Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 2
Johann Karl Wezel

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Drittes Kapitel.

»Hilf mir lachen, Ulrike!« so trat Herrmann in ihre Stube. »Hilf mir lachen! vor einer Stunde ist dein Porträt und ein Gesicht abgefahren, das ihm wahrhaftig ähnlicher sieht, als ich glaubte, daß dir Ein Gesicht seyn könte. Fort ist sie! Sie hat meinen gewesnen Prinzipal gebeten, ihr heimlich ein Kleid von seiner Frau zu geben: allein er ist es nicht eingegangen, sondern hat ihren ganzen Anzug vom Juden geborgt und für die Bezahlung zu haften versprochen. Welche Lust! wie der Graf stutzen und sprudeln wird, wenn er eine falsche Ulrike bekömmt! Der Kaufmann war sehr aufgebracht wider ihn, daß er nicht mit der Bezahlung inne hält: der Graf hat ihm von der versprochnen Summe nicht mehr als tausend Thaler ausgezahlt: deswegen begleitet er seine Ulrike selber, um deinen Onkel zu mahnen und zu verklagen, wenn er nicht Richtigkeit macht.«

Ulrike. Also gehts schon wieder schlimm? – 364 Die arme Tante Gräfin! Wenn die nur nicht dabey leiden müßte! das wird einmal ein Thränenvergießen werden! – Ihre Leiden gehn mir ans Herz; aber ich kan sie izt unmöglich bedauern: ich müßte mirs an meiner Freude abbrechen: das Mitleiden glitscht mir itzo nur über die Seel weg; und wie die Betrübniß thut, davon weis ich kein Wort mehr.

Herrmann. Das sollst du auch nicht! nimmermehr wollen wir das wieder erfahren! Seitdem ich dich wieder habe, ist mir Jedermann verächtlich, elend, klein: die Leute auf der Straße, wenn sie vor mir vorübergehn, kommen mir alle wie Zwerge vor: ich rage weit über sie weg. Die nichtswerthen Geschöpfe! denk' ich: wozu leben sie? um in niedrigen gewinnsüchtigen langweiligen Geschäften herumzukriechen, bestimmt des Lebens Last zu tragen und nie eine wahre Freude zu fühlen. Lieben können sie nicht; denn es ist nur Eine Ulrike. – Ich kan gar nicht begreifen, wie Jemand sagen mag: »ich liebe!« wenn er dich nicht lieben darf: alle die bewunderten 365 Schönen – alle sind sie gegen dich wie eine Nachtlampe gegen die Sonne: nicht Eine Ader thut mir nach ihnen weh.

Ulrike. Bemitleide, beklage sie, die armen Geschöpfe! was kan der Bettler dafür, daß er nicht so glücklich ist als der Reiche? – Ich habe heute allen Leuten ins Gesicht lachen müssen, so komisch verdrießlich und ernsthaft sehn sie mir aus. Wenn ich mich nur einmal satt lachen dürfte! Bey Tische brach es mir heute etlichemal heraus: ich verbarg es mit dem Schnupftuche, aber die Frau von Dirzau ward es doch gewahr: sie fragte, was ich hätte; und zum Glücke besann ich mich auf ein lustiges Histörchen, das mir eingefallen wäre, und das ich ihr erzählte, um nur einmal frey herauslachen zu können.

Herrmann. Und mich muß die Freude zerstreut, verwirrt, abwesend machen; denn der Kaufmann beschwerte sich über mich, daß ich ihm so verkehrt antwortete und immer nicht wüßte, wo ich wäre. »Du bist ja seit gestern gar zum Klotze geworden,« sagte er mir: allein ich bat sehr inständig, mich mit dergleichen 366 vertraulichen Benennungen zu verschonen, da ich nicht mehr die Ehre hätte, sein Junge zu seyn: – »Wie trotzig!« sagte er und wunderte sich. – »Und das mit Recht!« sprach ich und gieng. Auch deine Botenfrau klagte über mich, daß sie nicht klug in mir werden könte. –

Ulrike. Bey mir hat sie noch mehr geklagt. Du mistrauischer Schelm! warum traust du ihr denn nicht? – Sie ist eine recht gute Frau.

Herrmann. Ich traue Niemandem als dir und mir. Ich habe leider! die Erfahrung gemacht, daß man sehr gut scheinen und doch ein Spitzbube seyn kann.

Ulrike. O du hocherfahrner Heinrich! hat dich während unsrer Trennung die Erfahrung so vorsichtig gemacht? – Du mußt wissen, daß wir dieser Frau unser ganzes Glück zu danken haben. Hab' ich dir nicht gestern schon von ihr erzählt? – Nein! Izt besinne ich mich: ich sezte mich ja erst in meiner Erzählung zu Wilsdruf auf die Post, als wir gestern gestört wurden.

Herrmann. In was für Gesellschaft reistest du? 367

Ulrike. In herzlich schlechter! Sie hiengen alle die Köpfe, wie welke Mayblumen. Ein Kandidat, ein Kantor und ein Jäger: sie waren fromm, wie die Schäfchen, gegen mich; denn keiner redte Ein Wort mit mir; und das war mir ganz gelegen: ich hatte mit mir gnug zu sprechen. Gegen Abend schickte der Himmel einen gnädigen Regen, der das entlaufne Mädchen so durchnäßte, daß ich am ganzen Leibe Eine Wasserfluth wurde. Ich zitterte vor Kälte, fühlte schauerhaften Fieberfrost, mein Muth war ganz dahin. Meine drey Gefährten wickelten sich in Mäntel und Ueberröcke und verlangten gar nicht zu wissen, ob mich fröre: nur der Postilion war so gutherzig und erkundigte sich nach meinem Befinden, erbarmte sich meiner und gab mir aus christlicher Liebe für vier Groschen seinen Mantel bis zur nächsten Station. Dort ließ man mir die nämliche Milde gegen den doppelten Preis angedeihen. O Heinrich, beklage dein armes entlaufnes Mädchen! Die Strafe war wirklich zu hart. In einen gelben Mantel vom Kopf bis an die Knie 368 gewickelt, unten in Stroh eingepackt, bald frierend, daß mir das Herz bebte, bald glühend, wie ein Feuerofen, und bey der größten Hitze noch innerlich schauernd vor Frost, saß ich armes Geschöpf verlassen und allein die übrige Nacht durch auf dem Wagen, und die Wolken strömten so ungeheure Fluten auf mich herab, daß Stroh und Füße in Wasser schwammen: wie eine zarte kranke Blume, vom Platzregen ersäuft, in den Boden gedrückt, saß ich da, trauerte und weinte. Meine Seelenkümmerniß erwachte, Reue und Furcht vor der Zukunft quälten mich; und so wurde die unbesonnen verliebte Ulrike das Spiel eines doppelten Sturms! von innen und von außen! ein krankes Schäfchen, in einer menschenlosen Wüste!

Obgleich die übrige Reise hindurch die Grausamkeit des Wetters nachließ, blieb ich doch krank und niedergeschlagen: langes Fasten, Mattigkeit, Rückenschmerzen von der Erschütterung des rumpelnden Wagens, Uebelkeit, Verdruß, Fieber raubten mir die Kraft, ein Auge aufzuschlagen oder ein Glied zu rühren. 369 Mitten in einer Station stieg ein sächsischer Soldat auf, ein Kavallerist, der bis nach Grimma bey mir blieb. Kaum hatte er meine Krankheit aus mir herausgefragt – welches er gleich that, als er Platz genommen hatte – so warf er hastig seinen Mantel von sich, richtete mich auf, ließ den Postknecht halten und wickelte mich so derb in seinen rothen Mantel ein, daß ich fast erstickte, holte eine zotichte Mütze aus der Tasche, weitete sie über das Knie und sezte sie mir auf meine Kappe darüber: ich bat ihn, seine Güte nunmehr nicht weiter zu treiben, allein er ruhte nicht, bis ich ein Paar wollne Handschuhe annahm, worein er meine Füße steckte. Ich dankte ihm mit einem gerührten Blicke und beklagte, daß er sich aller Bequemlichkeiten um meinetwillen beraubte. – »Ha!« sprach er, »das Hemde vom Leibe können Sie kriegen, wenn Sies haben wollen. Solche Kerle wie mich macht der liebe Gott alle Tage, aber ein hübsches Mädchen nur alle Jahre einmal. Du bist ein rechter Halunke, Schwager!« rief er zum Postknecht, »daß du das arme Nüßchen so 370 frieren läßt.« – »Ich kann sie ja nicht wärmen: es ist kalt,« antwortete der Postilion mit gedehntem Tone. – »Köntest du dich nicht ausziehn bis auf die Haut und deine Kleider auf sie decken? Du hölzerner Peter wirst doch wohl nichts erfrieren, und wenn du im Hemde bis nach Rom fährst. – So viel will ich Ihnen nur sagen – (wobey er sich zu mir herüberbeugte) – so lange ich bey Ihnen bin, soll Ihnen nichts zu Leide geschehn: hier ist Mordgewehr. Mich hat einmal ein Mädchen vom Tode errettet, und seit der Zeit hab' ich ein Gelübde gethan, kein Mädchen in der Welt Noth leiden zu lassen: ich gehe durch Feuer und Wasser für Sie, wenn Sies verlangen. Was wollen Sie sagen? Ich hab einmal um eines Mädchens willen dreißig Fuchteln gekriegt. Potz Geier! das that! – In diesem Tone fuhr er fort, mir alle seine Heldenthaten für die Mädchen, seiner Familie und seiner Kameraden Geschichte zu erzählen; und er plauderte mir wirklich einen großen Theil meiner schmerzhaften Empfindungen weg. Dabey war er äußerst sorgsam, nachzusehn, ob etwa der 371 Mantel sich irgendwo aufgeschlagen hatte und den rauhen Wind auf mich streichen ließ; und wo er nur einen verdächtigen Fleck traf, da kam er dem Uebel sogleich zuvor. Dieser wohlmeinende Plauderer stieg zwar vor Grimma ab, allein der Wagen war kaum bey dem Posthause, so fand er sich schon wieder ein und bat mich, mit ihm bey seiner Mutter einzukehren, bey welcher er sich auf Urlaub aufhielt. Ich nahm die Einladung an und wurde mit einer Güte von der alten Wittwe und ihrem Sohne bewirthet, gepflegt, gewartet – mit einer Güte, die ich Zeitlebens nicht vergessen werde. Doch äußerte auch diese Frau bey aller Güte einen kränkenden Verdacht, der mir Ruh und Pflege verbitterte, ein Mitleiden über meine Jugend und Schwächlichkeit des Körpers – ein Mitleiden, mit so mancherley bedenklichen Reden vermischt, daß mir die Seele blutete! Ich gab mir alle Mühe, ihr den argen Verdacht einer geschehnen Verführung zu benehmen: sie entschuldigte sich zwar und versicherte, daß sie etwas dergleichen von so einem artigen Frauenzimmer gar nicht dächte, und schwur, Gott sollte sie 372 vor einem solchen Argwohn bewahren: aber des Predigens über die Verführungen der Mannspersonen, und des Bedauerns über junge verführte Mädchen ward doch kein Ende. Ich versicherte sie, daß ich eine Freundin in Leipzig besuchen wollte und aus Unwissenheit den geraden Weg verfehlet hätte, daß ich durch die Empfehlung dieser Freundin Guvernante in Berlin werden sollte: sie betheuerte mir eben so stark, daß sie alles glaubte, und fuhr immer in ihren bedenklichen Aeußerungen fort. Als ich drey Tage bey diesen Leuten zugebracht hatte, kam der Sohn des Nachmittags voller Freuden in die Stube und brachte mir die Nachricht, daß morgen in aller Frühe ein Kapitän mit Extrapost nach Leipzig fahren und mir auf seine Fürbitte einen Platz in seiner Chaise geben wolle.

Herrmann. Und du nahmst den Platz an?

Ulrike. Was sollt' ich thun? – Mein Kavallerist versicherte mich, daß ich nichts zu fürchten hätte. – »Der Mann hat eine Frau und drey Kinder,« sagte er: »er ist schon ein bischen alt und mein speciell guter Freund und Patron: 373 er hat einmal als Lieutenant bey meinem Vater seliger im Quartier gelegen; und da thut er ihnen nichts, darauf können sie sich verlassen.«– Ich nahm mit Thränen von den guten Leuten Abschied: mein Fieber und mein innerlicher Kummer hatten mich so weichmüthig gemacht, daß mich jedes Wort zum Weinen bringen konte: ich legte einen Dukaten hin, allein der Sohn schwur, daß er des Teufels lebendig seyn wollte, und die Mutter, daß sie Gott bewahren sollte, Einen rothen Pfennig anzunehmen: ich drückte dem Reuter dankbar die Hand, als er mir den Dukaten mit Gewalt in die meinige legte, und hätte ihn küssen mögen –

Herrmann. Und ich möcht' ihm Millionen schenken, wenn ich sie hätte. Ulrike, wenn wir jemals glücklich zusammen werden, die Leute sollen bey uns wohnen, sollen Freud und Leid mit uns theilen: sie sind meinem Herze mehr als Vater und Mutter. – Aber, liebste Ulrike, also reistest du mit dem Offiziere?

Ulrike. Warum fragst du denn so ängstlich? – Er war ja alt und hatte eine Frau und 374 drey Kinder! – Sey unbesorgt! Er hat unterwegs mehr mit dem Postknechte, als mit mir gesprochen, und wenns ihm einfiel, mich zu unterhalten, so redte er von Rebhünern, wilden Schweinen, zahmen und wilden Enten, oder erzählte mir ein Jagdhistörchen, über das ich zum Unglück nicht lachen konte. Sonst galt es ihm gleich, ob mich hungerte, fror oder durstete, und etlichemal schalt er mich recht derb aus, daß ich mich auf so eine Reise so leicht angezogen hätte, da ich doch so eine elende patschichte Kreatur wäre. Ueberhaupt fand er immer etwas zu tadeln, und wo andre Leute bedauert hätten, da schalt er. Statt mir Wein oder eine Höflichkeit anzubieten, fragte er mit mürrischem strafenden Tone: »warum trinken Sie denn nicht? warum nehmen Sie denn meinen Mantel nicht, wenn Sie friert?« – Da wir in Leipzig ausstiegen, dankte ich ihm sehr demüthig für seine Güte: allein er wollte meinen Dank nicht: ohne ihn anzuhören, sprach er: »es ist gerne geschehn,« – und wandte sich zum Postknechte, um mit ihm über den Bau seiner Chäse zu 375 sprechen. Ich war nicht zwo Stunden im Gasthofe, als sich eine Puzmacherin, die ihre Stube neben mir hatte und eine fremde Herrschaft in mir vermuthen mochte, auf meinem Zimmer einstellte, um mir ihre Waaren anzubieten. Ich erschrak, als ich die Stimme hörte, und noch mehr, da ich das Gesicht erblickte: es war die Putzmacherin aus Dresden, von welcher Tante Sapperment so vielfältig gekauft, mit der ich so vielfältig geschäkert hatte. Ich dankte leise und wandte mein Gesicht weg: aber unvorsichtiger Weise trat ich so, daß sie es im Spiegel sehen konte. – »Ey! du allerhöchster Gott, sind Sies denn wirklich?« rief sie aus und fuhr auf mich zu. »Gott sey mir gnädig! wie ich erschrocken bin! Bin ich besoffen oder nüchtern? – Ja, ja! Sie sinds ja mit Leib und Seele. Ey, unterthänige Magd, liebes Baroneßchen! Behüte mich Gott! in des Henkers Namen, wo kommen Sie denn her?« – Es half nun weiter keine Verstellung: ich mußte mich entdecken. Ich überredete ihr in der Geschwindigkeit, daß ich mich mit der Oberstin veruneinigt 376 hätte und heimlich fortgereist wäre, um mich zu einer Anverwandtin in Berlin zu begeben. Ich bat sie um alles in der Welt, mich nicht zu verrathen, und bot ihr Geld, so viel ich nur entbehren konte: aber sie schlug alles aus und that einen entsezlichen Schwur, daß sie nichts über ihre Zunge kommen lassen wollte, wenn ich mich ihr ganz anvertraute. Sie erbot sich, mich in zwey Tagen mit nach Dessau zu nehmen, wohin sie mit Waaren bestellt war; und weil sie dort ihre Muhme, die Madam Hildebrand aus Berlin zu sprechen hofte, so könte ich alsdann mit dieser Frau vollends nach Berlin reisen. Alles sehr erwünscht für mich! Wir fuhren mit einem Miethkutscher nach Dessau, wo die Frau Hildebrand schon wartete; denn sie hatten einander dahin bestellt, um gewisse Angelegenheiten abzuthun, die ich nicht erfuhr. Die Geschäfte der beiden Weiber nahmen zwey ganze Tage hin: alsdann wurde ich der Frau Hildebrand förmlich übergeben, und wir giengen zusammen mit der Post ab. Nun war es hohe Zeit offenherzig zu beichten und um Rath zu 377 fragen: meine achtzehn Dukaten hatten abgenommen, und wenn auch durch große Sparsamkeit der Rest noch einen Monat in Berlin widerhielt, was dann zu thun? – Ich tolles Mädchen, hatte noch nie hausgehalten und bildete mir ein, daß man mit achtzehn Dukaten durch die halbe Welt reisen könte: wie fand ich mich betrogen! Ich eröfnete der Frau Hildebrand mein Anliegen und fragte, ob sie mir nicht zu einer Stelle als Guvernantin verhelfen könte, da sie nach der Aussage ihrer Muhme in allen großen Häusern bekannt seyn sollte. Sie versprach nichts als ihren guten Willen. Sie bot mir so lange Wohnung bey sich an, bis sich etwas für mich fände, und ermahnte mich beständig, nicht ekel in den Bedingungen zu seyn: wenn ich das nicht seyn wollte, wäre nichts leichter für so ein hübsches Frauenzimmer, wie ich, als in Berlin unterzukommen. Ohngefähr eine Woche vergieng nach unserer Ankunft, als sie mir einen Spatziergang unter die Linden vorschlug: aber lieber Himmel! ich hatte keine Kleider. Frau Hildebrand schafte Rath. Sie brachte mir ein 378 vollständiges reinliches seidnes Kleid, koeffirte mich mit eigner Hand und wanderte mit mir fort. Niedergeschlagenheit des Herzens und die Schwächlichkeit vom Fieber machten mich furchtsam: ich konte kein Auge aufheben, und wenn ichs wagte, kam mirs vor, als wenn Jedermann nach mir sähe und von mir spräche: gleichwohl bekümmerte sich Niemand um mich, wie mich meine Begleiterin versicherte, außer einigen Mannspersonen, die mir starr in die Augen sahen oder wohl gar stehen blieben und nach mir wiesen. Ich war so beklommen, daß ich die Frau bat, mit mir umzukehren, weil mir das Anstarren fremder Personen unerträglich wäre. »Das müssen Sie sich zur Ehre rechnen,« sprach sie: »wer wird denn so blöde seyn? Gucken Sie nur den Leuten recht dreist in die Augen, mein Schäfchen! Sie werden bald Ihr Unterkommen finden, dafür ist mir nicht leid: ich merke das schon. Nur hübsch dreist, mein Lämmchen!« – Auf dem Spatziergange waren nichts als Mannspersonen, und auch in keiner großen Anzahl; denn es war schon im Herbste und 379 nicht sonderlich angenehm: meine Begleiterin hatte viele Bekannte unter ihnen, die sie von Zeit zu Zeit auf die Seite nahmen und sich von ihr etwas ins Ohr zischeln ließen, indessen daß ich allein dort stund und mich von den Vorübergehenden begaffen lassen mußte: besonders einer, sehr mittelmäßig gekleidet, in einem grauen Ueberrocke, gestiefelt und gespornt, nahm mich in so genauen Augenschein, als wenn er meine Person auf seine ganze Lebenszeit merken wollte. Er sprach ein Paar Worte leise mit der Hildebrand, und gleich darauf rieth sie mir, wieder nach Hause zu gehen: wir thatens, und unterwegs entdeckte sie mir, daß dieser Herr, der mich so genau angesehn habe, Herr von Troppau heiße, eine Guvernantin für ein siebenjähriges Fräulein brauche und mich morgen Vormittag bey sich sehen wolle. Mir war die Einladung höchst ungelegen: aber was konte ich thun? – Ich mußte mich dazu entschließen und gieng mit der Hildebrand den folgenden Vormittag zu ihm hin. Er empfieng mich mit ungemeiner Politesse und führte mich sogar bey der Hand ins Zimmer, 380 daß ich stuzte und nicht anders glaubte, als daß er meinen Stand wüßte. Wir sezten uns, der Bediente brachte Schokolate und ein Paar Teller Näschereyen: unser Gespräch wollte sich nicht sonderlich erwärmen. Sein überaus ernstes Ansehn und Betragen, seine abgebrochne Art zu reden, sein starrer steifer Blick schreckten mich anfangs nicht wenig: allein da ich glaubte, daß er mich nicht zu sich verlangt habe, um mich anzusehn, fieng ich allmälich an, ein wenig lebhafter zu plaudern. Er lächelte zuweilen und fragte endlich ganz abgebrochen, ob die Hildebrand mit mir von seiner Absicht auf mich gesprochen habe: ich bejahte es. – »Ich werde schon weiter mit Ihnen darüber sprechen,« sagte er und schickte zu seiner Schwester, der Frau von Dirzau, die mit ihm in Einem Hause wohnt, um sich erkundigen zu lassen, ob er mich ihr vorstellen dürfte: der Bediente kam mit einem Ja zurück, und er führte mich zu ihr.– »Ich bin Wittwer,« sagte er unterwegs, indem wir die Treppe in den zweiten Stock hinaufstiegen; »und meine Schwester hat meine Tochter bey sich, die Ihnen zur 381 Erziehung bestimmt ist.« – Die Dame empfieng mich, wie ihr Bruder, sehr freundlich, blieb eben so ernsthaft und besah mich so genau, daß keine Falte im Kleide, kein Härchen auf dem Kopfe von ihrem Blicke verschont blieb; und wenn sie mich eine Zeitlang begaft hatte, dann wandte sie sich zu ihrem Bruder und sagte ihm leise ihr Urtheil, doch immer laut genug, daß ichs hören konte: es fiel meistens misbilligend aus, wie ich auch schon aus dem verzognen Munde und der gerümpften Nase hätte schließen können. Ihre Fragen an mich betrafen mein Alter, meine Herkunft und andre Dinge dieser Art, die ich größtentheils mit Lügen aus dem Stegreife beantworten mußte. Der Bruder war bey allem, was sie über mich sprachen, entgegengesezter Meinung: was die Schwester tadelte, lobte er, und da sie beinahe alles tadelte, lobte er auch beinahe alles an mir: zuweilen schien es sogar, als wenn er sich über sie aufhielt. Sie bat mich zum Mittagsessen: der Herr von Troppau gieng auf die verbindlichste Weise mit mir die Treppe herunter und befahl 382 einem Bedienten, mich zu Madam Vignali zu bringen, drückte mir die Hand bey dem Abschiede und stieg wieder die Treppe hinauf zu seiner Schwester. Madam Vignali nahm meinen Besuch, auf welchen sie schon vorbereitet war, bey dem Puztische an, und in drey Minuten war ich schon in die Frau verliebt. Sie empfieng mich mit ofnen Armen und zween der freundschaftlichsten Küsse, wünschte sich sogleich nach den ersten Komplimenten Glück, daß sie in so nahe Verbindung mit mir gerathen sollte, bat um meine Freundschaft, als um die größte Wohlthat, die ihr wiederfahren könte, schilderte mir den Herrn von Troppau als den freygebigsten edeldenkendsten angenehmsten Mann: die Frau von Dirzau hingegen kam desto schlimmer weg. – »Sie hat ehmals gelebt wie wir alle,« sagte sie von ihr: »sie hat geliebt und sich lieben lassen: die Vergnügungen hat sie bis zur Tollheit geliebt und die Narrheit begangen, einen großen Theil ihres Vermögens dabey zuzusetzen. Um ihren Aufwand unter einem ehrbaren Vorwande einzuschränken, warf sie sich vor zwey Jahren in 383 die Devotion und lebt und liebt seitdem im Stillen: sie ist mannichmal von einer so skandalösen Frömmigkeit, daß man nicht bey ihr aushalten kan. Seyn Sie auf Ihrer Hut! sie ist erstaunend hönisch, spöttelt über alles mit der Mine eines kanonisirten Heiligen: sie ist das Archiv aller Stadtneuigkeiten und besoldet ein halbes Dutzend alter Huren, die herumschleichen und Nachrichten für sie sammeln müssen. Wahrscheinlich werden Sie in diesem bureau des affaires scandaleuses auch einen Platz bekommen; und Sie thun klug, wenn Sie sich ihn beyzeiten selbst nehmen: das ist das einzige Mittel, ihr zu gefallen; und ich rathe Ihnen nicht, ihr zu misfallen: Sie wären verloren, da Sie bey ihr wohnen und speisen werden, wenigstens fürizt: ich werde den Herrn von Troppau schon antreiben, daß er seine Tochter bald von ihr wegnimmt: die arme Kleine wird zum Schafe bey der Frau.« – Das waren ohngefähr die Nachrichten, die sie mir nebst einigen andern von gleichem Schlage ertheilte. Beym Weggehn führte sie mich in ein kleines Kabinet, zog 384 eine Rolle Geld aus dem Schreibeschranke und übergab sie mir. – »Sie brauchen vermuthlich Geld,« sprach sie, »um sich Kleider anzuschaffen: nehmen Sie!« – Ich weigerte mich, erstaunt über eine solche Gütigkeit. – »Ich leih' es Ihnen,« fieng sie an, als sie meine Verlegenheit merkte. – »Aber ich werde Sie nicht wiederbezahlen können, sprach ich. – »Das wird sich schon geben: wenn es alle ist, wenden Sie sich an mich!« – Unter Küssen, Umarmungen, Versicherungen der Freundschaft und Liebe trennten wir uns. – Heinrich, sage! Kan man eine beßre liebenswürdigere edlere Frau finden?

Herrmann. Bis hieher fürwahr nicht! Wenn nichts dahinter steckt?

Ulrike. Ueber den Mistrauischen! Wer hat dich nur dazu gemacht? – Ach ja! deine Erfahrung, sagtest du ja vorhin! – So ist diese vortrefliche Frau bis auf diese Stunde gegen mich geblieben, meine einzige vertrauteste Freundin, meine Zuflucht bey allen Bedürfnissen: unsre Herzen sind einander offen und unsre Anliegen und Wünsche gehn aus einem in das 385 andre über: sie erzählt mir ihre kleinsten Begebenheiten, und wenns auch nur eine verlorne Stecknadel wäre: wir singen, tändeln, schwatzen mit einander; – kurz, wir lieben uns, wie zwo Freundinnen sich lieben müssen: keine kan ohne die andre einen Tag zubringen, und wenn wir uns einen halben Tag nicht gesehn haben, leiden wir, wie bey einer ewigen Trennung; und sehn wir uns dann wieder, o da ist die Freude so voll! so herzlich! mit Thränen fließen wir bey der ersten Umarmung zusammen: unsre Hände schließen sich in einander, erwärmen sich unter dem feurigsten Drucke und möchten sich gern noch inniger vereinigen, wenn sie nur könten. Oft sitz' ich neben ihr auf dem Sofa, rede lange kein Wort, kan auch nicht reden, so voll ist mir mein Herz: es steigt mir vor süßer Wehmuth bis in die Gurgel herauf: ein angenehmer Schauer läuft mir durch den ganzen Rücken hinab: ich kan mich nicht halten, ich werfe mich der vortreflichen Frau an die Brust und schluchze und weine große Tropfen und möchte mich gern in ihre Seele hineindrücken 386 können. O Heinrich! nur diese edle Freundin hat mir deine Trennung erträglich gemacht: ich liebte dich in ihr. Wenn Eine weibliche Freundschaft auf der Erde wahr und ohne Affektation gewesen ist, so muß es die unsrige seyn: ich zittre vor Vergnügen, wenn ich mir sie nur denke.

Herrmann. Aber bist du gewiß versichert, daß Vignali dich eben so sehr liebt als du sie?

Ulrike. Wie du nur so einfältig fragen kanst? – Einfältig, recht einfältig ist das gefragt.

Herrmann. Erzürne dich nicht, liebe Ulrike!

Ulrike. Fast möcht' ich! – Thue nicht noch eine so wunderliche Frage! oder du bringst mich gewiß auf. – Ob sie mich liebt? Sehe, höre, fühl' ichs denn nicht? Sie erfüllt ja meine kleinsten Verlangen, kömmt meinen Wünschen zuvor, lauert recht auf Gelegenheit, mir Gefälligkeiten zu erzeigen, giebt mir Geld, so viel ich nur brauche, ohne zu bedenken, daß ichs ihr niemals wiedergeben kan, will auch 387 schlechterdings nichts wiederhaben: liebt man da nicht, wenn man alles das thut? – Du solltest nur unsern Abschied sehn, wenn wir uns auf eine ganze Nacht verlassen müssen – wie wir immer von einander wollen und nicht können, immer umarmen und küssen und Gute Nacht sagen, und immer wieder stehn bleiben, noch etwas zu sagen haben, dann wieder umarmen, wieder küssen, und so zehnmal, zwanzigmal Abschied nehmen, und zwanzigmal stehn bleiben, bis wir an der untersten Hausthür sind; und noch reißen wir uns mit Mühe los, um eine ganze Nacht von einander zu seyn: liebt man da nicht, wenn man das thut? – Sage mir Eine von deinen hocherfahrnen Erfahrungen, die alles das zur Lüge macht! Möcht' ich dich doch tausendmal lieber tumm und einfältig als mistrauisch sehn. Der Himmel weis es, wie sehr ich dich liebe: aber so wahr ein Himmel ist! ich müßte aufhören, dich zu lieben, wenn du so mistrauisch bliebst. –

Sie war so lebhaft aufgebracht, daß sie einigemal die Stube hastig auf und nieder gieng: 388 Herrmann suchte sie zu besänftigen, gieng ihr nach, warf einen Arm um sie und drückte sie zärtlich an sich.

»Liebste Ulrike,« sprach er, »zürne nicht! Ich will allen meinen Verdacht, alles mein Mistrauen unterdrücken, wenn es dich beleidigt! lieber unvorsichtig mit dir ins Unglück rennen, als dich durch Vorsichtigkeit kränken! – Komm! setze dich! erzähle mir weiter! – Du nahmst von Vignali Abschied; und nach diesem Morgenbesuche giengst du? Wohin, liebe Ulrike?

Ulrike. Zum Mittagsessen bey der Frau von Dirzau: es war gerade Zwölfe, und Vignali sagte mir: »die Frau von Dirzau sezt eine Ehre darein, mit den Tagelöhnern zu gleicher Zeit zu essen: gehn Sie also gleich hinüber!« – Wirklich war es auch hohe Zeit; denn die Suppe stand schon auf dem Tische, als ich anlangte. Die Frau von Dirzau sagte in eigner Person ein langes langes Tischgebet her, wozu die Fräulein auch einen kleinen Zuschuß that, und gegenwärtig geht das Beten nach der Reihe herum. 389 Sie, mein Fräulein und ich, wir machten, wie seitdem täglich, den ganzen Tisch aus und saßen lange sehr züchtig und still da: die Frau von Dirzau legte vor. Als sie den ersten Löffel Suppe essen wollte, fieng sie mit einem hönisch verzognen Munde an: Sie haben der Madam Vignali die Cour gemacht? – »Ja: der Herr von Troppau hat mir befohlen, sie zu besuchen.« – Daran haben sie wohl gethan: es ist eine sehr kluge Frau. – Nun stund unser Gespräch still. Da sie die Suppe aufgezehrt hatte, welches sie äußerst bedächtig that, hub sie wieder an: Wie gefällt Ihnen die Vignali? – »Ausserordentlich wohl! Sie hat mich empfangen, wie eine Schwester.« – Das ist ja sehr schön: es ist eine Frau voller Lebensart. – Abermals eine Generalpause! Das Rindfleisch erschien: sie machte ein Kreuz mit dem Messer darüber und schnitt ein. Als das Rindfleisch herumgegeben war, fragte sie: Trauen Sie der Vignali? – »Ja: ich glaube, daß sie mein Vertrauen verdient.« – Glauben Sie das? So habe ich die Ehre, Ihnen zu sagen, mein liebes 390 Kind, das Sie falsch glauben. Es ist eine abscheuliche Frau, ein wahrhaftig gottloses Weib, das weder Gott noch Menschen scheut, um ihre Absichten durchzusetzen. – »Das sollte ich doch kaum denken,« unterbrach ich sie. – »Es ist möglich,« sagte sie äußerst spöttelnd, »daß Sie die Kunst besitzen, die Leute in Einer Stunde besser kennen zu lernen als ich in sechs Jahren: am Ende wollen wir sehn, wer sich geirrt hat, ich oder Sie. Sie hat meinen Bruder in ihrer Gewalt und spielt mit ihm, wie die Katze mit dem Zwirnknaul: nehmen Sie sich in Acht! Sie sind sehr jung, und ihr Aeußerliches läßt mich erwarten, daß Sie noch nicht verdorben sind: aber Vignali kan nicht wohl unverdorbne Menschen um sich leiden: sie müssen ihr gleich werden, oder zu Grunde gehn. Mein Bruder ist gewöhnlich das Werkzeug, solche schuldlose Geschöpfe, die ein wenig Ehrbarkeit und Tugend mehr haben als dies schändliche Weib, unglücklich zu machen: hüten Sie sich, daß Sie nicht das Opfer werden, das mein Bruder diesem grausamen Götzen bringen muß. Wenn Sie 391 klug sind, wissen Sie nunmehr genug. Ich hoffe, daß Sie in Zukunft sich mehr an mich als meinen Bruder und die Vignali halten werden: es ist zwar seine Tochter, die Ihnen anvertraut werden soll, allein ich erziehe sie und will sie zu einem ehrbaren frommen Leben, und nicht zu so einer wüsten Tollheit erzogen wissen. Fliehen Sie alle diese lustigen Gesellschaften! Man wird sie vermuthlich dazu ziehen wollen: aber wie ich Ihnen sage, halten Sie sich einzig an mich und gehorchen Sie sonst Niemandem! Sie können leicht erachten, daß ich ein gutes Zutrauen zu Ihnen habe, weil ich so offenherzig mit Ihnen spreche. Alle meine Domestiken verstehen französisch, und doch scheue ich mich nicht, alles dies und jedes andre Geheimniß in ihrer Gegenwart zu sagen: nicht Ein Wort kömmt über ihre Zunge: so eine Treue, Einigkeit und Liebe herrscht in meinem Hause!« – Sie sprach noch lange in diesem Tone mit mir: wir stunden auf, und sie war noch immer bey der Vignali. Nach Tische nahm sie mich in ihr Kabinet, ließ ihren Bruder bitten, zu ihr 392 heraufzukommen und bey meiner Annehmung selbst zugegen zu seyn: er kam auch wirklich, aber sehr verwundert, was er dabey sollte. – »Soll denn der Mamsell vielleicht eine Bestallung ausgefertigt werden?« fragte er spöttisch. »Ich habe meine Meinung heute früh gesagt: das kan ihr wieder gesagt werden: man weist ihr das Zimmer an; und so ist die ganze Historie fertig. Ich bekümmere mich um solche Dinge nicht. Willst du vielleicht zum glücklichen Anfange ein Paar Vater Unser mit ihr beten, so ist dirs unverwehrt: ich kan aber nicht die Ehre haben. dabey zu seyn: ich muß zu Tische fahren. Adieu.« – Die Frau von Dirzau wurde feuerroth vor Empfindlichkeit: sie verbiß den Aerger, sagte mir die Bedingungen, die mir ihr Bruder machte, und befahl der Fräulein, mich auf ihr Zimmer zu führen: ehe wir giengen, hielt sie eine förmliche Anrede an uns beide, worinne sie uns zur Ausübung unsrer gegenseitigen Pflichten ermahnte, beschloß wirklich mit einem Vater Unser und hieß uns in Gottes Namen gehen.

Kaum war ich eine Viertelstunde auf meinem 393 Zimmer, siehe! da kam Madam Vignali. Sie wollte mein Fräulein umarmen, allein dem guten Kinde war ein solcher Abscheu gegen die Frau von ihrer Tante eingeflößt worden, daß es alle Liebkosungen von sich abwehrte und mit Zittern augenblicklich aus dem Zimmer zur Frau von Dirzau flüchtete. Ich wollte sie zurückholen, allein Vignali hielt mich ab. »Tant mieux! tant mieux!« schrie sie lachend. »Das Kind soll mich schon einmal lieben, wenn wir sie in die Zucht bekommen. Eh bien? was hat Ihnen denn die gottselige Dame gepredigt? Ich bin doch wohl der Text gewesen?« – Ich sagte ihr das wenige Gute, was die Frau von Dirzau von ihr gesagt hatte, und verschwieg alles übrige. – »Eine kluge Frau! eine Frau voller Lebensart!« sprach sie und zählte dabey an den Fingern. »Sehn Sie! das sind erst zwey Finger; und wenn man das Böse überrechnet, was Ihre Dame in einer Stunde von einem Menschen sagt, so zählt man jedesmal alle zehn Finger zehnmal herum: Sie stehen also noch sehr stark im Reste: was sagte sie weiter?« – Ich 394 antwortete: nichts! – »Liebes Kind!« sprach sie sehr ernsthaft: »für eine Bekanntschaft von vier oder fünf Stunden ist Ihre Heucheley verzeihlich. Solchen Schnickschnack, wie die Frau von Dirzau spricht, vergißt ein gescheidter Mensch sehr leicht: ich will Sie wieder daran erinnern;« – und nun erzählte sie mir Wort für Wort alles, was wir über Tische gesprochen hatten. Ich stuzte, gestund, daß alles die Wahrheit wäre, und verwunderte mich, woher sie unser Gespräch so umständlich wüßte. – »Woher?« fieng sie mit trocknem Tone an. »Haben Sie nicht hinter dem Stuhl ihrer gnädigen Frau einen langen krummen hölzernen Lümmel bemerkt, der sich, so lange das Essen dauerte, nicht von der Stelle bewegte, sich jede Sache zweymal sagen ließ und doch zum drittenmal falsch verstand, der einen Löffel brachte, wenn man Brod foderte, und ein Glaß Wein, wenn man einen Löffel verlangte? Dieser taube Pavian besucht mich jedesmal nach Tische durch die Hinterthür und erstattet Bericht vom Tischgespräche: er hört so fein, wie eine Spitzmaus, wenn er mit mir spricht, und bey seiner 395 gnädigen Frau liegt ihm beständig ein starker, starker Fluß vor den Ohren. Ich bezahle ihm monatlich einen Louisdor für seine Taubheit; und für noch einen kauf' ich dem Kerle alle übrige vier Sinne ab, wenns nöthig ist. Stutzen Sie nicht darüber: ich vergelte nur Gleiches mit Gleichem. Die Frau von Dirzau hat alle meine und ihres Bruders Leute im Solde: allein da sie wegen ihres eingeschränkten Vermögens nur kleine Besoldungen machen kan, so überbiete ich sie, und meine treuen Schurken entdecken ihr nichts, als was sie hören soll. So viel Treue und Einigkeit herrscht in meinem Hause! sagte sie heute zu Ihnen. Ah! la bonne bête! Die sämtliche Treue ihres Hauses will ich für einen Gulden in jedem Falle mit Haut und Haar wegkriegen, und die Einigkeit ist für acht Groschen feil. Alle ihre beiden Bediente sind ausgemachte Galgenvögel, und die meinigen Galgenstricke: ich hätte sie zum Besten der Welt längst alle hängen lassen, wenn ich dürfte. Aber auf das Hauptkapitel zu kommen! Rieth Ihnen nicht Ihre kluge Dame, daß Sie sich an sie halten sollten?« – Ich konte es nicht läugnen. – »Kind!« sagte sie mir mit 396 Stärke und drohte mit dem Finger dazu: »wo du dich unterstehst, dem Rathe zu folgen, so sey versichert, daß deine glücklichen Tage vorbey sind! Unser Haus wird dein Grab, dafür steh' ich dir.« Ich erschrak bis zum Zittern über diese Drohung: aber sie richtete mich gleich wieder auf, indem sie mit gemildertem, beinahe lustigem Tone sagte. »Närrchen, was erschrickst du denn? Wer wird so kindisch seyn? Genieße deines Lebens, so lange du kanst! Wenn die Herrlichkeit aus ist, dann halte dich zur Frau von Dirzau! Jezt thust du besser, du hältst dich zu mir: ich verstehe mich aufs Glück des Lebens.« – Ohne mich zur Antwort kommen zu lassen, brach sie ab und sah zur Thür hinaus. – »Ach! da sind ja meine Leutchen schon!« rief sie und bat mich um Erlaubniß, ihren Schneider hereinkommen zu lassen. Er nahm mir das Maas: ihr Mädchen brachte seidne Zeuge: wir lasen aus: sie lenkte meine Wahl und ordnete meine Befehle an den Schneider. Frau Hildebrand erschien mit Kopfputze, ein Bedienter mit andern Galanterien: genug, in Einem 397 Nachmittage wurde meine Garderobe in Stand gesezt. Vignali suchte unter allen das theuerste aus: ich nahm sie deswegen auf die Seite und stellte ihr vor, daß ich das nimmermehr bezahlen könte. – »Närrin!« sprach sie: »wer uns alle ernährt, wird auch diesen Plunder bezahlen.« – Als der Einkauf vorbey war, sollte ich mit zu ihr gehn und eins von ihren Kleidern versuchen, weil das meinige zur Abendgesellschaft zu schlecht wäre. Ich weigerte mich und bat sie zu bedenken, daß mir die Frau von Dirzau diese Gesellschaft schlechterdings untersagt hätte. – »Hat sie dir der Herr von Troppau auch untersagt?« – Nein, antwortete ich, aber auch nicht befohlen! – »So befehle ich, daß du keine von diesen Abendgesellschaften versäumen sollst.« – Ich wußte nichts mehr vorzuwenden, als meine Untergebne, von welcher ich mich unmöglich so lange trennen könte; denn ich hatte durchaus einen Widerwillen in mir gegen diese Gesellschaften. – »Laß du nur,« sprach sie lachend, »das gute Mädchen bey ihrer Tante recht tumm werden, damit wir desto mehr Ehre davon haben, wenn wir sie klug 398 machen. Allons!« – Mit diesem Allons faßte sie mich unter den Arm und wanderte mit mir die Treppe hinunter. Ich mußte mich von ihr selbst anputzen lassen, so sehr ich mich auch sträubte: es däuchte mir als wenn ich mein Todtenkleid anzöge, so eine Aengstlichkeit fühlte ich, daß ich in ein Haus voll solcher Schikanen, Parteyen und Kabalen gerathen war.

Herrmann. Und ich möchte, daß du nie einen Fuß hineingesezt hättest. – Ach Ulrike! wenn deine Tugend nicht Löwenstärke hat – aber ich habe ja versprochen, nicht mistrauisch zu seyn! Erzähle weiter!

Ulrike. Bey mir war wahrhaftig damals das Mistrauen auch sehr stark. Mit der übelsten Laune von der Welt sah ich die Gesellschaft allmählich ankommen. Lairesse war die erste, die erschien. Solch' eine tolle Lustigkeit, so eine übernatürliche Unbesonnenheit und so viel Leichtsinn kanst du dir nicht vorstellen: mich nennte man zu Hause unbesonnen: aber ich bin ein Kato dagegen. Sie sagte mir so eine große Menge Sottisen beym ersten Anblicke ins 399 Gesicht, so viele Abgeschmacktheiten, daß meine Backen gar nicht aufhören konten zu erröthen. Ich haßte sie anfangs deswegen, aber in der Folge hat sie mich doch sehr eingenommen. Man muß ihr ihre Lebhaftigkeit, die oft in Ungezogenheit ausartet, zu gute halten: sie ist sehr dienstfertig, wenn sie es in ihrem unendlichen Leichtsinne nicht vergißt, und liebt mich, wie eine Schwester. Ich habe ihr zwar nie so gewogen werden können als der Vignali: sie scheint mir auch ein wenig falsch zu seyn: deswegen hat sich seit einem Paar Wochen mein Zutrauen gegen sie sehr gemindert: aber ich mag mich vielleicht irren. – Nach ihr stellte sich der Herr von Troppau ein: er that als wenn er mich unvermuthet hier fände, faßte mich bey der Hand und rief voller Vergnügen: »Ach! da ist ja unsre kleine Prinzessin! Das ist ein gescheidter Einfall, Vignali, daß sie das gute Mädchen mit zu unsrer Gesellschaft ziehn: bey meiner Schwester wird sie ohnehin Langeweile genug haben. Ich beklage, daß ich vor der Hand keine Veränderung treffen kan.« – »Wir wollen schon eine Veränderung treffen,« 400 fieng Vignali an: »auf Ostern nehm' ich Ihre Tochter zu mir: das arme Kind wird lichtscheu werden bey ihrer itzigen Erziehung.« – »Mir ist das sehr gelegen!« antwortete der Herr von Troppau. »Das überlass ich Ihnen, Vignali: sehn Sie, wie Sie das Mädchen von meiner Schwester herauskriegen: ich mische mich nicht drein.« – Mit der nämlichen Folgsamkeit willigte er in alles, was Vignali für gut fand. Endlich langte auch Mamsell Rosier an, ein recht gutes herzlich gutes Kind, zärtlich, empfindsam, weich, wie geschmolzne Butter, voll teutscher Treuherzigkeit, und verliebt! In jeden Menschen, der nur zwey Worte mit ihr spricht, verliebt sie sich; und läßt sich dabey zum Besten haben – o daß mir zuweilen die Seele für sie weh thut. Sie ist der wahre souffre-douleurs der Gesellschaft: wenn Niemand etwas zu reden weis, zieht man über das arme Mädchen her; und dabey ist sie so einfältig, daß sie sich noch oben drein etwas darauf zu gute thut, wenn sie die Gesellschaft auf ihre Kosten belustigt hat. Man kan ihr nicht Schuld geben, daß sie tumm ist, aber 401 wegen dieses Mangels an Empfindlichkeit ist sie mir unleidlich: sie hat auch weder die einnehmende Lebhaftigkeit der Lairesse, noch Vignali's einnehmenden Ernst: so zuthuend sie ist, so zieht sie doch nicht an: man möchte sie von sich stoßen, so lästig wird sie zuweilen. Sie liebt mich so sehr als die andern alle: unendlich liebt sie mich, und es schmerzt mich, daß ich sie nicht gleich stark lieben kann: aber es geht nicht, und wenn ich mir noch so viel Gewalt anthue.

Herrmann. Also lieben sie dich alle wie Schwestern? unendlich? feurig? zärtlich? – Wenn du dir nur nicht einbildest, daß dich die Mädchen unendlich lieben, weil du sie so liebst! Nach dem Porträte zu urtheilen, das du von ihnen machst –

Ulrike. Noch immer Mistrauen? – Heinrich, ich binde dir den Mund zu.

Herrmann. Vergib mir, Ulrike! Mein Herz ist mir während deiner Erzählung so schwer geworden, daß mir wider meinen Willen bisweilen eine trübe Anmerkung entwischt. Fahre nur fort! ich will mich schon zurückhalten. 402

Ulrike. Wenn du mich so oft unterbrichst, kömmt meine Erzählung heute nicht zu Ende. Also stockstill, bis mein Märchen aus ist! – Wer kam denn zulezt in die Gesellschaft? – Ja, die rothbäckige Mamsell Rosier. Der Herr von Troppau schlug mir auch einen französischen Namen vor: allein ich wehrte mich so stark dawider, daß er sich begnügte, meinen teutschen Namen französisch auszusprechen: ich wurde zur Mademoiselle Erman. Sie freuten sich alle ungemein auf eine Kurzweil, die sie diesen Abend auszuführen gedachten. Weil ich gar nichts davon wußte und also nicht mitlachen konte, erzählte mir Vignali, daß gestern bey ihr ein junger Franzose, aus Paris frisch angekommen, gespeist habe: »der Mensch,« sagte sie, »plauderte so unendlich, daß kein einziges unter uns ein Ja oder Nein zwischen seine Tiraden einschieben konte: von dem ersten très-humble serviteur bis zum lezten hielt er Eine an einanderhängende Rede von skandalosen Histörchen, Spötteleyen, Unverschämtheiten, Aufschneidereyen und jämmerlichen Kleinigkeiten, und wir armen Leute waren so überrascht, daß wir uns 403 ärgerten und ihm geduldig zuhörten: wir konten uns nicht helfen: wenn Jemand auch es wagte dazwischen zu reden, so brachte jener Unverschämte die übrigen zum Lachen, und sein Nebenbuler hatte keine Zuhörer. Aber heute wollen wir uns rächen: er soll daniedergeschwazt werden und nicht einmal ein bon soir zu Stande bringen. Er ist darum eine halbe Stunde später gebeten, damit die Alliirten alle beysammen sind, ehe er kömmt.« – Auch war die Gesellschaft, die außer den genannten noch aus einem Paar artigen vernünftigen Franzosen bestand, lange versammelt, ehe der Held des Possenspiels erschien. Lairesse wälzte sich singend auf dem Sofa vor übermäßigem Vergnügen, und Rosier klatschte unaufhörlich hüpfend in die Hände und lispelte: »das wird hübsch seyn! das wird hübsch seyn!«– Endlich erschallte vom Bedienten, der ihm aufpaßte, ein erfreuliches le voilà durch die Thür: sogleich marschirte Vignali gegen ihn los, der übrige Haufe drang gleichfalls zu, und alle schwazten so stürmisch auf den einzigen Menschen hinein, daß der Plauderer verwundert und stumm 404 mitten dastand, sich bald dahin, bald dorthin drehte, den Mund öfnete, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, reden wollte und nicht konte. Man trieb die Rache so weit, daß ich wirklich den ganzen Abend keinen verständlichen Laut von ihm gehört habe; und dabey machte man ihm beständig die bittersten Vorwürfe, daß er nicht spräche, so wenig zur Unterhaltung der Gesellschaft beytrüge, da er doch gestern so viel dazu gethan hätte: er öfnete den Mund, allein man fiel ihm sogleich ins Wort. Man sah es dem armen Knaben recht an, wie ihm Herz und Lunge weh that, wie ihn die Hemmung seiner Zunge ängstigte. er drehte, er rückte sich bey Tische auf seinem Stuhle, räusperte sich, strich sich das Gesicht oder arbeitete an der Halsbinde: für mich war die Lust unschätzbar. Den schlimmsten Streich spielte ihm noch Lairesse: weil er nicht wenig außer Fassung gesezt war, nahm er unmittelbar nach dem Essen Hut und Degen, um sich à la françoise wegzubegeben: allein das vorwitzige Mädchen erwischte ihn an der Thür bey dem Arme, drehte ihn um, machte eine tiefe langsame Verbeugung und sagte mit komischer 405 Gravität: »Mein Herr, man hat sie persiflirt.« – Der Franzose machte eine eben so tiefe Verbeugung und sprach mit dem nämlichen Tone: »Mademoiselle, ich hab' es wohl bemerkt!«– weg war er!

Du kanst dir leicht vorstellen, daß mir eine solche Unterhaltung ungleich besser behagte, als das stille schleichende Gespräch der Frau von Dirzau, wo bey jedem Gerichte Eine Frage und Eine Antwort zum Vorschein kam: da ich oben drein in diesen Gesellschaften wohl manchen ausschweifend lustigen Auftritt, aber nie eine eigentliche Unanständigkeit, noch viel weniger etwas böses erblickte, so versäumte ich keine, wenn man mich dazu zog. Vignali legte mir durch ihre vielfachen Gütigkeiten immer neue Verbindlichkeiten auf und gewann durch die Annehmlichkeiten ihrer Person und ihr freundschaftliches Betragen mein Herz so ganz, daß ich ihr alles aufopferte. Das Vertrauen der Frau von Dirzau hatte ich gleich den ersten Tag verloren, weil ich bey Vignali zum Abendessen gewesen war: ihr Gespräch wurde deswegen noch zurückhaltender und kälter, daß es zuweilen die 406 ganze Mahlzeit über nur aus Einer Frage und Einer Antwort bestund: überfiel mich zuweilen der Plaudergeist, so hörte sie nicht darauf, sondern unterbrach mich gleich durch einen Befehl an den Bedienten, oder fieng wohl gar mitten in meinem Reden ein Gespräch mit ihm an, daß mich die Mühe verdroß, mich allein anzuhören: seitdem bin ich völlig stumm bey Tische, wenn sie mich nicht fragt. Dafür fragt sie mich aber auch kein Wort anders als äußerst hönisch: anfangs ertrug ichs und ärgerte mich blos in mir selbst, aber Vignali und selbst der Herr von Troppau, wenn ich mich beklagte, ermunterten mich, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Der Ton wollte mir lange nicht gelingen, aber nunmehr hab' ich ihn so sehr in meiner Gewalt, daß ich der Frau von Dirzau gewiß nichts nachgebe. Seitdem sie merkt, daß ich ihr ihre Kunst so sehr abgelernt habe, spricht sie mannichmal in drey, vier Tagen keine Silbe mit mir. Auch gut! denk' ich: so muß ich mich nicht wider meine Natur zwingen, hönisch zu seyn. Für die Langeweile des Mittags halte ich mich des Abends wieder schadlos. 407

Herrmann. Aber der Herr von Troppau? wie verhielt er sich gegen dich? denn nunmehr kan doch ein Kind rathen, warum deine ehrliche Frau Hildebrand mit dir unter die Linden spatzieren gieng, woher sie sogleich ein Kleid für dich schafte, warum dir Vignali so freundschaftlich mit Gelde beystund: alles floß aus Einer Quelle; und so große und ausgezeichnete Gütigkeiten thut kein Herr von Troppau umsonst: es lauscht gewiß ein Betrug dahinter.

Ulrike. Ein Betrug? – Heinrich! wachst du? – Wenn du nicht im Schlafe sprichst, hat dich gewiß der schwarzperückichte Magister angesteckt, von dem du mir einmal in Dresden schriebst. Was gilts? das Wetter-Hagels-Vieh – wie meine Tante Sapperment sich zierlich ausdrückte – hat dich mit seiner frommen Misanthropie angesteckt.

Herrmann. Leider! nicht blos angesteckt! gethan hat er mir, was ich izt bey Jedermann fürchte! du sollst es hören und urtheilen, ob mir nur der Wind mein Mistrauen angewehet hat.– Izt beruhige mich über meine Frage! 408

Ulrike. Das kan ich leicht.– Höre drauf, du Misanthrop! der Herr von Troppau hat sich gegen mich wie der edelste, vortreflichste, freundlichste, liebreichste, freygebigste, gütigste Mann betragen: ich verehre und liebe ihn: ich habe in meinem Leben keinen bessern Mann gesehn.

Herrmann. Und weiter war er nichts gegen dich?

Ulrike. Ist denn das nicht genug und alles Dankes werth?

Herrmann. Ulrike! Ulrike! du heuchelst. Wenn ich taube Bediente hätte sprechen lassen, wie Vignali, ich wette, ich wollte dir mehr sagen. – Auf dein Gewissen, Ulrike! heuchelst du nicht?

Ulrike. Neugieriger, vorwitziger Mensch! Warum zwingst du mich nun durch deine Zudringlichkeit dir Einen Dorn mehr ins Herz zu stecken? du wirst ja ohnehin genug vom Mistrauen gestochen. Wenn ich auf mein Gewissen antworten soll, muß ich dir frey bekennen, was ich dir, du blinder Mensch! zu deinem Vortheile verhelen wollte – daß der Herr von Troppau einmal mehr seyn wollte, als ich dir 409 vorhin von ihm sagte: aber ich schwöre dir bey unsrer Liebe und meiner ewigen Wohlfahrt! kein Umstand soll dir verschwiegen werden, was in diesem einzigen verdächtigen Falle vorgieng. Ich war einmal des Nachmittags bey Vignali, und weil wir keine Komplimente mit einander machen, fuhr sie zum Besuch und ließ mich allein und versprach in einer halben Stunde wiederzukommen: ich nehme ein Buch – es waren des Abt Berni's Werke – beym ersten Aufschlagen fallen mir seine Betrachtungen über die Leidenschaften in die Augen. Ich setze mich auf den Sofa, und kaum schlage ich zum erstenmal um, so ist schon die Liebe da: wer wird nicht gern etwas von der Liebe lesen? – Ich lese den ganzen BrieOeuvres melées de Mr. l'Abbé de Bernis. S. 89. an die Gräfin C** durch. Als ich bey den lezten vier Zeilen bin, siehe! da kömmt mein Herr von Troppau. Er sieht sich nach Madam Vignali um, hört von mir, daß sie zum Besuch ist, fragt wo – ich sage es – er sezt sich, nimmt das aufgeschlagne Buch vom Sofa, liest. – »Aha!« fängt er lächelnd an, 410 »qu'est ce qu' Amour? – was ist die Liebe? Können Sie darauf antworten?« – Warum nicht? sagte ich: wenn Sie mir das Buch erlauben wollen! – »Oh! aus dem Buche ists keine Kunst: Sie sollen aus dem Herze antworten.« – Mein Herz kan keine Verse machen. – »Eh bien! Ich will Ihnen meine Verse vorlesen: Ihr Herz mag in Prose darauf antworten.« – Er las die Verse her:

              Was ist die Liebe?
    Es ist ein Kind, beherrschet mich,
Beherrscht den König und den Diener,
Schön, Iris, schön wie du, es denkt, wie ich,
    Nur ists vielleicht ein wenig kühner.

»Ist Ihr Herz auch der Meinung?« fieng er an und umfaßte mich. Ich sagte in aller Unschuld: Ja. – »Also finden Sie doch den nämlichen Fehler an mir, den alle Damen an mir tadeln, daß ich zu bescheiden, nicht kühn genug bin?« fragte er. Es verdroß mich, daß er meinem unschuldigen Ja eine so geflissentlich falsche Auslegung gab: ich antwortete ihm also, halb wider meinen Willen, in dem Tone der Frau von Dirzau: Keineswegs! – »Das Keineswegs 411 haben Sie wohl von meiner Schwester gelernt? Es war ihr leibhafter Ton: aber es ist auch so falsch, wie alles, was meine Schwester sagt. Ihr Herz möchte wohl, daß ich ein weniger dreister wäre?« – Mein Herz schweigt ganz still dabey, sagte ich. – »Ich will es einmal fragen,« sprach er lachend und machte eine Bewegung, die mich zum Aufstehen nöthigte. Er holte mich zurück und fieng ein zweydeutiges Gewäsch über die Liebe und die Herzen der Damen an, das ich mich so sehr zu wiederholen schäme, als ich mich damals schämte, es zu hören. Seine Hände nahmen dabey wieder so vielen Theil am Gespräche, daß ich mit großer Empfindlichkeit aufstund und ihm nachdrücklich sagte: »Gnädiger Herr, ich bin wohl verliebt, aber nicht verhurt:«– dabey machte ich eine Verbeugung und gieng. Auf der Treppe begegnete mir Vignali und nöthigte mich wieder mit ihr zurückzugehn. Der Herr von Troppau sprach italiänisch mit ihr, und beide lachten herzlich – vermuthlich über mich, weil sie in einer Sprache redten, die ich nicht verstehe, und 412 auch ein Paarmal einen Blick nach dem Sofa wurfen: das sezte mich in so üble Laune, daß ich vor Aergerlichkeit kein Wort mehr sprach. Da er uns verlassen hatte, fieng Vignali an: »Der Herr von Troppau hat mit Ihnen geschäkert?« Ja, antwortete ich; aber nicht wie ichs liebe! – »Sie sind wohl gar empfindlich darüber? Sie sind ja sonst nicht so eigensinnig, so erzürnbar, und auch keine Feindin von der Liebe.« Das nicht! unterbrach ich sie: ich habe auch dem Herrn von Troppau sehr deutlich gesagt, was ich von der Liebe unterscheide. – »Närrin!« rief sie und schlug mich auf die Schulter: »wer wird denn so einen einfältigen Unterschied machen? Lieben wir nicht alle? Wollen Sie allein sich mit dem Zusehen begnügen? Können Sie andre Leute essen sehen, ohne daß Sie hungert?« – Wenn ich nichts zu essen habe? sprach ich. O sehr gut! – Mit dieser Antwort hatte ich mich selbst gefangen: sie schikanirte mich ganz entsezlich darüber und fragte endlich, ob mir der Herr von Troppau zu schlecht wäre. Ich war so verdrießlich über das 413 Gespräch, daß ich ihr etwas zu übereilt antwortete: »Er ist mir zu allem nicht zu schlecht, was er bisher für mich gewesen ist: aber ich dünke mich zu gut, um seine Hure zu seyn.« – Darüber wurde Vignali feuerroth. – »Unterthänige Dienerin!« sprach sie etwas spöttisch: »also bin ich auch seine Hure? denn das sag ich Ihnen frey, ich liebe den Mann: ich habe unsre Liebe niemals verhelt, weil ich keine Heuchlerin bin. Für eine Guvernante sind Sie noch sehr kindisch. Ich will dem Herrn von Troppau sagen, daß er Sie in Ruhe läßt, bis Sie bey reiferem Verstande sind. Sie sind noch zu neu, um sich dabey zu benehmen, wie es sich gehört.« – Ich konte mich nicht enthalten über die Lektion ein wenig zu schmollen: allein der Vignali merkte mans nicht eine Minute an, daß sie auf mich zürnte: sie brach an und war wieder so freundlich, wie vorher. Seitdem hat mich der Herr von Troppau nicht mit einer Hand wieder berührt, meiner und Vignali's Freundschaft hat es auch nicht geschadet, und ich bin so ruhig, so munter und vergnügt zeither in dem Hause –

Herrmann. Das du mit dieser Minute verlassen solltest, wenn du Gewissen hast! Du bist in einem schrecklichen Hause, in dem Wohnplatze der Verführung, unter Betrügern und Kupplerinnen, unter gleißenden Betrügern –

Ulrike. Heinrich, ich sage dirs noch einmal, du machst mich böse.

Herrmann. Ich wollte, daß du's würdest: so zankten wir uns, trennten uns, haßten uns, und es kostete uns doch keine Mühe, keinen Schmerz; denn mit unsrer Liebe ist es doch aus, rein aus. – O Ulrike! ich habe, seitdem ich in dieser Stadt bin, Dinge gehört, wovon weder mein noch dein Verstand träumte – schreckliche Dinge, bey welchen sich meine ganze Seele empört: Dein Glück ist es, wenn du sie nicht weißt: aber du wirst sie erfahren! du wirst sie erfahren!

Ulrike. Du setzest mich in Todesangst: sage mir nur, was du hast, was du fürchtest!

Herrmann. Nunmehr weis ich unsre Geschichte, unsre traurige Geschichte. Die Unschuld liebte mich: ich liebte sie: die Unschuld 415 kam an den Ort der Verführung, ward verführt und ich – zur Leiche; denn das sagen mir alle meine Gedanken und mein ganzes Gefühl, wenn du liebtest, wie sie alle, die du deine Freundinnen nennst – du wärst mir verhaßt: ich müßte laufen, so weit mich See und Land trügen, um deinem Andenken zu entgehn. Unsre Liebe, das sagt mir mein Herz laut, ist ein andres Ding als die Liebe der Vignalis, der Lairessen und wie sie weiter heißen. Wenn du Ihnen gleich würdest?

Ulrike. So groß ist dein Zutrauen zu mir, meiner Tugend, meinem Gewissen, meiner Ehre? That ich nicht einen Schwur?

Herrmann. Liebe Ulrike, was sind tausend Schwüre in der Anfechtung? wenn man gedrängt, getrieben, gestoßen wird? Ich hielt meinen Verstand für einen Götterverstand; und doch schwazte mir ihn ein Bösewicht danieder: glaubst du, daß deine Tugend stärker ist als mein Verstand? Und wenn sie es wäre, hat sie nicht auch mit größrer Stärke zu kämpfen als ich? Kein Geld wird dich überwinden: aber 416 eine glattzüngige beredte einschmeichelnde Vignali! ein wollüstiger überraschender schlauer Herr von Troppau! Traust du dir, solchen Gegnern immer, immer zu widerstehen?

Ulrike. Ich bitte dich, Heinrich, schweig! Du scheuchst eine Schlange auf –

Herrmann. Aber ist es nicht besser, sie izt aufzuscheuchen, damit sie dich nicht beißt, wenn du unachtsam auf sie trittst oder sorglos daliegst und schlummerst? – Ulrike, das schwör' ich dir, Eine Untreue, eine einzige Untreue reißt unsre Herzen auf ewig aus einander.

Ulrike. So verdunkle doch unser Vergnügen nicht mit so schwarzen Vorstellungen! Freilich lauerte auf meines Onkels Schlosse keine Verführung auf mich: auch ohne Beschützer war ich sicher: aber warum sollt' ichs hier nicht ebenfalls seyn? was könt' ich von diesen friedlichen freundlichen Leuten fürchten! – Durch Einen unglücklichen Vorfall, den du mir noch nicht deutlich gesagt hast, bist du mistrauisch geworden: du machst dir trübe Einbildungen und mahlst dir fürchterliche Gespenster vor die 417 Augen. Vignali wird dir die Gespenster schon verjagen.

Herrmann. Mein Unglück wärs, wenn sie mir sie verscheuchte. – Ulrike, hast du das Herz, aus Liebe für mich dies Haus zu verlassen?

Ulrike. Verlassen? Dies Haus? Warum?

Herrmann. Aus Liebe für mich, sag' ich!

Ulrike. Um wessentwillen verließ ich Dresden? – Weißt du nun, wie viel ich aus Liebe für dich thun kan? – Ja, aus einem Palaste kan ich aus Liebe für dich gehen, wenn es seyn muß: aber wohin?

Herrmann. In die Welt: je weiter von hier, je lieber.

Ulrike. Menschenfeind! was hat dir denn die unschuldige Stadt gethan?

Herrmann. Nichts! aber sie wird! Ich habe mit der Verführung meines Kameraden, der zwey Jahre jünger ist, als ich, mit seinem Hohne, seinen Schmähungen, seinen verachtendsten Spöttereyen – ich habe mit den Lockungen einer Dirne, die oft den Diener unter mancherley Vorwand auf 418 seiner Stube besuchte, mit den Hönereyen beider gekämpft: aber ich trug sie, weil mir Zürnen nichts half. Die Verführung war plump, zurückscheuchend, empörend für alles mein Denken und Empfinden: es kostete mir nicht Einen Athemzug Standhaftigkeit, um ihr zu widerstehn: es war eine Reizung, die mir widerstund: aber, Ulrike, wenn wir ihrer gewohnt würden, und sie uns endlich in einem anständigern Gewande weniger widerstünde, was dann? – Ulrike, wir wollen fliehn, weil es Zeit ist.

Ulrike. Wollen wir uns vom Winde nähren?

Herrmann. Hier sind vier Hände! Was die Hände nicht können, wird vielleicht der Kopf thun.

Ulrike. Ich bitte dich, Heinrich, übereile dich nicht! – Glaube mir! das sind alles finstre Grillen, die du dir machst. Warum sollten denn in dieser Stadt nicht so gut tugendhafte ehrliche Leute seyn, als anderswo? Muß man denn nothwendig verführt werden? Ich wohne ja schon drey Monate hier und bin's 419 noch nicht: wir sind zwar jung, aber doch keine Kinder, die man mit Mandelkernen lokt und überredet. Das hast du dir noch von Schwingern angewöhnt, der auch jede Sache zu ernsthaft betrachtet und über alles moralisirt. Vignali wird dich schon heitrer und aufgeräumter machen. Hab' ich dir nicht schon genug aufgeopfert? meinen Stand, meinen Ruf, die Gunst meiner ganzen Familie! Soll ich nun gar wegen einer übeln Laune und einiger finstern Grillen, die dir eben aufsteigen, allem Wohlseyn, aller Ruhe, allem Vergnügen entsagen und mit dir ins Elend auswandern? Bedenke doch nur, welche Laufbahn sich für dich eröfnet! du findest durch unser Haus Gönner, Freunde, Beförderer, bekömmst einen Platz, und mit dem Unterhalt vielleicht auch Ehre; und Heinrich! – soll ich dich noch erinnern, was alsdann für eine Glückseligkeit auf uns beide wartet? Unser Wunsch ist ja dann erreicht: wollen wir uns von dem Glücke, das uns bey der Hand dahin führt, muthwillig losreißen? – Du Grillenkopf! was stehst du denn da 420 und murrst? So wirf doch deine ernsthafte finstre Laune in die Spree! in den tiefsten Grund hinein!

Herrmann. Gute Nacht, Ulrike. Ich gehe morgen zu Vignali. –

Er gieng. Der hastige abgebrochne Abschied sezte Ulriken in Erstaunen: sie eilte ihm nach, aber er war schon die Treppe hinunter. 421

 


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