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Viertes Kapitel
Satos Wege

Obgleich sich die glückhafte Richtung des Windes vorläufig nicht änderte, so übte der Waldbrand oder besser Bergbrand auf die Gemüter der Menschen dennoch eine tief herabstimmende Wirkung aus. Es gab keine Finsternis mehr. Die Nächte schielten und zwinkerten mit rötlichem Lauerblick. Wahnsinnige Schatten sprangen zum Tanz. Der Himmel war mit ziehendem Pechqualm bedeckt. Unausdenkliche Hitze herrschte, so mittags wie mitternachts, ohne einen Hauch der Kühlung. Der beißende Rauch verschlug den Atem und beizte die Schleimhäute der Nase und des Halses. Ein wüster und sonderbarer Schnupfen ging um, der das ganze Lager ansteckte und in seinem Gefolge eine tückische Gereiztheit mitführte.

Anstatt der Siegesfreude und des Jubeldanks traten die Anzeichen beginnender Selbstzerstörung auf, die Merkmale eines unheimlichen inneren Prozesses, der alle Ordnung und Mannszucht in tollwütigen Anfällen zu verzehren drohte. Hierher gehörte nicht zuletzt die widerwärtige Geschichte mit Sarkis Kilikian, die leider schon am Abend des großen Ruhetages vorfiel. Sie war einer der Gründe, warum sich weder Ter Haigasun noch Gabriel Bagradian bei der Tatsache beruhigten, daß jetzt mit Gottes Hilfe eine lange Kampfpause zu erhoffen war. Gewiß, der verwegene Einfall, einen Waldbrand zu entfesseln, hatte im Bunde mit der Riesenbeute an Feuerwaffen die Verteidigungslage gewaltig verbessert. Selbst der Gedanke an einen völligen Angriffsverzicht der Türken war keineswegs so unsinnig mehr wie früher. Und doch, nur die Brust des Damlajik stand in Flammen, seine Hüften, die Steinhalden oberhalb Suedjas und der Nordsattel, boten sich ebenso dar wie immer. Man durfte die Auflösung des harten Grabendienstes unter keinen Umständen dulden. Mit aller Strenge mußte die Autorität der Führung aufrechterhalten bleiben. Doch nicht minder wichtig war es, das Gemüt des Lagervolkes in der Stadtmulde wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das, was Ter Haigasun »den Alltag« nannte, mußte neuerdings wider alle verstörenden Teufelsmächte ins Recht gesetzt werden. Der Führerrat, der schon am Abend des Vierundzwanzigsten zusammentrat, entsagte daher einer feierlichen Beerdigung der Opfer, um keinen Anlaß zu irgendwelcher Massenerregung zu geben.

In diesen Abendstunden hatten die ausgesandten Abteilungen bereits von den hundertunddreizehn Vermißten siebenundsechzig Tote insgesamt geborgen. Dazu kam noch ein beträchtlicher Teil der Schwerverwundeten, die ohne wirkliche Hilfe die Nacht nicht mehr überlebten. Doktor Bedros Altouni wurde in dieser traurigen Angelegenheit vom Senate vorgeschickt. Er setzte mit seiner schartigen Stimme, die freilich zu Leichenbittertönen nicht fähig war, den versammelten Angehörigen auseinander, daß es im Hinblick auf die durch den Waldbrand schrecklich gesteigerte Sommerhitze unumgänglich notwendig sei, den Gefallenen ein rasches Begräbnis zu bereiten. Jede Minute Zögerns bedeute schwere Gesundheitsgefahr für die Lebenden. Er, Bedros Hekim, erwähne solche Dinge nicht gerne vor Trauernden, aber schließlich werde sich jeder mit seinem eigenen Geruchssinn von dieser Notwendigkeit überzeugt haben. Also frisch, keine Zeit verloren! Jede der betroffenen Familien möge unverzüglich auf dem dafür bestimmten Platz ihrem Toten das Grab ausheben. Sie vollbringe mit dieser Arbeit ein frommes Liebeswerk, das ihr der Himmel zweifellos höher anrechne als alle langwierigen Gebete und Gebräuche. Der Führerrat wäre, was Altounis Meinung anbelangt, weiser gewesen, wenn er die entseelten Körper der Helden dem großen Feuer anheimgegeben hätte. Dazu aber habe er sich aus Mitgefühl für die Trauernden nicht entschließen können. Die Toten würden daher zum Troste der Witwen und Waisen in ihre Sterbehemden gekleidet sein und die Heimaterde unter ihrem Haupte nicht vermissen.

»Nun aber ans Werk«, mahnte Bedros Hekim klapprig, der in diesem Augenblick nicht siebzig-, sondern neunzigjährig aussah. »In einigen Stunden muß alles vorüber sein. Die Reservemänner sind abkommandiert, um euch zu helfen.«

Dieser Befehl weckte nicht, wie einige gefürchtet hatten, Murren und Widerspruch unterm Volke. Der Hinweis auf die Gesundheit war stark genug, um aufbegehrende Gefühle zu unterdrücken. Auch machte sich die beginnende Verwesung tatsächlich schon bemerkbar. Drei Stunden nach Mitternacht war alles geschehen. Die ermüdende Arbeit hatte den Schmerz getötet. Nur sehr wenige von den Angehörigen standen mit ihren aufgesparten Totenkerzen an den Gräbern. Der Abschein des Bergbrandes verschluckte diese armseligen Lichter. Nunik und ihre Kolleginnen waren diesmal ausgeblieben. Sie wagten sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, seitdem die Türken zwei alte Männer von der Bettlerzunft auf den Maisfeldern erwischt und zu Tode geprügelt hatten.

Für den nächsten Morgen, den fünfundzwanzigsten des August und den sechsundzwanzigsten des Lagers, waren zwei öffentliche Ereignisse von großer Bedeutung angesetzt. Das eine betraf die freiwillige Meldung und feierliche Wahl der Schwimmer und Läufer, die unverzüglich nach Alexandrette und Aleppo abgehen sollten. Das andre Ereignis war die Gerichtsverhandlung wegen der Missetat, deren sich Sarkis Kilikian schuldig gemacht hatte. Bisher war Ter Haigasun, kraft seiner verfassungsmäßigen Aufgabe, als Friedens- und Schiedsrichter nur in einfachen Streitfällen aufgetreten. In diesen unwichtigen Prozessen fällte er stets ohne jede Förmlichkeit mit rascher Entscheidung sein unanfechtbares Urteil. Für dieses ungeduldige Judizieren war der Freitag bestimmt. Heute, an einem Mittwoch, mußte Ter Haigasun das erstemal auf dem Damlajik als Strafrichter amtswalten. Der Fall verhielt sich kurz folgendermaßen: Sarkis Kilikian trug durch sein ganz unerklärliches Verhalten während des letzten überraschenden Angriffs der Türken gegen seinen Abschnitt ohne Zweifel die Hauptschuld an den schweren Verlusten des Bergvolkes. Gabriel Bagradian dachte aber nicht daran, ihn zur Verantwortung zu ziehen, denn erstens hatte sich der Russe bei allen vorhergehenden Angriffen als höchst tapfer und umsichtig bewährt, zweitens besaß Gabriel viel Verständnis für gewisse Unberechenbarkeiten des Menschen, und drittens wußte er, daß sich ein bestimmter Augenblick des Kampfes nachher niemals mehr wirklichkeitsgemäß rekonstruieren lasse. Andre Leute aber dachten in diesem Punkte anders als der oberste Befehlshaber, insbesondere waren das die übrigen Abschnittsführer, die Männer der Zehnerschaften und mancherlei Volk noch sonst. Auf dem Altarplatz war es zu einem Auflauf gekommen. Sarkis Kilikian wurde von den Kameraden seiner Besatzung äußerst heftig ins Gebet genommen. Er sollte Rede stehen, sein Verhalten erklären und verteidigen. Er stand weder Rede noch verteidigte er sich, sondern schwieg mit seinem ausgelaugten Schädel und den stumpf beobachtenden Augen zu den wilden Anklagen und Fragen, die ihn umprasselten. Vielleicht war dieses Schweigen gar nicht so frech, so böswillig, so selbstbewußt, wie es wirkte. Vielleicht, ja höchstwahrscheinlich wußte Kilikian sein plötzliches Versagen gar nicht zu begründen und verschmähte es nur, irgendwelche Ausreden wie Müdigkeit oder mißverstandene Absicht ins Treffen zu führen. (Später konnte er ja auch Ter Haigasun auf dieselbe Frage keine Antwort geben.) Selbstverständlich aber brachte dieses Schweigen seine Ankläger nur noch mehr in Harnisch. Er wurde hin und her gestoßen, Fäuste tanzten ihm vor der Nase. Ein Schwurgericht hätte ihm vielleicht Notwehr zugebilligt, wenn nicht er den ersten Hieb geführt hätte und wenn dieser Hieb nicht so furchtbar gewesen wäre. Eine Zeitlang ließ sich Kilikian in seiner apathischen Art hin und her stoßen und es schien, daß er zur Abwehr seiner Verfolger nicht das geringste zu unternehmen gedenke, ja daß er kaum bemerke, was mit ihm vorging. Plötzlich aber riß er die Knochenfaust aus der Tasche und schmetterte sie einem seiner jüngsten Bedränger so schrecklich ins Gesicht, daß dieser mit einem verlorenen Auge und einem zerbrochenen Nasenbein blutüberströmt zusammenbrach. Dies war ein unglaublich blitzhaftes Geschehen. Eine halbe Sekunde lang straffte sich Kilikians lässige Gestalt, seine Augen schienen aufzuflammen, dann waren sie wieder stumpf wie vorher. Keiner konnte ihm ansehen, daß er der Gewalttäter gewesen sei. Anfangs wußten auch wirklich zu seinem Glück die meisten nicht, wie das Ganze gekommen war, und wichen zurück. Dann aber, als sie mit Empörungsschreien wieder auf ihn losfuhren, wäre es ihm übel ergangen, wenn nicht die Polizei der Stadtmulde aufgetaucht wäre und ihn verhaftet hätte.

Am Morgen, während der Strafverhandlung in der Regierungsbaracke, gestand er ruhig, daß er den Hieb zuerst geführt und seine grausame Wirkung vorausgesehen habe. Er berief sich auch nicht weiter auf den Stand der Notwehr. Es schien, als sei er zu faul oder zu schlapp, um zu reden. Einen Menschen wie ihn mochten die Umstände, unter denen er leben oder sterben mußte, mit einer unaussprechlichen Wurstigkeit erfüllen, die kein andrer ermaß. Gabriel Bagradian hörte dem Gerichtstag schweigend zu. Er sprach kein Wort zur Anklage, kein Wort zur Verteidigung. Das Volk aber in seiner Gereiztheit verlangte eine Bestrafung. Nachdem er das Beweisverfahren geschlossen hatte, seufzte Ter Haigasun:

»Was soll ich mit dir anfangen, Sarkis Kilikian? Man braucht dich ja nur anzusehen, um zu wissen, daß du in die Ordnung Gottes nicht hineinpaßt. Ich sollte die Ausstoßung über dich verhängen ...«

Ter Haigasun verhängte die Ausstoßung nicht, sondern verurteilte den Russen zu fünf Tagen Gefängnis in Fesseln, durch drei Fasttage verschärft. Die Strafe war weit härter, als sie erscheinen mag. Sarkis Kilikian stürzte wegen einer Rauferei, bei der er der Bedrängte gewesen, vom Range eines wichtigen Kampfführers wiederum in die Unterwelt des Verbrechers hinab. Es war eine grausame Entehrung. Doch er gab durch keine Miene zu verstehen, ob solch ein Ding wie Ehre in ihm noch verwundbar sei. Nach Schluß des Verfahrens wurde er an Händen und Beinen mit Stricken gefesselt und in den Kotter gesperrt, der den dritten Raum der Regierungsbaracke bildete. Nun sah Kilikian so aus, wie er schon einigemal während seines unergründlichen Lebens ausgesehen hatte, in dem die Strafe oft keiner und oft einer undeutlichen Schuld auf dem Fuße gefolgt war. Er nahm auch diese Strafe mit seinen ungerührten Augen hin als eine wohlbekannte und unentrinnbare Gegebenheit seines raffinierten Schicksals. Das Gefängnis aber unterschied sich von allen anderen derartigen Anstalten seiner erfahrungsreichen Laufbahn schon dadurch, daß er es mit einem erhabenen Geiste wie Apotheker Krikor teilen mußte. Rechts und links zwei kleine Bretterzellen, die einander aufs Haar glichen. Die eine war ein schmachvoller Kotter, die andre aber das ganze Universum.

 

Gabriel Bagradian spürte in allen Gliedern die Nähe eines unerforschlichen Ereignisses, das vielleicht den entscheidenden Sieg von vorgestern in Frage stellen konnte. Er hatte deshalb mit größtem Nachdruck darauf bestanden, daß die Boten noch heute in die Welt gesendet würden. Es mußte schnell etwas geschehen. Und war es auch ein zweckloses Beginnen, so entstand doch Erwartung und Spannung dadurch. Die Freiwilligen versammelten sich, wie der Führerrat es angeordnet hatte, auf dem Altarplatz. Alles war auf den Beinen, denn die Wahl dieser Boten, die ihr Leben froh zum Opfer brachten, ging das ganze Volk an.

Gabriel kam von einer kurzen Visitierung der Zehnerschaften. Eingedenk der gefährlichen Erschlaffung und Streitsucht, die sich auszubreiten drohte, hatte er für diesen Nachmittag bereits wieder Gefechtsexerzieren anbefohlen. Durch die zweihundert erbeuteten Mausergewehre war nun das ganze erste Treffen vollgültig bewaffnet. In die Lücken, die der schwere Kampf gerissen hatte, wurden die besten Männer der Reserve eingeteilt. Schon hörte man die stotternde Trompete Tschausch Nurhan Elleons, der mit der Ausbildung dieser Neulinge soeben begann. Iskuhi war Gabriel auf halbem Wege entgegengekommen. Seit jener ersten jähen Seelendurchdringung suchte sie mit kindhafter Offenheit seine Nähe. Jetzt gingen sie das Stück bis zum Altarplatz fast schweigend nebeneinander. Wenn sie neben ihm war, dann erfüllte ihn immer jene seltsam ruhige Sicherheit. Er hatte immer das Gefühl, die junge Iskuhi sei die vertrauteste Bekanntschaft seines Lebens, die in holder Wärme weit über die Grenzen bewußter Erinnerung hinausreichte. Auch auf den Versammlungsort wich sie nicht von seiner Seite, obgleich sie die einzige Frau war, die ohne jeden Grund bei der ratschlagenden Gruppe der Führer stand. Hatte sie keine Furcht, daß ihr Benehmen auffallen, daß ihr Bruder Aram Verdacht fassen könnte? War es der Freimut eines ungewöhnlichen Wesens, das, von seinem ersten Gefühl ergriffen, alles bedenkenswerte Drum und Dran zu einem leeren Traum zerrinnen sieht?

Etwa zwanzig junge Leute warteten als Freiwillige auf die Entscheidung des Führerrats. Fünf Halbwüchsige waren darunter. Man hatte die ältesten der Jugendkohorte zur Meldung zugelassen. Mit Schreck und Zorn im Herzen bemerkte Gabriel neben Haik auch seinen Sohn Stephan. Nach einer kurzen Rücksprache mit den andern Volkshäuptern traf Ter Haigasun die Auswahl. Ihm oblag ja alles, was mit dem Urteil über Menschen, über Fähigkeiten und Kräfte zusammenhing. Was die Schwimmer betrifft, so war der Entscheid eine Selbstverständlichkeit, die niemand in Zweifel zog. In Wakef, jener südlichsten Ortschaft des armenischen Sprengels, die am Rande der Orontesebene und damit schon an der Küste lag, gab es zwei berühmte Schwimmer und Taucher, einen neunzehn- und einen zwanzigjährigen Jüngling. Ter Haigasun überreichte ihnen die Ledergürtel mit dem eingenähten Hilferuf an den Kommandanten irgendeines englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Kriegsschiffes. Sie sollten nach Sonnenuntergang vom Nordsattel aufbrechen, nachdem sie von den Ihrigen Abschied genommen hätten.

Die Frage des Aleppoläufers brauchte zu ihrer Lösung schon einige Minuten länger. Man war übereingekommen, daß es besser sei, nur einen einzigen Menschen dieser gefahrüberladenen Aufgabe auszusetzen. Pastor Aram Tomasian meinte klärlich, daß ein erwachsener Armenier weit weniger Möglichkeiten habe, die Hauptstadt des Wilajets lebendig zu erreichen, als ein Knabe, der sich schon durch seine Kleidung von den muselmanischen Knaben kaum unterscheide und auch sonst überall leichter durchzuschlüpfen verstehe. Diese vernünftige Begründung wurde anerkannt und allgemein fiel sogleich ein einziger Name: »Haik«. Dieser düster entschlossene Bursche mit steinharten Gliedern und märchenhafter Gelenkigkeit war der Richtige, er oder keiner. Auch besaß unter den Bauern des ganzen Lagers niemand diese blinde Vertrautheit mit der Erde, diese Rundaugen eines großen Vogels, diese Nase eines Dachses, dieses Gehör einer Ratte und diese Schmiegsamkeit einer Otter. Wenn einem der todesgefährliche Aleppolauf gelang, so nur Haik.

Als aber Ter Haigasun die Wahl Haiks von der ersten Altarstufe herab verkündete, kam es zu einem ungebührlichen Auftritt mit Stephan. Gabriels Gesicht verzerrte sich vor Ärger, als er seinen Sohn sah, der frech vor die Front der Freiwilligen trat und sich vor ihm aufpflanzte. Noch niemals war ihm die unangenehme Frühreife, die innere und äußere Verwahrlosung seines Ebenbildes so klar geworden wie jetzt. Wie ein wütender Neger bleckte Stephan die Zähne:

»Warum denn nur Haik? Ich will auch nach Aleppo ...«

Gabriel Bagradian machte, ohne ein Wort zu sagen, eine scharf abschneidende Handbewegung, die Schweigen gebot. Der Unbändige jedoch begehrte jetzt so laut auf, daß man das Überschnappen seiner mutierenden Stimme auf dem ganzen Platz hören konnte:

»Warum Haik und nicht ich, Papa?! Ich werde nach Aleppo gehn!«

Eine derartige Sohnesauflehnung war unter Armeniern etwas ganz und gar Unerhörtes und konnte nicht einmal durch die außerordentlichen Umstände und den heldenmütigen Ehrgeiz entschuldigt werden. Ter Haigasun hob mit ungeduldigem Ausdruck den Kopf:

»Weisen Sie Ihren Sohn zurecht, Gabriel Bagradian!«

Pastor Aram Tomasian, von Zeiten her den Umgang mit schwieriger Jugend gewohnt, suchte Stephan zu beruhigen:

»Der Führerrat hat den Befehl gegeben, daß nur einer nach Aleppo geht. Du als großer und kluger Mensch mußt es ja wissen, was für uns alle ein Befehl des Führerrates bedeutet. Widerspruchslosen Gehorsam! Nicht wahr?«

Der Eroberer der türkischen Haubitzen ließ sich jedoch mit Gesetz und Verfassung nicht abspeisen. Er hatte gar keine Vorstellung von der Aufgabe und seiner eigenen Untauglichkeit. Nur die Demütigung fühlte er und die Zurücksetzung hinter den großen Nebenbuhler. Die Gegenwart so vieler würdiger Personen dämpfte seine dreiste Gereiztheit um keinen Hauch. Er sah immer seinen Vater an:

»Haik ist nur um drei Monate älter als ich. Er spricht nicht einmal französisch. Mr. Jackson wird ihn nicht verstehn. Und was Haik kann, das kann ich auch.«

Jetzt riß Gabriel Bagradian die Geduld. Er machte einen heftigen Schritt auf Stephan zu:

»Was kannst du? Nichts kannst du! Ein verweichlichter Europäer, ein verzogenes Großstadtkind bist du. Dich fängt man wie eine blinde Katze. Fort mit dir jetzt! Geh zu deiner Mutter! Hier will ich dich nicht länger sehen, sonst ...«

Diese Worte einer harten Züchtigung waren recht unweise. Sie trafen Stephan an der verwundbarsten Stelle. Von seiner mühsam erkämpften Höhe schleuderten sie ihn vor aller Öffentlichkeit herab. Nun waren all seine Taten vergeblich getan, der Bibelraub für Iskuhi und das Heldenstück mit den Geschützen, das ihm beinahe den Ehrentitel »Elleon« eingetragen hätte. Blitzhaft lernte Stephan verstehen, daß keine Tat für die Ewigkeit getan ist, daß in allem Ruhm rachsüchtige Untreue steckt und daß man immer wieder von vorne anfangen muß. Er wurde plötzlich ganz still. Seine gebräunte Haut rötete sich immer dunkler. Er sah Iskuhi mit riesigen Augen an, als entdecke er sie erst jetzt. Es schien ihm, daß sie seinen Blick streng und unfreundlich abweise. Iskuhi als feindselige Zeugin seiner Niederlage, das war zuviel. Unversehens plärrte Stephan los, nicht wie ein beinahe erwachsener Mensch, nicht wie ein Meisterschütze, nicht wie der Eroberer feindlicher Geschütze, sondern wie ein kleiner Junge, dem Unrecht geschieht. Dieses schluchzende Kinderweinen aber löste in der Umgebung durchaus kein Mitgefühl aus, sondern ganz im Gegenteil Schadenfreude. Es war eine ziemlich zusammengesetzte Schadenfreude, die nicht nur Stephans Kameraden, sondern auch die Großen empfanden, und sie galt nicht nur dem Bagradiansohn, sondern aus dunklen Ursachen auch Gabriel Bagradian selbst. Das Grundverhältnis von Menschen untereinander verändert sich fast nie. Dieses Grundverhältnis zwischen den Bagradians und dem ansässigen Volke drückte sich aber, trotz aller Siege, aller Bewunderung, Dankbarkeit, Verehrung, noch immer zutiefst in dem Gefühle aus: Ihr gehört nicht zu uns. Die Gelegenheit für dieses Gefühl mußte nur auftauchen, wie eben jetzt. Stephan unterdrückte sein heulendes Elend sogleich. Aber die kurze Äußerung seines Schmerzes hatte genügt, unter seinen Kameraden in der Haik-Bande sowie in den übrigen Gruppen der Jugendkohorte reichlichen Hohn zu erregen. Spottworte sausten. Selbst der einbeinige Hagop lachte nachdrücklich und auffällig. Nur Haik selbst stand ernst in sich versunken, als gehe ihn dieser Zwischenfall nichts an und reize nicht einmal seine Heiterkeit. Stephan hatte keine andere Wahl, als mit verräterisch zuckenden Schultern gemächlich davonzuschlendern, seine Schmach gleichmütig im Rücken lassend. Gabriel Bagradian sah seinem Sohne stumm nach. Der Ärger war ganz und gar verflogen. Die Erinnerung an den alten Brief des Knaben aus Montreux verstörte ihn. Stephan, hübsch gekleidet, den Kopf nach Kinderart schief übers Papier gebeugt, malt mit großen Buchstaben. Und wieder war es das herzzerreißende Bewußtsein der abgelebten Nebensachen, das ihn ergriff. Er dachte, Stephan ist schon groß, er wird im November vierzehn Jahre alt. Sofort aber bestürzten ihn Begriffe wie »wird« und »November« als fratzenhafte Utopien. Eine kalte Ahnung huschte vorbei: Irgend etwas ist nicht mehr zu verhindern. Gabriel Bagradian begab sich nach dem Dreizeltplatz, um noch einmal mit seinem Sohn zu sprechen. Doch weder Stephan noch auch Juliette waren daheim anzutreffen. Im Scheichzelt wechselte Gabriel die Wäsche. Dabei bemerkte er, daß eine der Münzen fehlte, die er vom Agha Rifaat Bereket zum Geschenk erhalten hatte. Es war die goldene mit dem stark vorspringenden Kopf Aschot Bagratunis, des großen Armenierkönigs. Er drehte die Taschen all seiner Kleidungsstücke um und um. Die goldene Münze fand sich nicht.

 

Es geschah zum Unheil, daß die Landnahme durch Türken und Araber dem vagabundierenden Doppelleben Satos ein Ende setzte. Als sie sich das letztemal hinabgewagt hatte, wäre es ihr beinahe an den Kragen gegangen, denn auch unten im Tale hatten sich Horden muselmanischer Halbwüchsiger gebildet, die beim Anblick dieses scheuen Wildes sofort zur Jagd riefen. Jetzt aber verlegte ihr der große Bergbrand die gewohnten Dämmerpfade und Schlupflöcher. Sato blieb leider nichts übrig, als sich mit der Hochfläche des Damlajik und mit einigen Schrunden und Rinnen seiner Steilseite zu begnügen. Doch das ausgeleierte Gelände des Lagerkreises, all diese vertretenen Steige, Pfade, Hohlwege, die langweiligen Kuppen und Wellen von der Südbastion über die Stadtmulde bis zum Nordsattel, wie hätten sie die verkörperte Unrast befriedigen können, die Sato in Person war? Dazu stand sie mit der Dorfjugend schlechter denn je. Ter Haigasun hatte vor einigen Tagen trotz des Widerstrebens der Lehrer angeordnet, daß wieder Schule gehalten werden müsse. Doch jetzt gelang es nicht einmal dem schärfsten aller Schultyrannen, Hrand Oskanian, die gewohnte Totenstille während des Unterrichts durchzusetzen, wenn Sato unter den Kindern saß. »Stinkerin, Stinkerin«, heulte der grause Chor, sobald die Vagabundin auf dem Schulplatz erschien. Es liegt unausrottbar im Wesen des Menschen, daß er seinen ewig erbosten Geltungsdrang auf Kosten der Niedriger-, Ärmer-, Mißgeborenen, ja auch nur der Fremdbürtigen erbarmungslos steigert, wie und wo er kann. Diese Sucht, zu erniedrigen, und der rachgierige Rückschlag, den sie auslöst, sind sehr bedeutende Hebel der Weltgeschichte, die von dem zerschlissenen Mantel der politischen Ideale nur kärglich bedeckt werden. Auch hier oben, auf der letzten Zufluchtstätte der Verfolgten, gab die zugewanderte elternlose Sato dem Kindervolk den erwünschten Anlaß, sich selbst erhaben und wohlgeboren zu fühlen. Während einer Schulstunde, die wieder einmal Iskuhi abhielt, nahm das Hohngeheul so erschreckend überhand, daß die Lehrerin selbst, ohne ihren eigenen Abscheu zu verbergen, die Verhaßte fortschickte:

»Geh, Sato, und laß dich bitte nie wieder blicken.«

Mit zähem Gleichmut, der nichts von Ehre und Schande wußte, hatte sich Sato immer gegen die ganze Horde behauptet. Nun aber, da ihr bewundertes Fräulein, ihre Kütschük Hanum, selbst zum Feinde überging und sie vertrieb, mußte Sato gehorchen. In ihrem europäischen Hängekleidchen mit den Schmetterlingsärmeln, das zerfetzt und schmutzstarrend ihr ein groteskes Ansehen gab, hatschte sie langsam von dannen. Doch sie ging nur bis zum nächsten Gebüsch, dahinter sie sich still auf die Lauer legte, dem Schakal gleich, der ein Karawanenlager mit hungrigen Augen verschlingt.

Sato war nicht so arm wie es schien. Auch sie hatte eine unabhängige Welt. Sie verstand zum Beispiel die Tiere gut, denen sie auf ihren Streifzügen begegnete. Iskuhi und andere hätten wohl darauf geschworen, daß Sato eine grausame Tierquälerin sei. Für diese Annahme sprach alles. Und doch war gerade das Gegenteil wahr. Das Bastardgeschöpf ließ seinen Haß und seine Schadensucht keineswegs an den Tieren aus, sondern behandelte sie mit Behutsamkeit und flüsterndem Einverständnis. Sie nahm mit unempfindlicher Hand den gerollten Igel vom Wege auf und wisperte so lange zu ihm, bis sich die Kugel löste, die spitze Schnauze entblößte und die flink geriebenen Äuglein eines kleinen Bazarhändlers sie rasch abschätzten. Sato, die nur wie mit einem Klotz im Munde reden konnte, hatte Kenntnis von allerlei Lockrufen und -tönen des Vogelsangs. Alle diese Eigenschaften, die ihr ein Ansehen verschafft hätten, verbarg sie aber geflissentlich, weil sie sich damit sozial zu schaden fürchtete. Wie mit den Tieren, so verstand sie es auch, mit den wahnsinnigen Weibern zu reden, die im Friedhofumkreis von Yoghonoluk hausten. Sie merkte es gar nicht, daß diese atem- und sinnlosen Plaudertaschen anders plapperten als vernünftige Weiberzungen sonst: Es war jedenfalls angenehm, an solchen Disputen teilzunehmen, die ein Mindestmaß von Mühe und Anstand der Sprache gegenüber erforderten. Die kleinen Tiere, die Närrinnen und etwa die blinden Bettler noch, das war das Reich, aus dem Sato jene Überlegenheitsgefühle bezog, die jedes Menschenwesen zum Leben braucht. Was freilich Nunik, Wartuk und Manuschak anbelangt, war sie die Dienende und Ehrfürchtige. Durch die Entwicklung der Dinge aber war die Gemeinschaft zerrissen. Die Streifzüge in dem Geviert der Verteidigung blieben ergebnislos und langweilig. Die Jugendlichen stießen sie unerbittlich aus ihren Reihen. Ihre beschäftigungslose Unruhe wurde nach und nach auf ein anderes Gebiet gelenkt. Ausspionieren der Erwachsenen! Mit feinster Witterung, die aller unerlernbaren Schullehre spottete, erkannte sie, was in diesen Erwachsenen aufgelöst, tierhaft, bettelgierig, suchtvoll und verrückt war. Sie hörte das Gras jener gefährlichen Gefühle wachsen, von deren Bestand in der Welt sie kaum eine Ahnung hatte. Wo etwas nicht in Ordnung war, zog sie, ohne daß sie es wußte, der lüsterne Spionenmagnet hin.

Es kann somit nicht wundernehmen, daß Sato sehr bald an Gonzague und Juliette abgelesen hatte, was geschehen war. Das prickelnde Vorgefühl einer großen Katastrophe erfüllte sie. Alle Enterbten kennen diese Katastrophenfreudigkeit, diese süße Hoffnung auf Weltuntergang, welche eine der vorzüglichsten Triebfedern der kleinen Skandale und großen Revolutionen ist. Sato war scharf hinter dem Paar her. Juliette und Monsieur Gonzague bedeuteten für sie neben Bagradian das Glänzendste, was ihr im Leben begegnet war. Sie flößten ihr nicht den Haß ein, den schlechte Dienstboten gegen ihre Herrschaft empfinden, sondern die heiße Neugier des Primitiven für das, was ihm halb und halb als überirdisch erscheint. Vor Gonzague aber, der sie mit seiner donnernden Schlagermusik einst so sehr erschreckt hatte, empfand sie die zehrende Furcht einer geprügelten Hündin.

Rasch hatte Sato die Ruheplätze, die Rhododendron- und Myrtenheimlichkeiten der Riviera heraus. Von Wonne überrieselt, zwängte sie ihr Gesicht leise durch das Zweigicht. Ihre geblendeten Augen tranken das Spektakel, das ihr die Götter gaben. Die erhabene Frau, Hanum aus dem Frankenlande, die Immer-Duftende, die Riesin, nun hing ihr das Haar halb aufgelöst herab, nun drängte sich die erloschene Fläche ihres Gesichtes mit dem breit schmachtenden Mund an das gemessene Gesicht des Mannes, der mit verhängtem Blick, und doch überwach, die Gabe erst kostete, ehe er sie ganz entgegennahm. Zitternd sah Sato die großen schmalen Hände Gonzagues, die wie die allwissenden Hände der blinden Tarspieler die weißen Schultern und Brüste der Hanum überspielten.

Sato sah, was zu sehen war. Sie sah aber auch, was nicht zu sehen war. Die Lehrer zwar hatten sie längst aufgegeben. In das lallende und ziellos bildernde Gehirn der Kreatur ließ sich nicht einmal das Alphabet und das Einmaleins stanzen. Nun wohl, Sato war zurückgeblieben, weil ihr überentwickelter Spür- und Fährtensinn alles geistige Vermögen geschluckt hatte. Hinter Myrten und Rhododendron verborgen, genoß sie nicht allein den brennenden Reiz des Schauspiels, sondern darüber hinaus die Zerrissenheit der Hanum und die Festigkeit Gonzagues. Ihr Verstand wußte nichts, ihre Witterung alles. Sato hätte keinen Grund gehabt, diese Voyeur-Wonnen vorzeitig abzukürzen, wäre nicht eine Verwirrung hinzugekommen, die sie in dem einzigen weichen Gefühle traf, das sie besaß. Ihrer Spürnase konnte das andere Paar nicht lange entzogen bleiben. Dieses Paar bot kein Schauspiel und besaß kein Versteck seiner Leidenschaft. Niemals verschwand es im labyrinthischen Buschgürtel der Meerseite, sondern bevorzugte die kahlen Kuppen und das leere Gewelle des Hochplateaus. Nur schwer konnte man die beiden verfolgen, ohne entdeckt zu werden. Doch Sato besaß zum Glück, oder richtiger zum Unglück, die Eigenschaft, sich unsichtbar machen zu können. Hierin war sie selbst Meister Haik überlegen. Dieses zweite Paar lenkte sie immer mehr von der süßen und ergebnisreichen Belauerung des ersten ab. Sie bekam freilich kaum einen Kuß zu sehen. Aber die Nichtküsse zwischen Gabriel und Iskuhi brannten sich tiefer in Sato ein als die vollkommenen Umarmungen Gonzagues und Juliettes. Wenn sie sich nur an der Hand faßten und kurz ansahen, um dann den Blick, wie erschüttert, rasch abzuwenden, so schien für Sato diese zarte Vereinigung restloser und aufreizender zu sein als die andre, völlig nahe. Vor allem aber war die Gemeinschaft Iskuhis und Gabriels hassenswert und stimmte Sato traurig. Ihre Erinnerung log die Vorzeit golden um. War die Waisenhauslehrerin von Zeitun nicht immer gut und gnädig zu Sato gewesen? Hatte sie nicht ausdrücklich oft »meine Sato« gesagt? Hatte sie nicht ihrer Sato gestattet, zu ihren Füßen auf der Erde zu sitzen und diese Füße zu streicheln und zu liebkosen? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß dieses köstliche Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung und Liebeserweisung ein hartes Ende genommen hatte? Wer anders als der Effendi war schuld daran, daß Iskuhi, wenn ihre Sato das verlangende Herz ihr entgegentrug, sie anherrschte: »Geh, Sato! Und laß dich nicht wieder blicken!«?

Trübsinnig suchte die Vagabundin einen Platz, um nachzudenken. Aber gerade das Denken und Planen war Satos Sache nicht. Sie konnte ja nur schweifende Bilder erzeugen und unter jähen und blitzschnellen Empfindungen zusammenzucken. Diese Bilder und Empfindungen brauchten aber gar nicht die Mitwirkung eines ordnenden Verstandes. Sie arbeiteten zielstrebig, so wie sie waren, sie knüpften Maschen, ließen sie fallen, nahmen sie wieder auf und brachten ein Gewebe der Rache zustande, von dem ihre Herrin so gut wie nichts wußte.

Juliette war auf dem Wege zu Gabriel.

Gabriel war auf dem Wege zu Juliette.

Sie begegneten einander zwischen Dreizeltplatz und Nordsattel.

»Ich bin auf dem Wege zu dir, Gabriel«, sagte sie. Und er wiederholte seinerseits dieses Sätzchen.

Die Verstörung und Verlorenheit, die seit undenklicher Zeit schon die Fremde gefangenhielt, hatte ihr Werk vollendet. Wo war Juliettens »funkelnder Schritt«? Sie ging wie eine, die irgendwohin geschickt ist. Und es war wirklich so. Gonzague hatte sie geschickt, damit sie endlich die Wahrheit sage und ihren Willen kundgebe, denn der Tag der Trennung war gekommen. Bin ich kurzsichtig geworden, dachte sie, ich sehe so schlecht. Sie wunderte sich, daß in dieser sommerlichen Nachmittagsstunde Novemberdämmerung herrsche. War es der Qualmschleier des Waldbrandes, der über dem Damlajik lag? War es jener andre sonderbare Qualmschleier über ihrem eigenen Bewußtsein, der sich seit Tagen verdichtete? Sie wunderte sich, daß Gonzague jetzt, da sie vor Gabriel stand, lächerlich unwirklich geworden war. Sie wunderte sich, daß dieser Gonzague sich mit ihr belasten wollte. Alles erschien ihr so weit entrückt und so verwunderlich. Ihr Strumpfband hatte sich gelöst und der Strumpf rutschte ihr über das Knie, ein Gefühl, das sie verabscheute. Und doch, sie rührte sich nicht. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mich zu bücken, ging es ihr durch den Sinn, und heute abend werde ich über die Felsen nach Suedja hinabklettern. Es kam dann zu einer recht merkwürdigen Unterredung zwischen den Gatten, die ganz und gar im Leeren verlief. Juliette begann:

»Ich mache mir Vorwürfe, daß ich in diesen Tagen nicht bei dir war ... Du hast Schweres erlebt und Großes vollbracht und warst immer in Gefahr ... Oh, ich benehme mich schändlich zu dir, mein Freund ...«

Ein derartiges Bekenntnis hätte Gabriel vor wenigen Wochen noch bewegt. Jetzt aber kam seine Gegenrede beinahe förmlich:

»Auch ich habe mir um deinetwillen Vorwürfe gemacht, Juliette. Ich sollte mich mehr um dich kümmern. Aber glaub mir, ich habe gerade jetzt gar nicht an dich denken können.«

Dies war eine große Wahrheit voll Doppelsinn. Sie hätte auch Juliette Mut zur Wahrheit machen müssen. Doch sie stimmte ihm nur eilig zu:

»Das ist ja selbstverständlich. Ich sehe ein, daß du an ganz andre Dinge zu denken hattest, Gabriel.«

Er bewegte sich auf diesem gefährlichen Wege weiter:

»Ich habe glücklicherweise immer gewußt und mich darüber gefreut, daß du nicht ganz allein und verloren bist.«

In dem stumpfen, gewissermaßen scheintoten Gespräch war damit ein Punkt erreicht, der den Blick nach allen Richtungen freiließ. Unglaublich schnell hätte für Juliette die Möglichkeit bestanden, offen zu sprechen: Ich bin die Fremde hier, Gabriel. Das armenische Schicksal war stärker als unsere Ehe. Jetzt zeigt sich ein allerletzter Ausweg für mich, diesem Schicksal zu entgehen. Du selbst hast es hundertmal gewollt und mir immer wieder den Antrag gestellt, mich zu retten. Ich hatte gehofft, daß ich die Kraft haben werde, bis zum Ende auszuhalten. Ich habe diese Kraft nicht, ich kann sie ja gar nicht haben, da dein Kampf nicht mein Kampf ist. Es ist schon sehr viel, glaub es mir, mein Freund, daß ich dieses verzweifelte Leben bis zu dieser Stunde ausgehalten habe. Nun aber ist es genug. Laß mich gehn! Denn ich gehöre nicht mehr dir, sondern einem andern. – Keines dieser einfachen und natürlichen Worte kam über Juliettens Lippen. Noch immer von dem eitlen Wahn erfüllt, in ihrer Ehe sei sie der gebende und höherstehende Teil, war sie überzeugt, daß Gabriel unter ihrem Geständnis zusammengebrochen wäre. Konnte sie annehmen, daß er ihr vielleicht mit gütiger Stimme geantwortet hätte: Ich verstehe dich, chérie. Selbst wenn ich daran zugrunde ginge, dürfte ich dich nicht zurückhalten. Ich werde für dich alles tun, was noch in meiner Macht steht. Ich werde mich um deinetwillen auch von Stephan trennen, den du retten wirst. Es ist gut so, daß ich als verantwortlicher Führer dieses Volkes die letzten Bindungen verliere, die mich an ein privates Leben knüpfen. Und noch eines, Juliette! Ich liebe dich und werde dich bis zum letzten Augenblick lieben, wenn ich auch nicht mehr dir gehöre, sondern einer andern. – So rein hätte sich in diesen Minuten alles durch Offenheit lösen lassen, wären die Dinge nicht zu verwickelt gewesen, um überhaupt gelöst zu werden. Juliette wußte von Gabriel ebensowenig wie er von ihr. Sie wußte aber auch nicht, ob sie Gonzague wirklich liebe. Und ebensowenig wußte Gabriel, ob und was für eine Liebe das sei, die ihn mit Iskuhi verband. Juliettens religiöse und bürgerliche Vergangenheit sträubte sich gegen das sündige Glück. Aus vielen Gründen mißtraute sie dem so durchsichtig undurchsichtigen Gonzague, nicht zuletzt, weil er um drei Jahre jünger war als sie. In Paris hätte sich wohl eine traditionelle Form für alles gefunden, hier jedoch in den phantastischen Revieren des Damlajik lastete das Bewußtsein der Verworfenheit schwer auf ihr. Dies aber war nur ein kleiner Teil der Verwicklungen. Einige Minuten lang war sie völlig bereit, heute nacht mit Gonzague den Berg zu verlassen und in der Spiritusfabrik das Dampfschiff zu erwarten. In der nächsten Zeitspanne aber kam ihr dieser Gedanke lächerlich undurchführbar vor. Es gehörte mutigste Entschlossenheit dazu, sich einem Abenteurer rückhaltlos anzuvertrauen, selbst wenn man dadurch dem Tode entging. War es nicht ratsamer, sein Schicksal auf dem Musa Dagh untätig abzuwarten, als in Beirût plötzlich verlassen zu werden? Der Gedanke an die nächtliche Kletterei, an die gefahrvolle Durchquerung der mohammedanischen Orontes-Ebene, an die Seefahrt unter Spiritusfässern, an die Bedrohung durch Torpedoboote, der Gedanke an all diese Gefahren und Strapazen vermischte sich mit einer angesichts der Verhältnisse lächerlichen Stilempfindung: Das paßt nicht zu mir. Was war dies alles aber gegen die Pein Stephans wegen? Sie wich ihrem Kinde jetzt aus. Sie überwachte nicht mehr seine Ernährung und Sauberkeit. Selbst am Abend kam sie nicht mehr, o heilige Muttergewohnheit, an sein Bett im Scheichzelt, um nachzusehen, ob er sich ordentlich zur Ruhe lege. All diese Versäumnisse summierten sich zu einem Schuldgefühl, das Stephan gegenüber am schwersten auf ihrem Herzen lastete. Und von all diesen Lasten beladen, war sie zu Gabriel gekommen, um offen zu sein und Abschied zu nehmen.

Beide schauten einander an, Mann und Frau. Der Mann sah ein Gesicht, übernächtig und gealtert, wie es ihm schien. Er glaubte an den Schläfen einen weißlichen Schimmer zu entdecken. Um so weniger aber konnte er sich die fiebernden Augen erklären und den größer gewordenen Mund mit den geschwollenen und zersprungenen Lippen. Sie geht an diesem Leben zugrunde, dachte er, anders war es nicht zu erwarten. Und wenn ihn noch vor kurzem das leise Bedürfnis angewandelt hatte, zu Juliette von Iskuhi zu sprechen, jetzt gab er es auf: Wozu? Wie viele Tage haben wir denn noch vor uns?

Die Frau sah ein sehr zerfurchtes Gesicht, alle Formen und Züge fremd zusammengeschoben und von jenem runden Stoppelbart umrahmt, den sie so gar nicht leiden konnte. Immer wieder, wenn sie dieses Gesicht sah, mußte sie sich fragen: Wie, dieser wüste orientalische Bandenchef ist Gabriel Bagradian? Dann aber war seine Stimme doch Gabriels Stimme. Und schon um dieser alten Stimme willen hätte sie nicht wahr sein können. In ihren Ohren rauschte es: Ich werde bleiben, ich werde gehn. Ihr Geist aber stöhnte: Wäre nur alles schon zu Ende!

Das Gespräch glitt von der gefährlichen Bahn ab. Gabriel schilderte ihr die günstigen Aussichten der nächsten Tage. Man werde mit höchster Wahrscheinlichkeit eine längere Ruhepause genießen dürfen. Er wies noch einmal mit Nachdruck auf Doktor Altounis seelenverstehenden Rat hin: Im Bette liegenbleiben und lesen, lesen, lesen! Eine Rauchwolke des großen Brandes verzog sich träge vor ihren Augen. Sie mußten den scharfen, aber würzigen Holzqualm durchqueren. Gabriel blieb stehen:

»Wie man das Harz riecht! ... Der Brand ist aus vielen Gründen ein Glück. Auch wegen dieses Rauches. Er wirkt desinfizierend. Im Epidemiewäldchen liegen leider schon zwanzig Leute, die dieser verfluchte Deserteur aus Aleppo angesteckt hat ...«

Er konnte von nichts anderem mehr sprechen als von öffentlichen Angelegenheiten. Nichts spürte der Gleichgültige von dem, was sie in ihrem Schweigen ihm zugetragen hatte. Ich werde gehn, ich werde gehn, dröhnte es mit Muschelrauschen wieder in ihrem Gehör. Als sie aber mitten in der Rauchwolke waren, verfärbte sich Juliette und wankte, so daß er sie auffangen mußte. Sein Griff, so tausendfach bekannt, durchfuhr sie quälend. Sie wandte ihr Gesicht krampfhaft ab:

»Gabriel, verzeih, aber ich glaube, ich werde krank ... oder ich bin es schon ...«

 

Gonzague Maris wartete bereits auf dem vereinbarten Platz der Riviera. Er rauchte umsichtig und gesammelt seine halbe Zigarette zu Ende. Da er äußerst sparsam war, besaß er noch zweiundzwanzig Zigaretten. Die Tabakreste warf er nicht fort, sondern hob sie für die Pfeife auf. Wie die meisten Menschen, die aus engen Verhältnissen, aus billigsten Internaten herkommen und trotz eleganter Bedürfnisse niemals mehr als zwei Anzüge auf einmal besessen haben, ging er mit allen Werten fanatisch sorgfältig um und nützte seine Habe bis zum letzten Faden, Bissen und Tropfen aus.

Als Juliette sich mit merkwürdig strauchelnden Schritten näherte, sprang er auf wie immer. Seine galante Form der Geliebten gegenüber hatte sich durch den Besitz nicht verändert. Auch die helle Aufmerksamkeit seiner Augen unter den schräg gegeneinandergestellten Brauen war die gleiche geblieben, wenn auch ein Schimmer unbestechlicher Kritik sie verschärfte. Er erkannte ihre Niederlage sogleich:

»Du hast wieder nicht gesprochen.«

Sie ließ sich neben ihm nieder, ohne zu antworten. Was war nur mit ihren Augen geschehen? Auch in der nächsten Nähe schaukelte alles wie in einem lautlosen Sturm hin und her oder war in Regenschleier gehüllt. Wenn aber der Nebel zerriß, wuchsen Palmen aus dem Meer. Kamele mit gekränkt erhobenen Häuptern zogen hintereinander über die Wellen. Nie noch war die Brandung tief unten so laut und so nahe gewesen. Man verstand sein eigenes Wort nicht. Und Gonzagues Stimme kam aus weiter Ferne:

»Das hilft alles nichts, Juliette! Du hast viele Tage Zeit gehabt. Der Dampfer wird nicht auf uns warten, und der Direktor hilft uns ein zweites Mal nicht. In dieser Nacht müssen wir fort. Nimm doch endlich Vernunft an!«

Sie preßte die Fäuste gegen die Brust und neigte sich vor, als müsse sie einen krampfartigen Schmerz bezwingen:

»Warum redest du so kalt mit mir, Gonzague? Warum siehst du mich überhaupt nicht an? Sieh mich doch an!«

Er tat das Gegenteil und sah weit hinaus, um sie seine Unzufriedenheit fühlen zu lassen:

»Ich habe immer von dir geglaubt, daß du eine willensstarke und mutige Frau bist und nicht sentimental ...«

»Ich? Ich bin nicht mehr, was ich war. Ich bin schon tot. Laß mich hier! Geh allein!«

Sie hatte seinen Protest erwartet. Er aber blieb stumm. Dieses Schweigen, mit dem sie so leicht aufgegeben wurde, konnte Juliette nicht länger ertragen. Sehr kleinlaut flüsterte sie:

»Ich werde mit dir gehen ... Heute nacht ...«

Jetzt erst legte er mit leichter Zärtlichkeit seine Hand auf ihr Knie:

»Du mußt dich jetzt zusammennehmen, Juliette, und dein Schuldgefühl und alle andern Hindernisse überwinden. Mit einem Schnitt, das ist am besten. Wir wollen klar sein und uns nichts vormachen. Es geht nicht anders. Gabriel Bagradian muß in irgendeiner Form unterrichtet werden. Ich sage gar nicht, daß du große Konfessionen machen sollst. Die Gelegenheit ist da und kommt nicht wieder. Das erklärt alles. Du darfst nicht einfach verschwinden. Ganz abgesehen davon, daß es eine unmögliche Gemeinheit wäre, wie willst du denn leben, hast du es dir schon überlegt?«

Und mit der sicheren Ruhe seiner Stimme und seines Wesens suchte er sie zu überzeugen, daß Gabriel Bagradian alle jene Verfügungen treffen werde, die im Bereich seiner Möglichkeiten lägen, um ihr Leben für die nächste Zeit sicherzustellen. Aus seinen Worten tönte kein Hauch von Spekulation oder Roheit, obgleich er den Untergang Gabriels und vielleicht auch Stephans als unabwendbaren Posten in Rechnung stellte. (Was Juliettens Sohn anbetraf, so war er übrigens bereit, wenn sie es nicht anders wollte, auch diese Last auf sich zu nehmen, die freilich die Bedingungen der Flucht wesentlich erschwerte.) Am Ende seines Zuspruchs wurde er ungeduldig, denn wie oft schon hatte er dasselbe sagen müssen, und die letzten Stunden der Gelegenheit gingen dahin. Wäre Juliette zu einem geordneten Denken fähig gewesen, sie hätte seinen scharfen, umsichtigen Begründungen recht geben müssen. Aber das ging schon seit mehreren Tagen so, daß sich irgendein gehörtes und gedachtes Wort in ihrem Gehirn lästig festsetzte und nicht auszurotten war. Jetzt hörte sie: »Wie willst du denn leben?« Die Laute »leben« begannen blechern unaufhörlich in ihrem Kopf zu kreisen, wie wenn auf einer abgespielten Grammophonplatte die Nadel in einer Rille hängenbleibt und dieselbe Stelle bis zum Rasendwerden immer wiederholt. Unbegreifliche Schauer stiegen aus dem Boden auf, als säße sie am Rand eines Sumpfes. Dann wurde sie selbst zu einer Maschine und wiederholte:

»Wie will ich denn leben? Wie will ich denn leben? In Beirût? Und wozu?«

Gonzague hatte Mitleid mit Juliette, die sich, wie er wähnte, in Gewissensqualen wand. Er wollte ihr helfen:

»Nimm es nicht zu schwer, Juliette! Sieh doch nur deine Rettung in dem Ganzen! Wenn du es willst, werde ich bei dir sein, wenn du es nicht willst, nicht ...«

In diesem Augenblick sah sie den kranken jungen Deserteur vor sich, über dessen grindige rotübersprenkelte Brust sie sich vor einigen Tagen in verzweifelter Exaltation gebeugt hatte. Dann aber wollte sie ihre Mutter besuchen. Diese wohnte im Hotel. Ein langer Gang mit Hunderten von Türen. Juliette kannte die richtige nicht ... Gonzagues Stimme war lieb und zärtlich jetzt. Sie tat ihr wohl: »Ich werde bei dir sein.«

»Wirst du bei mir sein? ... Bist du jetzt bei mir? ...«

Er lenkte mit Freundlichkeit ins sachliche Gebiet hinüber:

»Hör gut zu, Juliette! Ich werde heute nacht hier auf dich warten. Doch du mußt um zehn Uhr bereit sein. Solltest du mich vorher brauchen, sollte Bagradian mit mir sprechen wollen, ich nehme das an, so schicke jemanden um mich. Ich werde dir helfen. Du kannst ruhig eine große Reisetasche mitnehmen. Ich werde sie schon tragen. Wähl deine Sachen klug aus! In Beirût bekommst du übrigens alles, was dir fehlt.«

Sie hatte sich bemüht, ihn zu verstehen. Wie ein Kind sagte sie das Gehörte auf:

»Heute nacht um zehn ... Ich bringe eine Reisetasche ... In Beirût bekommt man alles ... Und du? ... Wie lange wirst du bei mir sein? ...«

Ihre wirren Reden in dieser entscheidenden Stunde erschöpften seine Ruhe:

»Juliette, ich hasse Worte wie ›immer‹ und ›ewig‹.«

Sie sah ihn begeistert an. Ihr Gesicht glühte. Der halbgeöffnete Mund wölbte sich vor. Ihr war, als sei sie jetzt durch die richtige Tür getreten. Gonzague saß am Klavier und spielte für sie die Matchiche in jener Nacht, ehe die Saptiehs kamen. Da hatte er es selbst gesagt: »Es gibt nur den Augenblick.« Eine tiefe Heiterkeit überströmte sie:

»Nein, sag nicht ›immer‹ und ›ewig‹! Denk an den Augenblick ...!«

Jetzt verstand sie in einer unbeschreiblichen Überdeutlichkeit, daß es nur den Augenblick gab, daß die Nacht, das Dampfschiff, die Reisetasche, Beirût, der Entschluß nicht die geringste Bedeutung mehr für sie hatten, daß eine uneinnehmbare Einsamkeit ihrer wartete, in die weder Gonzague noch Gabriel eindringen konnten, eine Einsamkeit voll Heimkehr, in der alles erledigt war. Dieses Glück durchdrang sie mit strömender Kraft. Gonzague sah mit Erstaunen nicht mehr die verstörte, in die Enge getriebene Frau, sondern die Herrin von Yoghonoluk wieder, und schöner noch als damals. Die begehrte Frucht, auf deren Reifen er mit Geduld und Todesverachtung gewartet hatte, war ihm neuer und näher als je. Er nahm Juliette in die Arme wie zum erstenmal. Ihr Kopf taumelte sonderbar von der einen auf die andre Schulter. Er achtete dessen nicht. Und auch die sinnlosen Worte, die sie in traumhafter Leidenschaft zu stammeln schien, gingen an seinem Ohr vorbei.

 

Bevor die Männer in ihren Gesichtskreis traten, wußte Sato noch nicht, was geschehen würde. Sie bewachte, in einiger Entfernung den Ehebruch, war aber zu traurig und verdüstert, um sich zwischen die Büsche zu legen und das Paar zu beobachten. Ja, wenn sie die prickelnde Entdeckung wenigstens hätte ausschroten können! Wie wäre die alte Nunik hochbefriedigt und ihr zu Dank und Lohn verpflichtet gewesen dafür! Sato aber war gefangen. Sato durfte nicht mehr gewinnbringende Botschaft von Berg zu Tal, von Tal zu Berg tragen. Um so brennender aber bohrte in ihr das einzige zusammenhängende Gefühl, das sie besaß, Eifersucht. Iskuhi von dem Effendi trennen! Dem Effendi etwas antun! Sie lag auf der Erde, die Knie hochgezogen, und starrte in den rauchverschleierten Himmel.

Es geschah aber, daß sich ein paar Männer dem Orte langsam näherten. Sato erkannte die Häupter des Führerrates: Ter Haigasun, Bagradian Effendi, Pastor Aram, dahinter Lehrer Oskanian mit dem Muchtar Thomas Kebussjan und dem Dorfältesten von Bitias. Die Gewählten hatten eine kurze, aber sehr ernste Beratung abgehalten und schienen äußerst bedrückt. Sie hatten auch allen Grund zur Beängstigung. Die Lebensmittel, das heißt die Herden, verringerten sich nicht in vorgesehener Weise, sondern nach den unbekannten Gesetzen einer wilden Progression, die sich steigerte, je mehr der Bestand abnahm. Man drosselte immer wieder die Tagesration, ohne den Verfall, der mit dem schlechten Futter zusammenhing, aufhalten zu können. So sehr Aram Tomasian auch dahinter war, die Zurüstungen für den Fischfang kamen zu keinem Ende. Die Ernährungslage sah böse aus. Auch die ansteckende Fieberkrankheit nahm besorgniserregende Formen an. Allein am gestrigen Tage waren im Epidemiewäldchen vier Kranke gestorben. Bedros Hekim konnte sich auf seinen schwachen und alterskrummen Beinen kaum mehr schleppen. Im und um den Lazarettschuppen lagen mehr als fünfzig Verwundete und mindestens ebenso viele in den Laubhütten, alle ohne zureichende Verbände, ohne rechte Arznei, Gott und sich selbst überlassen. Das Bedenklichste jedoch war die brenzlige Verdrossenheit, die sich als unerwartete Folge des Sieges der Menschen bemächtigt hatte. Sie wurde durch die grauenhafte Hitze des Waldbrandes, durch den Rauchschnupfen, durch die schwere Übermüdung, durch die kärgliche und abwechslungslose Fleischkost wohl gefördert, hatte aber ihre tiefste Ursache in der allgemeinen Unerträglichkeit dieses Lebens. In den letzten zwei Tagen war es, abgesehen von dem Vorfall mit Sarkis Kilikian, zu zahlreichen Raufhändeln, darunter sogar zu Messerstechereien gekommen. All diese Gründe zusammen bewogen die Verantwortlichen heute, ihr Augenmerk der Meerseite des Damlajik schärfer zuzuwenden als bisher. Man weiß, daß auf der Schüsselterrasse, die sich ganz außerhalb der Ereignisse befand, die große Fahne »Christen in Not« flatterte. Zwei Späher der Jugendkohorte übten dort das Amt, die See nach Schiffen abzusuchen. Es schien immerhin möglich, daß irgendwelche unzuverlässige Burschen ein oder sogar mehrere Fahrzeuge übersehen hatten, denn bisher war noch nicht einmal ein Fischkutter gemeldet worden, und das im August, zu einer Zeit, wo sonst die Bucht von Suedja von derartigen Barken wimmelt. Ließ Gott wirklich das Meer völlig aussterben, nur damit den Armeniern des Musa Dagh die allerleiseste Lebenshoffnung entzogen werde? Der Führerrat hatte beschlossen, den Wachdienst der Seeseite zu verstärken und neu zu ordnen. Den Posten auf der Schüsselterrasse hatten nunmehr erwachsene Männer zu beziehen. Ferner sollte auf einem weiter südlich gelegenen kapartigen Punkt eine zweite Beobachtungsstation errichtet werden. Um den geeignetsten dieser Punkte persönlich ausfindig zu machen, waren die Gewählten aufgebrochen.

Der weiche kurzrasige Höhenboden verschluckte selbst für Satos Ohren den Tritt der schweigenden Männer. Als sie sich zur Seite wälzte, waren sie schon sehr nahe. Sato huschte auf – irgend etwas fuhr in sie – und begann den Kommenden entgegen lebhaft fuchtelnde Zeichen zu machen. Die Männer achteten ihrer vorerst nicht. Es war immer dasselbe. Tauchte Sato irgendwo auf, wurden alle Blicke sofort abweisend und wandten sich mit einem schamvollen und strengen Ekel von dem Geschöpf ab. Das Gefühl für die »Unberührbarkeit«, das Pariatum Satos war in jedermann vorhanden, obwohl ja für den Christen alle Kreaturen der Geburt nach vor Gott den gleichen Rang haben. Auch jetzt gingen die sorgenernsten Männer, der fuchtelnden Närrin scheinbar nicht achthabend, an ihr ruhig vorbei. Der letzte in der Schar aber, Muchtar Thomas Kebussjan, blieb plötzlich stehn und drehte sich nach Sato um. Dieses Überwundensein wirkte auf die anderen so stark, daß auch sie stehenblieben und mit bösen Augen die Zeichengeberin musterten. Dies also hatte Satos Kraft zunächst erreicht. Immer gebannter betrachteten die Führer das garstige Ding, das sich wahrhaftig wie eine Besessene unter einem unreinen Einfluß zu winden schien. Satos Augen zwinkerten, die dünnen Beine unter dem einst so artigen Röckchen zuckten, der verzogene Mund, wie ihn sonst nur Taubstumme haben, würgte an einem Lautklotz, die rudernden Hände wiesen immer in die Richtung der Blumenbüsche und des Meeres. Die Suggestion, die von ihrem Gehaben ausging, entkräftete nach und nach den Widerstand der Männer. Sie traten näher an Sato heran, und Ter Haigasun fragte sie unwillig, was es hier gebe und was sie zu berichten habe. Ihr gelbliches Zigeunergesicht verzerrte sich. Sie zwinkerte verzweifelt, als sei es ihr unmöglich zu antworten. Um so heftiger aber wiederholte sie ihre eifrigen Hinweise in die Richtung des Meeres. Die Männer sahen einander an. Ihnen allen ging gleichzeitig ein und derselbe Gedanke fragend durch den Kopf: Ein Kriegsschiff? So wenig man auch mit diesem aufgelesenen Bankert zu tun haben wollte, jeder auf dem Damlajik wußte, daß Sato eine unübertreffliche Ausspäherin war. Vielleicht hatten ihre widerlichen Luchsaugen über dem fernsten Meereshorizont die Ahnung einer Rauchfahne entdeckt, die niemand sonst sehen konnte. Ter Haigasun stieß sie leicht mit seinem Stock an und gebot ihr kurz:

»Auf! Vorwärts! Zeig uns, was du weißt!«

Sie hüpfte stolz auf und begann vorzulaufen, von Zeit zu Zeit innehaltend, um die Männer hinter sich her zu winken. Manchmal auch legte sie die Hand an den Mund zum flehentlichen Zeichen, man möge ja keinen Laut von sich geben, noch auch mit den Schritten Lärm machen. Von seltsamer Erregung erfaßt, tat wirklich niemand den Mund auf. Alle gingen auf leisen Füßen und mit vorsichtig zusammengefaßten Körpern, dem Einfluß der kleinen Führerin und einer tiefen Neugier plötzlich verfallen. An Buchs und Arbutus vorbei gelangte man zu dem dichten lederblättrigen Strauchwerk, das auf einem breiten Band die Steilseite des Berges abgrenzt. Durch dieses dunkle und kühle Gebüsch zogen sich überall Lücken, verschlungene Gassen und Gänge. Eine Quelle schlängelte sich hindurch, um dann als Kaskade und Schleierfall die Wände hinabzustürzen. Hier und dort stieg eine Pinie oder ein immergrün umschlungener Felsblock aus der Wirrnis. Sonst erinnerte nichts an eine rauhe Bergeshöhe. Man hätte an manchen Stellen beinahe den Eindruck eines künstlich angelegten Labyrinths in einem südlichen Park gewinnen können. Auf seinen vielen strategischen Streifzügen in den vorbereitenden Wochen hatte Gabriel Bagradian diesen wahrhaftig paradiesischen Teil des Damlajik kaum berührt. Doch wie schön und kühl es hier auch war, er ging jetzt als letzter in der Schar, mit einer unbehaglichen und widerstrebenden Schwere in den Beinen.

Sato hatte den Weg durch die Irrgänge des Gesträuches so durchtrieben gewählt, daß die Männer mit einem Mal auf dem Lieblingsplatz der Liebenden, einer kleinen, gegen das Meer offenen Lichtung, unversehens standen. Die Überraschung betäubte Juliette und Gonzague, die sich verborgener wähnten denn je, wie ein niedersausender Schlag. Einer der endlosen Entsetzens-Augenblicke hob an, dessen sich derjenige, welcher ihn als Opfer durchdulden mußte, noch in spätester Zeit nur mit dem brennenden Wunsche erinnern kann, nie gelebt zu haben. Gabriel kam noch zurecht, um zu sehen, wie Gonzague Maris aufsprang und mit blitzschneller Gewandtheit seine Person in Ordnung brachte. Juliette aber saß regungslos auf der Erde, mit hängendem Haar und entblößten Schultern, rechts und links die Hände ins Gras gekrampft. Sie starrte Gabriels Erscheinung wie eine Blinde an, die nicht mit den Augen, sondern mit allen anderen Sinnen sieht. Der Vorgang entwickelte sich stumm und fast ohne Geste. Gonzague, der sich einige Schritte weit zurückgezogen hatte, verfolgte ihn mit dem gewinnenden und genauen Lächeln eines Fechters. Die fremden Männer, Ter Haigasun zuvörderst, kehrten mit starren Mienen der Frau den Rücken zu, als sei es ihnen unmöglich, ihre eigene Scham noch länger zu ertragen. – Die Armeniersöhne der Gebirge zwischen Kaukasus und Libanon sind ein Volk von unerbittlicher Keuschheit. Kochendes Blut neigt immer zur Strenge und nur das laue ist nachsichtig. Kein Sakrament halten diese Christen so hoch wie das der Ehe und blicken deshalb mit Verachtung auf den Weiber-Mischmasch des Islams herab. – Diese Männer hier, die jetzt ihre Gesichter von der Schande abkehrten, wären wahrscheinlich Gabriel Bagradian nicht in den Arm gefallen, wenn er der Sache mit zwei Revolverschüssen ein rasches und radikales Ende bereitet hätte. Ter Haigasun nicht und Pastor Tomasian nicht, obgleich dieser drei Jahre lang in der Schweiz gelebt hatte. Hrand Oskanian aber neigte sich über sein Mausergewehr, ohne das er keinen Schritt machte. Es sah so aus, als richte der schwarze Lehrer den Lauf gegen seinen eigenen Mund und suchte mit den Augen nur noch die praktische Möglichkeit, den Schuß zu lösen. Er hatte zu dieser symbolischen Gebärde guten Grund, da sich die Madonna seiner einzigen Anbetung in ihm für immer verunreinigt hatte.

Die unzugänglichen Rücken der Männer warteten lange. Es geschah nichts. Kein Schuß aus Bagradians Armeepistole fiel. Als sie nach einer Weile ihre Köpfe wieder der Wirklichkeit zuwandten, sahen sie, daß Gabriel die kauernde Frau an den Händen faßte und ihr aufhalf. Juliette versuchte zu gehen, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Da stützte sie Gabriel Bagradian unter beiden Ellenbogen und führte sie zwischen den Myrtensträuchern hinweg, wie man ein Kind führt.

Mit unversöhnten Augen verfolgten die Männer das Unglaubliche. Dann brummte Ter Haigasun zwei kurze Worte, und langsam verließen sie, jeder für sich, die Stätte. Sato lief hinter dem Priester her, als habe sie von dem Oberhaupt des Volkes einen Lohn für die Nützlichkeit zu fordern.

Kein Blick traf den Fremden mehr, der allein zurückblieb.

Ein Volk kann ohne Bewunderung nicht auskommen, doch ebensowenig ohne Haß. Längst war auch in der Stadtmulde Haß fällig. Es fehlte nur das Ziel, gegen das er sich richten konnte. Der Haß gegen die Türken und den Staat? Der war zu überdimensional und folglich nur insoweit vorhanden, wie die Luft und der Raum vorhanden ist, als Voraussetzung des Lebens, die man nicht zur Kenntnis nimmt. Der Haß der engen Nachbarschaften? Wen konnten diese Reibereien des Alltags befriedigen? Nicht einmal die keifenden Weiber. Dies alles führte zu nichts anderem als zu kleinlichen Rechtsstreitigkeiten, die Ter Haigasun als Richter an jedem Freitag in schneller Prozeßfolge, ehe man sich's noch versah, durch ein Machtwort oder eine kleine Buße schon geschlichtet hatte. Ein andres Bett mußten sich jene Ströme der Verneinung graben, die sich trotz der blutigen Schlachten und harten Entbehrungen im Herzen der Gesellschaft angesammelt hatten. Es gehört aber zu den Geheimnissen des öffentlichen Lebens, daß der Zufall solchen konzentrierten Mißempfindungen der Masse immer ein entsprechendes Geschehnis prompt zur Verfügung stellt.

Ehe die Männer jene peinliche Stätte verließen, hatte ihnen Ter Haigasun ein paar kurze Worte zugerufen. Diese Worte enthielten die strenge Mahnung, das Geschehene unbedingt geheimzuhalten, denn der Priester ahnte nur zu genau die widrigen Folgen, sollte der Skandal zu Ohren des Lagervolkes kommen. Ter Haigasun hatte in seiner Mahnung mit Männern gerechnet, doch nicht mit Ehemännern. Muchtar Thomas Kebussjan war trotz allem großartigen und würdegetränkten Anschein, den er sich gab, ein hervorragender Pantoffelheld. Ein solches Erlebnis konnte er nicht bei sich tragen, ohne es mit seiner energischen und wissensdurstigen Madame zu teilen. Sein Bedürfnis, die Klatschgier der starkgemuten Ehehälfte bestens zu bedienen, ging so weit, daß er sogleich nach Hause stürzte, um seinen drückenden Schatz nach Entgegennahme von hundert Schweigebeteuerungen an die Frau zu bringen. Madame Kebussjan hatte den Bericht kaum zu Ende gehört, als sie mit hochrotem Gesicht ihren Seidenschal um die Schultern warf und das Blockhaus verließ, um die andern Muchtarinnen aufzusuchen, die Damen der guten Gesellschaft gewissermaßen, die unter ihrem Protektorat standen. Für alles andre sorgte Sato. Sie erlebte jetzt einen dreifachen Triumph. Erstens hatte sie dem Effendi etwas angetan, von dem er sich nicht bald erholen würde. Zweitens durfte sie sich als Urheberin von Unheil und Verwirrung auf einmal als ein höchst brauchbares und tugendsames Mitglied der Ordnungswelt fühlen. Und drittens besaß sie nun eine Wissenschaft voll anziehender und selbstgesehener Einzelheiten, kraft deren sie sich unter der jugendlichen Horde eine Stellung erringen konnte. Darin täuschte sie sich auch am wenigsten. Zuerst waren es ein paar von den überreifen Mädchen, die sie mit ihrem schwülen Ichweißetwas herbeilockte. Andre kamen dazu. Sato zog mit Berichterstatter-Meisterschaft die prickelnde Schilderung in die Länge und genoß dabei das unbekannte Glück, Mittelpunkt zu sein. Schließlich erfuhr auch Stephan in den gemeinsten Ausdrücken und häßlichsten Bildern die Schmach seiner Mutter. Er verstand den Sinn des Geschwätzes anfangs gar nicht. Mama stand zu hoch, als daß Sato und das Gesindel sie überhaupt meinen konnten, wenn es ihren Namen in den Mund nahm. Mama (wie neuerdings auch Iskuhi) war ein verhülltes Götterbild, an dessen Beine, Schenkel, Schultern und Brüste man ohne einen fieberhaften Schauer der Entweihung selbst in tiefster Tiefe der Nacht nicht denken durfte. Immer fassungsloser stand Stephan da, während die Horde ihn selig grausam umlachte und Sato immer neue Nuancen hervorschnatterte. Sie hatte plötzlich ihren gaumigen Sprachfehler verloren und erzählte mit erfahrener Gewandtheit. Wie nämlich der Mißerfolg ein religiöses, so ist der Erfolg ein körperlich-seelisches Heilmittel. Das gesteigerte Selbstbewußtsein beseitigte in diesen Minuten Satos Sprachstörung. In Amerika und um einige Kulturgrade höher geboren, hätte sie es zweifellos zu einer angesehenen Reporterin gebracht. Stephan schwieg und seine großen Augen wurden immer größer. Dann aber war es das Werk einer Sekunde, daß er sich auf die Spionin stürzte und ihr so kräftig ins Gesicht schlug, daß ihr das Blut über Mund und Kinn zu laufen begann. Er hatte sie nicht ernstlich verletzt. Nur die Nase blutete eine Weile. Sato jedoch stieß lange gräßliche Schreie aus, als sei mindestens das Massaker über sie gekommen. Wie alle Primitiven war sie unvergleichlich wehleidiger und blutfürchtiger als ein Kulturmensch. Nun aber wandte sich das Blatt, so daß ein zynischer Beobachter seine helle Freude hätte haben können. Sato, das Randgeschöpf, der Schakal, die verjagte »Stinkerin«, wurde urplötzlich ein Gegenstand des Mitgefühls und der Achtung. Heuchlerische Stimmen erhoben sich: »Er hat ein Mädchen geschlagen.« Und die lang unterdrückte Abneigung gegen die Zugereisten, Überheblichen und Unechten brach aus. Vergessen war der Königsrang der Bagradians, den man ihnen ein paar Stunden lang nach jedem abgewehrten Angriff im stillen zubilligte. Der Urhaß gegen die anmaßenden Außenseiter blieb übrig. Mit mordgierigen Grimassen warfen sich die Buben auf Stephan und es begann teils eine Prügelei, teils eine Jagd, die sich bis zur Stadtmulde und auf den Altarplatz verzog. Hagop hielt im Gegensatz zu seinem charakterlosen Lachen während der Freiwilligenwahl jetzt sehr tapfer zu Stephan. Er hüpfte an seiner Krücke mit weiten erbitterten Sprüngen immer wieder zwischen den Freund und seine Verfolger. Haik aber war nicht da, um zu beweisen, wie er in Wahrheit zu Stephan stand. Der Aleppoläufer verbrachte die letzten Stunden auf dem Damlajik einsam mit der Witwe Schuschik, seiner Mutter. Der Bagradiansohn floh zwar vor dem Rudel, war aber dennoch stärker und größer als die meisten. Hängten sich ein paar an ihn, so schüttelte er sie ab wie der Bär die Hunde. Bekam er jedoch einen wirklich zu fassen, dann schmiß er ihn so gründlich hin, daß ihm Hören und Sehen verging. Mag es auch der allgemeinen Überzeugung widersprechen, das Stadtkind zeigte sich den Naturkindern an Körperkraft weit überlegen. Diese Verfolgung stellte den Respekt zwischen den Jägern und dem Wild wieder her. Das Geheul aber holte alle Bewohner der Stadtmulde aus den Hütten auf den Altarplatz. Nun war wieder Sato an der Reihe, mit ihren Berichten zu glänzen. Die Horde ließ von Stephan ab, der sich in Sicherheit bringen konnte. Es trieb ihn mächtig zu den Eltern. Auf dem Wege zum Dreizeltplatz aber schlug er plötzlich einen Haken und legte sich irgendwo ins Gras. Ein gräßlicher Schmerz wollte ihm die Kehle zerquetschen: Ich kann nicht mehr nach Hause.

Die Rauferei der Halbwüchsigen vollendete nur das Werk, das die Muchtarinnen unter Führung der Kebussjan schon begonnen hatten. Ehe noch die Dämmerung da war, wußten die Gemeinden alles, und zwar um zahlreiche entrüstungfördernde Ausschmückungen vermehrt. Es war die Stunde, in der aus irgendwelchen Wettergründen der Bergbrand am dichtesten zu qualmen pflegte. In mehreren schwärzlichen Schichten lagen die Wolken über der Stadtmulde, und der ätzende Harzrauch reizte die Schleimhäute und die Herzen. Das Niesen, Schneuzen, Räuspern wurde zu einer schweren Plage. Sie steigerte die Empörung. Wie? War es wirklich möglich? Das Volk des Musa Dagh, das vor zwei Tagen knapp dem Tode entgangen war, um dem Tod über kurz oder lang nicht wieder zu entgehen, konnte sich in seiner verzweifelten Lage über diese Geschichte so tief erregen, die noch dazu unter Fremden spielte? Darauf gibt es nur eine Antwort: Gerade weil es Fremde waren, nahm die lang gehegte Mißgunst jetzt die Gelegenheit wahr, sich laut zu offenbaren. Solange in der friedlichen Talzeit Juliette ihr Haus in Yoghonoluk geführt hatte oder als strahlende Reiterin auf den holprigen Dorfwegen erschienen war, so lange hatte man sich vor der Fremden gebeugt und gerade das Fremde an ihr als das Unerreichbar-Höhere bewundert. Durch die Ereignisse aber, durch das neue Leben auf dem Musa Dagh, durch die Führerschaft Gabriel Bagradians war alles gewaltig verändert. Juliette Hanum spielte nicht mehr die unverbindliche Rolle einer unter Armenier verschlagenen Französin, sondern sie war mit dem Volke nunmehr auf Tod und Leben verbunden, sie war ihm verantwortlich. Gabriel Bagradian konnte hundertmal das Sonderschicksal und die Sonderrechte seiner Frau betonen, das Gefühl des Volkes gewährte ihr sie von Tag zu Tag weniger. Die Königin, die Gemahlin des Königs in einer Monarchie, ist stets eine Fremde, wird aber gerade deshalb mit verschärfter Strenge zur Verantwortung gezogen. Juliette hatte sich in diesem Sinne nicht nur gegen ihren Gatten vergangen, sondern auch gegen sein Volk, und zwar nicht mit einem armenischen Manne, sondern mit dem einzigen Fremden, den es hier außer ihr gab. So merkwürdig es klingen mag, diese Liebeswahl entschuldigte sie nicht nur nicht, sondern bewies sogar neuerdings kränkende Absonderung und Überheblichkeit.

Zwei Tage nach der blutigsten der drei Schlachten, die mehr als hundert Familien in Trauer gestürzt hatte, standen die in ihrer Tugend verwundeten Gruppen voll Entrüstung auf dem Altarplatz, als gebe es für diesen todumbrandeten Stamm keine wichtigere Sorge als die Schmach des Hauses Bagradian. Es waren nicht die ganz alten Frauen und auch nicht die ganz jungen, die den Ton dieser Entrüstung angaben, sondern jene matronenhafte Altersklasse zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig, die im Orient viel älter wirkt, als sie ist, und sich nur mehr an den Freuden der anderen und an übler Nachrede ergötzen darf. Die jungen Mädchen und Frauen waren ziemlich still und hörten mit nachdenklichen Mienen das Gekeife der Würdigen an. Sie hatten alle sehr blasse Gesichter, diese jungen Frauen. Ihnen bekam das Leben auf dem Damlajik am schlechtesten. Blutarm und verfallen sahen sie unter ihren Kopftüchern und Mützen aus. Die Armenierin, auch die der niederen Stände, ist zart und feingliedrig in ihrer Jugend. Angst, Leid, Entbehrung hatten die jugendlichen Frauen der Stadtmulde noch gebrechlicher gemodelt. Sie nickten ernsthaft zu den Schmähungen der Matronen und beteiligten sich dann und wann selbst mit einer Bemerkung an dem schwülen Schimpf. Dennoch konnten sie sich derzeit über eine ehebrecherische Frau nicht allzu aufrichtig entrüsten, wußten sie doch zu gut, was ihrer und aller armenischen Weiber wartete. Nicht der einfache Tod etwa, sondern der Tod durch Notzucht, wenn nicht etwa das große Glück lachte, daß ein reicher Türke sie den Saptiehs für seinen Harem abkaufte, wo sie dann damit zu rechnen hatte, von den alteingesessenen Frauen ins Jenseits gepeinigt zu werden.

Die Fäden der moralischen Volksempörung hielt niemand andrer in der Hand als Frau Kebussjan. Nun war für sie die Stunde gekommen, der Schloßherrin von Yoghonoluk (die sich freilich immer gütig zu ihr benommen hatte) die Fülle der unbehaglichen Demütigungsgefühle während jener Empfangsabende heimzuzahlen. Und mehr als dies noch, die Stunde war für die Muchtarin gekommen, den Rang der Ersten Frau wiederzuerobern. Sie war so klug, sich nicht allein auf den unmittelbaren Anlaß der Entrüstung, auf die Ehesünde, zu beschränken, sondern sehr bald auf noch nahrhaftere Gebiete des Neides abzuschwenken. Da habe man nun die Wahrheit über die Hanum, die Französin, die hohe Herrin, die es wage, vor den Augen der Hungrigen das üppigste Leben zu führen. Sie, die Muchtarin, kenne sich in jenen luxuriösen Zelten aus, wohin man sie immer und immer wieder bis zum Überdruß einlade. Sie habe die Schränke, Koffer und Kisten des zuchtlosen Weibes mit staunenden, aber erbitterten Augen mehr als einmal geprüft. Von diesem Reichtum könne sich niemand einen Begriff machen. Unmengen von Reis, von Kaffee, von Rosinen, von Büchsenfleisch, von geräucherten und geölten Fischen, von allen Leckerbissen des Abendlandes seien in den Zelten aufgestapelt, Süßigkeiten ohne Ende, Konfekt, Schokolade, verzuckerte Früchte, und vor allem feines süßes Brot, zarter Zwieback und Kuchen. Die Milch der beiden Kühe werde sorgsam abgerahmt, damit für den Haushalt der Dame Butter und Sahne im Überfluß vorhanden sei, während sich das Bettelvolk in den wäßrigen Rest teilen dürfe. Man möge sich nur die prächtige Eigenküche ansehn, die der Verwalter Kristaphor mit dem Koch Howhannes aufgebaut habe. Ein Herd wie beim Sultan, mit Rosten und Röhren. Es fehle nur noch, daß die Pfannen, Häfen und Töpfe aus Gold und Silber seien. Sie, die Frau eines Kebussjan, habe in ihrer Kindheit auch nicht die Schafe gehütet, sondern die höhere Töchterschule besucht. Ihre Küchengerätschaft könne sich neben jeder anderen sehen lassen. Und doch, Kebussjan, der Reiche, und seine Frau, die es wahrhaftig nicht nötig hätten, unterhielten keine eigene Küche, sondern nähmen in Ergebung, was Gott beschere, von den Fleischbänken des Lagers entgegen, obgleich dem bescheidenen Muchtar mehr als der halbe Viehstand eigne. Die feine Gesellschaft der drei Zelte aber mit ihrem Überfluß, ihren Dienern und Schmarotzern, bestehle zu allem andern noch das Volksgut und lasse sich täglich die besten Fleischportionen, eigens ausgesucht, zu ihren Mahlzeiten holen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Küchennote auf die knurrenden Mägen der Männer ihre Wirkung ausübte. Sonst aber richtete sich ihre Empörung weniger gegen Juliette als gegen Gonzague Maris, den Unbekannten, den Einschleicher. Es fehlte nicht viel, und einige junge Burschen hätten sich zusammengetan, um Maris kaltzumachen. Besonnene versuchten diese Absicht zu zerreden. Doch wehe, wenn Gonzague sich in dieser Stunde hätte blicken lassen. – Als Ter Haigasun auf dem Platz erschien, trat ihm die Kebussjan dreist entgegen: »Priester! Du darfst es nicht straflos hinnehmen ...«

Er wollte sie grob zur Seite schieben:

»Kümmere dich um das Deine!«

Sie vertrat ihm aber immer unverschämter den Weg:

»Ich kümmere mich um das Meine, Priester! Habe ich nicht zwei unverheiratete Töchter und zwei Schwiegertöchter? Das weißt du ja. Und sind die Augen der Männer nicht gieriger als die der wilden Hunde und die Herzen der Weiber noch ärger? In den Hütten wohnt und schläft alles auf einem Haufen. Wie sollen da die Mütter Zucht und Ehre halten, bei solchem Beispiel?«

Ter Haigasun versetzte ihr einen leichten Stoß:

»Für deine Tollheiten habe ich keine Zeit. Gib den Weg frei!«

Die Rädelsführerin – sonst eine kleine unauffällige Frau mit geschwinden Mausaugen – reckte sich jetzt, durch Juliettens Fall wie eine Pfingstrose erblüht, zu feierlicher Höhe auf:

»Und die Sünde, Priester, he? Christus, der Erlöser, hat uns vor dem Tode bewahrt, bisher. Er hat auf unserer Seite gekämpft. Er und die heilige Gottesmutter. Jetzt aber sind sie durch Todsünde beleidigt worden. Werden sie uns nicht den Türken ausliefern, wenn keine Buße geschieht, he?«

Die Muchtarin glaubte einen Trumpf ausgespielt zu haben und blickte sieghaft umher. Ihr Mann, Thomas Kebussjan, hielt sich dicht hinter dem Rücken des Priesters, sah mit seinen ungleichen Augen alle und niemanden an und schien durchaus keine Lust zu haben, in das Ärgernis mit hineingezogen zu werden. Ter Haigasun aber antwortete nicht der Eifernden, sondern der Menge, die sich um ihn drängte:

»Ja! Es ist wahr! Christus, der Erlöser, hat uns bewahrt bisher. Und wollt ihr wissen wodurch? Weil er uns durch ein großes Wunder rechtzeitig Gabriel Bagradian gesandt hat, der ein wirklicher Offizier ist und den Krieg kennt und versteht. Sonst wäre es schon längst aus mit uns. Seinem Kopf und seinem Mut haben wir es zu verdanken, wenn wir noch immer leben. Daran sollt ihr denken, nur daran und an gar nicht andres!«

Die Wendung überzeugte einen Teil der Menge, und die kühleren Köpfe, die sich schon über die lüsterne Gehässigkeit der halbalten Weiber ärgerten, bekamen die Überhand. Die Kebussjan, die ihre Anhänger zusammenschmelzen sah, spähte um Hilfe. Schnell entdeckte sie hinter dem Rücken des Priesters ihren Gatten, der vor einer halben Stunde noch ihr moralisches Entsetzen restlos geteilt und unterstützt hatte. Sie rief ihn hochtrabend an:

»Hier steht der Muchtar! Hört den Muchtar, der sich seit zwölf Jahren für euch plagt, hört ihn an, was er zu sagen hat!«

Aber der so demagogisch aufgerufene Muchtar hatte gar nichts zu sagen, sondern ließ seine Frau blamiert stehen und verschwand schnell und mit leicht wackelnder Glatze hinter Ter Haigasun in der Pfarrhütte. Ringsum wagten sich schon spöttische Männerstimmen hervor:

»Rührt lieber in eurem eigenen Schmutz! Zu wenig Arbeit haben diese Weiber. Man müßte sie einspannen.«

In Ter Haigasuns Laubhütte hatte sich nur ein kleiner Kreis der Führer versammelt. Es handelte sich um einen privaten, äußerst heiklen Fall; man war deshalb aus einem kaum bewußten Feingefühl nicht in die Regierungsbaracke, sondern hier zusammengetreten. Da ein rein moralischer Gegenstand vorlag und Ter Haigasun auf moralischem Gebiet unbeschränkter Alleinherrscher war, wurden ihm ohne weitere Beratung alle Entschlüsse in dieser Sache anheimgegeben. Er wählte zwei Botschafter, Apotheker Krikor und Doktor Bedros Altouni. Der eine sollte sich zu Gonzague Maris begeben, da er ihn ja beherbergt und gewissermaßen in die Welt von Yoghonoluk eingeführt hatte. Der Arzt hingegen wurde als ältester Freund und Schützling des Hauses Bagradian zu Gabriel entsandt. – Was den kranken Apotheker anbelangt, so hatte sich der kleine Rausch beim Taufgelage als eine Arznei erwiesen, die alle andern Mittel, die er noch besaß, in ihrer Heilwirkung weit übertraf. Seit zwei Tagen konnte er sich auf seinen Beinen wieder besser fortbewegen, wenn auch nur langsam und mit kleinen Schritten. Ter Haigasun ließ ihn aus seinem Verschlag holen und entwickelte ihm in wenigen Worten seine Sendung: Er möge ohne Verzug seinen ehemaligen Gastfreund aufsuchen. Zwei Ordonnanzen der Jugendkohorte würden ihn auf diesem Gang stützen und ihm Hilfe leisten sowie den Mann ausforschen. Sei er gefunden, möge ihm Krikor mit Hinweis auf drohende Lebensgefahr eindringlich bedeuten, daß er so schnell wie möglich aus dem Umkreis des Lagers zu verschwinden habe. Krikor wehrte sich lange und heftig, diesen Auftrag zu übernehmen. Er sei in seinem irdischen Beruf zwar Apotheker, jedoch kein Herbergsknecht, der einen unerwünschten Gast ins Freie befördere. Auf all seine Einwendungen hatte Ter Haigasun nur die lakonische Antwort:

»Du hast ihn uns zugeführt, nun sollst du ihn auch wieder entlassen.«

Es half nichts. Apotheker Krikor mußte sich nach längerem Widerstand mitsamt seinen schmerzhaften Knochen auf diesen widerwärtigen Weg machen. Während er am Stock unsicher einherhinkte, prüfte er in tragischen Selbstgesprächen die Worte, mit denen er sich seiner Aufgabe in zarter und feinsinniger Art am leichtesten entledigen könne. Demgegenüber erhielt Bedros Hekim die weit gelindere Pflicht. Er hatte Gabriel Bagradian von der allgemeinen Empörung vorsichtig in Kenntnis zu setzen und die Bitte hinzuzufügen, Juliette Hanum möge bis auf weiteres ihr Zelt nicht verlassen.

Während die andern Ter Haigasuns Verhandlung mit Krikor und dem Arzt schweigend hinnahmen, erhob einer, der sonst ein verstockter Schweiger war, seine Stimme zu einer wortgewaltigen Rede. Bis zu dieser Stunde hatte der schwarze Hrand Oskanian als ein belächelnswerter Narr gegolten, dessen boshaft eitle Narretei man sich gefallen ließ, weil man in ihm einen tüchtigen Lehrer achtete. Nun aber durchbrach der feuerfarbene Fanatiker die Larve des Narren. Alle starrten ihn gebannt an, denn von seinen Worten ging eine wilde Kraft aus. Oskanian forderte teuflische Rache an Gonzague Maris: Man solle diesem Schurken vorerst den amerikanischen Paß und den Teskeré abnehmen, ihn dann völlig entkleiden, an Händen und Füßen fesseln und nachts von kühnen Männern ins Tal tragen lassen, damit ihn die Türken für einen Armenier hielten und langsam abschlachteten.

Mit bestürztem Mißbehagen gingen die Männer über den tollen Ausbruch Hrand Oskanians hinweg. Aber der Lehrer ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er begann allen Ernstes die unumgängliche Notwendigkeit der von ihm beantragten Strafe zu begründen. Ter Haigasun hörte den langatmigen Schwall nicht mit halb-, sondern mit ganzgeschlossenen Augen an. Seine Hände verkrochen sich fröstelnd in den Kuttenärmeln, was stets ein deutliches Zeichen seines Unwillens war:

»Bist du nun endlich fertig, Lehrer?«

»Nicht früher, als bis ihr die Wahrheit ebenso einsehen werdet wie ich!«

Ter Haigasun machte eine belästigte Bewegung mit dem Kopf, um diese surrende Hornisse zu verscheuchen:

»Ich glaube, zu diesem Fall ist kein weiteres Wort zu verlieren.«

Oskanian schäumte auf:

»Also der Führerrat will den Halunken mit Segenswünschen entlassen, damit er uns bereits morgen an die Türken verrät?«

Ter Haigasun blickte gepeinigt zum Laubdach der Hütte empor, das im Winde raschelte:

»Selbst wenn er uns verraten will, was könnte er verraten?«

»Was er verraten kann? Alles! Die Lage der Stadtmulde! Die Weideplätze! Die Stellungen! Den schlechten Stand unserer Vorräte. Die Krankheit ...«

Ter Haigasun schnitt diese Aufzählung mit einer müden Handbewegung ab:

»Mit solchen Neuigkeiten wird sich niemand bei den Türken einschmeicheln. Glaubst du wirklich, daß sie so dumm sind und diese Dinge nicht alle schon wissen? Ihre Kundschafter haben nicht vergeblich jeden Winkel abgesucht ... Und außerdem ist der junge Mensch kein Verräter.«

Die Worte des Priesters fanden volle Zustimmung in der Runde. Hrand Oskanian aber schleuderte seine Fäuste verzweifelt vor, als wollte er das entwischende Opfer an einem Zipfel festhalten:

»Ich habe einen Antrag gestellt«, krähte er, »und ich fordere, daß du diesen Antrag ordnungsgemäß abstimmen läßt.«

»Anträge kann jeder Schwätzer und Dummkopf stellen. Es ist aber einzig und allein meine Sache, diese Anträge zur Abstimmung zuzulassen, überflüssige Anträge lasse ich nicht zur Abstimmung zu. Merk dir das, Lehrer! Es sitzt hier übrigens niemand, der deinen Antrag nicht für niederträchtig und verrückt hält. Wer andrer Ansicht ist, erhebe die Hand!«

Nicht eine Hand rührte sich. Der Priester nickte abschließend:

»Und damit ist es ein für allemal genug. Du hast mich verstanden.«

Der Durchgefallene erhob sich stolz zu seiner geringen Höhe und wies in die Richtung des Platzes:

»Unser Volk dort draußen hat eine andre Meinung als ihr ...«

Hatte das Benehmen Oskanians den Ekel und Unwillen Ter Haigasuns erregt, so entfachte diese demagogische Bemerkung seinen Jähzorn. Seine Augen flammten auf. Doch er beherrschte sich schnell wieder:

»Die Pflicht des Führerrates ist es, die Gefühle des Volkes zu lenken, nicht aber sich von ihnen lenken zu lassen!«

Hrand Oskanian nickte mit entsagender Kassandramiene:

»Ihr werdet an meine Worte noch zurückdenken ...«

Ter Haigasun hielt die Augen wieder gesenkt. Seine Stimme war sehr ruhig:

»Ich würde dir dringend raten, Lehrer Oskanian, nicht uns, sondern dich selbst zu warnen.«

In unerquicklichster Stimmung mußte man endlose Zeit auf die Rückkehr der Gesandten warten. Der kranke Apotheker kam noch früher als der Arzt. Er war völlig erschöpft und mußte sich stöhnend auf Ter Haigasuns Diwan ausstrecken. Erst als ihn der Priester mit zwei tiefen Zügen aus einer Rakiflasche gelabt hatte, fand er die Kraft, zu berichten. Gonzague Maris hatte ihm seine Mission dadurch erleichtert, daß er auch ohne feierliche Aufforderung längst schon bereit war, den armenischen Berg in dieser Nacht zu verlassen. Er würde mit dem Aufbruch nur bis zu einer verabredeten Stunde warten, um seiner Geliebten die Möglichkeit zu geben, sich zu retten. Der Apotheker konnte nicht umhin, die vornehme Haltung seines Gastfreundes zu loben, der ihm nicht nur alles Gedruckte, was er besaß, zum Geschenk gemacht, sondern überdies noch versprochen hatte, wohin immer er auch komme, für die Verfolgten des Musa Dagh wirksam zu sein. Dieses Versprechen des Sünders aber lehnte Ter Haigasun mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Es war schon Abend geworden, ehe der andre Botschafter, Bedros Hekim, in die Pfarrhütte trat. Auch er ließ sich erschöpft niederfallen und rieb stöhnend seine krummen und verbrauchten Beine. Wortlos starrte der Alte vor sich hin, und Ter Haigasun hatte Mühe, ihn zum Reden zu bringen. Vorerst aber war das Ergebnis nicht sehr befriedigend, denn der Arzt bewegte nur brummend die Lippen, und seine schartige Stimme war kaum zu hören.

»Die arme Frau ...«

Diese drei Worte setzten den Muchtar Kebussjan in nicht geringes Erstaunen. Seiner eifernden Gattin eingedenk, geriet der spiegelnde Glatzkopf ins Schlingern:

»Was heißt das? Warum ist sie eine arme Frau, diese Reiche?«

Bedros Hekim musterte den Muchtar mit menschenfresserischen Blicken:

»Warum? Weil sie seit mindestens drei Tagen hoch fiebert. Weil sie bewußtlos ist. Weil sie wohl sterben wird. Weil ihr niemand helfen kann. Weil sie sich im Lazarettschuppen angesteckt hat. Weil sie mir leid tut. Weil nicht sie, der Teufel soll mich holen, sondern die Krankheit schuld ist. Weil ...«

Er schnappte ab und versank wieder in sich. Wie konnte er, ein ungelehrter Hekim, der nur fünf Jahre lang an der Wissenschaft gerochen hatte, diesen Bauern Erkenntnisahnungen begreiflich machen, die er selbst nicht verstand? Er seufzte tief auf. Lauter Nuniks, Wartuks, Manuschaks ringsumher! Und er selbst samt seinem verpfuschten Leben und dem toten Handbuch für Mediziner nichts Besseres.

 

Den letzten Teil des Weges hatte Gabriel seine Frau halb geschleppt und halb getragen. Im Zelte angekommen, fiel sie aufs Bett, mit verdrehten Augen, bewußtlos. Er versuchte, sie ins Leben zurückzurufen. Was er auf dem kleinen Spiegeltisch an alkoholischen Wässern – traurig bewahrten und gesparten Resten – in die Hand bekam, schüttete er ihr auf Stirn und Lippen. Er rieb ihr Gesicht, er rüttelte ihren Körper auf. Vergeblich! Die glückliche Seele verbarg sich in der fernsten Landschaft ihrer Selbstvergessenheit. Das Fieber hatte tagelang in Juliettens Blut geschwelt. In der letzten Stunde aber mußte es hochgeschossen sein wie eine tropische Zauberpflanze. Die Haut war rauh und rot. Wie verbrannte Erde hatte sie jeden Tropfen Feuchtigkeit in sich gesaugt. Der Atem ging immer rascher und kürzer. Dieses Leben schien unwiderruflich seinem Ende entgegenzurasen.

Da er sie nicht wecken konnte, beugte sich Gabriel über Juliette und begann sie zu entkleiden, um durch diese Erleichterung die Ohnmacht zu bannen. Er hantierte mit männlicher Ungeschicklichkeit. Dabei zerriß er Kleid und Wäsche. Dann ließ er sich auf dem Fußende des Bettes nieder und nahm ihre Beine auf den Schoß. Sie waren so schwer und geschwollen, daß er Schuhe und Strümpfe kaum von den Füßen bekam. Er bedachte es gar nicht, daß kein einziges jener Gefühle ihn erfüllte, die ein solches Erlebnis zu erwecken pflegt. Weder der schneidende Schmerz des gekränkten Selbstgefühls noch die Vorstellung, daß diese kranken Glieder vor kaum einer Stunde einem fremden Mann gehört hatten, noch auch das eisstarre Bewußtsein, die treue Bindung eines ganzen Lebens sei nun zerrissen für immer. Auf dem Grunde seiner eigenen Betäubung wohnte nur Kummer, und zwar Kummer um Juliette. Gabriel wunderte sich nicht. Ihm war's, als habe er dieses Schicksal selbst begünstigt. So unglaubwürdig dies auch klingen mag, erst Juliettens Betrug und ihr Zusammenbruch brachten ihm die längst Entfremdete wieder näher. Erst jetzt, da dieser arme Leib ihn bis an die Grenze feindseligster Wollust verlassen hatte, erinnerte er sich wehmütig seiner. Voll ängstlicher Hingabe zerrten und nestelten seine unbeholfenen Finger an den Kleidungsstücken, die so strengen Widerstand leisteten. Dann starrte er regungslos auf den großen weißen Leib, während hundert Empfindungen und Gedanken aufschossen und unausgebildet in nichts zergingen. Was war geschehen? Im Zeltwinkel sah er den Eimer voll frischen Wassers, der dort immer stand. Er tauchte Handtücher ein, um der Kranken Wickel anzulegen. Dies war kein einfaches Werk. Der Körper lag steif, und er vermochte ihn kaum aufzuheben. Gabriel dachte daran, eines von Juliettens Mädchen zu rufen, die übrigens seit der Verwirrung ihrer Herrin und der Hinfälligkeit aller Entlohnung nur mehr unregelmäßig zum Dienst kamen. Scham vertrieb diesen Einfall. Nur allein sein jetzt!

Als der alte Arzt eintraf, fand er Gabriel Bagradian mit verlorenen Augen über die Ohnmächtige gebeugt. Bedros Hekims erster Blick zweifelte, ob es sich nicht um eine halb gespielte Ohnmacht handle, in die sich die Sünderin geflüchtet habe. Sein zweiter Blick belehrte ihn über das schwere Fieber. Es war das allgemeine Krankheitsbild der Epidemie, dieser plötzliche Anstieg der Temperatur und diese jähe Bewußtlosigkeit, die nach einem längeren, oft kaum beachteten Unwohlsein aufzutreten pflegte. Er hob den Oberkörper der Kranken hoch. Sofort zeigten sich Atembeschwerden und Brechreiz. Es war klar. Als er aber die Haut unter der Brust und am Gürtel untersuchte, wo der Ausschlag sich meist zuerst bemerkbar machte, fand er nichts als drei, vier kleine rote Punkte. Der Arzt wollte Gabriel Bagradian bitten, das Zelt sogleich zu verlassen und es nicht mehr zu betreten. Als er aber Gabriels verschleierte Augen sah, die sich tief in die Höhlen verkrochen hatten, sagte er nichts. Er unterließ es auch, sich seines Auftrages zu entledigen und von der moralischen Unruhe in der Stadtmulde zu berichten. Hingegen bat er um die Hausapotheke, die sich Juliette noch vor ihrer Abreise in den Orient hatte zusammenstellen lassen. In der umfänglichen Kassette fand sich nur mehr ein Rest der einstigen Fülle. Juliette hatte sie mit eigener Hand zugunsten des Lazarettschuppens ausgeraubt. Immerhin war ein flüssiges Herzbelebungsmittel noch vorhanden. Der Alte drückte das Fläschchen dem ganz und gar benommenen Gabriel in die Hand. Dies sei für den Fall, daß der Puls erlahme. Im übrigen werde seine Frau die Pflege morgen schon einteilen. Gabriel möge dem verlorenen oder getrübten Bewußtsein der Kranken keine große Bedeutung beimessen. Es sei eine Folge des Fiebers und müsse ja unter den gegenwärtigen Umständen ein Segen genannt werden. Jetzt stehe die Waage zwischen Tod und Leben gleich. Dieser Zustand halte erfahrungsgemäß mehrere Tage an. Die größte Lebensgefahr trete erst nach überwundener Vergiftung ein, wenn das Fieber jäh hinunterstürze und in manchen Fällen das Herz dann mitnehme. Bedros Hekim schöpfte aus dem Eimer ein Wasserglas voll, suchte einen Löffel und flößte mit geübter Hand der Fiebernden einige Tropfen zwischen die Lippen. Diese kleine ärztliche Geste schon strafte Altounis Selbstmißtrauen Lügen, das ihn als nichtskönnenden zitterhändigen Pfuscher traktierte:

»Sie muß immer wieder zu trinken haben«, belehrte er Gabriel, »auch wenn sie nicht zu sich kommt.« Juliettens Gatte nickte nur, ohne diese Weisung durch Worte zu bestätigen. Der Arzt sah sich suchend in dem kleinen Raume um: »Jemand muß bei ihr wachen!« Da es schon ziemlich dunkel war, zündete er die Petroleumlampe an. Dann nahm er Bagradians Hand in die seine:

»Das wäre etwas, wenn die Türken in dieser Nacht über uns kämen!«

Gabriel Bagradian versuchte zu lächeln:

»Wir haben den Berg angezündet. Die Türken kommen in dieser Nacht nicht über uns.«

»So«, meinte Bedros Hekim, und seine schartige Stimme klang recht enttäuscht: »Schade!«

Er ging, von seinen Jahren und der übermenschlichen Arbeit gebeugt, ohne dem Mann, dem er ans Licht der Welt geholfen hatte, ein persönlich teilnehmendes Wort zu sagen. Alle Worte, gute und böse, erschienen ihm längst als leer und unangebracht.

Gabriel wollte den Alten ein Stückchen begleiten, um frische Luft zu schöpfen. Am Zeltvorhang wich er jedoch zurück. Wären die Türken jetzt vor allen Stellungen aufgetaucht, er hätte sich kaum überwunden, das Dunkel zu verlassen. Er legte sich auf den Diwan, der Juliettens Bett gegenüberstand. Ihm schien es, als sei er bis zu dieser Stunde im Leben noch niemals müde gewesen. Die drei blutigen Schlachten, die vielen durchwachten Nächte, das ewige Hin und Her zwischen Stellungen und Beobachtungspunkten, jeder einzelne dieser ungeheuren Tage des Musa Dagh hängte sich an ihn wie ein elbischer Wicht mit plattem Erdgesicht, der von Sekunde zu Sekunde schwerer wurde. Es gab eine Müdigkeit, die selbst zu müde war, das Bittere des eigenen Schicksals zu kosten. Ein geduckter unguter Schlaf öffnete seine Höhle. Gabriel erkannte Iskuhis Gegenwart, als er noch tief im Hintergrund dieser Höhle verwühlt war. Mit großer Mühe riß er sich los und fuhr auf:

»Hier darfst du nicht sein, Iskuhi! Keinen Augenblick! Wir werden uns jetzt nicht mehr sehn ...«

Ihre Augen waren groß und böse:

»Und wenn du krank wirst, soll ich nicht krank werden?«

»Denk doch an Howsannah und das Kind!«

Sie ging zum Bett und legte ihre Handflächen auf Juliettens Schultern. In dieser Stellung wandte sie sich nach Gabriel um:

»So, jetzt kann ich nicht mehr in unser Zelt zurückgehn, jetzt kann ich nicht mehr Howsannah und das Kind berühren ...«

Er versuchte sie fortzuziehen:

»Was wird Aram Tomasian dazu sagen? Nein, ich kann es vor ihm nicht verantworten, Iskuhi! Geh, um deines Bruders willen, Iskuhi, geh!«

Sie beugte sich tief über das Gesicht der Bewußtlosen, die jetzt immer unruhiger wurde:

»Warum schickst du mich fort? Wenn es geschehen soll, so ist es jetzt geschehn. Mein Bruder? Das ist mir alles nicht mehr wichtig.«

Er trat leise und unsicher hinter sie:

»Du hättest das nicht tun sollen, Iskuhi.«

Über ihr Gesicht zuckte es fast wie leidenschaftlicher Spott:

»Ich? Was bin ich? Du bist der Führer. Wenn du krank wirst, ist alles verloren.«

Mit ihrem Taschentuch reinigte sie den Mund der Kranken:

»Als wir aus Zeitun kamen, war Juliette so gütig, so wunderbar zu mir. Ich habe jetzt eine Pflicht zu erfüllen, so gut ich es kann. Verstehst du das nicht?«

Er versenkte seine Lippen in ihr Haar. Sie aber umfing ihn mit aller Kraft:

»Bald ist doch alles vorbei! Und ich will dich haben. Ich will bei dir gewesen sein!«

Es war der erste offene Ausbruch von Iskuhis Liebe. Sie hielten einander fest, als läge eine Tote neben ihnen, die nichts mehr spürt. Doch Juliette war nicht tot. Ihr Atem röchelte. Manchmal entrang sich ein kleiner, jammernder Laut ihrer verengten und geschwollenen Kehle, als suche sie jemanden, der ihr immer wieder entweiche. Da ließ Iskuhi Gabriel los, doch wie mit weinenden Händen. Dann sprachen sie nur mehr einsilbige Sachlichkeiten, um der Bewußtlosen willen.

Während der Nacht kam Juliette für eine Weile zu sich. Sie begann wirr zu reden und versuchte, sich aufzustemmen. Wie weit war der Weg, den sie zurückzulegen hatte. Doch gelangte sie nur bis in ihre Wohnung in der Avenue Kleber und nicht bis auf den Damlajik:

»Suzanne ... Was ist denn los? ... Bin ich krank? ... Ich bin krank ... Ich kann nicht aufstehn ... So helfen Sie mir doch ...«

Sie verlangte einen Dienst. Gabriel und Iskuhi halfen der Kranken, die sich noch immer in ihrem Pariser Schlafzimmer befand. Vom Schüttelfrost hin und her geworfen, lallte Juliette:

»So ... Ich glaube, jetzt werde ich schlafen ... Es ist wieder einmal meine Angina, Suzanne ... Nichts Arges, hoffentlich ... Wenn mein Mann nach Hause kommt, wecken ...«

Die gemurmelte Nennung des einstigen Bagradian, der in der Welt dieser Kranken ein gesichertes Leben führte, wirkte auf den wirklichen Bagradian erschütternd. Er tauchte wieder ein Tuch ins Wasser und erneuerte die Kompresse um Juliettens Hals. Dann deckte er sie mit großer Sorgfalt zu und flüsterte: »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«

Sie sagte etwas Unverständliches. Es klang wie müder Dank und wie das kindliche Versprechen, gehorsam schlafen zu wollen. Gabriel und Iskuhi saßen schweigend, dicht aneinandergedrückt und Hand in Hand auf dem Diwan. Er aber ließ kein Auge von der Kranken. Sonderbarste Lebensverwicklung! Der Betrogene diente – sie mit einer anderen betrügend – der Betrügerin. Juliette schien nun wirklich zu schlafen.

 

Die Stunde war da. Gonzague Maris hatte sich entschlossen, nicht mehr länger zu warten. Ein Ruck! Vorbei ist vorbei. Und doch, er schlüpfte nicht so leicht aus diesen seltsamsten Wochen seines Lebens, wie er sich's vorgenommen hatte. Mit Verwunderung erkannte er, daß ihn ein ausgesprochenes Leidensgefühl zurückhielt. War seine Liebe zu Juliette größer, als er wußte? War es ein Schuldbewußtsein, das seine Freiheit trübte? In den letzten Tagen hatte sich die Frau so wirr und unbegreiflich benommen und durch ihre Qual sein Mitleiden und den Wunsch, sie zu beschützen, immer wieder aufgerührt. Und dann, das Ende war so schändlich. Wenn er des gräßlichen Augenblickes gedachte, preßte er die Zähne aufeinander, und sein beherrschtes Gesicht verzerrte sich. Mußte er sich wie ein windiger Lump diesem Ende, diesem abscheulichen Abbruch beugen? Mehr als einmal hatte er sein Versteck verlassen und war bis in die Nähe des Dreizeltplatzes gekommen, um mit Gabriel Bagradian zu sprechen und um Juliette zu kämpfen. Jedesmal aber war er wieder zurückgekehrt, nicht aus Feigheit, sondern aus einem neuartig unüberwindlichen Befangenheitsgefühl: Hier gehöre ich nicht mehr her. Seit jenem Augenblick nämlich hatte sich zwischen Gonzague und der Welt des Damlajik ein unsichtbarer, aber gewaltiger Hinderniswall aufgebaut. Es war für ihn kaum mehr möglich, den Luftraum, der die armenischen Wohnstätten umlagerte, zu durchdringen. Juliette aber lebte jetzt jenseits dieses Walles. Das armenische Schicksal hatte sich stärker erwiesen als sie. Dazu kam die feinverklausulierte Warnung Apotheker Krikors, seines Hausvaters. Dieser hatte mit keinem Wort das Peinliche berührt, sondern nur vom amerikanischen Paß Gonzagues gesprochen und die Meinung kundgetan, daß jeder irdische Aufenthalt einmal zu Ende gehe und daß es das schöne Vorrecht der Jugend sei, leichten Blutes immer wieder Abschied nehmen zu können. Das Leben werde erst trübe, wenn es nur einen einzigen Abschied mehr enthalte. Maris hatte die praktische Philosophie des Alten mit gebührender Achtung entgegengenommen und doch aus einer zartsinnigen Nebenbemerkung herausgespürt, daß jede weitere Stunde auf dem Musa Dagh für ihn mit mancherlei Gefahren verbunden sei. Und dies Bewußtsein der lauernden Gefährdung wurde mit den fortschreitenden Minuten immer stärker. Der abnehmende Halbmond stand schon hoch über seinem Scheitel. Er hatte eine ganze Stunde über die verabredete Zeit gewartet. Juliette war verloren. Er ging noch einmal einige Schritte in die Richtung des Lagers. Dann kehrte er entschlossen um. Vielleicht war es besser so. Langsam und mit zögernder Gründlichkeit zog er seine Handschuhe an. Ein überlegener Beobachter hätte diese elegante Geste inmitten einer weglosen nächtlich asiatischen Bergwüstenei vielleicht als grotesk empfunden. Gonzague zog aber seine Handschuhe nur an, um sich bei der Kletterei nicht zu verletzen. Dann schnallte er sich den schmalen Lederkoffer auf den Rücken. Wie es seine Gewohnheit war, wenn er aus dem Hause ging, zog er seinen Taschenkamm hervor und brachte sein Haar in Ordnung. Das Bewußtsein, nichts vergessen zu haben, kein Stücklein seines Ichs unbemerkt zurückzulassen, kurz ein frisches und wohltuendes All-right-Gefühl erfüllte ihn trotz allem. Langsam schlenderte er zwischen Rhododendron, Myrten und wilden Magnolien in den Mond hinein, als dehne sich vor ihm nicht die Wildnis, sondern eine reizend gebahnte Promenade. Ihm fiel ein Wort ein, das er zu Juliette über sich gesprochen hatte: »Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, weil ich eine sehr schlechte Erinnerung habe.« Und wirklich, bei jedem Schritt nach Süden wurde seine Erinnerung blasser, sein Herz freier. Schon schritt er rascher aus, neugierig der Zukunft zugewandt, die durch seine Pässe und sein Naturell gesichert war. Wie Schneegrate und -felder, von unnatürlich schwarzen Schatten durchhöhlt, strahlten die kreidigen Felsen der Meerseite. Unten bellte die Brandung matt. Als der Pfad schwieriger zu werden begann, kostete Gonzagues Fuß jeden Schritt wiegend vor. Er genoß selbstherrlich das Spiel seiner Muskeln. Wie unverständlich waren die Menschen! All dieser Mord und Schmerz kam daher, daß sie nicht das teilnahmslose Licht in sich herrschen ließen, sondern das dumme unordentliche Dunkel. So einfach, so leicht überwindbar war diese schwarze und weiße Lunawelt. Sich als Nichts im Nichts fühlen, das war alles. Eine kleine schmunzelnde Sympathiewelle für Krikor von Yoghonoluk, den niemand je zitiert hat und je zitieren wird! Gonzague mußte einen nackten Felsen entlangklettern und über zwei Spalten hinwegsetzen. Schon sah er die vorspringende Nase vor sich, jenseits deren der Abstieg begann. Einen Augenblick stand er still, um zu rasten. Die unermeßliche Tiefe öffnete sich unter ihm: Ob ich nach Suedja komme, gleichgültig, ob ich abstürze, gleichgültig! Es ging ihm durch den Kopf: Zuerst fällt man hart, zuletzt fällt man weich. Wie weit war Juliette schon zurückgeblieben! Als Gonzague wiederum in Gehölz und Buschwerk einbog, fielen knapp hintereinander vier Schüsse und peitschten an ihm vorbei. Er warf sich sofort zu Boden und entsicherte seinen Revolver. Sein Herz klopfte rasend. Die Warnung! Es war eben doch nicht gleichgültig, ob er nach Suedja kam oder nicht. Die suchenden Schritte der Rächer strauchelten an ihm vorbei: Gonzague aber sprang auf, packte einen großen Stein und schleuderte ihn im weiten Bogen hinab. Unten entstand ein eilendes Geknacke und Gepolter. Die Verfolger glaubten dem Opfer auf der Spur zu sein und jagten ihm wieder mehrere Kugeln nach, indes Gonzague davonstürmte und wie im Fluge den Punkt erreichte, wo sich der Berg gegen das Dorf Habaste herabsenkt. Laut atmend blieb er stehn. Es ist besser so. Die armenischen Kugeln hatten den letzten Hauch des Schuldgefühls weggefegt. Er lächelte. Seine Augen unter den stumpf gegeneinandergestellten Brauen waren voll Aufmerksamkeit und kühler Werbung vorwärtsgerichtet.

In denselben Minuten schwebte Juliette unruhig zwischen Ohnmacht und Besinnung. Hatte jemand »ja, schlafe, schlaf nur, Juliette« gesagt? Und wessen Stimme? Und nun? Noch einmal, oder jetzt erst?

»Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«

Sie öffnete die Augen. Das war doch nicht ihr Schlafzimmer. Dreißig Sekunden noch und sie hatte das Zelt erkannt und Gabriel und Iskuhi. Sie konnte die Zunge kaum bewegen. Ihr Gaumen, ihr Rachen waren ohne jedes Gefühl. Die Menschen störten sie in ihrer Einsamkeit. Die Menschen ließen sie nicht in Ruhe. Sie wandte ihren bergschweren Kopf zur Seite:

»Warum laßt ihr denn die Lampe brennen ... Löscht doch aus ... Das Petroleum riecht ... so unangenehm ...«

Juliettens Augen erstarrten. Sie hatten gesucht, was nicht zu finden war. Da wurde ihr auf einmal etwas Fürchterliches ganz bewußt. Sie schien alle ihre Kräfte wieder zu haben und völlig gesund zu sein. Die Decke abwerfend, fuhr sie mit beiden Beinen aus dem Bett und schrie:

»Stephan! ... Wo ist Stephan? ... Stephan soll kommen ...«

Gabriel und Iskuhi zwangen Juliette, die sich verzweifelt wehrte, wieder ins Bett zurück. Gabriel streichelte sie beruhigend und redete ihr zu:

»Du bist krank, Juliette ... Stephan darf nicht zu dir kommen. Es wäre gefährlich für ihn ... Du mußt vernünftig sein!«

Ihr ganzes Leben, Hören und Begreifen lag aber nur in den gellenden Schreien, die sie unaufhörlich ausstieß:

»Stephan ... Stephan ... Wo ...«

Der überbewußte Schreck, der aus der Kranken schrillte, übertrug sich plötzlich auf Gabriel. Er riß den Türvorhang zur Seite und stürzte durch die helle Nacht zum Scheichzelt, wo Stephan sein Nachtlager hatte. Das Zelt war leer. Bagradian zündete ein Licht an. Tot lag das Bett Monsieur Gonzagues da. Sein Inhaber hatte es in der peinlichsten Ordnung zurückgelassen. So glatt und genau sah es aus, als wäre es seit Wochen nicht benützt worden. Nicht so jedoch Stephans Bett, auf dem ein wüstverkommenes Leben herrschte. Die Laken hingen herunter. Auf der Matratze lag der geöffnete Koffer des Jungen, aus dem Kleider, Hemden, Strümpfe in bunter Wirrnis hervorquollen. Die Proviantkiste in der Ecke war aufgebrochen und unachtsam beraubt worden, denn ein paar Sardinenbüchsen blinkten auf der Erde. Der Rucksack Stephans, eine Erwerbung aus der Schweiz, fehlte. Doch auch von Gabriels Sachen war die Thermosflasche, die er erst gestern aufs Tischchen gestellt hatte, unauffindbar verschwunden. Nachdem er den Raum noch einmal genau nach allen Spuren abgesucht hatte, ging er langsam in die Nacht zurück, blieb draußen mit leichtgeneigtem Kopf stehen und dachte nach. Er suchte nach Erklärungen. Wahrscheinlich wieder ein ausbrecherischer Streich, den die verfluchten Bengel ausgeheckt hatten. Alles aber, was an dieser Erklärung gutartig und hoffnungsvoll war, löste sich in seinem tieferen Wissen höhnisch auf. Große Ruhe kam über ihn, wie immer in entscheidenden Stunden. Auf dem Schlafplatz der Dienerschaft fand er nur Kristaphor. Er rief den Verwalter an:

»Kristaphor, auf! Wir müssen Awakian wecken. Vielleicht weiß er etwas. Stephan ist fort.«

Diese Worte wurden ohne Erregung gesprochen. Der bekümmerte Verwalter wunderte sich über die Gelassenheit seines Herrn, nach all dem, was sich zugetragen hatte. Sie nahmen den Weg gegen den Nordsattel, um Samuel Awakian aufzufinden. Eine Sekunde lang drehte sich Gabriel nach Juliettens Zelt unentschlossen um. Dort war alles still geworden. Dann schritt er so rasch vorwärts, daß ihm Kristaphor kaum folgen konnte.


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