Ernst Wichert
Mutter und Tochter
Ernst Wichert

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Die Hafenstadt Memel. Federzeichnung von Ernst Wichert

Mutter und Tochter

In einem der ersten Kämpfe um den Besitz Böhmens im Sommer 1866 war mit vielen anderen auch der Landwehrmann Jakubs Endratis gefallen.

Er war ein angesehener Wirt in dem litauischen Dorfe Aßpurtellen gewesen und hatte eine Witwe und ein Töchterlein hinterlassen, das damals erst drei Jahre zählte.

Die Wirtschaft befand sich in ziemlich gutem Zustande. Endratis hatte, nicht lange nachdem er seiner Militärpflicht genügt, das elterliche Grundstück übernommen, seinen Geschwistern eine Abfindung, den beiden Alten aber ein reichliches Ausgedinge sichergestellt. Diese Lasten drückten anfangs nicht gerade schwer, weil man sich gut vertrug, die Altsitzer am Tisch der Kinder aßen und die Geschwister »für die Zinsen« und andererseits gegen die üblichen Dienstleistungen im Hause unterhalten wurden. Die Schwiegertochter hatte etwas eingebracht und noch mehr zu erwarten, deshalb war sie wohlangesehen in der Familie. Bei ihrer Jugend und Unerfahrenheit mochte sie auch wenig geraten finden, ihrer Machtbefugnisse wegen Streit zu beginnen, zumal Jakubs zu seiner Länge von mehr als sechs Fuß auch das Kraftgefühl eines mit soldatischer Derbheit befehlenden Menschen besaß. Selbst von der Schwiegermutter erhielt Urte das Lob, daß sie sich in die Hausordnung immer zu fügen wisse.

Daß Urte freilich nicht ganz das sanfte Täubchen war, für das man sie so lange halten durfte, zeigte sich, als sie – fast drei Jahre nach der Hochzeit erst – Mutter geworden war. Sie schien auf dieses Ereignis nur gewartet zu haben, um ganz unvermutet mit großer Entschiedenheit als die Wirtin aufzutreten. Sie hatte die Schlüssel nicht ohne heftigen, eine Zeitlang selbst erbitterten Kampf behauptet. Auch war die Folge gewesen, daß die Altsitzer nun die vertragsmäßigen Leistungen beanspruchten und zwei von den Geschwistern des Mannes abzogen.

»Nun bist du erst der Wirt«, hatte Urte zu ihrem Manne gesagt. Darin konnte sie recht haben, er hatte auch eine Frau neben sich, die überall gefragt und gehört sein wollte. Vielleicht wäre ihr's mit allen Mitteln, die einem jungen, hübschen und klugen Weibe zu Gebote stehen, doch nicht gelungen, seinen störrischen Sinn zu bändigen, wenn das Kind nicht geholfen hätte. Es blieb bei diesem einen. Jakubs war in seine kleine Madle völlig vernarrt und kannte gar kein größeres Vergnügen, als mit ihr wie mit einer Puppe zu spielen. Urte brauchte sie nur auf den Arm zu nehmen, um bei dem heftigsten Streit mindestens vor einem Zornausbruch sicher zu sein. Als das Kind gehen gelernt hatte, nahm sie es immer an die Hand, wenn sie irgend etwas Verdrießliches verhandeln mußte, und es schien, als ob ihr dann niemand böse begegnen könnte. Es ließ sich aber auch wirklich nichts Niedlicheres sehen, als die kleine Madle mit dem flachsblonden Haar und den himmelblauen Augen, und als sie gar zu plaudern anfing und so komisch die Worte verdrehte, sah man in ihrer Nähe stets nur heitere Gesichter. Schickte die Mutter sie in die Altsitzerstube, um etwas zu bitten, so kam sie nie mit einer abschlägigen Antwort zurück. Als Jakubs in den Krieg mußte, wurde ihm der Abschied von keinem so schwer, wie von Madle. Nicht Frau Urte, sondern Madle erhielt den letzten Kuß.

Die Todesnachricht erschütterte Urte keineswegs so tief, als der Herr Landrat vorausgesetzt haben mochte, da er eigens seinen Kreissekretär mit dem Brief zu ihr schickte, damit er ihr tröstend vorstelle, wie Endratis als tapferer Soldat für seinen König gestorben sei. Sie lamentierte zwar ein wenig, wie es einer jungen Witwe in solchem Fall geziemte, aber sie weinte nicht. Erst als Madle die kleinen Arme um ihren Hals legte und nach dem Vater fragte, wurde sie weich. »Einen Vater hast du nicht mehr, du armes Kind,« sagte sie, »aber Gott wird mich hoffentlich nicht verlassen, daß ich dir helfe. Du bist nun mein ein und alles auf der Welt. Wenn du mir bleibst, will ich nicht verzagen!«

Sie hatte sich ohne Jakubs sehr gut beholfen, und sie vermißte ihn auch jetzt wenig. Vielleicht am schmerzlichsten war ihr's, daß sie ihn nicht konnte feierlich begraben lassen. Nun sorgte sie wenigstens, daß in der Kirche an drei Sonntagen für ihn gebetet wurde, und sie saß selbst dabei dicht unter der Kanzel, in ein schwarzes Kopftuch gehüllt und Madle auf dem Schoße haltend. Jedesmal steckte sie in die Armenkasse an der Kirchtür ein Geldstück, das schwer auf den Boden fiel. Erdmons Endratis erhielt die Sonntagskleider seines verstorbenen Sohnes, der Knecht und Hütejunge durften die schlechteren teilen; nur den Pelz, den sie selbst auf den Achseln und unten an den Ärmeln mit roter Seide benäht hatte, und ein Paar hohe Stiefeln behielt sie zurück, zum Andenken oder um selbst davon Gebrauch zu machen. Sie war ja nun der Wirt.

So sollte es auch bleiben. Zwar stellte ihr Erdmons eindringlich vor, daß sie doch als eine so junge Frau nicht werde wirtschaften können und daher am klügsten ihm oder seinem zweiten Sohn das Grundstück abtrete. Aber Urte wollte davon nichts wissen. Sie zweifelte nicht, daß sie bald nicht besser als eine Magd im Hause angesehen sein würde, wenn sie das Regiment abgäbe, und daß den Versprechungen derer nicht um die Ecke zu trauen sei, die von ihrem Unglück meinten Nutzen ziehen zu können. Das Grundstück solle für Madle bleiben, sagte sie, die doch einmal heiraten werde. So sei am besten für das Kind gesorgt. Bis dahin aber wollte sie's so gut verwalten, daß ihr künftiger Schwiegersohn zufrieden sein könne.

Dagegen war nun mit Gewalt nichts auszurichten. Wenn nur inzwischen Urte nicht ihren Sinn änderte! Eine so junge und hübsche Frau! Die heirate wieder, das sei so der Lauf der Welt, und wer ihn anders erwarte, der schüttele Birnen vom Apfelbaum. Erdmons drang darauf, daß sie wenigstens gleich bei Gericht dem Kinde Haus und Hof verschreiben lasse, damit hinterher kein Irrtum sei; aber auch das lehnte sie mit aller Entschiedenheit ab. Sie wolle nicht bei ihrer unmündigen Tochter zu Gast sein. Jeden Abend dankte sie Gott, daß er sie nicht habe Witwe werden lassen, ohne ihr ein Kind zu schenken. Madle war ihr Schutz und Schirm gegen alle Anfechtung ihres guten Rechts. So liebte sie das kleine Ding nur noch zärtlicher und hütete es ängstlich vor jedem Unfall. Hing doch an seinem Dasein ihr ganzes Lebensglück.

Das Trauerjahr war auch wirklich noch lange nicht um, als sich schon Bewerber meldeten. Es fehlte nicht im Dorf und in der Nachbarschaft an jüngeren Söhnen, die gern Wirte geworden wären und nebenbei auch mit einer Witwe vorlieb genommen hätten. Als gar erst der Krieg beendet war und die von den Fahnen entlassenen Soldaten heimkehrten, hätte Frau Urte die Auswahl unter den stattlichsten gehabt. Sogar der Jonas Jackstatis, der wegen seiner Tapferkeit auf dem Schlachtfelde zum Unteroffizier avanciert war, bewarb sich um ihre Hand. Sie schien aber nicht im mindesten den Wunsch nach einer Veränderung zu haben, lehnte alle Anträge ab, ohne sich auch nur eine Stunde Bedenkzeit zu nehmen, und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß sie überhaupt nicht daran denke, sich wieder zu verheiraten. Sie brauche keinen Mann in der Wirtschaft und wolle keinen Herrn über sich haben, da sie doch selbst befehlen könne. Madle solle auch keinen Stiefvater bekommen.

Ganz dieser Gesinnung gemäß lebte sie denn auch eingezogen, nur mit ihrem Hauswesen und ihrem Töchterchen beschäftigt. Nicht daß sie sich von dem Mannsvolk ängstlich ferngehalten hätte! Wie man sie aber auch beobachtete, niemand konnte ihr nachsagen, daß sie jemals mit Blicken oder Worten ein freieres Benehmen herausgefordert hatte. Die Männer schienen ihr ganz gleichgültig zu sein. Man mußte wohl endlich daran glauben, daß sie ganz anders geartet sei, wie die Weibsleute sonst. Die habe kaltes Blut, hieß es nun, und ihre einzige Leidenschaft sei, Geld zusammenzusparen, damit Madle einmal eine reiche Frau werde. Nach einigen Jahren galt das für so sicher, daß man's aufgab, ihr gefallen zu wollen und sie mit Anträgen nicht mehr belästigte.

Da sie nun so lange der Mann in Haus und Hof gewesen war, nahm auch ihr Wesen etwas Männliches an, ohne daß sie selbst die Veränderung bemerkte. Sie griff bei jeder Arbeit mit an, scheute kein Wetter. War sie als Mädchen zierlich, auch als Frau noch zart und schmächtig gewesen, so rundete sich ihre Gestalt jetzt sichtlich in den Schultern und Hüften aus, das Gesicht bräunte sich im Sommer und behielt auch im Winter ein derbgesundes Ansehen, die Kraft ihrer Arme setzte manchmal die Feldarbeiter in Erstaunen. Sie sprach wenig, selten mehr als das Notwendige, immer in ernstem Ton und oft mit herrischem Ausdruck. Wer mit ihr zu tun hatte, wußte gleich, daß sich ihr nichts abschmeicheln ließe. Guten Rat wies sie nicht von der Hand; wollte sich aber einer in ihre Angelegenheiten einmischen, so fertigte sie ihn kurz und schneidig ab. Hatte sie eine Anordnung getroffen, so hielt sie mit Strenge darauf, daß sie auch ausgeführt wurde. Sie verstand so gut um einen Ochsen oder ein Pferd, als um ein Huhn zu handeln, das Geld ebenso festzuhalten, als zur rechten Zeit auszugeben. Sie sagte dem Ortsschulzen, wenn es sein mußte, grob die Wahrheit, und ließ von ihrem vermeinten Rechte nicht nach, auch wenn deshalb ein Prozeß unvermeidlich wurde. Spaß verstand sie am wenigsten von denen, die ihr am nächsten zu stehen meinten. Die Altsitzer fürchteten sie; was sie zu fordern hatten, erhielten sie pünktlich und nach genauem Maß, jede Überschreitung ihrer Befugnisse aber rügte sie rücksichtslos. Ihre Stimme nahm einen rauhen Klang an. Wenn sie im Herbst und Winter in ihres Mannes Schafspelz, die litauische Kappe über Kopf und Hals gezogen, auf dem Hof kommandierte, konnte ein Fremder sie unbedenklich für den Wirt selbst halten.

So männlich sie aber auch auftrat, so wenig vernachlässigte sie sich doch als Frau. Im Hause ging sie stets aufs sauberste gekleidet, die blaue Tuchjacke über der vollen Brust prall bis zum Halse zugehakt, das Kopftuch über dem glatten Haar zierlich im Nacken zusammengeknotet. Sie trug immer festes Schuhwerk und gab etwas auf ein hübsches buntgewebtes Schürzenband oder auf feine Stickerei des Hemdes. Sah man sie Sonntags in Kirchentoilette, so stach sie alle ihre Nachbarinnen aus. Nur eine Falte auf der Stirn, über den Augenbrauen aufsteigend, und der kalte Blick scheuchten auch dann zurück.

Madle erzog sie mit aller Sorgfalt. Gegen das Kind war sie am wenigsten streng, nur eine zärtliche Mutter erschien sie ihm jetzt nicht mehr. Von Liebkosungen hielt sie nichts. Freilich durfte Madle, die lang und dünn aufgeschossen war und viel kränkelte, nur über Kopfweh klagen oder einen schlechten Appetit verraten, um sogleich zu Bett geschickt zu werden. Sie schalt selten, aber sie sah auch nicht durch die Finger. Eifersüchtig achtete sie darauf, daß sich nicht ein anderer in des Kindes Herz schleiche, ihr selbst aber schien es doch nicht gegeben, sich durch herzliches Entgegenkommen Vertrauen zu erringen. Madle mochte das Gefühl haben, daß die Mutter immer mit ihr unzufrieden sei, und ging ihr gern aus dem Wege.

Die Wahrheit zu sagen, sie war kein liebenswürdiges Kind. Sie hatte viel von dem störrischen Charakter ihres Vaters, dem sie auch äußerlich sehr ähnlich sah, bestand oft mit Eigensinn auf ihrem Stück und konnte tagelang schmollen, wenn ihr etwas versagt wurde. Zudem hatte sie etwas Grüblerisches in ihrer Art, ließ sich schwer an eine Arbeit fesseln und saß am liebsten träumend unter den Birken im Garten, oder im Winter in dem Winkel hinter dem Ofen. In der Präzentorschule lernte sie fleißig, aber viel leichter faßte ihr Gedächtnis die Lieder, die sie von den Mädchen singen hörte, und die oft gar nicht für ihr Ohr taugten, oder die Märchen, mit denen die Großmutter sie zu sich lockte. Sie konnte wild sein wie eine Katze, wenn sie sich gekränkt glaubte, und verschenkte ein andermal die Kleider vom Leibe, wenn ihr Mitleid erregt wurde. Den zottigen Hofhund, den niemand wegen seiner Häßlichkeit leiden mochte, küßte sie zärtlich; den niedlichen Spitz aber, den ihre Mutter in der Stube hielt, weil er reinlich und wachsam war, ärgerte sie auf jede Weise. Ihr Frühstücksbrot verteilte sie unter die unverschämten Sperlinge; den Tauben ihr Futter zu streuen, vergaß sie fast täglich. Mit den Kindern benachbarter Wirte wußte sie nicht zu spielen, ein ortsarmes Mädchen aber, das reihum mit den Überbleibseln vom Mittagstisch beköstigt wurde, hatte sie in ihr Herz geschlossen. Sie war in frühester Jugend verwöhnt worden. Alles drehte sich um sie, wie es ihr scheinen mußte, und später hörte sie von allerhand Leuten oft genug, daß sie die Erbtochter sei und einmal werde tun und lassen können, was sie wolle, besonders in der Altsitzerstube. »Wenn du einmal die Wirtin sein wirst, dann werden wir gute Tage haben – du wirst nicht vergessen, wer dein Vater war und woher das Grundstück stammt.« Madle hatte ihre Mutter wohl lieb, konnte aber nicht recht an sie heran. Ihre kühle Art, ihre strenge Tüchtigkeit, ihr nüchternes Urteil hielten sie in scheuer Entfernung. Mehr und mehr, je weiter sie heranwuchs. Sie war nun schon dreizehn Jahre alt geworden.

Frau Urte dachte nicht einmal darüber nach, was da etwa geschehen könne, das Verhältnis zu bessern. Es fiel ihr auch nie ein, zu wünschen, daß ihr Mann noch leben möchte, oder daß sie einen andern Mann hätte, und doch konnte sie sich mitunter recht einsam fühlen. Das machte sie verdrießlich. Ihr mürrisches Wesen mußte jeden abstoßen, der mit ihr zu tun hatte. Den übrigen Wirtsfrauen galt sie für stolz und übermütig; sie wollte freilich deren Klagen über häuslichen Zwist und Unart der Kinder nicht geduldig und mitleidig anhören. Man nannte sie »die Böse«. Darüber lachte sie freilich. Aber Freude, recht aus dem Herzen, hatte sie nicht einmal an ihrem Kinde.

Nun geschah's, daß ein weitläufiger Verwandter von Mutterseite nach Aßpurtellen kam und sich bei ihr einführte. Jons Kalwis war ein junger Mensch von fünfundzwanzig Jahren, benahm sich aber gesetzt wie ein Vierziger und hatte die zarte Gesichtsfarbe eines bleichsüchtigen Mädchens. Er trug den Kopf ein wenig gebückt und in die Schultern eingezogen; seine Bewegungen waren langsam, seine Sprache bedächtig, das Haar fiel ihm auf die Stirn. Wenn er aber die Augen unter der starkschattenden Knochenwölbung aufschlug, überraschte ein funkelndes Aufblitzen wie aus der Tiefe eines stillen Weihers. Er trug eine Jacke von feinstem blauen Tuch, mit vielen kleinen Knöpfen besetzt, ein gelbseidenes Tuch lose um den Hals geschlungen und tief über der Brust geknotet, Beinkleider von schwarzem Sammet und einen Hut mit schmaler Krämpe, weit aus der Stirn zurückgeschoben, wie die Stutzer unter den jungen wohlhabenderen Litauern; aber auf den ersten Blick mußte doch jeder sehen, daß seine Gedanken von diesen äußerlichen Dingen weit abgewandt waren. Daß er ein sehr hübscher Mensch sei, schien er selbst gar nicht zu wissen, mindestens nicht zu beachten.

Er erzählte, daß er über einige Tausend Taler zu verfügen habe und zusehen wolle, ob sich »etwas für ihn finde«. Es eile ihm aber damit nicht; er sei eigentlich kein Landwirt und am liebsten ungebunden und mit seinen Büchern beschäftigt. Kaufe er sich an, so müßte es mitten unter den Litauern geschehen. Er meine, seinen Landsleuten wohl noch in seiner Weise nützlich sein zu können.

Es war Sommerzeit, als er kam. Die Klete neben dem Hause stand zu dieser Zeit leer, da die Vorräte verbraucht waren. Schritt man von außen unter dem Laubendache einige Stufen hinauf, so kam man in ein ganz freundliches Stübchen mit gelben Holzwänden, das auch hell war, wenn die Tür offen stand. Urte stellte für Jons Kalwis dorthin ein Bett, einen kleinen Tisch und einen Stuhl und forderte ihn auf, solange zu bleiben, als es ihm gefiele. Das glaubte sie ihrer Verwandtschaft schuldig zu sein.

Die nächsten Tage sprach er wohl davon, daß er sich bald weiter in der Gegend umschauen wolle; dann aber nicht mehr. In seinem Stübchen war's kühl; schon früh gegen Mittag lag der Schatten des Vordaches über der Tür, dann konnte er auf der Treppe sitzen und dem Hühnervolk zusehen, das gegenüber am Hause entlang spazierte, den Boden aufkratzte oder sich unter dem Holunder ein schattiges Plätzchen gegen den Sonnenbrand suchte. Die weißen und blauen Tauben gurrten über ihm auf der Stange, die aus einer Luke des flachen Daches hinausgesteckt war. Wenige Schritte nur hatte er bis zum Gärtchen, in das die Klete mit drei Seiten hineingebaut war. Dicht neben der Lattentür stand ein Lindenbaum, dessen Blüten jetzt würzig dufteten. Weiter am Zaun entlang strebten weißstämmige Birken auf und ließen von oben her ihr zierliches Geäste mit den seinen, beweglichen Blättchen wie Vorhänge niederfallen. Hinter der Klete rankte an unregelmäßig gestellten Stangen Hopfen und faßte schon das Dach. Weiterhin standen einige Obstbäume, auf einem Beet neben dem Gange waren die Tulpen abgeblüht, aber Lilien, Mohn und Sonnenglanz knospten üppig. Ein Hinterpförtchen führte zum Bleichgarten, der sich sanft zum Bach absenkte. Mitten in denselben war eine Tonne gestellt und darüber von Ufer zu Ufer ein Brett gelegt. Auf der andern Seite setzte sich der Fußsteig nicht fort, aber es war über die freie Wiese nicht weit bis zum Kornfeld. Auf dem Rain blühten weiße Sternblumen und blaue Kornblumen, auch violette Glöckchen, und ein dichter Busch von Heckenrosen überragte sie alle. Jons Kalwis schien es ganz nach seinem Sinn zu finden, auf dem Bänkchen unter der Linde sitzend die Bienen zu beobachten, deren zwei Stöcke von Strohgeflecht nicht weit davon auf einem Gestell standen; oder dem Maulwurf aufzupassen, der quer über den Gang hin die Erde aufwühlte, oder abends auf der Bleiche neben der angepflockten Leinwand zu liegen, vielleicht auch einmal eine Gießkanne mit Wasser aus dem Bach zu füllen. In der Brusttasche seiner blauen Jacke hatte er ein Büchelchen stecken, in das schrieb er mitunter etwas mit Bleistift. Sonst tat er wenig, außer daß er einmal im Dorf herumspazierte, mit Kindern und alten Leuten sprach und die Weiden um den Brunnen oder die Storchnester auf den Dächern zählte. Das sagten ihm wenigstens die mutwilligen Mädchen nach, wenn er oft eine lange Weile auf demselben Fleck stand und ins Weite starrte. Sie rächten sich, weil er sie nicht beachtete.

Es zeigte sich bald, daß er zu den Frommen gehörte, die »Maldeningker« genannt werden. Am Sonntag ging er schon früh nach der eine halbe Stunde entfernten Kirche, ohne etwas gegessen zu haben. Während des Gottesdienstes kniete er fast ununterbrochen, sang die Lieder mit lauter Stimme und sah den Geistlichen bei der Predigt öfter mit lächelndem Gesicht an, wohl auch sanft den Kopf wiegend, als ob ihm etwas bedenklich erschiene. Bei einem alten Manne erkundigte er sich, ob man mit dem Pfarrer zufrieden sei und ob die Maldeningker Zusammenkünfte hätten. Der Alte antwortete, sie seien früher zahlreicher gewesen, als der Schmied Walendszus noch lebte, der zu den Erweckten gehörte. Es wären da wohl noch zwei Frauen, die mitunter vom Geist ergriffen würden; die eine davon trinke aber viel Branntwein, und die andere sei wiederholt wegen Beleidigung des Gendarms bestraft, so daß der Herr Pfarrer schon von der Kanzel vor ihnen gewarnt habe. Dieser sei ein recht guter Mann, lege aber das Wort Gottes manchmal sonderbar aus, rauche auch Tabak und spiele Karten, woran einige in der Gemeinde Ärgernis nähmen.

Jons Kalwis fastete auch mittags. Erst gegen Abend holte er das Versäumte nach, Urte schüttelte den Kopf dazu und meinte, es könne doch keine Sünde sein, sich Sonntags zu rechter Zeit satt zu essen. Seine Mutter hätte ihn so gewöhnt, entgegnete er; sie sei eine sehr kluge und fromme Frau gewesen und habe gesagt, wenn man Gottes Gast sei, müsse man sich leiblicher Speise enthalten. Bis Sonnenuntergang warte er aber nicht. Denn die Tage seien kurz und lang, und Gott könne unmöglich mehr Enthaltsamkeit im Sommer als im Winter verlangen, sei seine Meinung. Das begründete er mit großem Ernst, als ob es sich um eine sehr wichtige Sache handle.

Nach Ablauf einer Woche sagte er zu Urte, die sich abends zu ihm auf die Treppe vor der Klete gesetzt hatte und von grüner und roter Wolle einen Handschuh strickte: »Ich liege dir nun schon lange genug zur Last und möchte nicht warten, bis du mir mit spitzen Worten zu verstehen gibst, daß ich mich trotten könne. Es gefällt mir aber sehr gut hier, und wenn es auf meinen Wunsch ankäme, ginge ich sobald nicht fort, und vielleicht auch nie mehr. Deshalb will ich dir einen Vorschlag machen. Gib mir auch ferner Wohnung, Bett und Kost und bestimme dafür ein Wochengeld, das ich dir dann pünktlich zahlen will. Raum hast du ja, und deine Töpfe sind groß genug, daß daraus noch einer mitessen kann.«

Er sah sie dabei bittend an, und Urte, die das Strickzeug in den Schoß gelegt hatte, nahm es rasch wieder auf und setzte die Nadeln in Bewegung.

»Willst du in der Wirtschaft mitarbeiten?« fragte sie.

»Nicht als Knecht,« antwortete er, »sondern wenn es sich so fügt, daß ich an einer Stelle helfen kann und die Arbeit mir nicht zu schwer ist. Dann magst du mir dafür geben, was du andern gibst oder nach deinem Gutdünken auch gar nichts. Ich will meine Zeit frei haben.«

»Ich sehe nicht, daß du sie zu etwas gebrauchst«, sagte Urte lächelnd.

»Ich denke über vielerlei nach,« erwiderte er, den Kopf ein wenig aufrichtend, »und dazu muß ich ungestört sein. Wenn ich als ein Deutscher geboren wäre, hätte ich vielleicht ein Studierter werden können. Ich habe aber ein Litauer bleiben wollen. Die Litauer sind gewohnt, immer die Deutschen für sich denken zu lassen; darum kommen sie mehr und mehr zurück. Es ist gut, wenn auch einmal einer von ihnen nachdenkt und sie belehrt. Wir haben nicht viele Bücher wie die Deutschen, aber die Bibel ist auch für uns Litauer, und aus der kann man viel lernen. Die Geistlichen legen sie in vielem falsch aus, und das meiste, was darin steht, sagen sie uns gar nicht. Wer selbst lesen kann, der soll auch selbst denken, und wer selbst denkt, der soll's auch sagen, was ihm eingegeben ist. Derer sind freilich wenige; die aber sollen nicht fehlen.«

Madle stand an den Pfosten des Vordaches gelehnt und hörte ihm mit halb geöffnetem Munde zu. Das Garn, das sie wickeln sollte, hing ihr vom Arm herab, und der Knäuel lag auf dem Boden. Seine sanft hingehauchten Worte und der schwärmerische Ausdruck seines Gesichts fesselten sie sichtlich. Sie war ihm schon in den vorigen Tagen viel nachgegangen, immer heimlich und hinter den Hecken und Büschen. Er war nicht wie die andern. Er scherzte nicht mit ihr, neckte sie nicht, er beachtete sie nicht einmal sonderlich; wenn er sie aber einmal ansprach, war es ihr, als ob sie sich stramm aufrecht stellen und die Augen stillhalten müßte, daß sie nicht blinzelten. Was er ihr sagte, das erinnerte sie sich nicht, schon von einem andern gehört zu haben, so einfach es klang. Es ging ihr meist stundenlang im Kopf herum, und ihre Gedanken konnten doch damit nicht fertig werden. Einmal, als sie in der Verlegenheit Blätter abriß und zu Boden warf, hatte er ihre Hand fortgezogen und gesagt: »Du sollst den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen, aber du sollst auch nicht die Werke deines Gottes unnützlich verderben.« Das fiel ihr seitdem stets ein, wenn sie eine Blume abpflücken wollte. Wozu sind aber die Blumen, wenn man sie nicht pflückt?

Nun war sie gespannt, wie ihre Mutter sich entscheiden würde. Und sie dachte im stillen: Die tut's nicht! Einen, der nicht arbeitet, kann sie nicht leiden. Bekomme ich selbst es nicht oft genug zu hören, daß ich träume? Trotzig hob sich die Lippe. Aber Madle täuschte sich diesmal. »Wenn du ein Kostgeld zahlst,« sagte die Endratene, »so magst du bleiben. Warum soll ich's einen von den Nachbarn verdienen lassen? Aber in meinem Hause darfst du keine Versammlungen halten. Die Leute bringen mir zuviel Schmutz in die Stube, und ich will auch vom Herrn Pfarrer keine Verdrießlichkeit haben, denn in diesem Herbst geht die Madle bei ihm zum Unterricht. Wir wollen nicht auf ferne Zeit abmachen, sondern solange es dir gefällt, bleibst du, und sobald ich andern Sinnes werde, sage ich dir auf. Bist du's zufrieden?«

Er reichte ihr die Hand. »Ich muß lachen,« sagte Urte, »was du für eine welche Haut hast. Selbst Madle hat nicht so weiche Hände, und die tut doch wenig genug.«

Das Mädchen steckte eiligst die Hände unter die Schürze und wurde blutrot im Gesicht.

Abends vor dem Schlafengehen küßte Madle ihre Mutter, was sonst nicht geschah. »Was willst du?« fragte Urte.

»Ich will nichts«, antwortete Madle und stieg ins Bett.

Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf. »Wo wird aber Jons Kalwis im Winter schlafen?« fragte sie.

»Das laß deine Sorge nicht sein«, meinte Urte. »Wer weiß, ob er dann noch hier ist.«

»Ja – wer weiß?«

»Du kannst bei ihm lernen, damit du beim Herrn Pfarrer besser bestehst. Ich will's ihm sagen.«

Madle warf sich auf die andere Seite. »Ich bin ganz dumm,« sagte sie, »für so einen ganz dumm. Sag's ihm lieber nicht.« –

Am nächsten Tage schrieb Kalwis einen Brief. Madle holte für ihn Papier und Tinte aus dem Kramladen. Tinte war noch nie im Hause gewesen; nun ließ er sich gleich einen Vorrat kommen. Wie kann ein Mensch die ganze Flasche ausschreiben? dachte sie. Aber sie freute sich darüber, denn nun müsse er doch recht lange bleiben. Nach kurzer Zeit kam eine Holzkiste für ihn an. Sie war neugierig, was darin sein möchte und blieb halb hinter der Treppe versteckt stehen, bis er sie öffnete. Unter Kleidern und Wäsche lagen Bücher, die Deckel sorgsam in Papier eingeschlagen. Er rief sie herein, öffnete eine litauische Bibel und ließ sie einige Verse lesen. Sie stotterte anfangs vor Verlegenheit. »Was ist das für ein kleines Buch?« fragte sie und wies darauf.

»Darin sind viele von unsern Dainos gedruckt«, belehrte er sie. »Links stehen sie litauisch und rechts deutsch. Der Pfarrer Rhesa hat sie gesammelt. Der ist nun schon sehr lange tot, und wenn er die Lieder nicht aufgeschrieben hätte, wären viele vielleicht schon vergessen.«

Er schlug das Büchelchen auf und zeigte ihr's. »Das da ist lustig«, sagte er. »Zwirblytes« war die Seite links überschrieben, und rechts stand: »Der Sperling.« Der Vater geht mit dem Gewehr auf die Jagd, lauernd auf Wild. Er schießt – einen Sperling. Den fahren die Brüder auf einem Schlitten heim, die Schwestern pflücken ihn ab und tragen ihn auf, nachdem ihn die Mutter gebraten.

Es setzten sich die Gäste, sie setzten sich fest.
Verzehrten den Sperling, verschmausten ihn.
Indem sie den Sperling so schmausend verzehrten,
Ausleerten sie fröhlich zwei Fässer mit Alus.

»Das ist ein dummes Lied«, rief Madle. »Wie kann der kleine Sperling für so viele Gäste ausreichen?«

»Man soll auch nicht denken, daß es wirklich einmal so geschehen ist«, entgegnete er, »oder daß es so geschehen kann. Aber bei uns Litauern geschieht's doch so, und das ist unser Verderb: den kleinsten Vorwand ergreifen wir, um unmäßig zu trinken. So klingen die Worte wohl spaßhaft, aber sie sind ganz ernst gemeint.«

Sie hörte ihm aufmerksam zu, die Augen groß geöffnet und die kleinen, scharfen Zähne auf die Unterlippe gesetzt. Als er geendet hatte, blickte sie noch einmal rasch und ängstlich über die Seite hin und sagte: »Es ist doch kein dummes Lied.«

Er hatte noch mehr Bücher. Sie wurden alle auf ein Brett über dem Bett gestellt. Madle wischte an jedem Morgen, wenn sie das Stübchen ausfegte, sorgfältig den Staub von denselben. Oft, wenn sie an der halb offenen Tür vorbei nach dem Garten oder der Bleiche ging, sah sie Kalwis hinter dem Tisch sitzen und in der Bibel lesen. Gewöhnlich hatte er auch dann die Feder in der Hand, schrieb von Zeit zu Zeit etwas auf ein Blatt oder in sein Taschentuch. Glaubte sie sich unbemerkt, so versteckte sie sich hinter der großen Wassertonne und sah ihm unverwandt zu. Es war ihr offenbar eine ganz wunderbare Erscheinung, daß einer nur immer las und schrieb und nachdachte. Sie wußte es so einzurichten, daß sie ihm begegnen mußte, wenn er im Garten auf und ab ging, öfter rief er sie dann freundlich an, faßte sie bei der Hand und nahm sie mit sich. Immer brachte er das Gespräch gleich auf einen ernsten Gegenstand, fragte, was sie in der Schule gelernt hätte und gab dazu seine eigene Erklärung, die freilich meist nicht leicht zu verstehen war. Als Madle zum Pfarrer in die Lehre ging, paßte er noch mehr auf. Es schien ihm, daß der Pfarrer auf die Wunder nicht genügendes Gewicht legte. Mitunter zerbrach er sich den Kopf über gar seltsame Dinge, zum Beispiel: was für eine Art Flügel die Engel hätten, und ob nur die Geister der verstorbenen Kinder beflügelt wären, oder auch die der Erwachsenen, und ob im Paradiese nicht nur Blumen blühten, sondern auch Früchte reiften, obschon die seligen Geister keiner leiblichen Nahrung bedürften. Er meinte, in der Bibel müßte man auf alle Fragen Antwort finden.

Madle hörte ihm immer staunend zu. Alles, was aus seinem Munde kam, klang ihr wie eine Offenbarung. Sie mußte laut aus seinen Büchern vorlesen. »Du machst mir das Kind gar zu gelehrt«, schalt Urte. »Sieh nur, wie Madle den Kopf hängt, als ob er ihr viel zu schwer sei und immer mit wachen Augen träumt. Kein Pfund Fleisch hat sie auf dem Leibe. Die Nachbarn müssen glauben, ich lasse sie hungern, aber man kann's ihr doch mit Schlägen nicht eintreiben. Rede ihr zu, daß sie tüchtig ißt und trinkt, sonst wird sie von allen Einsegnungskindern am schlechtesten aussehen.«

Freilich war Madle spindeldürr und hielt sich nicht einmal gerade. An den langen Armen standen die Ellenbogen weit vor, und die knochigen Schultern zogen sich nach der engen Brust hin zusammen. Ihr Gesicht war mager und bleich, die Nase zu spitz, der Mund zu groß. Neben ihrer Mutter durfte sie sich gar nicht sehen lassen. An der war alles fest und voll Wohlgestalt. Madle ging auch nicht gern neben ihr über die Dorfstraße.

Übrigens war Frau Urte mit ihrem Kostgänger sehr zufrieden. Jons hatte in allem Wort gehalten. Er ging nicht ins Wirtshaus, trank auch zu Hause keinen Branntwein, lief den Mägden nicht nach und benahm sich immer gegen die Wirtin ehrerbietig. Urte machte sich aus seinen Grübeleien und nachdenklichen Betrachtungen wenig, sagte wohl auch einmal gerade heraus, daß sie es für Torheit hielte, die Gedanken auf so etwas zu richten. Aber es war ihr doch allemal lieb, ihn von andern loben zu hören, daß er ein ganz besonderer Mensch sei. Ganz unmerklich gewöhnte sie sich so an ihn, daß ihr schon etwas fehlte, wenn er einmal über Mittag ausblieb oder abends aus einer Versammlung erst spät nach Hause kam. Recht mütterlich nahm sie sich seiner an, wo er weiblicher Hilfe bedurfte. Seine Wäsche fand er immer aufs sauberste besorgt, und ehe er selbst noch bemerkte, daß an seinen Kleidern eine Naht aufgetrennt oder ein Loch eingerissen war, hatte sie den Schaden schon beseitigt. Wenn er in seinen Büchern studierte, durfte in der Nähe der Klete kein lautes Wort gesprochen werden; griff er bei der Feldarbeit mit an, so suchte sie ihm das leichteste Geschäft aus. Jons Kalwis war der einzige Mensch, mit dem sie sich auf die Dauer gut vertragen konnte. Wenn sonst einer seine Hände so geschont und sich in allem Praktischen so unselbständig bewiesen hätte, würde sie ihn über die Achseln angesehen haben; Kalwis aber war ein »Gelehrter«. So einer durfte in allem eine Ausnahme machen, und man mußte Respekt vor ihm haben.

Als im Herbst die Tage kurz und kühl wurden, hielt Kalwis sich viel in der Stube auf, die der große Kachelofen angenehm durchwärmte. In der Klete stand wohl noch sein Bett und sein kleiner Tisch, aber der Raum rundum wurde immer mehr verengt durch die sich anhäufenden Wintervorräte. Die Endratene hatte schon auf den Boden gebracht, was sich irgend dort unterbringen ließ: gegen einen andern hätte sie sicher nicht soviel Rücksicht genommen. Zu unbequem aber durfte sie sich die Wirtschaft nicht machen.

Es wurde ihr offenbar nicht leicht, an eine Änderung dieses freundlichen Verhältnisses zu denken. Aber wie ließ es sich auf die Dauer erhalten?

Eines Tages, gegen Ende Oktober, als der erste Schnee fiel und sie am Webstuhl arbeitete, während Jons Kalwis nicht weit von ihr auf der Bank am Fenster saß und m einem litauischen Blatte las, hielt sie das Weberschiffchen an, obschon die Fäden sich nicht verknotet hatten, wandte das Gesicht gegen das Fenster und sagte: »Wir bekommen in diesem Jahr einen frühen Winter.«

»Es fällt manchmal schon im September Schnee,« antwortete er, »aber er schmilzt bald.«

»Weil dann noch nicht seine Zeit ist«, meinte sie. »Die Krähen kommen auch schon in Scharen aus den Wäldern, und die Gänse, die ich zum Räuchern geschlachtet habe, hatten weiße Brustknochen.«

Gegen diese Zeichen war nichts zu erinnern. Er schwieg deshalb und sah zum Fenster hinaus, wie die großen Flocken sich langsam vorübersenkten und auf der Dornhecke liegenblieben. Auch Urte schwieg eine Weile, setzte aber ihre Arbeit nicht fort, sondern drehte die Spule im Weberschiffchen mit spielender Hand. »Du wirst in der Klete nicht mehr lange schlafen können, Jons«, sagte sie dann. Es klang, als ob sie etwas ganz Selbstverständliches sagte.

Er wendete sich schnell zurück und sah sie einen Augenblick wie überrascht an. »Es friert ja noch nicht so stark«, meinte er.

»Ich kann auch die Klete nicht länger entbehren«, fuhr sie fort. »Hier im Hause aber habe ich keine Stelle für dich. Die Kammer für den Knecht reicht nicht für zwei aus, und es könnte dir da auch nicht gefallen, wie du bist. Suche dir also eine andere Wohnung.«

»Du kündigst mir?«

»Es kann nicht anders sein.«

Kalwis legte das Blatt fort und stand auf. »Ich habe gar nicht mehr daran gedacht«, sagte er, stellte sich wieder mit dem Gesicht gegen das Fenster und sah dem Spiel der Schneeflocken zu, die jetzt vom Winde umgewirbelt wurden. Hinter sich hörte er nun wieder das Knarren und Klappern des Webstuhls. Urte schien das Versäumte einbringen zu wollen.

Vielleicht eine Viertelstunde ging so hin. Endlich trat er hinter die Frau und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte ein wenig, setzte aber die Arbeit fort. »Willst du hören, was ich dir zu sagen habe?« fragte er.

»Warum nicht?« antwortete sie. »Hören soll man alles.« Sie legte das Schiffchen aufs Garn.

»Ich habe mir's überlegt,« sagte er mit großer Ruhe, »es ist für mich am besten, wenn ich heirate.«

Er konnte nicht bemerken, daß Urte die Augenbrauen aufzog und die Lippen zusammenkniff.

»Ich brauche eine Frau,« fuhr er fort, »die für mich sorgt und es in allem gut mit mir meint. Wenn ich hier hätte bleiben können, wär's so eilig gerade nicht gewesen. Aber was soll ich unter Fremden anfangen? Und für so einen, der nicht die bestimmte Arbeit übernimmt, ist auch nirgends Platz.«

»Du bist auch in den Jahren«, sagte Urte und beugte sich über den Baum, als ob sie das Gewebe näher in Augenschein nehmen müßte. »Aber was meinst du für eine Frau zu bekommen, wenn du Losmann bist? Deine Zinsen reichen nicht so weit, daß du davon mit Weib und Kind leben kannst.«

»Das ist richtig.«

»Willst du also ein Grundstück kaufen?«

»Das tät ich nicht gern. Ich verstehe nicht zu wirtschaften.«

»Deine Frau könnt's aber verstehen. Es gibt Wirtstöchter genug, die dich nicht abweisen möchten.«

»Ob sie aber für mich passen ...«

»Für solche Leute, wie du bist, ist's immer ein Wagnis.«

»Sonst wohl«, sagte er verlegen lächelnd; »aber wenn die Frau ...« Und nach kurzem Zögern: »Ich weiß eine Frau, die ganz für mich paßt, aber ich weiß nicht, ob sie mich nehmen möchte.«

Urte sah sich überrascht um. »So weit bist du schon?« fragte sie. »Hast wohl gar schon einen Freiersmann geworben?«

»Ich bin mein eigener Freiersmann«, antwortete er, um die Bank, auf der sie saß, herumtretend und sich an den Pfosten des Webstuhls lehnend. »Wenn ich kein Glück habe, so soll's auch kein anderer wissen, als ich und die Frau, die mich nicht mag. Du bist die Frau, Urte, die ich im Sinn habe.«

Sie schlug eine helle Lache auf. »Ich bin's? Um mich willst du freien? Das ist närrisch!«

Jons blieb ganz ruhig. Kaum rückte die Schulter ein wenig am Pfosten. »Weshalb nennst du das närrisch?« fragte er.

»Ich bin zehn Jahre älter als du«, sagte sie, noch immer lachend.

»Aber du bist nicht zu alt.«

»So bist du zu jung.«

»Auf die Jahre kommt's wenig an, Urte.«

»Warte noch drei oder vier Jahre, so kannst du meine Tochter heiraten.«

»Deine Tochter wär' keine Frau für mich, Urte.«

»Warum nicht? Sie wird einmal das Grundstück haben.«

»Das lass ich ihr gern.«

»Du brauchst dir auch nicht eine Witwe auszusuchen, Jons.«

»Du bist mir aber gerade recht«, versicherte er. »Ich kenne mich gut genug, und so unerfahren bin ich nicht, daß ich nicht weiß, was eine junge Frau von ihrem Mann fordert, und was sie ihm leistet. Ich brauche eine gesetzte und verständige Frau, die selbständig ist und in der Wirtschaft alles für mich bedenkt und nicht viel fragt, sondern schafft. Für andere mag etwas anderes besser sein. Ich aber muß eine Frau haben, die ihren eigenen starken Willen hat, das Haus in Ordnung hält und mit den Leuten zu verkehren weiß, wie es auch zu meinem Vorteil ist. Nun hab' ich aber die ganze Zeit gesehen, daß du eine solche Frau bist. Und hast mich auch immer gut und freundlich behandelt und wohl gelitten. Als Losmann kann ich nicht bleiben. Aber wenn du mich heiratest, so ist da kein Hindernis mehr. Was ich dir einbringe, weißt du. Es mag auch verschrieben werden, daß Madle das Grundstück erhält. Ich habe das Kind lieb und will ihm wahrlich kein Unrecht tun. Darum weiß ich nicht, was du dagegen haben kannst, wenn ich dir sonst nicht zuwider bin.«

Urte musterte die schlanke Gestalt und das feine Gesicht mit wohlgefälligen Blicken. Sie lachte schon lange nicht mehr. »Du bist mir nicht zuwider,« entgegnete sie, »aber, ich will nicht heiraten – es taugt nicht für mich. Hätt' ich's wollen, ich hätt' auf dich nicht zu warten brauchen.«

»Das weiß ich wohl,« sagte er, »aber bedenke auch, daß sich in einigen Jahren viel geändert haben kann. Jetzt ist Madle noch ein Kind; aber wie lange dauert's, dann wird sie geheiratet haben, und du bist dann ganz einsam auf der Welt. Tust du mir Gutes, so hast du auch wieder Gutes von mir zu erwarten. Weise mich also nicht ab.«

Urte schaute nachdenklich in ihren Schoß hinab. Ihre Brust hob und senkte sich beweglicher. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und der Fuß setzte sich unwillkürlich auf den Trittbalken, so daß sich die Geschirre am Webstuhl knarrend verschoben. Nicht ganz leicht schien es ihr, einen Entschluß zu fassen, und es klang nicht durchaus entschlossen, als sie ihm dann zurief: »Schlag' dir's aus dem Sinn, Jons, es ist Torheit. Ich will nicht heiraten.«

Sie streckte dabei die Hand aus und schob ihn fort. Aber er gab nicht willig nach, sondern ergriff ihren Arm am Gelenk und hielt ihn fest. Das wollte sie nun wieder nicht leiden, und so entstand ein leichtes Ringen, das beide mit Lachen begleiteten. Urte brauchte wohl nicht ihre volle Kraft, sonst hätte sie schnell obgesiegt. Plötzlich ließ er sie aber los. Denn gerade jetzt öffnete sich die Tür vom Flur her, und Madle trat ein. Sie kam vom Pfarrer und war ganz weiß eingeschneit. Erschreckt blieb sie stehen und starrte auf die beiden wie auf eine ganz wundersame Erscheinung hin. War das ihre Mutter – war das Jons Kalwis? Ihr schmales Gesicht wurde so weiß wie der Schnee auf ihrem Kopftuch. Aber die Augen flammten fast zornig. Jons war schon lange ans Fenster getreten, um das Blatt wieder aufzunehmen, als sie noch immer unbeweglich stand.

Urte sah nach ihr um. Sie merkte wohl, daß Madle überrascht war und sich den Vorgang nicht reimen konnte. Es widerstand aber ihrer stolzen Art, mit irgendeinem Scherzwort darüber hinzugehen, das wie eine Entschuldigung hatte klingen können. Was brauchte sie sich bei dem Kinde zu entschuldigen? Sie sagte daher nur mit rauher Stimme: »Was bringst du all den Schnee in die Stube, Madle? Du hattest dich wohl auch draußen abklopfen können.« Dann griff sie nach dem Webeschiffchen, schlug den Faden fest an und war gleich wieder eifrig bei der Arbeit. Als sie nach einer Weile aufstand, um nach dem Mittagessen zu sehen, hatte niemand an ihr das geringste Auffällige bemerken können. Sie war, wie sie immer war.

Madle aber hielt sich den ganzen Nachmittag über scheu in der Ecke. Ihrer Mutter antwortete sie unfreundlich, und Kalwis kehrte sie den Rücken zu, wenn er sie ansprach. Eigensinnig weigerte sie sich, mit ihm in der Bibel zu lesen oder ihm zu berichten, was der Pfarrer heute vorgebracht hatte. Als er sie, wie er sonst öfter im scherzhaften Verkehr tat, bei den Schultern faßte, wehrte sie ihn unartig ab. »Was fehlt dir denn heute, Kind?« fragte er, wirklich verwundert. »Nichts – gar nichts«, sagte sie trotzig. »Es soll mich keiner behandeln wie ein Kind.« Er lachte sie gutmütig aus.

Am folgenden Tage und am nächsten beobachtete Madle mit lauerndem Blick ihre Mutter und Kalwis. Wußte sie die beiden allein, so klinkte sie ganz plötzlich und mit Geräusch die Tür auf, sah in die Stube und zog sich gleich wieder zurück. Ein andermal, wenn die Tür offen stand, schlich sie auf den Zehen herein und hinter den Ofen oder das große Himmelbett mit dem blau gestrichenen Aufsatz und den rotbunten Vorhängen. Es war eine merkwürdige Unruhe m ihr. Allerhand Arbeit nahm sie auf, um sie gleich wieder beiseitezuwerfen. Dem Hund kniff sie die Ohren und trat sie die Pfoten, daß er heulend ein Versteck suchte. »Warum quälst du das Tier?« fragte Kalwis mit sanftem Vorwurf. »Weil ich's nicht leiden kann«, antwortete sie bitter. »Ich kann auch manchen andern nicht leiden.«

Jons fand doch noch Gelegenheit, mit Urte wiederholt unter vier Augen zu sprechen, und immer brachte er das Gespräch gleich wieder auf seinen Antrag. Ihr Widerspruch wurde immer kleinlauter; sie ließ sich schon darauf ein, das einzelne zu erwägen, das sich würde verändern müssen, scherzte über ihre Stirnrunzeln und wurde rot, wenn er sie eine hübsche Frau nannte. Am nächsten Sonntag fuhren sie zusammen nach der Kirche; dabei mochte denn wohl das letzte Wort gesprochen sein. Beim Mittagessen verhielten sie sich schweigend, und gegen Abend wurde eine Tonne Bier aufgelegt, Knecht und Magd ausgeschickt, um die Nachbarn zu einem Schmause einzuladen. Das war etwas ganz Seltsames, und keiner blieb aus. Die Endratene stellte Jons Kalwis als ihren künftigen Mann vor. Darüber war wohl nicht viel Verwunderns. Natürlich konnte Kalwis keine bessere Frau bekommen und Urte keinen besseren Mann. Das Bier schmeckte sehr gut, und man ruhte nicht eher, bis zu Ehren des Brautpaares auch der letzte Krug ausgezapft war.


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