnrocken und wartete ab, was sich ergeben werden

»Ich höre, daß es dir schlecht gegangen ist«, begann darauf die Wirtsfrau.

»Ja«, sagte Else, »mein Vater ist gestorben.«

»Und du mußt vom Moosbruch fort.«

»Ja, ich muß nächste Woche räumen.«

Frau Endromeit schaute sich um. »Das Haus ist freilich schlecht –«

»Für arme Leute ist's gut genug. Es kostet auch nicht viel.«

»Bist du mit dem neuen Pächter schon ganz einig?«

»Ja. Aber ich muß ihm das meiste stehenlassen. Er hat selbst wenig und will's erst aus dem Lande herausbringen.«

»Das ist eine unsichere Sache.«

»Allerdings. Aber wenn ich das Haus abbreche, bekomme ich noch weniger beim Verkauf, und der Mann hat vier kleine Kinder und kann doch nicht unter freiem Himmel hausen.«

»Das ist wahr.«

Damit brach das Gespräch ab. Else schob den Rocken zurecht und drehte das Rad. Der Faden riß aber bald.

»Das war wohl ein schweres Stück Arbeit«, fing nach einer Weile der Gast wieder an, »beim Eisgang mit dem Kahn über den Fluß zu kommen?«

Das Mädchen lächelte kaum merklich. »Ich weiß damit umzugehen.«

»Wo saß denn der Fischmeister fest?«

Else zeigte aus dem Fenster hinaus. »Dort! Die Ziegel vom Schornstein und die Dachpfannen liegen noch im Wasser; man erkennt's an der Strömung.«

»Ja, jetzt sieht's nicht gerade gefährlich aus. Aber der Herr Fischmeister hat dir großes Lob erteilt, und es freut mich, daß du dich in der Not so brav gehalten hast. Wie war das denn eigentlich mit dem Forstgehilfen Görich?«

»Ich weiß nicht – er war da. Was kümmert's mich?«

»Hm, das Fräulein hat's nun bei ihrem Vater durchgesetzt. Sie sind Brautleute.«

»Es soll so sein.« Das Rad kam in schnellere Bewegung.

Wieder eine Pause in der Unterhaltung, diesmal eine recht lange.

Frau Endromeit hüstelte. »Hat dir denn der Herr Kapitän schon gesagt, daß er dich zu sich nehmen will?«

»Er hat davon wohl gesprochen. Aber ich gehe nicht zu ihm.«

»Du gehst nicht? Wo willst du dann aber bleiben, Else?«

Das Mädchen wischte eine Träne aus dem Augenwinkel fort. »Ich will weit weg von hier, in eine ganz andere Gegend – so weit wie möglich.«

»Weshalb aber?«

Else sah sie mit großen Augen fest an. »Weshalb?«

»Ich meine nur . . .« Sie hustete wieder. »Hör' mal, Else, ich will dir einen Vorschlag machen. Unter den Fremden wird es dir nicht gefallen, und wenn du sonst nichts Besseres weißt – komm' wieder in mein Haus zurück.«

Das war freilich ein sehr überraschender Vorschlag. Else glaubte nicht recht gehört zu haben.

»In dein Haus?«

»Nun ja, ich sag's ja: in mein Haus. Es kann meinetwegen wieder alles so sein, wie es ehedem gewesen ist. Du hast ja sonst auch nicht zu klagen gehabt.«

Else strich sich mit der Hand über die Stirn. »Aber wie sollte das geschehen können? Nein, nein – überall, nur nicht –«

»Ach was, du mußt nicht dumm sein, Else! Ich trage dir nichts nach. Komm' nur mit!«

Else schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann arbeiten«, sagte sie, »und brauche keinem zur Last zu fallen und zum Ärgernis zu sein.«

»Aber davon ist ja nicht die Rede! Es geschieht mir selbst ein Gefallen damit. Weshalb willst du nicht?«

»Wegen des Endrik!« platzte Else heraus, blutrot im Gesicht. »Ich weiß nicht, ob er noch an mich denkt. Wenn nicht, so will ich ihn nicht erinnern; wenn aber doch, dann taug' ich erst recht nicht in dein Haus.«

Frau Grita rieb die eine Hand mit der andern. »Der Endrik ist jetzt in Rußland«, sagte sie.

»Und will da bleiben?«

»I bewahre! Er kauft Holz für mich.«

»Und wenn er zurückkommt . . .«

»Dann werden wir uns einmal gründlich miteinander aussprechen. Dagegen hast du doch nichts?«

»Ich? Nein, ich will's ihm nicht schwer machen, sich mit seiner Mutter zu versöhnen. Mag er's tun! Aber in dein Haus, Grita, in dein Haus . . .« Es war, als schnürte sich ihr die Kehle zu, und als erstickten die Worte. Sie stand auf und schöpfte aus tiefster Brust Atem. »In dein Haus könnt' ich mit meinem Herzen nur zurück – als seine Frau, nicht anders.«

»Nun – wie mein' ich's denn auch anders?« rief die Witwe und schlug mit der Hand auf den Kasten. »Sonst hätt' ich dir's doch nicht angeboten! So unvernünftig bin ich doch auch nicht!«

Else trat im freudigsten Schreck rasch einen Schritt vor. »Ich soll . . . Grita! . . .« Sie stockte wieder, meinte, an das Unverhoffte gar nicht glauben zu können, senkte die Augen und heftete sie wieder mit ängstlicher Spannung auf das Gesicht der Frau.

»Ich sage, meinetwegen mag es geschehen«, fuhr dieselbe in knurrigem Ton fort. »Lieber wär' mir's anders gewesen, und schwer genug kommt mich's an . . . obgleich ich gegen dich sonst gar nichts habe. Ganz im Gegenteil! Daß du ein tüchtiges Mädchen bist, braucht mir keiner zu sagen – und diese letzten Geschichten . . . Ich sage: meinetwegen mag es geschehen, und damit gut. Kann's der Herr Fischmeister überwinden, überwinde ich's auch. Aber daß du nur nicht glaubst, der Endrik habe mir es abgetrotzt! Der weiß gar nichts davon, daß ich dich besuche und wieder zu mir nehme – kein Wort hat er zu mir gesprochen, daß ich es tun möchte. Wenn einer mich auf andere Gedanken gebracht hat, so könnte es eher der Herr Fischmeister gewesen sein. Das heißt auch nur, so krumm herum. Was ich will, das will ich von mir ganz allein, und nun ich einmal ja gesagt habe, so soll's sein aus freien Stücken, und so ist mir's auch recht und lieb. Und deshalb wär' es gar nicht nötig, daß du dich verwunderst, sondern du packst deine Sachen und kommst mit, und das andere versteht sich alles von selbst. Verstehst du?«

Das war nun wohl deutlich genug. Else zitterte am ganzen Leibe, und die Tränen perlten ihr aus den Augen; sie sank in die Knie nieder und drückte ihr Gesicht in den Schoß der alten Frau. »Das mag dir Gott vergelten«, schluchzte sie, »daß du so an mir handelst. Den Vater habe ich verloren, aber die Mutter habe ich gefunden. Und Endrik . . . Endrik . . .« Sie küßte unaufhörlich ihre Hände und konnte sich nicht satt weinen.

Auch Frau Grita merkte, daß ihr das Wasser in die Augen kam. »Ei du mein Jesus«, sagte sie abwehrend, »was ist das für ein Geplärre! Hat man seine liebe Not mit den Kindern! Es ist ja gut! Der Endrik, denke ich, wird nicht andern Sinnes geworden sein – sonst kann ich dir freilich nicht helfen.«

»Oh, der Endrik ist gewiß treu!« rief Else; »und jetzt kann ich mich ja darüber freuen! Das ist ein froher Tag! Sieh, wie die Sonne hell scheint . . . o Gott! o Gott! Ich kann's gar nicht aushalten hier in dem engen Raume. Draußen singen die Leichen . . . laß mich nur ein kleines Weilchen – ich bin gleich wieder bei dir!«

Damit stürmte sie hinaus und lief eine Strecke in den Moosbruch hinein, bis um sie alles wüst und öde war. Da fiel sie auf die Knie und betete laut mit Worten heißen Dankes, wie sie in keinem Buche standen. Die Heidelerchen aber trillerten dazu.

Und dann ging sie ganz gesetzt nach Hause zurück, überlegend, wie sie ihre Angelegenheiten rasch in Ordnung bringen könne, und sagte der Witwe, heute könne sie noch nicht fort, aber morgen wäre es möglich. Frau Endromeit entschloß sich, die Nacht zu bleiben, und half beim Zusammenpacken der Sachen. Die Alte schickte Else zu dem Mann, der das Haus übernommen hatte, und ließ ihm sagen, daß er am andern Tage einziehen könne.

Als er anlangte, war sie schon mit der Wirtsfrau unterwegs nach Gilge.

*

Zwei Wochen später kam Endrik, nachdem er seine Geschäfte in Rußland zur Zufriedenheit erledigt hatte, mit dem Dampfschiff von Tilsit den Fluß herab. Da dasselbe erst in Nemonien Station machte, hatte er den Kapitän gebeten, ihn in der Nähe von Karolinenbruch auszusetzen, falls sich dort ein Fischerboot heranwinken lasse. Er hätte nach Gilge auch einen andern Weg gehabt; aber es stand schon lange bei ihm fest, daß er nicht nach Hause zurückkehren wolle, ohne vorher Else besucht und ihr gesagt zu haben, daß sie sich durch nichts von dem, was geschehen. solle beirren lassen. Seiner Mutter in der Not zu helfen, sei Sohnespflicht gewesen, und Ärgernis habe er gern vermieden. Nun, zum Sommer, müsse er aber zusehen, wie er etwas auf eigene Hand unternehme, damit er ihr Wort halten könne. Nach der langen Trennung freute er sich schon auf dieses Wiedersehen.

Von dem, was dem Fischmeister begegnet war, hatte er nicht das mindeste erfahren. Erst als er bei der Ausschau über den Strom sein Haus an der bekannten Stelle vermißte und verwundert einen der Matrosen danach fragte, erhielt er von ihm die nötige Auskunft. Ein Händler aus Labiau, der das Gespräch mit angehört hatte, mischte sich ein und sagte: »Es hat ja sogar in den Zeitungen gestanden. Ein Schuft – ich habe seinen Namen vergessen – ich glaube, so einer vom Moosbruch drüben, soll aus Rachsucht im Winter alle Pfähle unter dem Hause eingesägt haben. Und dann hat ihm der Schaktarp geholfen, der in diesem Jahre schlimm genug war. Das Eis soll das Haus fortgeschoben und mitten im Strom niedergesetzt haben, und der Fischmeister wäre sicher mit seiner ganzen Familie elendiglich im Wasser umgekommen, wenn nicht das Mädchen, von dem der Matrose sprach, mit Lebensgefahr geholfen hätte. Es ist ein rechtes Heldenstück gewesen, stand in den Zeitungen.«

»Nannte er das Mädchen vielleicht Else?« fragte Endrik, gespannt aufmerkend.

»Die Else vom Moosbruch – ja. Ihr Vater ist bei dieser Gelegenheit ertrunken. Wo der Fischmeister jetzt wohnt, weiß ich nicht.«

Endrik rief einem Jungen, der eben ein Boot übersetzte, zu, er solle herankommen und ihn aufnehmen. Der Kapitän ließ die Maschine einen Moment stoppen, damit er ungefährdet absteigen könnte.

Der Junge kannte Endrik, erzählte die Geschichte noch umständlicher und bestätigte, was er gleich geahnt hatte, daß Else Jurgeitis die kühne Retterin gewesen sei. Am Moosbruch abgesetzt, eilte Endrik sogleich auf das kleine Häuschen zu, das wackere Mädchen in seine Arme zu schließen. »Else – Else!« rief er schon draußen an der Tür.

Aber es öffnete ihm eine ganz fremde Frau, die ein kleines Kind auf dem Arme trug und einen Knaben, der sie plärrend am Rock festhielt, mit Scheltworten zurückjagte. »Der Jurgeitis ist ertrunken«, gab sie zur Auskunft, »und seine Tochter hat uns das Haus verkauft. Sie ist nicht mehr hier.«

»Aber wohin ist sie gegangen?« fragte Endrik sehr beunruhigt.

»Das weiß ich nicht«, lautete die Antwort. »Sie wird sich ja schon melden, wenn sie ihr Geld zu fordern hat. Weiß Gott, wie wir es aus dem elenden Lande herauswirtschaften.«

»Sie wird doch aber gesagt haben, wohin sie geht.«

»Ich habe sie gar nicht mehr getroffen, als wir anzogen. Eine Wirtsfrau soll sie abgeholt haben – aus Gilge, glaube ich.«

»Aus Gilge?«

»Oder aus Inse – ich habe mich darum wenig gekümmert. Am liebsten wäre es uns, sie meldete sich gar nicht mehr.«

Ein Weiteres war aus der Frau nicht herauszubringen. Endrik ging traurig nach dem Fluß zurück, mietete einen kleinen Kahn und ließ sich nach Nemonien bringen. Es war ihm jämmerlich zumut, als sei Else verloren und im Leben nicht wiederzufinden; er machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er seiner Mutter wegen so lange gezögert und sein Glück verscherzt habe.

Ohne Aufenthalt ging er durch das lange Dorf und dann am Haffufer entlang auf Gilge zu, so durchbrüchig die Wiesen auch in dieser frühen Jahreszeit noch waren. Er wollte nur schnell zu Hause sein, um seiner Mutter Rechnung zu legen und darauf für immer fortzugehen.

Es war schon gegen Abend, als er diesseits des Gilgestromes anlangte und am Kruge vorbei auf eine vortretende Stelle des Ufers zuschritt, die dem väterlichen Grundstück gegenüberlag. Da er im kleinen Hafen drüben neben den Holzreihen jemand zu bemerken glaubte, winkte er mit dem Tuche, wie das auch sonst geschah, daß man ihn abhole. Sogleich wurde ein Handkahn freigemacht und in den Strom hinausgeschoben. Eine weibliche Person führte ihn mit solcher Geschicklichkeit, daß Endrik stutzig wurde. Und nun beim Näherkommen – nein, das mußte ein Augenverblendnis sein! Aber doch . . . Herr im Himmel – Else! Er beugte sich vor, daß er beinahe ins Wasser hinabglitt, hielt die Hand über die Stirn, um das blendende Licht abzufangen, kniff sich in den Arm zur Probe, ob er wach sei. »Else – kein Zweifel– Else! Aber da muß ja ein Wunder geschehen sein!«

Und immer rascher näherte sich der Kahn; zuletzt flog er förmlich über den glatten Wasserspiegel, von den kräftigen Ruderschlägen getrieben. Und haarscharf traf er die Stelle am Ufer, wo Endrik stand. Er sprang hinein mit ausgebreiteten Armen und umfaßte stürmisch das liebe Mädchen. »Else«, rief er, »bist du es denn wirklich und leibhaftig? Habe ich geträumt? Bist du noch immer in meiner Mutter Haus? Oder . . . Nein, es ist nicht zu glauben.«

»Setze dich nur«, sagte sie, »ich erzähle dir alles bei der Überfahrt. Es braucht nicht vieler Worte. Deine Mutter selbst hat es so gewollt.« Sie stieß ab und ließ den Kahn eine Weile treiben. Er wollte ihre Hand gar nicht losgeben. Dann, als der Bericht beendet war, nahm er selbst das Ruder und beeilte sich, in den Hafen zu kommen. Nicht rasch genug glaubte er seiner Mutter danken zu können.

»Na – na!« sagte sie, »zerreiße mich nur nicht gleich. Die Else sollst du zur Frau haben, wenn es doch nicht anders sein kann; aber mit der alten Mutter müßt ihr schon das Haus teilen. Wir werden uns ja hoffentlich vertragen, nachdem wir uns so gründlich ausgezankt haben.« –

Nicht lange Zeit darauf kam eines Tages der Fischmeister. An seinem Kutter hatte er die große Flagge aufgehißt, und er selbst trug seine Staatsuniform. Mit ihm waren Julie und ihr Bräutigam. Auch den Fischerschulzen und zwei Geschworene hatte er mitgebracht. Er klopfte an das Fenster und rief hinein: »Nun kommt es, Frau Gevatterin! Wo ist die Else? Sie soll einmal ihre beste Jacke anziehen; denn was ich mit ihr zu reden habe, das ist geredet im Namen des Königs. Ein Glas Portwein hinterher kann nichts schaden. Flugs, flugs! Ich warte noch eine Minute draußen.«

Als er dann eintrat, hielt er an Else, die von Frau Endromeit an der Hand hervorgezogen wurde, eine feierliche Ansprache und steckte ihr die Rettungsmedaille an die Brust mit einem laut schallenden: »Seine Majestät, unser allergnädigster König soll leben, vivat hoch!« Das Mädchen war glühendrot vor Scham, zog die Nadel gleich wieder heraus und reichte den Orden Endrik hin, der ihn ihr doch nicht abnehmen wollte. »Aber das schickt sich ja nicht für mich«, stammelte sie, »und wenn ich damals nicht so traurig gewesen wäre, vielleicht wäre es gar nicht geschehen.«

Der Fischmeister lachte. »Traurig oder lustig, darauf kommt es dem König nicht an, und vor dem lieben Gott putzen wir uns ja mit so etwas doch nicht aus! Nun aber paß einmal auf, Kind, was ich noch zu sagen habe. Die gute Königin hat erfahren, daß ein litauisches Mädchen sich so tapfer benommen, und hat sich den Bericht vortragen lassen und hat aus eigener Bewegung gesagt, wie sie das alles nach der Wahrheit gehört hat: ›Die Else Jurgeitis soll aus meiner Schatulle ihre Ausstattung erhalten, wenn sie heiratet, und es soll nicht geknausert werden‹ – oder ungefähr so. Und das wird nun vom oberburggräflichen Amt nach Befehl ausgerichtet werden. Na – ist es so recht, Frau Endromeit? Wenn ich einmal für einen schreibe, dann schreibe ich ordentlich!«

Um Johanni gab es in Gilge eine lustige Hochzeit.


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