Ernst Wichert
Ansas und Grita
Ernst Wichert

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Seine Rückreise kam ihm minder beschwerlich vor, da er von Mitteln nicht ganz entblößt war und frohen Mut hatte. Zwar stellte sich der Winter mit scharfem Frost ein, doch litt er in seinem Pelze davon weniger, als von der Nässe vorher. An jedem Abend wickelte er das Kreuz aus den Papieren, in die der Juwelier es sorgsam verpackt hatte und die so wundersam nach Rosen und Lavendel dufteten, und wenn er es ansah, stand auch Grita lebhaft vor ihm, und daß er ihr nun jeden Tag näher komme und daß die Hochzeit immer weniger fern sei, das stärkte seine Kraft und stählte seine Muskeln.

So kam er denn endlich in das Dorf, in dem er von Grita Abschied genommen hatte, und meinte, daß er sie dort wiederfinden müßte, obschon er ihr gar keine Nachricht gegeben. Es war schon spät am Nachmittag, aber er fand keine Ruhe mehr zu rasten, seine Sehnsucht trieb ihn weiter. Er lief mehr als er ging, und nach wenigen Stunden schon sah er das Herrenhaus mit hellerleuchteten Fenstern vor sich. Er drohte mit der Faust hinüber und murmelte vor sich hin: »Warte nur, mit dir werde ich jetzt bald fertig werden!« Wie er der Dorfstraße näher kam, strengte er seine Augen an, die bekannten Gegenstände herauszufinden; aber der Lichtschein blendete und der Himmel war mit Wolken bedeckt, so daß sich nur die größeren Massen wie etwas hellere Nebel davon abhoben. Täuschte er sich? Die Umrisse stimmten nicht ganz mit seiner Erinnerung. Um sein Haus herum waren ihm die Bäume sonst immer höher erschienen. Wenn sein Vater doch die Birken – – Er verdoppelte seinen Schritt, und nun bog er rechts ein – und wahrhaftig! Da fehlten die schönsten Bäume vor der Tür, und allerhand Strauchwerk lag auf der Erde herum, und auf dem Hof war geschlagenes Holz aufgeschichtet. Das Herz wollte ihm zerspringen vor Zorn und Schmerz. Wer hatte ihm das getan?

Er hatte gedacht, vorbeizugehen und zuerst bei Petrick anzuklopfen, um Grita einen Besuch abzustatten, aber sein Fuß war wie gebannt, er konnte nicht weiter. In der Stube brannte Licht hinter den befrorenen Scheiben. Es zog ihn da hinein.

Die Haustür war von innen verriegelt. Man pflegte sonst nicht so vorsichtig zu sein. Er pochte heftig an, wie jemand, der seinen Ärger schon außen zu erkennen gibt, ungerechtfertigterweise ausgeschlossen zu sein. Es war ihm gewiß, daß sein Vater öffnen würde, und er rief deshalb schon, ehe die Tür noch halb aufgezogen war, zornig hinein: »Wer hat meine Birken heruntergeschlagen?« Zu seiner größten Verwunderung fragte eine ganz fremde Stimme hinaus: »Was gibt's denn so spät?« und als er nun zögerte und zurückschaute, ob er auch wirklich in Wanagischken und auf seinem Hof sei, beugte sich eine weiße Zipfelmütze um den Türpfosten, und die Frage wurde wiederholt.

»Wer bist du?« fragte Ansas erschreckt. Er war abergläubisch, wie alle Litauer, und glaubte, einen Geist zu sehen.

»Das frage ich dich?« lautete die Antwort. Dann aber schien der Ankömmling besser ins Auge gefaßt zu sein, denn der Fremde fuhr in ganz verändertem Tone fort: »Ach! bist du's, Ansas Wanags? Wir hatten schon geglaubt, daß dich unterwegs der Teufel geholt hätte, oder daß du über die Grenze gegangen seist. Was willst du hier?«

Ansas erkannte nun auch seinerseits den Sprechenden als den Kämmerer des Herrn Geelhaar. »Was willst du hier?« fragte er wild, »hier in meinem Hause?«

»In deinem Hause –! Ach, du weißt wohl noch nicht einmal –? Aber komm herein. Es ist empfindlich kalt, und der Wind bläst mir das Licht aus.«

Der Litauer zögerte. »Ich muß erst der Grita melden, daß ich wieder heim bin«, sagte er.

»Der Grita? Die findest du nicht mehr bei ihrem Großvater.«

»Nicht –? Wo aber?«

»Sie soll zu ihrer Mutter nach der Grenze gegangen sein, oder zu andern Verwandten. Niemand weiß es genau zu sagen, ich glaube Petrick selbst nicht. Sie war plötzlich verschwunden.«

»Seit wie lange ist sie fort?«

»Seit mehreren Wochen. Warte einmal – es war, wenn ich mich recht besinne, gleich nach dem Begräbnis der Karalene.«

Wanags faßte die Tür und riß sie mit einem heftigen Ruck auf. »Die Karalene ist –«

»Tot«, ergänzte der Kämmerer.

Wanags atmete erleichtert auf. »Das ist eine gute Nachricht«, sagte er, »sie hat mich genug gequält.« Er vergaß einen Augenblick, daß er sich vergebens auf ein Wiedersehen mit Grita gefreut hatte. Heute war sie ja auch keinesfalls mehr zu erreichen; er trat also ins Haus ein, klinkte die Tür hinter sich zu, warf seine Tasche auf die Ofenbank und streckte sich daneben aus. »Hast du etwas zu essen?« fragte er.

Der Kämmerer suchte aus der Schieblade des großen Tisches ein Stück Brot und eine Speckschwarte vor, reichte ihm auch aus der Brusttasche sein Schnapsfläschchen. »Das ist eine gute Nachricht«, wiederholte Ansas, nachdem er sich gestärkt hatte; seine Gedanken waren bei der Altsitzerin geblieben. »Hat sie sich im Trunke das Genick abgestürzt, oder was war's mit ihr?«

»Man hat sie eines Morgens früh auf der Heide tot gefunden«, berichtete der Kämmerer.

»So ist sie innerlich verbrannt«, meinte der Litauer, »und der Teufel hat sie eingesteckt.«

Der Kämmerer lachte, wie einer, der nicht gläubig ist und doch nicht widersprechen mag. »Das war so die Meinung«, sagte er, »aber der Teufel hat vielleicht einen guten Helfershelfer gehabt.«

»Wie das?«

»Hm – ich will nichts gesagt haben. Aber es kam doch zu plötzlich. Sie fiel sonst nicht so leicht um, und unter freiem Himmel hat sie manchmal schon in kälteren Nächten zugebracht, ohne daß es ihr was geschadet hätte.«

»Es kommt auch einmal anders. Wenn der Teufel einen haben will, macht er ihn erst eine Weile sicher; ehe man sich's versieht, schlägt er dann zu.«

Der Kämmerer nickte zustimmend und schüttelte gleich darauf doch wieder bedenklich den Kopf. »Es kann sein«, meinte er, »aber es ist doch noch etwas anderes dabei gewesen.«

»Was?«

»Ja – was? Ich hab' in diesen Tagen das Haus aufgeräumt und auch die Kammer in Ordnung gebracht, in der die Alte gehaust hat. Du weißt, daß sie im Wandschrank neben dem Ofen zu verwahren pflegte, was sie zur Notdurft brauchte. Da standen denn auch leere Flaschen und darunter die große, in der sie aus dem Krug den Branntwein holte – sie war auch leer.«

Ansas lachte auf. »Natürlich! Wie hätte sie sterben können, wenn noch ein Tropfen übrig gewesen wäre?«

»Aber es ist ein ganz merkwürdiger Bodensatz darin – einen halben Finger hoch, weiß und glänzend.«

Der Litauer horchte auf. »Sollte die Hexe –«

»Dergleichen tut doch sonst niemand selbst in den Branntwein hinein«, bemerkte der Kämmerer, der sehr gut wußte, daß Ansas erriet, um was es sich handelte.

»Nun – sie ist tot«, schloß Ansas, den das übrige wenig beunruhigte.

»Und begraben«, fügte der Kämmerer hinzu, »ohne daß sie den Magen untersucht haben.«

Es entstand eine Pause im Gespräch. Wanags verzehrte sein kärgliches Abendbrot. »Wo ist denn mein Vater?« fragte er dann ziemlich gleichgültig vor sich hin.

»Er sucht irgendwo Arbeit als Drescher«, lautete die Antwort.

»Das wird ihm hart ankommen«, meinte Ansas, »er arbeitet nicht gern. Nun die Urte tot ist, soll er's besser bei mir haben, wenn ich erst wieder eingerichtet bin.« Das sagte er ganz ruhig; gleich darauf ging ihm wieder der erste Ärger durch den Kopf und er fuhr heftig auf: »Wer hat mir die Birken vor dem Hause heruntergeschlagen?«

»Der Herr Geelhaar hat's befohlen«, antwortete der Kämmerer, »und in den nächsten Tagen folgen die andern nach. Es ist gerade die beste Zeit zum Holzschlagen.«

Der Litauer richtete sich hoch auf und ballte die Faust. »Hat er's gewagt?« schrie er. »Mein Eigentum –! Aber das soll er büßen!«

Der Kämmerer drückte ihn auf die Bank zurück. »Lärme nicht«, bat er, »es nützt dir nichts. Herr Geelhaar hat nur über das Seinige verfügt.«

»Über das Seinige?«

»Gewiß! Er hat ja das ganze Grundstück auf dem Gericht gekauft.«

Wanags starrte ihn an. »Das Grundstück – auf dem Gericht – gekauft –? Das lügst du! Das ist nicht möglich.«

»Es ist schon möglich.«

»Und der König?«

»Was kann da der König? Das Grundstück war ja öffentlich ausgeboten und der Termin bekanntgemacht. Warum warst du nicht dabei?«

»Es gilt nichts«, schrie Ansas, »ich sage dir, es gilt nichts.«

Der Kämmerer zog die Schultern auf. »Ich weiß nicht. Aber zugeschlagen ist ihm das Grundstück mit allem, was dran und darauf ist, in aller Form, und das Erkenntnis haben sie für dich an die Tür genagelt, da du ja nicht zu finden warst.«

»Es gilt nicht«, wiederholte Wanags grimmig. »Wie können sie mein Erbe verkaufen, ohne daß ich dabei bin? Und der König hat's erst zu untersuchen versprochen.«

Der andere ließ sich auf eine Erörterung darüber nicht ein. »Billig genug hat er's erstanden«, fügte er seinem Bericht zu, »für ein Spottgeld. Es war ja bekannt, daß er schon lange sein Auge auf den Hof hatte. Da hielten die andern Bieter zurück.«

Ansas hörte kaum darauf. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und faßte seinen Kopf mit beiden Händen, die Stirn krampfhaft zusammendrückend. Es wollte ihm nicht klar werden, was eigentlich vorgegangen war.

Am nächsten Morgen fand sich Herr Geelhaar, der von der Rückkehr des Litauers sofort benachrichtigt worden war, schon früh auf dem Bauernhof bei seinem Kämmerer ein; Wanags schlief noch, wachte aber auf, als er den Verhaßten sprechen hörte. »Bist du ruhig und verständig genug, um mich anzuhören?« fragte der Gutsbesitzer.

»Du bist mein Gast«, antwortete der Litauer, »und ich werde auch jetzt nicht vergessen, was das bedeutet. Setze dich!« Er wies auf einen Stuhl.

Über Geelhaars breites Gesicht zog ein halb mitleidiges, halb überlegenes Lächeln. Er unterdrückte es aber, und ebenso eine sarkastische Bemerkung, die ihm schon auf den Lippen schwebte. »Man muß nicht mit dem Kopfe durch die Wand wollen, Ansas«, sagte er ernst, und zugleich möglichst gemütlich. »Wenn unser Schädel noch so hart ist, die Mauersteine sind noch härter. Es steht nun einmal fest, daß ich dieses Grundstück Wanagischken Nr. 1 in der Subhastation meistbietend erstanden habe.«

Wanags, der vornübergebeugt unverwandt zur Erde gesehen hatte, schoß jetzt von unten her einen giftigen Blick hinüber. »Wir wollen's abwarten, Herr«, sagte er dann aber gelassener, als zu vermuten gewesen war.

»Da ist nichts abzuwarten«, meinte der Gutsbesitzer, »die Sache ist fest. Ich habe das Grundstück gekauft und es gehört mir; aber ich will gleichwohl nicht, daß du zu Schaden kommst, Ansas. Du bist ein Tor gewesen, daß du nicht zum Termin hierbliebst. Freilich konntest du nicht wissen, daß die Karalene mit Tode abgehen und das Grundstück dadurch einen hübschen Groschen im Preise steigen würde, aber ein verständiger Mensch läuft doch nicht davon, um seine wichtigsten Angelegenheiten dem Zufall zu überlassen. Was ist die Folge gewesen? Ich habe spottbillig gekauft, weit unter dem Werte, wie ich ihn allezeit geschätzt habe. Wenn ich nun sagen wollte: das ist eine Sache für sich und gekauft ist gekauft, so könnte kein Mensch mir etwas anhaben, und auch vor Gott wär's keine Hundsfötterei. Aber ich will keinen Vorteil machen durch deine Unvorsichtigkeit und Nachlässigkeit, Ansas, sondern christlich mit einem alten Nachbar verfahren. Es soll so sein, als ob ich von dir selbst gekauft hätte, ungefähr zu dem Preise, den ich dir früher einmal genannt habe, die Verwahrlosung des Grundstücks in der Zwischenzeit abgerechnet. Deinen Vater hab' ich schon abgefunden, und er hat mir die Hand geküßt; deine Schwester Mare werde ich ausstatten, wenn sich zu ihr ein Mann findet, und dir – nun dir gebe ich hier aus freien Stücken dreihundert Taler Kaufgeld. Damit ist dann, meine ich, reiner Tisch gemacht.«

Er nahm dabei seine lederne Brieftasche aus dem Rocke, zog bedächtig die Wertscheine vor und breitete sie auf der Platte aus.

Wanags sah ihm von seinem Platz aus zu, ohne die geringste Gemütsbewegung zu verraten. Nur wurden seine Blicke noch stechender, und seine Lippen zogen sich auf, so daß die weißen Zähne frei wurden. Er ließ ganz ruhig Geelhaar die Papiere einzeln auf den Tisch legen und überzählen; dann aber sagte er mit einer verächtlich abweisenden Handbewegung: »Behalte nur dein Geld – ich habe dir nichts verkauft.«

»Du bist ein Narr!« platzte der Gutsbesitzer heraus.

Der Bauer ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Er griff in die Westentasche und holte ein kleines Papier hervor, wickelte dasselbe langsam aus und legte seinerseits zwei Goldstücke auf den Tisch. »Da sind deine Zinsen«, sagte er, »und nun sind wir auseinander.«

Geelhaar schlug ärgerlich mit der Faust auf die Platte. »Da soll doch –! Was willst du mir jetzt mit den Zinsen? Für Dummheit kann kein Mensch; aber so borniert –! Nun? Nimmst du das Geld, oder nicht?«

Ansas schüttelte energisch den Kopf. Geelhaar packte die Papiere eilig zusammen und warf sie unordentlich in die Brieftasche. »Ich will dir drei Tage Zeit lassen«, rief er. »Besinnst du dich inzwischen, so kannst du dir das Geld abholen kommen. Wenn nicht, so ist es mir – um so lieber; ich kaufe gern billig.« Er wandte sich dann an seinen Kämmerer, der verwundert zugeschaut hatte. »Ihr seid Zeuge, Mann! Und heute fangt Ihr mit den Bäumen hinter dem Haus an; ich will freies Feld haben.« Er ging, ohne zu grüßen.

Ansas erster Gang war zum Richter. Er fragte ihn, ob der König in seiner Angelegenheit nichts veranlaßt habe? O gewiß, hieß es, ein großes Schreiben sei heruntergekommen zum Bericht, und sogar einer der Herren vom Obergericht habe eine außerordentliche Revision abgehalten, aber es sei alles in bester Ordnung gefunden. Wanags schwieg; eine Krähe hackt der andern nicht die Augen aus, dachte er.

Ein Besuch beim Landrat endete nicht tröstlicher. Das Grundstück sei in aller Form Rechtens verkauft, wurde er beschieden, und da sei nichts weiter zu tun. Er suchte auch den Pfarrer auf, zu dem er stets Vertrauen gehabt hatte, und klagte bei ihm die irdische Gerechtigkeit an. Aber der Geistliche hielt ihm selbst eine Strafpredigt nach dem Thema: Unfriede verzehrt! und meinte, er habe seinen Verlust sich selbst und seiner Prozeßsucht zuzuschreiben und solle sich nun fleißig an die Arbeit machen, wenigstens einen Teil des Verlorenen wieder einzubringen. Ansas küßte beim Abschied in gewohnter Weise seine Hand, aber die Galle lief ihm dabei ins Herz. Nicht einmal in der Kirche bekommt ein armer Litauer Recht, knurrte sein Unmut.

Er wanderte nach der Grenze, nach Grita zu hören. Ihre Mutter, meinte er, würde doch Auskunft über sie geben können. Sie sei hinüber zum Kaplan, hieß es, – die werde doch noch einmal katholisch werden. Das wunderte ihn, aber er sagte gleichwohl nichts, sondern ging ihr, so müde er auch war, eine Strecke über die Heide entgegen. Es dunkelte schon, als ihm eine Frauengestalt eilig entgegenkam. Sie hatte den Kopf mit Tüchern verbunden und einen wollenen Rock wie einen Mantel um die Schultern gehängt; trotz dieser Vermummung erkannte er sein Mädchen doch gleich am Gang und beflügelte nun auch seinen Schritt und rief ihr entgegen: »Grita!« Sie stutzte und zog das Tuch vom Gesichte fort, erkannte ihn, machte schnell die Arme frei und warf sich stürmisch an seine Brust. Er hörte sie laut schluchzen.

Dann gingen sie zusammen weiter; Ansas legte die Hand auf ihre Schulter, und Grita lehnte den Kopf an die seinige, gesprochen wurde eine Weile gar nicht, und hinterher vom Unwichtigsten zuerst – daß der Winter recht kalt werde und der Wind eisig von Norden wehe, und daß ihre kleine Schwester beim Gange zur Schule die Finger erfroren habe, und daß in letzter Nacht Spiritus über die Grenze gebracht und viel geschossen sei. Dann fragte er sie, ob sie beim Kaplan gewesen wäre, wie ihre Mutter meine, und was sie da wolle. Sie wurde verlegen und fing wieder an zu weinen und sagte endlich, sie habe heimlich etwas Weihwasser geholt für ihre kleine Schwester, die erfrorene Hand damit einzureiben. Das fand er keineswegs tadelnswert, nur daß sie weinte und so zögernd antwortete, schien ihm auffallend. Warum sie denn von Petrick fortgegangen sei, erkundigte er sich nun und fügte hinzu, einen so traurigen Abend, wie den gestrigen, habe er selten gehabt, da er sie nicht gefunden. »Du bliebst so lange fort«, sagte sie zitternd, »und es litt mich nicht bei dem alten schweigsamen Mann in der Nähe des Hauses, aus dem sie die Urte fortgetragen hatten – und ich sah immer den schwarzen Sarg bei Tag und bei Nacht.« Das war kaum eine ausreichende Erklärung, aber Ansas nahm sie ohne Bedenken dafür und sprach seine Freude darüber aus, daß er das tobsüchtige Weib nicht mehr angetroffen habe; daraus schwieg sie und hätte doch froh einstimmen müssen, wie er dachte.

Sie war überhaupt so eigen und ganz verändert – gar nicht mehr so munter und beweglich wie früher. Das kommt wohl daher, überlegte Ansas, weil sie die Hochzeit wieder gestört meint; er hatte aber keinen rechten Mut, davon anzufangen.

»Du wirst doch die Nacht bei uns bleiben?« fragte Grita, als sie im Dorf anlangten. Er trat mit ihr in ihrer Mutter Haus. Es brannte Licht in der Stube, die Frau faß am Spinnrocken, und die Kinder hockten am warmen Ofen. Er zog den Pelz ab und sah zu, wie Grita die Tücher vom Kopfe wickelte und die Röcke in Ordnung brachte. Jetzt erst sollte ihm wieder das liebe Gesicht erscheinen, nach dem er sich so lange gesehnt hatte; aber er erschrak fast, als sie dicht vor ihn trat – es war das liebe freundliche Gesicht nicht mehr. Er hätte sich einbilden können, viele Jahre lang fortgewesen zu sein, so gealtert sah sie aus. Die Wangen waren eingefallen und die Augen blau umrändert, und eine grämliche Falte hatte sich in die Stirn gedrückt. »Bist du krank gewesen, Grita?« fragte er bestürzt. Sie schüttelte den Kopf.

Er nahm das goldene Kreuz vor, das er ihr mitgebracht hatte, wickelte es aus dem Papier und reichte es ihr. »Ach –!« rief sie, offenbar freudig überrascht, und ihr Gesicht erheiterte sich plötzlich. Sie lehnte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, an dem sie ihm gegenübergestanden hatte, hielt das Kreuz unter das Licht und beugte sich darüber, es genauer zu betrachten. Die Steine funkelten aus dem Golde vor, und ihre Augen blitzten munter. Aber dann schien wieder eine trübe Vorstellung ihre Gedanken abzulenken. Wie man den Schatten einer Wolke über ein sonniges Getreidefeld ziehen sieht, so verlor sich auch von ihrem Gesicht der Sonnenschein. Sie drückte einen Kuß auf das Kreuz, und als sie sich aufrichtete und abwendete, rollten ihr die hellen Tränen über die Wangen.

»Das bringe ich dir vom König aus Berlin mit«, sagte er beruhigend, »und du kannst es vor allen Leuten in der Kirche tragen, wenn es dir gefällt.«

»Es gefällt mir wohl«, antwortete sie matt, »und es ist ein – Kreuz.« Dabei mußte ihr nun wieder etwas durch den Sinn gehen, was Ansas nicht erraten konnte, denn sie legte rasch das Angebinde hinter sich auf den Tisch und eilte in die Kammer neben der Stube.

Die Kinder kamen nun vom Ofen herbei, besahen das kleine Kunstwerk erst schüchtern von weitem und ließen es dann von Hand zu Hand gehen. Auch Gritas Mutter schaute vom Spinnrocken auf. »Was fehlt dem Mädchen?« fragte Ansas leise. Sie zuckte die Achseln, lächelte aber dabei so eigen – ihm wurde ganz beklommen zumut. Nach kurzem Bedenken folgte er Grita in die Kammer.

Es war dunkel dort; nur durch die Türöffnung fiel ein schwacher Lichtschein auf die Dielen und kreuzte sich mit der dämmernden Nachthelle, die vom kleinen fast viereckigen Fenster her in das schmale Gemach drang. Ansas konnte anfangs nicht erkennen, was er suchte, aber aus der Ecke am großen Ofen hervor, der mit seiner Rückseite die Kammer wärmte, vernahm er ein leises Schluchzen und ging darauf zu. »Worüber weinst du denn, Grita?« fragte er traurig, indem er sich neben ihr auf die Bank niederließ und ihre Hand ergriff. Nun wandte sie sich rasch zu ihm, umarmte ihn und küßte ihn stürmisch. Auch das war sonst nicht ihre Art.

Ansas war doch schon beruhigt; er glaubte nun zu wissen, daß sie gegen ihn nichts haben könne. Er liebkoste sie und gab ihr all die zärtlichen Namen, die sie sonst von ihm gehört hatte, an denen seine Sprache so reich ist. Und dann fing er an zu erzählen, wie es ihm auf der weiten Reise gegangen, und wie er zum König eingelassen sei, und wie ihm der Kronprinz selbst Schutz zugesagt habe, und wie man ihm nun doch zu Hause das seinige nehmen wolle. »Aber, ich merke wohl«, schloß er, »daß sie ein schlechtes Gewissen haben. Geelhaar, der arge, hat mir Geld angeboten, wenn ich das Haus räume – sie sollen mich nicht um mein Erbe betrügen! Ich räume das Haus nicht, und wenn du willst, Grita, machen wir in acht Tagen Hochzeit und ziehen ein. Ich will einmal sehen, wer uns daraus zu vertreiben wagen sollte.«

Er hatte geglaubt, ihr damit die angenehmste Aussicht zu eröffnen, aber sie zitterte plötzlich am ganzen Leibe und wurde eiskalt und dann wieder glühend heiß. »Nein – nein, Ansas«, stieß sie gepreßt die Worte vor, »nicht in das Haus – ich setze meinen Fuß nicht mehr in das Haus –«

»Als meine Frau, Grita –«

»Auch nicht als deine Frau – nie, nie mehr!«

»Aber weshalb, Grita –? Weshalb –?«

»Die Urte –«, stammelte sie und drückte das Gesicht fest an seine Brust, die eigene Stimme erstickend.

Wanags durchzuckte es, wie ein Blitzfunke. Die Urte –! In seinem Hirn dämmerte etwas auf und verschwand wieder und tauchte von neuem greifbarer hervor; und es zog hinab bis in seine Brust wie ein ungeheurer Schmerz und versetzte ihm den Atem und preßte ihm so das Herz zusammen, daß es nur mit Mühe schlagen konnte. Er sagte kein Wort und fragte auch nichts mehr – er wußte alles.

Und so saßen sie wohl eine Stunde, lautlos und fast bewegungslos Arm in Arm. Grita wußte, daß sie verstanden war; Ansas brütete in sich hinein. Dann schien er seinen Entschluß fertig zu haben. Er stand auf und sagte. »In mein Haus kommst du nicht – gut! Ich will uns eine andere Stätte zur Wohnung bereiten – aber du mußt zufrieden sein mit dem, was du findest. Willst du, Grita?«

»Ich will!« antwortete sie, »aber verlaß mich nicht, Ansas – es war ja deinetwegen –«

»Still – still!« rief er geängstigt und legte die Hand auf ihren Mund. Dann ging er in die Stube zurück, zog seinen Pelz an und verließ das Haus. Dichte Eisflocken stürmten ihm entgegen, er merkte nicht auf Wind und Wetter. Die Landstraße war ganz menschenleer – niemand sah, wohin er seinen eiligen Schritt lenkte. – –

In derselben Nacht brach in Wanagischken Feuer aus. Des Ansas Wanags Haus und Stall und Klete brannten nieder bis auf den Grund.

*

Da war nun am Morgen eine schwarze Brandstelle, wo am Abende noch ein wohnliches Gehöft gestanden hatte. Die Verwüstung markierte sich um so schauerlicher, als rundherum Schnee lag. Halbverfallene Lehmwände mit leeren Türöffnungen und Steinfundamente zeigten hier und dort den Grundriß der Baulichkeiten an; darüber und darunter lagerten verkohlte Balken und Fenstergerüste in wirrem Durcheinander. Aus dem Gärtchen ragten ein paar Baumstrunke auf, ebenfalls geschwärzt von Rauch und von Feuer angefressen. Ein trauriger Anblick!

Herr Geelhaar hatte so seine klugen Gedanken, aber er hütete sich wohl, sie laut werden zu lassen. Warum sich den rachsüchtigen Menschen noch mehr verfeinden, dem schließlich doch nichts zu beweisen sein würde. Übrigens hatte er eher Vorteil als Nachteil von dem Feuer, wenn er seine Vermutung unterdrückte, daß es bei dem Brande nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Zum Frühjahr hätte er das Haus ja doch herunterreißen lassen müssen, und nun stand noch eine ganz namhafte Brandentschädigung in Aussicht. Er war der Mann nicht, so etwas von der Hand zu weisen.

Ansas Wanags ließ sich an der Brandstelle erst nach mehreren Tagen blicken. Er hatte einen Spaten und eine Hacke mitgebracht und fing bald rüstig an, hinter der noch am besten erhaltenen Mauer den Schutt fortzuräumen und die verkohlten Balken und Bretter zur Seite zu legen. Dann grub er ein etwa manntiefes Loch in die Erde, zwölf und mehr Fuß lang und breit, und schnitt auf der einen Seite Stufen zum Hinabsteigen in die Wand. Oben um den Rand legte er regelrecht eine doppelte Schicht von Steinen und Ziegeln, vorn und hinten schräg aufsteigend nach der Mauer hin, und deckte den ganzen vertieften Raum mit einer mehrfachen Lage von alten Balken, Pfosten und Bretterresten ein. Darüber häufte er noch zur besseren Befestigung Schutt und Erde. Vorn blieb ein Loch zum Eingang, geschützt durch einen Aufwurf von allerhand zertrümmertem Material, an der hinteren Giebelseite eine kleine Öffnung als Fenster oder Schornstein. In das Innere brachte er Stroh und Moos.

Es konnte nicht fehlen, daß sich vom Gut und der Nachbarschaft Leute zusammenfanden, die diesem wunderlichen Bau zuschauten und die Kunde weitertrugen, daß Ansas Wanags zurückgekehrt sei und sich auf der Brandstätte einlogiere. Auch Geelhaar fühlte sich auf die erste Nachricht hin bewogen, an Ort und Stelle Erkundigung einzuziehen, was der Litauer eigentlich beabsichtige. Sobald Ansas ihn kommen sah, hob er das Gewehr auf, das er bis dahin unter einem Baumstubben verwahrt gehabt hatte, und stellte es recht auffällig neben sich. Dann wartete er, ohne sich weiter in der Arbeit stören zu lassen, eine Anrede ab.

»Was, zum Henker! tust du denn da, Ansas?« fragte der Gutsbesitzer, nachdem er eine Weile stumm zugeschaut hatte.

Ansas richtete sich auf, stützte sich auf den Spaten und sah herausfordernd zu ihm hinüber. »Ich baue mir mein Haus zum Winter, Herr«, rief er; »ein jeder will doch eine Wohnung haben.«

»Aber hier auf meiner Brandstelle?«

»Auf meinem Grund und Boden, Herr! Ich denke, dagegen wird niemand etwas haben können.«

Geelhaar schnippte mit den Fingern. »Laß doch die dummen Redensarten, Ansas. Ich denke, du hast schon beim Richter und beim Pfarrer gehört, wie die Sache steht.«

Wanags lachte ihn grinsend an. »Wir werden sehen, Herr.«

Geelhaar knurrte etwas ärgerlich vor sich hin. Nach einer Weile fragte er: »In dem Loche gedenkst du den Winter über zu hausen?«

»Es hat nicht jeder ein großes Haus mit festem Dach und vielen Stuben«, war die ausweichende Antwort.

Der Gutsbesitzer wickelte sich fester in seinen Pelz »Das ist keine Wohnung für Menschen, Ansas; sobald der Schnee schmilzt, zieht sich das Loch voll Wasser. Das ist keine Wohnung für Menschen, sag ich dir.«

»So wird sie für wilde Tiere doch gut genug sein«, grinste Wanags; »nimm dich in acht! Ich bin jetzt ein wildes Tier, wenn man mich reizt.«

»Ein Querkopf bist du«, bemerkte Geelhaar derb zufahrend. »Wenn du kein Unterkommen hast, warum wendest du dich nicht an mich? Bei mir steht im Insthaus eine Wohnung leer; ich will sie dir gern zum Winter überlassen, und wenn du zum Sommer bei mir arbeiten willst, Ansas, werden wir auch fürs weitere einig werden.«

Der Litauer schüttelte energisch den Kopf. »Nicht zum Winter und nicht zum Sommer. Ich gehöre hierher. Ist's kein Wohnhaus, so ist's doch zur Not ein Hundestall, und ich will meinen eigenen Hund spielen, bis ich wieder Herr auf dem Meinigen bin.«

»Aber ich kann dich da nicht leiden, Ansas; ich muß aufräumen lassen.«

Statt jeder Antwort griff der Litauer langsam nach dem Gewehr, hob es auf, prüfte das Schloß und setzte es wieder zur Seite. Geelhaar wußte, was er meinte. Sein breites Gesicht sah zwar aus, als ob es lachte, aber es war ihm nicht ganz wohl dabei. »Du wirst dich besinnen«, sagte er und ging fort. –

Erst als Wanags seine Erdhütte ganz fertig eingerichtet hatte, machte er sich eines Abends spät auf den Weg nach der Grenze zu. Er langte gegen Mitternacht vor dem Haus an, in dem Grita bei ihrer Mutter wohnte, ging um dasselbe herum und klopfte an das Fenster der Kammer, in der, wie er wußte, das Mädchen schlief. Grita schreckte aus einem schweren Traum auf. »Ich bin's, Grita«, rief er hinein. »Zieh dich an, nimm mit dir, was dir gehört, und komm heraus.« Sie gehorchte, ohne weiter zu fragen.

Ansas ging vor der Türe auf und ab, bis sie sich bei ihm einfand. Sie hatte sich ausgerüstet wie zu einem weiten Gang über Land und trug ein Bündel in der Hand. »Das Haus steht nicht mehr«, sagte er, als sie neben ihn trat.

»Ich weiß es«, sagte sie leise, »es soll abgebrannt sein.«

»Es ist abgebrannt mit allem, was darin war – und alles, was darin geschehen ist, ist weggebrannt vom Erdboden.«

Sie seufzte schwer.

»Aber die Erde ist rein«, fuhr er fort, »und sie gehört mir. Willst du mir folgen, Grita?«

Sie lehnte sich auf seinen Arm und ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. »Willst du mir jetzt folgen, Grita?« fragte er noch einmal. »Ich habe kein Aufgebot beim Pfarrer bestellt, und eine lustige Hochzeit wird's nicht geben, Liebchen. Aber ich habe eine Wohnung, groß genug für uns beide, und ich will auf Arbeit gehen, bis ich wieder ackern und säen kann. Was haben wir noch mit dem Pfarrer zu tun? Er ist falsch, wie alle andern. Und arme Menschen, wie wir, was kümmert's die, ob man von ihnen gut oder schlecht spricht. Willst du mir folgen?«

»Komm!« sagte sie entschlossen. »Es ist jetzt besser so. Ich bin ja doch verworfen vor Gott – er würde uns nicht segnen.«

Ansas durchschüttelte es frostig. Aber er faßte sich mannhaft, umarmte sie und raunte ihr ins Ohr: »Sei ruhig! Ich nehm's auf mein Gewissen.«

»Nein, nein!« rief sie erschreckt, »das sollst du nicht – aber ich will dich lieben in alle Ewigkeit.«

Sie schritten fort durch die sternenhelle Nacht, zwei – drei Stunden lang, ohne zu sprechen. Und dann kamen sie über die Brücke vor seinem Heimatsdorf und bogen seitwärts ab. Grita zog das Tuch vom Gesicht fort und schaute nach der Stelle, wo das erste Bauernhaus unter den Bäumen gestanden hatte – sie war leer; nur niedrig über den Erdboden erhob sich etwas wie ein kleiner Hügel von Schutt. Er faßte ihre Hand und führte sie zwischen den Trümmerresten durch bis zu seiner Erdhütte, hob die Bretter vom Eingang fort und zeigte in die Höhle hinab: »Da ist die Brautkammer!«

Grita stand zitternd. »Willst du umkehren?« fragte er, und es klang, als sagte er: bleibe bei mir, geh nicht. So verstand sie's auch. Aber sie zögerte noch, und er legte den Arm fest um ihren Leib und schob sie vor sich hin dem Eingang zu. Plötzlich ging ihr etwas durch den Sinn. Sie riß die Jacke auf und zog das goldene Kreuz vor, das sie auf dem Herzen getragen hatte, hielt es vor ihn hin und sagte mit feierlicher Betonung: »Willst du mir treu sein, Ansas? Beim Kreuz des Erlösers –!«

»Wie du mich liebst – in Ewigkeit!« antwortete er.

Sie stiegen die Grabstufen hinab. –

*

Der Winter ging hin. Ansas arbeitete fleißig im Marktflecken und gewann reichlich so viel, als er für sich und Grita brauchte. Man verwunderte sich anfangs nicht wenig über das Paar und dessen sonderbare Wirtschaft; aber bald war man's gewohnt, von der Brandstätte her mittags und abends Rauch aufsteigen zu sehen, und dann achtete man auch darauf nicht mehr. Jeder hatte ja auch mit sich selber genug zu tun.

Herr Geelhaar ließ Wanags fürs erste ganz in Ruhe. Die Kälte wird ihn schon austreiben, dachte er, oder das Tauwetter später. Als aber das Frühjahr kam, und der eigensinnige Litauer gar keine Anstalten machte, sich zu entfernen, vielmehr rings um seine Hütte herum zu graben anfing, als wolle er sich auch zum Sommer einrichten, platzte ihm doch die Geduld. Er schickte seinen Kämmerer ab und ließ ihm sagen, daß er in drei Tagen den Platz zu räumen habe, wenn er nicht durch die Polizei herausgesetzt sein wolle. Ansas antwortete wieder, das wolle er abwarten. Der Gutsherr versuchte selbst noch einmal gütliche Überredung. Vergebens – Wanags zeigte das Gewehr. Nun wandte er sich wirklich an die Behörde mit der Bitte um Beistand gegen den frechen und hartnäckigen Eindringling.

Und so rückte denn eines frühen Morgens wirklich der Gerichtsexekutor vor die Brandstätte und erließ aus einiger Entfernung – er fürchtete in der Nähe übel anzukommen – eine feierliche Aufforderung, die Erdhütte aufzugeben und von dem fremden Grund und Boden abzuziehen. Er war nicht allein und verfehlte nicht, dies in seiner Ansprache besonders scharf zu betonen; das Amt hatte ihm seinen alten Amtsdiener und der Landrat einen Gendarm zur Assistenz beigesellt, denn der Fall erregte über die Gerichtsstube hinaus Interesse. Ansas Wanags erschien auf den Stufen im Eingang, musterte die bewaffnete Macht, die ihn zu vertreiben kam, und erklärte, er werde jeden niederschießen, der sein und seines Weibes Frieden störe. »Ihr müßt auseinander«, rief ihm der Amtsdiener zu, »die Polizei leidet es nicht, ihr seid kein rechtes Paar.« – »So versucht doch, uns zu trennen«, rief der Litauer ihnen entgegen. – »Macht uns keine Ungelegenheiten, Ansas«, suchte der Gendarm zu vermitteln; »du bist Soldat gewesen und weißt, was Gehorsam heißt; auch ich bin Soldat und habe meinen dienstlichen Befehl und muß allenfalls mit der Plempe zugreifen, wenn du nicht gutwillig gehst. Fort mußt du ja doch, davon ist kein Redens weiter. Besinne dich also schnell.« Er näherte sich dem Verschlag, aber Wanags griff hinter sich und legte den blanken Lauf seiner Flinte über den schützenden Wall. »Es wird nicht viel Redens davon sein«, sagte er mit aller Festigkeit. »Will das der König, daß seine Litauer, die ihn liebhaben und gern für ihn bluten, aus dem Lande gejagt werden, das ihren Vätern gehörte von Uranbeginn? Um Haus und Hof bin ich gebracht, meine Felder liegen wüst, ich erleb's nicht mehr, daß wieder die schlanken Birken mein Dach beschatten – wollt ihr mir nicht einmal diese Höhle in der Erde gönnen, die selbst Tieren zu schlecht wäre? Warum ertrage ich darin Kälte und Nässe, als weil ich mein Erbe hüte? Geht und laßt mich in Frieden.«

Die drei berieten nun miteinander, was zu tun sei. »Sie haben den richterlichen Befehl zur Ausführung zu bringen«, bedeutete der Gendarm den Exekutor, »und müssen deshalb zuerst Hand anlegen. Wir andern haben nur Auftrag, Ihnen Beistand zu leisten bei tätlicher Widersetzlichkeit.« – »Ganz richtig!« bestätigte der Amtsinvalide. »Das wäre mir!« meinte der Exekutor, seinen Schnauzbart zupfend, »damit ich die Kugel in den Leib bekomme; denn der Kerl ist zu allem fähig. Ich bedanke mich. Wir haben unsere Pflicht ausreichend getan, ist meine Meinung. Wir haben ihn aufgefordert, sein Logis zu verlassen, und die Herren sind meine Zeugen, daß er ein Gewehr auf mich gerichtet hat. Das ist alles, was sein kann – berichten wir erst einmal.«

Und es wurde berichtet und beraten und beschlossen, möglichst glimpflich vorzugehen. »Es kann uns nicht lieb sein«, äußerte der Landrat vorsichtig, »wenn die Sache noch mehr Aufsehen macht. Freilich ist gegen Wanags ganz nach der gesetzlichen Ordnung verfahren, und man kann weder dem Gericht noch der Verwaltungsbehörde etwas vorwerfen. Aber es ist doch in höchsten Kreisen mißliebig bemerkt worden, daß dergleichen Beschwerden von hier ausgehen können, und ich bin zu einem weitläufigen Bericht über die Verhältnisse der litauischen Bevölkerung aufgefordert worden. Findet sich nun vielleicht gar noch ein Zeitungsschreiber, der den Fall aufputzt und in die Öffentlichkeit bringt, so gibt's die größten Unannehmlichkeiten. Es darf kein Schuß fallen. Stellen wir eine Wache auf, die zwar jeden aus der Erdhöhle heraus, aber niemand hinein läßt. Wanags kann sich ohne Nahrungsmittel nicht lange halten und wird seine Festung selbst aufgeben müssen.«

So geschah's. Der Gerichtsbote und der Amtsdiener standen abwechselnd auf Posten, und auf dem Gute war alles in Bereitschaft, um sofort die Brandstelle räumen und das Loch in der Erde füllen zu können. Ansas erkannte bald, was man im Schilde führte; sobald er seine Burg verließ, war sie für ihn verloren. Auf eine solche Belagerung hatte er sich nicht eingerichtet, aber mit der ihm eigenen Zähigkeit beschloß er, lieber die äußerste Not abzuwarten, als sich zu ergeben. Grita hatte keinen eigenen Willen; würde er verlangt haben, daß sie mit ihm sterbe, sie hätte sich ohne Widerspruch gefügt.

Die vorhandenen Lebensmittel reichten nur für einen Tag, aber noch zwei weitere Tage hungerten sie, immer in der Hoffnung, daß ihre Verfolger die Geduld verlieren würden. Endlich brach Grita, schon geschwächt durch den langen Aufenthalt in der feuchten Erdhöhle, kraftlos zusammen. Ansas trug sie in die frische Lust und lehnte sie gegen die verfallene Mauer, die von der Frühlingssonne durchwärmt war. Sie erholte sich von ihrer Ohnmacht, aber das Sprechen wurde ihr schwer, und sie sagte nur wiederholt mit matter Stimme: »Es ist gut, Ansas – sorge nur für dich.« Das goldene Kreuz hielt sie immer in der Hand und drückte von Zeit zu Zeit einen Kuß darauf. Dem armen treuen Menschen ging ihr Leiden tief zu Herzen, aber noch eine Weile kämpfte der Trotz gegen das Mitgefühl an. Dann ergab er sich in sein Geschick mit Tränen in den Augen. »Wir müssen von hier scheiden, Grita«, sagte er finster, »geschehe denn bald, was doch einmal geschehen muß. Wir sind von Gott und den Menschen verlassen.« – »Von Gott verlassen –«, wiederholte sie kaum hörbar.

Er hing das Gewehr über die Schulter, faßte Grita um den Leib und führte sie seufzend fort. Auf der Brücke promenierte der Amtsdiener. Kaum war das Paar vorüber, als er auch schon nach dem Gut eilte und die Neuigkeit publizierte. Herr Geelhaar selbst machte sich ohne Zögern mit seinen Leuten auf; Fuhrwerke wurden nachbestellt. In weniger als einer Stunde waren die Holz- und Ziegeltrümmer von der Brandstätte abgeräumt, die Dachstützen fortgezogen, die Vertiefungen ausgefüllt. Am Nachmittage ging der Pflug über die Scholle. –

Ansas stärkte sich und Grita im nächsten Krug mit Speise und Trank. Dann setzten sie ihren Weg nach der Grenze fort. Am Rand eines einsamen Wäldchens machte er halt und hieß sie, sich auf einen der großen Felssteine niederlassen, die hier aus dem Boden vorragten. »Ich muß noch einmal zurück«, sagte er, und es war das erste Wort, das er sprach, seitdem sie ihre Wanderung angetreten hatten.

»Zurück?« fragte sie erschreckt. Es lag in dem Ton seiner Stimme etwas, das ihr seine tiefste Erregung verraten mußte.

»Ich muß noch einmal zurück«, wiederholte er mit einiger Heftigkeit. »Warte hier auf mich, ich halte mich nicht lange auf. Wir sind eine halbe Stunde von der Grenze, du kennst ja den Weg über die Heide. Vor Nacht kann ich wieder zurück sein, und wir gehen dann zusammen hinüber. Komme ich nicht bis dahin – so geh allein bis zum Grenzdorf; man wird dich dort aufnehmen, wenn du sagst, daß wir von den deutschen Schurken ausgetrieben sind.«

»Ich gehe nicht allein über die Heide«, äußerte Grita mit rascher Entschiedenheit; »da haben sie – eines Morgens früh die Urte gefunden –«

»Kannst du's nicht vergessen?« murmelte er, die Augen senkend. Er nahm das Gewehr von der Schulter, öffnete und schloß den Hahn und besichtigte den Lauf auf und ab, sicher ohne zu wissen, was er eigentlich tat. »Gut! so bleibe hier«, sagte er nach einer Weile, »und ruhe aus. Es könnte sein, daß wir uns beeilen müßten, wenn ich zurückkehre.« Er wandte sich zum Gehen.

Grita stand auf und hielt ihn am Arme fest. »Was hast du vor, Ansas?« fragte sie zitternd.

»Warum sollst du's wissen?« entgegnete er, den Kopf aufwerfend. »Es ist besser, wenn es geschieht, ohne daß du teil daran hast. Frage nicht und laß mich gehen.«

»Ich lasse dich nicht fort, Ansas«, rief sie. »Du sagst mir denn, was du im Sinn hast. Es ist nichts Gutes.«

»Es ist nichts Gutes und muß doch geschehen. Ich habe mir's geschworen, daß er von meinem Acker nicht ernten soll, und er wird nicht ernten.«

»Ansas!« schrie sie entsetzt auf. »Hab' ich's erraten? Du willst –«

»Ich will über die Grenze zu den Schmugglern und nehme dich mit mir, Grita«, sagte er finster und halb abgekehrt, »aber ehe ich meine Flinte drüben lade, muß sie hier doch abgeschossen sein. Es ist eine Kugel im Lauf.«

Sie faßte mit beiden Händen seine Arme und zog ihn zu sich heran. »Sieh mir ins Gesicht, Ansas – du willst zurück, um dem Gutsherrn aufzulauern, um ihn –«

Der Litauer lachte hell auf. »Aufzulauern? Nein, wahrhaftig nicht! In sein Haus will ich offen eintreten und ihm sagen, daß ich elend und heimatlos geworden bin durch ihn, und daß ich komme, meine Rache zu nehmen. Und dann will ich das Gewehr auf ihn anlegen, und wenn es nicht versagt, so ist es Gottes Wille.«

»Es ist des Teufels Lockung«, rief sie totenbleich und bebend am ganzen Körper. »Ich weiß es, Ansas, ich weiß es. Bevor es geschehen, ist das Herz voll Galle, und man meint alle Bitterkeit loswerden zu können mit dem einen Entschluß, wenn man den Grund aus der Welt schafft. Aber es kommt ganz anders. Die Toten sind nicht tot, Ansas, glaube mir – sie sind nicht tot. Sie wandeln bei Tag und bei Nacht vor uns her und schauen uns hohlen Auges an und sprechen zu uns mit bekannter Stimme. Sie fordern immer ihr Leben zurück, dringlicher und dringlicher, und es hilft dir nicht, wenn du dir selber fluchst. Was du auch tust, deine Gedanken müssen immer auf den einen Punkt. Ach! es ist schrecklich – schrecklich!« Sie brach in lautes Weinen aus.

Er stand regungslos. Ihre Worte hatten ihn erschüttert. War er doch so lange der Zeuge ihrer stummen Leiden gewesen, und kannte er doch deren geheimen Grund. Und nun wollte auch er seine Seele belasten mit einem – Mord? Und dennoch! Sollte jener frei ausgehen? »Soll jener frei ausgehen?« fragte er zähneknirschend, gleichsam unfreiwillig seine Gedanken bloßlegend. »Das ist nicht zu ertragen.«

Grita legte die Arme um seinen Hals. »Ertrag's, wenn du mich liebst«, bat sie flehentlich. »Verzeih deinem Todfeinde, und ich will denken, daß mir verziehen ist. Tu's nicht, Ansas, ich bitte dich, tu's nicht.«

Sie sah zu ihm auf mit einem Blick, der ihm durch Mark und Bein drang. Er hielt ihn nicht aus und schaute über sie hinweg in die Sonne hinein, bis sich ihm alles in ein Lichtmeer verwandelte, in dem schwarze Teufelsfratzen auf- und abtauchten. Dann machte er sich gewaltsam los von ihr, riß das Gewehr von der Schulter und feuerte es blind nach jener Richtung hin ab. Nun waren die gespenstischen Gestalten verschwunden, aber auch der Lichtschein. Es dunkelte um ihn – er brach zusammen und sank auf den Stein nieder.

Als er erwachte, war es wirklich Nacht. Grita saß neben ihm und hatte seinen Kopf auf ihrem Schoß. »Komm«, sagte sie mild, »mir graut nicht mehr, über die Heide zu gehen.«

 

 

Kurze Zeit nach diesen Vorfällen wurde in den Amtsstuben und in den öffentlichen Blättern viel gesprochen von einer Schmugglerbande, die sich an der Grenze organisiert habe und die Gegend unsicher mache. Die russischen Postenketten wurden verdoppelt, aber es gelang den Wagehalsigen, die auch vor dem Kampf mit Waffen nicht zurückschreckten, jedesmal auf ihren schnellen Pferden bedeutende Warentransporte durchzubringen. An der Spitze sollte ein junger Litauer stehen, der früher preußischer Soldat gewesen sei, Haus und Hof durch seine Prozeßsucht verloren habe und nun ein abenteuerndes Leben führe. Es fehlte nicht an allerhand romantischen Erzählungen von seinen kühnen Streichen, Überraschungen, scharfen Ritten, siegreichen Gefechten. Auch wollte man wissen, daß ihn ein junges Weib überallhin begleite, und daß dasselbe ein goldenes mit kostbaren Steinen besetztes Kreuz trage, unter denen ein Talisman, der vor jeder Gefahr schütze. Bald wurden litauische Lieder auf sie gemacht und in den Spinnstuben gesungen. Die russische Regierung aber setzte einen großen Preis aus für den, der die beiden einfinge. Lange entgingen sie allen Nachstellungen, denn die abergläubischen Grenzsoldaten hielten sich gern in gemessener Entfernung.

Endlich wurde das Treiben der Schmuggler so arg, daß jede Ordnung gestört zu werden drohte, wenn nicht ein energisches Einschreiten erfolgte. So zogen denn ganz heimlich einige Kompanien Soldaten heran; die Schmuggler, die nichts davon wußten, wurden überrascht, umzingelt und zu einem Gefecht genötigt, bei dem auf beiden Seiten viel Blut floß. Der Kampf endete unglücklich für die Schmuggler, die Pferde und Warenpäcke verloren und zuletzt einzeln versuchen mußten, durch die Flucht ihr Leben zu retten.

Am nächsten Morgen fand man auf dem Kampfplatz den gefürchteten Anführer der Bande tot am Boden. Eine Kugel hatte seine Brust durchbohrt. Auf der Wunde lag das goldene Kreuz. Halb neben ihm, halb auf seine Schulter gelehnt, die rechte Hand über seine Brust hin so weit vorgestreckt, daß die Fingerspitzen fast das Kreuz berührten, ruhte eine leblose Gestalt in litauischer Tracht. Es fand sich bei ihr keine Spur äußerer Verletzung. »Sie hat nicht leben können ohne ihn«, meinten die Soldaten, aber der zur Leichenschau berufene Arzt schüttelte den Kopf und sagte: »Sie hat Gift genommen.«

So endeten Ansas und Grita.


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