Ernst Wichert
Mutter und Tochter
Ernst Wichert

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Ungefähr in der Mitte der Westküste des Samlandes liegt ein Ort Namens Palmnicken. Es befindet sich dort eine großartig betriebene Bernsteingräberei und -taucherei. Hoch auf dem Seeuferberge liegt die prächtige Villa des Unternehmers, etwas tiefer das Grubenhaus mit seinem Zubehör. Bergwerksmäßig wird tief ins Land hinein die noch unter dem Meeresspiegel liegende »Blaue Schicht« ausgehoben, in welcher sich das samländische Gold birgt. Am Seestrande aber liegt eine Reihe großer und fester Boote, zur Taucherei bestimmt, die eine Strecke seewärts, wo sich der Bernstein unter den mächtigen Steinlagern fängt, tagaus tagein betrieben wird, wenn nicht Stürme und hoher Seegang die Arbeit untersagen.

Ein solches Boot ist mit mindestens vier Leuten bemannt, mit der Luftpumpe und dem Taucherapparat ausgestattet. Die Taucher sind meist kräftige Litauer; sie zeigen sich am besten den Strapazen dieses auch im Winter nicht ruhenden Dienstes gewachsen. Auf der richtigen Stelle angelangt, werfen sie einen Anker. Der Taucher bekleidet sich mit dem wasserdichten Gummianzuge, schnallt die schweren Bleischuhe unter die Sohlen, hängt den Tornister um, durch welchen die verbrauchte Luft abfließen soll, und steigt auf die außen am Boote angebrachte Treppe. Nun nimmt er die Platte des Luftschlauchs, der in die Pumpe mündet, zwischen Lippe und Zähne; um einen kupfernen Ring, mit dem der Gummianzug über dem Gesicht abschließt, wird ein Helm geschraubt, in welchem sich zwei große Glasaugen befinden. In demselben Augenblick setzen die beiden Arbeiter an der Luftpumpe den Druckapparat in Bewegung.

Der Taucher wirft sich rücklings ins Wasser und sinkt langsam unter. Wo er am Grunde tätig ist, brodeln von Zelt zu Zeit auf der Oberfläche Luftbläschen auf. Er hat eine Eisenstange in der Hand, mit der er die Steine aufhebt, und einen Beutel umgehängt, in den er den aufgefundenen Bernstein wirft. Wohl zwei, auch drei Stunden lang vermag er's in der Tiefe auszuhalten. Dann zieht er die Glockenschnur und wird an der Leine bis zur Treppe hinausgehoben. Ein anderer Mann löst ihn ab. So wechseln sie bis zur Heimfahrt.

Es ist ein mühseliges und gesundheitsgefährliches Gewerbe. Auch die kräftigsten Männer bleiben von einem Lungenleiden nicht lange verschont, und alt werden die wenigsten.

Hierher hatte Jons Kalwis nach längerem Umherirren seinen Weg gefunden. Man wollte ihn nicht annehmen, da er schwächlich und kränklich aussah, aber er bestand darauf, in die Reihe der Taucher eingestellt und wenigstens zu einem Probedienst zugelassen zu werden. Er sei gesund und jetzt nur ein wenig heruntergekommen. Man versuchte es mit ihm und fand ihn tauglich.

Sein Körper freilich kräftigte sich nicht. Es kostete ihn offenbar die größte Anstrengung, sich in dem schweren Anzug aufrecht zu halten, und oft kam er ganz erschöpft aus der Tiefe herauf und lag dann längere Zeit bleich und schwer atmend im Boot. Aber er blieb solange unten wie andere Taucher und brachte meist seinen Beutel mit schönen und großen Stücken gefüllt herauf. Es nützte auch nicht, daß man ihm riet, sich zu schonen: er gab kaum darauf eine Antwort. Überhaupt galt er für den schweigsamsten Menschen, den man je kennengelernt hatte. Wäre es nicht bekannt gewesen, daß er sehr wohl sprechen könne, man würde ihn nach tagelanger Bekanntschaft für stumm gehalten haben. Er erhielt auch wirklich den Beinamen »Nebielies«, das heißt: »der Stumme« und wurde bald nur noch mit ihm bezeichnet. Er suchte keinen Freund, hielt sich meist allein, ging nie ins Wirtshaus, trank auch auf dem Boot selbst bei kaltem Herbst- und Winterwetter nur den Schluck, der zur Erfrischung der Lebensgeister nach der Taucherarbeit durchaus erforderlich war. Nahm ihn nicht die Arbeit in Anspruch, so schlief er oder saß auf der Düne und schaute aufs Meer und in die Wolken hinaus. Von seinem Verdienst gebrauchte er nur den kleinsten Teil für sich; das übrige gab er den Armen. Als einer von den älteren Tauchern nach schwerem Brustleiden verstarb und neben der Witwe eine Tochter hinterließ, die Madle hieß, nahm er sich der Familie wie ein Vater an.

Niemand wußte, wo Nebielies zu Hause, und daß er verheiratet war. Er hatte seine Schlafstelle in der Herberge und außer seinen Kleidern gar kein Besitztum. Madle Bennufzies und ihre Mutter hätten ihm allzu gern seine Wohltaten durch ihre Dienste vergolten, aber sie mußten schon froh sein, wenn er einmal durch sie ein Kleidungsstück ausbessern oder sich von ihnen das Essen aus dem Speisehause bringen ließ. Ihren Dank lehnte er ab. »Ich habe ein Mädchen gekannt, das Madle hieß, wie du, und auch ungefähr in deinem Alter war,« hatte er einmal gesagt, »deshalb tu' ich's. Das Mädchen ist tot.« Weitere Fragen beantwortete er nicht. Bald fragte auch niemand mehr.

Zu Madle fand sich ein junger Litauer, der an den Luftpumpen arbeitete. Aber sie konnten nicht heiraten, da sie zu arm waren. Dazu vermochte nun auch der Stumme nicht zu helfen.

So lebte Kalwis nun schon ins vierte Jahr; sein Leib war abgemagert, seine Gesichtsfarbe gelb, sein Atem keuchend, aber er versäumte keinen Tag den Dienst. In den großen Augen loderte noch etwas von dem früheren schwärmerischen Glanz, aber er senkte sie meist zur Erde, wenn man ihn anredete. Er las nie mehr in einem Buch, er ging keinen Sonntag zur Kirche. Wohl schien ihm nur zu sein, wenn der Kupferhelm sich vor seinem Gesicht geschlossen hatte und er durch dessen Glasaugen um sich herum das Seewasser grünlich schimmern sah. Da auf dem Meeresgrunde zwischen den Steinen hin und her schreitend, die viele Jahrtausende lang kein Lufthauch berührt hatte, konnte er sich einbilden, ganz allein auf der Welt zu sein. Da grübelte er über den Zusammenhang der Dinge nach, wie früher, und kam nie zu einem befriedigenden Schluß; da erneuerte er die alten glückseligen und schmerzlichen Erinnerungen, da sagte er in Gedanken die schwermütigen Lieder her, die er einst gelernt oder selbst gedichtet hatte, da bat er Gott um Verzeihung für alles Unrecht, das er getan, betete inbrünstig zu seinem Sohn, daß er Madle in Gnaden ansehen wolle, wie einst eine andere Magdalena. Immer zu kurz wurde ihm die Zeit tief unten in solchen Betrachtungen.

Eines Tages kam eine litauische Frau nach Palmnicken und erkundigte sich nach Jons Kalwis. Sie habe kürzlich von einem Manne ihrer Bekanntschaft, der hier Arbeit gesucht, aber auf die Dauer nicht gefunden habe, erfahren, daß er hier bei der Taucherei beschäftigt sei. Sie wäre seine Frau. Ihr unheimliches Wesen hatte bewirkt, daß man sie überall kurz abfertigte; die meisten wußten nicht einmal, daß ein Jons Kalwis bei den Tauchern sei. Endlich hatte ihr ein Aufseher geraten, sie solle nur nach Nebielies fragen. So gelangte sie in die Nähe des Schlafhauses, eben als der Gesuchte herausgetreten war, um nach dem Boot zu gehen.

Er stutzte, starrte sie eine Weile sprachlos an, trat wie taumelnd einen Schritt zurück. »Was willst du?« fragte er endlich mit lallender Zunge.

»Jons,« bat Urte, »komm mit mir nach Hause. Es war, seit du fortgingst, eine schrecklich lange Nacht. Laß mich nicht länger allein.«

Er schüttelte den Kopf und streckte die Hand zitternd vor sich hin. »Warum suchst du mich?« entgegnete er. »Du wußtest, daß ich nicht gefunden sein wollte. Ich bin für dich nicht mehr unter den Lebenden und für mich auch nicht. Gönne mir Frieden.«

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich habe selbst keinen Frieden, und deinetwegen war's doch, daß ich ihn verlor. Das Haus ist so einsam – der alte Mann ist nicht mehr nebenan. Mir graut in der Nacht. Ich will's nicht länger allein tragen. Komm mit! Sind wir zu zweien, so tut's uns nichts.«

»Ich bleibe«, rief er. »Nie wieder setz' ich den Fuß über deine Schwelle.«

»So bleibe auch ich«, trotzte sie. »Ich bin dein Weib und gehöre zu dir. Schüttle mich ab, wenn du kannst.«

»Es darf nicht sein«, antwortete er, sie abwehrend. »Dort oder hier – ich bin dir nichts mehr. Geh – geh! Wir hätten einander nie mehr wiedersehen sollen.«

»Ich gehe nicht«, versicherte sie mit großer Festigkeit. »Hab' ich dir nicht alles verziehen, was eine Frau und Mutter verzeihen kann! Und du willst mich so unchristlich verwerfen?«

»Sorge, daß Gott dich nicht verwirft«, sagte er, die Hand erhebend. »Ich bin ein sündhafter Mensch und kann deine Seele nicht retten. – Und nun laß mich an die Arbeit gehen, sie warten schon auf mich.«

Er schritt rasch dem Abberge zu und die Holztreppe nach dem Strand hinunter. Urte folgte ihm. Das Boot lag in der Schälung. Er sprang hinein, indem er ihm zugleich einen Stoß ins tiefere Wasser gab. »Nehmt mich mit«, flehte die Frau. »Er muß mich hören – er ist mein Mann!«

Sie ruderten schon über die Brandung hinweg.

Aber die Besatzung eines zweiten Boots, das eine halbe Stunde später ausfuhr, gelang es ihr mit Geld zu bestechen. Man nahm sie mit und ließ sie in das erste Boot übersteigen.

Jons war bereits in der Tiefe. Man zeigte auf die Richtung der Leine und des Luftschlauchs. Ängstlich starrte Urte über Bord in das graugrüne Wasser, als hätte sie auf dem Grund etwas erspähen können. Einen Augenblick war es ihr wirklich so, als ob sie eine ungeheuerliche Gestalt mit dickem Kopf und großen Augen nicht weit unter der Oberfläche gesehen hätte; sie war gleich wieder versunken. Die Litauer im Boot plauderten untereinander, erzählten von dem »Stummen«, was sie wußten, erkundigten sich nach seinen häuslichen Verhältnissen. Es war allgemeine Verwunderung, als sie hörten, daß er ein reicher Wirt sei. Sie hätten ihn lange für nicht ganz gesund im Kopf gehalten, sagten sie.

Jons war schon drei Stunden unter Wasser. Seit längerer Zeit hatte er die Stelle auf dem Grunde nicht verändert. Der mußte da ein gutes Bernsteinnest gefunden haben, meinten die Leute. Dann aber fiel es ihnen auf, daß die verbrauchte Luft nicht abgurgelte. Da das Wasser bewegt war, hatte sich dieser Umstand vielleicht schon längere Zeit ihrer Beobachtung entzogen. Als sie noch darüber sprachen und sich verwunderten, daß er nicht das Zeichen gebe, tauchte plötzlich in der Richtung der Leine ein dunkler Gegenstand über die Oberfläche, wie in die Höhe geschnellt. Man zog ihn eiligst heran. Er gab keine Hilfe mit den Händen; er stellte sich an der Treppe nicht aufrecht. Ein Mann mußte hinaustreten und ihn mit dem Oberkörper aufrichten. Da er nicht auf die Stufen trat, mußte man ihn über Bord ins Boot ziehen, was nur mit großer Mühe gelang. Das Vorderstück des Helms wurde abgeschroben. Zischend entwich die Luft. Als man endlich in die nun offene Hülle hineinzusehen imstande war, starrte daraus ein bleiches, bewegungsloses Gesicht hervor. Die Augen waren halb geschlossen; der Mund, der den Schlauch losgelassen hatte, fest verbissen. Jons Kalwis war für ewig stumm.

Das Weib stieß einen markerschütternden Schrei aus und warf sich über den Toten. »Jons, Jons,« klagte sie, »warum hast du mir das getan?«

Das Boot wurde sogleich ans Land gerudert, der Tote auf den Sand gelegt. Eine große Menschenmenge strömte zu. Ein solcher Unglücksfall hatte sich noch nie vorher ereignet. Man erging sich in allerhand Vermutungen, sonst ohne nähere Beteiligung. Nur die Witwe Bennuszies und Madle knieten neben dem Toten und weinten ihm aufrichtige Tränen nach.

Drei Tage darauf ließ Urte ihn begraben. Als er in die Erde gesenkt wurde, fiel sie in unbändigem Schmerz nieder, raufte sich das Haar und schrie unaufhörlich: »Mein Kind, mein Kind!« Man hielt sie für geisteskrank. Die beiden Frauen nahmen sich ihrer an.

Dann reiste sie in die Heimat zurück, verkaufte ihr Grundstück und kam mit einem reichen Vorrat von Geld wieder nach Palmnicken. Auch die Bücher brachte sie mit, die Jons lieb gewesen waren, sonst nichts von ihrer früheren Habe. Sie erwarb ein Häuschen nicht weit vom Kirchhof und betete täglich am Grabe ihres Mannes.

Für Madle Bennuszies schien sie eine tiefe Neigung gefaßt zu haben. Sie behandelte sie wie eine Tochter und sagte tausendmal: »Du und deine Mutter, ihr seid ihm lieb geworden; ich will euch Gutes tun, wie er euch Gutes getan hat.« Sie stattete Madle reichlich aus und richtete für sie die Hochzeit mit ihrem Annuszus her.

Man glaubt allgemein, daß sie ihre Erbin sein wird. Aber sie weiß nicht einmal, daß Urte eine Tochter hatte, die Madle hieß, wie sie. –


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