Ernst Wichert
Endrik Kraupatis
Ernst Wichert

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»Sie ist krank im Kopfe.«

»Du solltest sie einsperren lassen. Wer weiß, was sie nicht noch alles herumredet.«

»Ja, man ist keine Minute sicher. Aber wie soll man's anfangen? Ich will einmal mit dem Schreiber reden.«

»Red' lieber mit mir. Ich weiß dir besseren Rat zu geben.«

Die Kätzchen waren unter dem Kasten vorgekrochen und miauten um sie herum. Sie nahm eins nach dem andern auf den Schoß und gab ihm Milch zu trinken. Kraupat schaute zu, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. »Besonders, wenn ich nun baue – sie hat verlangt, daß ich das Geld nicht nehmen soll.«

»Willst du denn bauen?«

»Eigentlich möcht' ich nicht. Die Müllerei ist mir zuwider. Und mit so einer Frau – man könnte in Amerika etwas Besseres mit dem Gelde anfangen.« Ihm fiel ein, daß er die Brieftasche noch nicht wieder zu sich gesteckt hätte, und er stand deshalb auf und ging nach der Bettlade, um sie aufzunehmen.

Er hob das Kopfkissen. »Wo ist die Brieftasche?« Er wühlte im Stroh darunter, riß es heraus, streute es auf den Boden. »Wo ist die Brieftasche?« schrie er, feuerrot im Gesicht.

»Ich habe sie verwahrt«, sagte Ilsze ganz ruhig, indem sie ein zappelndes Kätzchen auf die Erde setzte und ein anderes auf den Schoß hob.

Kraupat wußte offenbar im Augenblick nicht, wie das gemeint sein sollte. Halb erleichtert, halb wieder stutzig gemacht, starrte er sie an und knurrte: »Verwahrt? Was soll das? Sie war unter meinem Kopf gut genug verwahrt.«

»Doch wohl nicht«, antwortete Ilsze lächelnd. »Sonst hätte ich sie dir nicht fortziehen können. Das kann leicht ein anderer auch, wenn du so tief schläfst.«

»Gib sie her«, befahl er. »Das ist dummer Spaß.«

»Es ist gar kein Spaß«, entgegnete sie.

»Gib die Brieftasche her, sage ich dir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Suche sie doch!«

»Warum soll ich mein Eigentum suchen? Mach' schnell, oder –«

Sie sah ihn mit listig blinzelnden Augen an. »Oder –?«

»Wo hast du die Brieftasche, Ilsze?« .

»Sie ist versteckt. Ich sage nicht, wo. Sie ist gut versteckt.«

Er riß die Augen auf. »Was? Versteckt? Auch vor mir? Was soll das? Mach' mich nicht wild. Die Brieftasche her! Oder ich sage, du hast mir das Geld gestohlen.«

»Sag's doch so laut, daß man's auf der Landstraße hört.«

Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf. »Bestie,« schrie er, »du willst an das Geld! Aber das Gericht soll –«

»Zeige mich doch an«, entgegnete sie gelassen. »Ich hab' auch etwas anzuzeigen.«

»Ah– –!« Er ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen.

»Sei nicht dumm, Endrik«, sagte sie, mit ausgebreiteten Armen ihm entgegengehend. »Was soll ich mit dem Gelde ohne dich?«

Er stieß sie unsanft zurück.

»Besinne dich doch einmal«, fuhr sie fort, ohne sich beirren zu lassen. »Gestern hätt' ich so viel nehmen können, daß ich dich für lange Zeit nicht mehr brauchte und heute hätte laufen lassen können. Hab' ich's genommen?«

»Wozu dann aber – ?«

»Es ist nicht gut, daß du das viele Geld da in der Rocktasche mit dir herumträgst, Endrik. Das ist bald bekannt. Du bist manchmal betrunken und weißt dann von deinen Sinnen nicht. Es kann dir einer die Brieftasche herausziehen, du hast nicht einmal eine Ahnung, wer es gewesen sein möchte. Ich traue auch dem Buckligen nicht – er hat einen falschen Blick. Bei mir ist dein Geld ganz sicher.«

Dabei blieb sie, er mochte bitten oder schelten wie er wollte. Sie hatte im Grunde recht: das Geld war bei ihm schlecht aufgehoben. Aber es war doch sein Geld, und er konnte damit machen, was ihm gefiel. Warum hinderte Ilsze ihn daran? Er meinte, wenn sie ihm die Sache gut vorgestellt haben würde, hätte er ihr die Brieftasche freiwillig in Verwahrung gegeben. Aber dann wäre ihm doch auch bekanntgeworden, wo sie versteckt lag, und es hatte in seinem Belieben gestanden, ob und wie lange sie da bliebe. Jetzt übte Ilsze gegen ihn einen unerträglichen Zwang. Daß sie ihn »bevormundete«, wäre noch zu leiden gewesen, wenn sie's gut meinte. Aber meinte sie's wirklich gut? Verwahrte sie wirklich nur das Geld für ihn oder hatte sie's für sich selbst in Sicherheit gebracht? Dieser Zweifel peinigte ihn fürchterlich. Das war ja das Geld, für das er ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte! Sollte er sich's so unter der Hand fortziehen lassen müssen und nicht einmal schreien dürfen? Sollte er sich am Ende gar selbst auslachen, daß er der Dumme gewesen, der einer so liederlichen, unzuverlässigen Person Vertrauen schenken konnte? Wenn sie ihn um den Gewinn seiner bösen Tat betrog, und er vermöchte sich nicht einmal zu rächen, da seine Mutter geschont werden mußte! Das lag ihm schwer in den Gliedern. Achtundvierzig Stunden entfernte er sich gar nicht aus dem Hirtenhause, ließ er Ilsze nicht aus den Augen. Immer wieder unternahm er einen Sturm auf ihre Festigkeit. Er fing an, das Haus zu durchsuchen, faßte in jedes Wandloch, in jeden Hohlraum über den Balken und Sparren – vergeblich. Ilsze sah ihm mit dem vergnügtesten Gesicht zu, als ob sie ein launiges Versteckspiel vorhätten, um sich die Zeit zu kürzen. Er wurde wild, schlug sie. Auch das führte nicht zum Ziel. Sie setzte sich in einen Winkel und weinte. »Du weißt nicht, Endrik, wie gut ich dir bin.«

Er mußte endlich wieder unter die Leute gehen. Es war bekanntgeworden, daß er die Versicherungssumme gezahlt erhalten. Man war nun der Meinung, daß er in diesem Herbst wenigstens noch das Material zum Umbau heranschaffen werde, und bestürmte ihn mit Anerbietungen aller Art. Es gefiel ihm, so der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein, aber er hütete sich, mit irgend jemand fest abzuschließen. Die neue Mühle müßte, wie er sich ausdrückte, »mit allen Schikanen« gebaut und eingerichtet werden; er wolle sich erst noch genauer informieren. In Wirklichkeit wurde es ihm täglich gewisser, daß er nicht bauen werde. Er vermochte nur nicht zu übersehen, was dann geschehen solle. Er war nicht mehr Herr seiner Entschlüsse.

Ilsze sprach sich auch gar nicht für den Bau aus. »Was willst du mit der Mühle,« sagte sie, »wenn du nicht eine nette Müllerin darin haben kannst? Mit der griesgrämigen kranken, im Kopfe verdrehten Frau zu hausen, das denk' ich mir als kein Vergnügen. Mich aber kannst du da nicht haben, auch wenn du sie los wirst. Man weiß von uns in diesem Nest zuviel. Die Weiber sind hochnäsig und werden mich neben sich nicht gelten lassen wollen. Davon hattest du nur ewigen Ärger und könntest es doch nicht ändern. Nein, das ist nichts für uns, Endrik. Wir müssen fort in die weite Welt und da unser Gluck suchen. Das war ja auch deine Meinung.«

Sie ließ es an Zärtlichkeit nicht fehlen und umarmte ihn so fest, daß er schon nicht mehr die Hände frei regen konnte. Daß ihr Schicksal nun einmal miteinander verkettet sei, daran mußte er wohl glauben. Aber dieser Glaube machte kaum noch in Augenblicken des wüstesten Sinnentaumels selig. Er mußte sich gestehen, Furcht vor der üppigen und listigen Teufelin zu empfinden, die ihn ganz in ihrer Gewalt hatte. Noch einen Versuch stellte er an, sie zu überlisten. Er tat, als ob er völlig überzeugt sei, daß sie fürs ganze Leben zueinander gehörten, herzte und küßte sie und sagte: »Du hast recht, Ilsze, wir müssen fort. Wir wollen zusammen nach Amerika, je eher je lieber. Wenn du einverstanden bist, noch diese Nacht. Gib mir das Geld und mache dich bereit. Wir fahren mit meinem Wagen bis zur nächsten Eisenbahnstation und dann gleich bis Hamburg. Da finden wir immer ein Schiff.«

Aber sie schien zu merken, daß es ihm doch mehr ums Geld zu tun sei als um sie, und antwortete: »Ich kann dir doch nicht trauen, wie ich möchte, Endrik. Wenn du erst die Brieftasche heraus hast, tust du, was du willst, und wirst mich dafür strafen, daß ich sie dir solange vorenthalten habe. Nein, so geht's nicht.«

»Aber du kannst meinetwegen selbst die Brieftasche bei dir behalten, bis wir drüben ans Land steigen«, entgegnete er.

»Da hätte ich auch was Rechtes«, meinte sie, mit den Fingern ein Schnippchen schlagend. »Du bist stärker als ich – die Brieftasche hättest du mir schon fortgenommen, bevor wir zur Station gelangt waren.«

»Das fürchte nicht.«

»Und drüben in Amerika könntest du mich laufen lassen, sobald es dir gefiele.«

»Aber wie könnte mir so etwas gefallen? Ich werde doch nicht in mein eigen Fleisch schneiden.«

»So ungeschickt ist man manchmal doch. Nein, nein! Wenn ich mit dir gehe, muß ich ganz sicher sein, daß uns nichts voneinanderbringen kann.«

Er wurde ungeduldig. »Was verlangst du denn?«

Ilsze schmiegte sich an ihn. »Wir müssen Mann und Frau sein.«

Nun erschrak er. »Wie kann das geschehen? Ich bin verheiratet.«

»Jawohl – noch bist du verheiratet.«

»Meine Frau läßt sich nicht scheiden. Gegen sie hab' ich keinen Grund.«

»Auch der Tod scheidet«, sagte Ilsze ganz ruhig, als ob es das Gleichgültigste wäre.

Kraupat sprang entsetzt auf. »Der Tod – ?« »Du sagst doch, sie sei krank und auch nicht gesund im Kopfe. Solchen Menschen stößt leicht etwas zu.« »Ja, aber –« Das Herz schlug ihm laut. »Sie ist deinem Glück sehr im Wege«, fuhr Ilsze fort. »Ich denke, du liebst sie nicht.«

»Aber das ist doch kein Grund –«

»Höre, Endrik, die Brieftasche mit dem Gelde bekommst du nicht, solange sie lebt. Ihr könntet euch wieder aussöhnen.«

Kraupat schnaubte wild. »Das also war dein Plan?«

»Es ist so am besten für dich, Endrik. Wenn die Müllerin tot ist und ich deine Frau bin, hast du Ruhe – sonst nicht.«

»Aber wie soll–?«

Sie faßte seinen Kopf und zog sein Ohr an ihren Mund. »Ich will dir ein weißes Pulver geben, Endrik, das kannst du ihr heimlich –«

»Bestie!« schrie er auf.

»Du brauchst ja gar nicht zu wissen, was es ist. Eine Medizin –«

Er wandte sich entsetzt ab. »Ich meine Frau – nein, um Gottes willen, nein!«

Ilsze zuckte die Achseln. »Ich rate nicht dazu. Ich sage nur, was geschehen muß, damit du ruhig leben und deines Geldes froh sein kannst.«

»Kein Wort mehr davon«, befahl er und eilte fort. Aber er kam wieder.

Und Ilsze ließ sich den Mund nicht schließen. »Es ist doch recht erbärmlich,« sagte sie, »daß einer über so mancherlei Bedenken hinwegkommt und vor dem letzten Schritt zurückscheut, ohne den er doch nichts erreicht. Als ob da für den Teufel ein Unterschied ist, wenn er doch einmal die Seele greift.«

Er wurde schwach. »Tu du's«, entgegnete er. Sie schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, Endrik. Wenn ich's täte, würd' ich dir verhaßt werden, und du hättest einen Grund, mich zu verwerfen. Du mußt es selbst tun, sonst ist etwas zwischen uns, das ich nicht bewältigen kann. Aber ich gebe dir das weiße Pulver.«

Es durchrieselte ihn eiskalt, aber er widersprach nicht mehr.

Am andern Morgen steckte ihm Ilsze, ohne ein Wort zu sagen, ein kleines Päckchen in die Hand und gab ihm einen Kuß.

Er wußte, was es enthielt. Tagelang trug er es mit sich herum. Es kam ihm nicht aus den Gedanken. Er berauschte sich, aber dann wurde die Qual noch größer: er sah Bilder vor Augen, die alles Grausigste überboten, das seine Phantasie jemals aufgeregt hatte, hörte Jammerlaute, die sein Mark erschütterten. Ein Glas Branntwein auf dem Tische setzte ihn so in Furcht, daß er zitterte; schon der Geruch vertrieb ihn aus der Krugstube. Einen Mord sollte er auf seine Seele laden, sein eigenes Weib – er schüttelte sich. Ilsze hat doch ganz recht: Ruhe ist nicht zu finden, außer dieses Letzte geschieht. Und sie hält das Geld fest. – Es ist ihr nicht mit Gewalt und nicht mit List abzunehmen. Soll alles umsonst gewesen sein?

Er umstrich das Mühlenhäuschen, machte sich zwischen den Brandmauern an den Steinhaufen und Stapeln von verkohltem Holz etwas zu schaffen und kehrte immer wieder um. Aber er überlegte, wie das Pulver seiner Frau beigebracht werden könnte, ohne daß Maxe in Gefahr käme. Er liebte das Kind. Ihm geschah schon Leid genug, wenn es die Mutter verlor. Er wollte sich in die Küche einschleichen und das Pulver in den Kochtopf schütten. Aber dann mußte erst Maxe entfernt werden. Er meinte sie wohl an sich locken und bis zum Abend auswärts beschäftigen zu können. Zu Ilsze sagte er wie beiläufig: »Wenn ich dir einmal meine Tochter, die Maxe, mit einer Bestellung hinausschicke, so halte sie auf, daß sie nicht weggeht, bis ich selbst komme.«

»Die Kätzchen sind ein hübsches Spielzeug«, antwortete sie lachend.

Er wollte am andern Vormittag warten, bis Maxe aus der Schule kommen würde, und setzte sich auf den Stumpf einer Weide am Wege, nicht weit von der Mühle. Er konnte da ins Wasser sehen, das sonst so fleißig das Mühlrad gedreht hatte, und jetzt schnell abfloß, an der Ruine einen kleinen Wasserfall bildend. Wenn die alte Mühle noch stände! Er seufzte schwer. Wenn sie noch stände!

Jemand schlug ihm von hinten leicht auf die Schulter. Er erschrak und blickte um. Es war der Postbote Jakubeit. »Guten Tag, Herr Kraupat«, sagte er. »Ich war schon im Kruge, fand Sie aber nicht. Da ist ein Schreiben an Sie mit dem Gerichtssiegel.«

»Ein Schreiben an mich – ?«

»Ja, mit dem Gerichtssiegel. Sie müssen mir den Empfang bescheinigen.«

»Jawohl –«

»Können wir dazu ins Haus gehen?«

»Nein. Aber wenn Sie nochmals in den Krug –«

Sie gingen dorthin. Kraupat ließ dem Postboten ein Gläschen vorsetzen, während er mit schwerer Hand unterschrieb.

Als er allein war, öffnete er das Schreiben. Es enthielt seine Vorladung als Zeuge in der Untersuchungssache gegen Ensikat auf einen der nächsten Tage. Das war zu erwarten gewesen, aber nun es eingetroffen war, erschütterte es ihn gewaltsam. Was sollte er tun? Ausbleiben? Damit zog er doch die Entscheidung nur kurze Zeit hin. Die Wahrheit sagen? Unmöglich! Falsches Zeugnis ablegen? Die Kehle schnürte sich ihm zusammen. Auch das noch!

Der Krüger kam wieder herein. »Wissen Sie schon, Kraupat,« sagte er, »daß Ihre Mutter sehr krank ist?«

»Meine Mutter?«

»Ja. Es ist nach dem Arzt geschickt. Sie soll gestern einen Schlaganfall gehabt haben. Ein Arm und Bein sind völlig gelähmt.«

»Meine Mutter –!« Er stürmte fort nach dem kleinen Hause. Erst wenige Schritte davor fiel ihm ein, daß die alte Frau ihm im Zorn verboten hatte, zu ihr zu kommen. Aber er stutzte doch nur einen Augenblick. Dann ging er hinein. Seine alte Mutter mußte er noch einmal sehen.

Er war nicht wenig überrascht, Berta bei ihr zu finden. Sie verrichtete augenscheinlich Krankendienste. Als sie den Müller eintreten sah, stand sie vom Stuhl am Bett auf, stellte das Schälchen, aus dem die alte Frau gegessen haben mochte, auf den Tisch und machte Anstalt, sich zu entfernen.

»Bleibe doch, bleibe,« lallte die Kranke mit schwerer Zunge, »laß mich nicht allein.«

»Ich komme wieder«, sagte Berta freundlich und ging mit gesenkten Augen an ihrem Manne vorbei, der sich seitwärts aufgestellt hatte und die Mütze mit beiden Händen wie ein Bettler vor sich hinhielt, aus der Tür.

Fischerhaus am Haff. Federzeichnung von Ernst Wichert.

Die Kranke richtete den Kopf ein wenig auf und erkannte ihren Sohn. »Kommst du, Endrik, kommst du,« keuchte sie, »um zu sehen – was deine Frau – an mir tut? Sie ist gut – sie ist engelgut – du hast ihr – schweres Unrecht getan.«

Er sank vor dem Bett auf die Knie nieder, faßte hastig ihre schlaffe Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Ja, Mutter,« stammelte er, »ich bin ein Sünder, ein großer Sünder vor Gott und den Menschen.«

»Mit mir – geht's zu Ende –« fuhr sie mühsam fort. »Wer weiß – ob ich die Nacht noch – erlebe. Sie haben – nach dem Arzt geschickt, aber der – kann mir nicht helfen. Es kann mir keiner helfen als der Herrgott allein – und sein lieber Sohn – der für uns am Kreuz gestorben ist. Aber ich weiß – er verwirft mich – wenn ich nicht meine Schuld – hier auf Erden bekenne. Nach dem Geistlichen – verlangt mich, nach dem Geistlichen. Aber wie kann ich ihm beichten, ohne meinen einzigen Sohn – zu verderben? O mein Gott, mein Gott, du weißt, daß ich meinte – einem Unschuldigen aus schwerer Not zu helfen – meinem einzigen Kinde –! Und nun – muß ich ihm auch das – aufs Gewissen laden, daß ich ohne Beichte – und Abendmahl sterben muß und die ewige Seligkeit – nicht finden kann –«

Ihre Worte wurden von schluchzenden Tönen erstickt.

»Mutter – Mutter!« rief er, »du wirst noch nicht sterben, du darfst noch nicht sterben. Es wird alles gut werden – warte noch kurze Zeit mit der Beichte – nur bis morgen.«

»Wie kann alles gut werden?« stöhnte sie, »du hast – die Mühle angesteckt – und ich hab' die Ilsze – zu einem Meineid verleitet – und dich hat die schlechte Person – in ihre Gewalt gebracht, daß du zu deiner Frau – nicht mehr zurück kannst – und den Ensikat haben sie unschuldig – ins Gefängnis gesperrt –«

»Mutter –« bat er schluchzend, »laß den Herrn Pfarrer kommen – sogleich, daß er dich erleichtert. Sag' ihm alles – und er mag's dem Gericht anzeigen. Was du gefehlt hast – aus Liebe zu mir – das wird Gott dir verzeihen können. Aber ich – ich will büßen.«

»Nein, nein – ich kann's nicht,« wimmerte sie, »mein Sohn – mein einziger Sohn –«

Er stand auf, beugte sich über sie und küßte ihren Mund. »Ade, Mutter,« sagte er, »ich will's selbst besorgen – das sei mein Dank.«

Die alte Frau wollte ihn zurückhalten, aber auch die nicht gelähmte Hand hatte keine Kraft. Kraupat verließ rasch das Stübchen und gleich darauf auch das Haus. An die Tür seiner Frau wagte er nicht anzuklopfen.

Eben kam Mare aus der Schule. Sie lief auf den Vater zu, umfaßte ihn und sagte: »Warum kommst du gar nicht mehr zu uns? Die Mutter ist so traurig. Hast du denn immer in der Stadt zu tun? Ich weiß gar nicht –« Sie fing an zu weinen. »In der Schule – rücken die Kinder von mir fort, und der Lehrer Hat gesagt, es sei ein Skandal, und ich könnte nicht länger bleiben.«

Er streichelte ihr das blonde Haar. »Lauf zum Herrn Pfarrer«, sagte er weich. »Die Großmutter ist sehr krank. Er möchte sogleich zu ihr kommen – sie will das heilige Abendmahl nehmen. Aber spute dich.«

»Soll ich nicht erst die Mutter fragen?«

»Nein – es wird sonst zu spät.« Er hob das Kind auf, drückte es an die Brust und küßte es herzlich.

»So bist du mein lieber Vater«, rief Mare und eilte fort, dem Kirchenstege zu, der sie auf kürzestem Wege nach dem Pfarrhause bringen konnte.

Der Müller sah ihr eine Weile mit umflorten Blicken nach. Die Hand hatte er in die Tasche gesteckt. Sie faßte unwillkürlich das Päckchen mit dem weißen Pulver. Jetzt hätte er leicht in die Küche zurückgehen und es dort ausschütten können. Aber das kam ihm gar nicht in den Sinn. Etwas ganz, ganz anderes.

Er ging langsam in den Krug und ließ sich ein großes Glas Branntwein geben. Das nahm er mit auf sein Giebelzimmer. Dort schüttete er das weiße Pulver hinein und rührte die Flüssigkeit mit einem Stahlfederhalter um. Ehe sich die weiße Masse wieder gesetzt hatte, trank er hastig den Branntwein aus.

Und dann trat er ans Fenster und blickte eine Weile unbeweglich hinaus in die Ferne. Er sah über die Stallgebäude des Kruges hin an dem nächsten, von hohen Linden überragten Bauernhof vorbei auf die Wiesen und Felder der Dorfschaft. In der Ferne der mattere Streif von Grün war die Weide, und hinter ihr zog sich sein Wäldchen lang hin, hier zugleich den Horizont begrenzend. Er erkannte auch das alte Hirtenhaus. Vom Dach her stieg dichter Rauch von den Birken auf und sammelte sich über ihnen zu einer kleinen grauen Wolke. Da kocht die Ilsze ihr Mittagessen. Aber der starke Rauch – sie muß nasses Holz in den verfallenen Ofen gelegt haben. Natürlich! Sie nimmt auf, was sie findet. Viel Mühe darf das Suchen nicht kosten. So eine leichtfertige Person –

Er dachte sonst an nichts – nicht an ihre Zärtlichkeiten und nicht an ihre Bosheiten, nicht an ihren falschen Eid und nicht an seine Brieftasche mit dem Gelde. Eher an die fünf kleinen Kätzchen und wie sie ihnen den Garnfaden mit dem Lappen zuwarf. Seitab, aber nicht weit über Feld, war der Kirchturm sichtbar, und wenn er sich zum Fenster hinauslehnte, konnte er auch ein Stück von dem Kirchsteig sehen. Die Mare wird nun schon vorüber sein. Der Pfarrer ist ein guter Mann, er geht gewiß gleich mit ihr – und die alte Frau hat Ruhe zum Sterben. Berta aber – die muß leben für die Kinder. Wenn's erst vorüber ist – das nächste... So ein liederlicher Mann ist bald vergessen. Und sie wird vielleicht doch sagen: So ganz schlecht war er nicht. Er hat sich verblenden lassen, ein geringes Unrecht zu tun, und es ist wider seinen Willen ein großes daraus geworden – und dann ist's so Schritt nach Schritt weiter gegangen, immer tiefer in die Lüge und Verderbnis hinein. Aber soviel Ehr' im Leibe hat er zuletzt doch noch gehabt.

Ihm wurde sehr unwohl. Es zuckte ihm durch die Glieder, alle Muskeln seines Gesichts zuckten. Er warf sich aufs Bett und wälzte und krümmte sich in Schmerzen. »Nur zu!« rief er, »nur zu! Das war kräftig angepackt! Dein Pulver wirkt gut – aber das hast du dir nicht gedacht. – Gott, Gott, sei barmherzig!«

Währenddessen hatte Ilsze sich aus dem Hirtenhause entfernt, um nachzusehen, ob Mare bald käme. Sie nahm für gewiß an, daß Endrik nun endlich zur Tat Mut gefaßt haben werde. Die Mare wollte er ihr hinausschicken. Sie hatte erst die Suppe mit Kartoffeln und Fleisch gekocht und dann den Kamin noch einmal eingeheizt, um einen Kuchen für das Kind zu backen. Der Teig stand im Ofen. Sie hatte dabei nichts weiter zu tun und ging trällernd hinaus vor die Tür, hielt die Hand gegen die Mittagssonne über die Stirn und schaute nach Mare aus.

Da sie noch immer nicht kam, ging sie ihr entgegen, erst die Trift entlang und dann auf der Landstraße bis nahe an das Dorf heran. Sie setzte sich auf einen schräggewachsenen Baum, nahm ein paar runde Steinchen auf und fing sie bald mit der Fläche, bald mit dem Rücken der Hand. Das unterhielt sie eine Weile ganz gut.

Als ihr der eine Kiesel fortgesprungen war und sie sich zurückwandte, ihn wieder aufzuheben, bemerkte sie über dem Hirtenhause den dichten Rauch. Er drang aus dem Schornstein, soviel von einem solchen stehengeblieben war, aber auch aus dem Dach. Das verwunderte sie doch. Sollte das Holz im Kamin nochmals aufgebrannt sein und solchen Qualm verursachen? Sie stand auf und schaute einige Minuten aufmerksam hin. Was war das? Eine kleine Flamme leckte über das graue Stroh hin. Und gleich darauf schlug sie hoch auf, und eine schwarze Rauchmasse quoll rund um den Schornstein vor.

»Herr Jesus – das Haus brennt,« schrie sie, »das Haus!« Sie war einen Augenblick ganz wie betäubt, wußte nicht, was sie zuerst beginnen sollte. Dann lief sie ein Ende gegen das Dorf hin und rief: »Rettet, rettet – das Hirtenhaus brennt!« Schon war die Flamme auch dort bemerkt worden. Einige Knechte und Mägde aus dem letzten Bauerngehöft traten auf die Straße hinaus, zeigten auf das Hirtenhaus hin und schrien: »Feuer, Feuer!«

Plötzlich blieb Ilsze wie angewurzelt stehen, griff sich mit beiden Händen ins Haar und kreischte auf: »Das Geld – das Geld! Das Geld verbrennt! Das Geld!« Und dann, als ob ein Wirbelwind sie umgedreht und fortgeblasen hätte, jagte sie über die Landstraße fort, durch den Graben, quer über die Felder auf das brennende Haus zu. Eine Schar von Männern und Weibern folgte ihr, konnte sie aber nicht einholen. Schon stand das ganze Dach in hellen Flammen. »Zu helfen ist da nichts – das alte Ding brennt herunter – im Brunnen wird kaum noch ein Eimer Wasser sein.« Es war gar keine Eile nötig, aber man lief doch, weil man das Mädchen laufen sah. Und im Dorfe rief jeder, der in der Ferne den Rauch aufsteigen sah: »Feuer – Feuer!«

Und das hörte auch der Mann, der in der Giebelstube des Krügers sich in Krämpfen wand, auf seinem Schmerzenslager. »Feuer – Feuer!« Er horchte auf, ächzte: »Feuer – ja Feuer! Die alte Mühle – Feuer!« und verschied.

Ilsze erreichte keuchend das brennende Haus, riß die Tür auf und stürzte in den Flur. Dicker Qualm drang ihr entgegen, wälzte sich vom Strohdach abwärts in den schmalen Gang hinein, verhüllte sie in wenigen Sekunden völlig, so daß sie nicht eine Spanne weit sehen konnte und die Augen schließen mußte. Sie tappte an der Wand hin. »Das Geld – das Geld! Er denkt, ich hab's ihm gestohlen.«

Die Brieftasche steckte im früheren Stall unter der Krippe, die lose an der Lehmwand hing. Wurde sie ein wenig gehoben, so ließ sich ein flacher Gegenstand einklemmen. Dorthin also. Die Flammen brachen durch den Deckenbelag von Brettern, Bündel brennenden Strohs fielen durch die Lücken auf den Estrich hinab, sperrten den Weg. Ilszes Haar und Kleider brannten, aber sie achtete nicht darauf, nicht auf den Schmerz der Brandwunden – das Geld mußte sie herausholen. Sein Geld!

Und es gelang ihr mit dem äußersten Aufgebot der Kräfte, sich bis zur Krippe durchzudringen. Sie bog sie von der Wand ab, griff mit der Hand dahinter, faßte die Tasche. »Gott sei Dank! Eine Diebin bin ich nicht.« – Aber wie den Weg zurückfinden? Sie versuchte die Wand einzuschlagen – es gelang nicht. Mitten durch die Flamme mußte sie, die der Zugwind anfachte, nachdem die Haustür geöffnet war. Sie preßte die Lippen zusammen, um den Rauch nicht einzulassen. Aber sie mußte doch atmen. Es war, als ob sie Feuer in sich hineinschlang. Durch – durch! Sie stieß schon an die Schwelle zum Flur. Noch ein paar Sprünge, und die Tür mußte erreicht sein. Da hörte sie ein klägliches Miauen unten ganz in ihrer Nähe. Eins von den Kätzchen lebte noch. Sie bückte sich, tastete mit der Hand herum. In diesem Augenblick stürzte die Decke hinter ihr prasselnd ein. Die Flamme bekam von oben Luft, sprang hoch auf und drückte den Qualm gegen den Fußboden. Ilsze fiel ohnmächtig vornüber – ein kurzer Stickhusten – dann war's zu Ende.

Die Nachfolgenden hatten sie in das Haus laufen gesehen. Man hielt sie für verloren. Zur Löschung des Feuers konnte nichts geschehen. Man mußte sich damit begnügen, mit einer Hakenstange, die am Brunnen lag, das brennende Stroh vom Dach vorn am Giebel herunterzureißen und einige Eimer Wasser durch die Tür in den Gang zu gießen, damit Ilsze, wenn sie noch am Leben wäre, den Ausgang frei hätte. So wurde hier einen Augenblick die Flamme bewältigt. Die Nächststehenden glaubten auf dem Boden eine menschliche Gestalt zu erkennen. Man begoß sie mit Wasser. Sie drangen ein, schleppten den Gegenstand heraus, der wie eine Fackel brannte, und drückten das Feuer aus.

Ilsze lebte nicht mehr. In der rechten, krampfhaft geschlossenen Hand hielt sie ein verkohltes Leder. Asche fiel heraus und wurde vom Winde über das Gras und die Steine hin verweht.

Das war der letzte Rest der alten Mühle von Kraupatischken.


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