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Zweites Kapitel
Die Taten der Knaben

Die vernichtende Niederlage der kriegsstarken Kompanie auf dem Musa Dagh rief im Hükümet von Antiochia die peinlichste Bestürzung hervor. Sie war und blieb ein Schandfleck auf dem türkischen Schilde. Die Macht jeder Militärrasse steht und fällt mit dem magischen Glauben an ihre eigene Unbesiegbarkeit, den sie zu erzeugen versteht. Durch einen unglücklichen Krieg werden derartige Rassen daher oft auf Jahrzehnte zurückgeschleudert, während andere Völker, die sich der reinen Wehrgesinnung weniger vorbehaltlos verschreiben, militärisches Mißgeschick viel leichter und fruchtbarer überstehen. Die schrecklichste Erniedrigung aber bedeutet es für eine kriegerische Oberklasse, durch den »inneren Feind«, durch eine minderwertige, das heißt handels-, handwerks- und bildungsbeflissene Minorität eine blutige Lehre verabfolgt zu erhalten. Damit verkehrt sich für die Waffenstolzen der ganze Lebenssinn, denn die Ehre des Kriegshandwerks gerät bedenklich ins Wanken, wenn eine weiche Intellektrasse die gewerbsmäßigen Helden gewissermaßen im Nebenberuf gründlich verbleut. Dies aber war in dem Gefecht vom vierten August unzweifelhaft der Fall. Recht besehen, übertraf diese Schlappe noch die Ungelegenheiten von Wan und Urfa. Denn dort handelte es sich um sehr volkreiche Armenierstädte, deren Insurrektion im Zeichen des russischen Vormarsches stand. Der verzweifelte Aufruhr von Wan war mit Rücksicht auf den vorrückenden Reichsfeind sogar außenpolitisch mehr als erwünscht, bot er doch vor der Welt die herrlichste Handhabe, das Verbrechen an der armenischen Millet a posteriori überzeugend zu rechtfertigen. Da habt ihr nun den klaren Beweis, daß die Armenier Hochverräter sind und daß wir uns von ihnen befreien müssen. Der Staatsräson ist es niemals darauf angekommen, eine anmutige Volte zwischen Ursache und Wirkung zu schlagen. Das schlechte, jedoch um so denkfaulere Gewissen der Welt, die Presse der jeweiligen Machtgruppen und das durch sie verschnittene Hirn ihrer Leser haben das Ding immer nur so gedreht und verstanden, wie sie es gerade brauchten. Über die Sache von Wan durfte man bestimmten Ortes empört schreiben und empörter lesen: »Die Armenier haben gegen das osmanische Staatsvolk, das sich in schwerem Krieg befindet, die Waffen erhoben und sind zu den Russen übergegangen. Die von Armeniern bewohnten Vilajets müssen daher von diesem Volke durch Deportation befreit werden.« Ähnliches konnte man in den türkischen Verlautbarungen lesen, nicht aber die Umkehrung, welche die Wahrheit enthielt: »Die Armenier von Wan und Urfa haben sich, in Verzweiflung über die längst im Gang befindliche Deportation, gegen die türkische Militärmacht so lange zur Wehr gesetzt, bis sie durch den Einmarsch der Russen erlöst worden sind.«

Was aber, Allah ist groß, konnte man über den Aufstand vom Musa Dagh schreiben und lesen? Er war politisch weit weniger verwertbar, als die Kunde davon gefährlich werden konnte. Es mußten sich nur an verschiedenen Orten, dem Beispiele gehorchend, ein paar Bagradians finden, um das Reich in ernsthafte Schwierigkeiten zu stürzen. Da der Tod über jede armenische Seele beschlossen war, da sich hier und dort noch immer Waffen befanden, so mußte man mit dergleichen Verwicklungen rechnen.

Die Bürger von Antiochia, vor denen man die Schmach vorläufig noch verborgen hielt, sahen das Sitzungszimmer des Kaimakams bis tief in die Nacht hell erleuchtet und ahnten daher Schlimmes. Der Landrat saß der großen Bezirkskonferenz vor, die ungefähr aus vierzehn Herren bestand. Sein aufgeblähter Leib schien bei jedem Atemzug den Sitzungstisch von sich schieben zu wollen. Das leberkranke Gesicht des Kaimakams mit den schwarzbraunen Augensäcken war in dem mattversöhnlichen Petroleumlicht noch gelber als sonst. Die Räte ereiferten sich in weitschweifigen Reden. Er aber schwieg in sorgenvoller Versunkenheit. Die schlaffen glattrasierten Wangen hingen ihm in den weitausgeschnittenen Kragen, und der Fez war über die linke Schläfe gerutscht, ein Zeichen mißgelaunter Schläfrigkeit. Rechts vom Kaimakam saß der Militärkommandant von Antiochia, ein graubärtiger Oberst, ein Bimbaschi alten Stils mit kleinen Augen und roten Kinderwangen, dem man es von weitem ansah, daß er seine Ruhe und Bequemlichkeit mit Heldenmut bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wollte. Neben ihm sein Stellvertreter, ein jüngerer Jüsbaschi, Major von kaum zweiundvierzig Jahren, war sein scharfer Gegensatz, wie es ja bei solchen militärischen Zweigespannen meist üblich ist. Ein schlanker Mann mit ausgemergelten Willenszügen und tiefliegenden Augen, deren verhaltener Blick der Runde hie und da zur Kenntnis brachte: Es ist ein Unglück, daß ich diesen alten Trottel von Oberst mit mir schleppen muß. Ihr kennt mich ja und wißt, daß ich zu allem fähig bin und alles durchführe, was ich mir vornehme. Denn ich gehöre zur Ittihad-Generation. Einer der Zugsoffiziere der geschlagenen Kompanie, der einzige Mülasim, welcher den vierten August überlebt hatte, derselbe, der von Gabriel Bagradian mit seiner Botschaft nackt nach Antakje gesandt worden war, stand vor der Bezirkskonferenz, um Bericht abzulegen. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, daß er zur Rechtfertigung des Unglücks die Verteidigungskraft der Armenier mit den wildesten Farben malte. Es müßten sich ihrer zehn-, ja zwanzigtausend auf den Höhen des Musa Dagh in den stärksten Befestigungen verborgen halten. Auch hätten sie wohl schon seit Jahren so viel Waffen, Munition und Proviant gesammelt, daß sie ohne jede zeitliche Begrenzung Widerstand leisten könnten. Er, der Mülasim, habe mit eigenen Augen zwei eingebaute Maschinengewehre gesehen, die außer der zehnfachen Übermacht den unheilvollen Ausgang entschieden hätten. Der Kaimakam sagte kein Wort, stützte den Kopf in seine rechte Hand und warf einen Blick auf die Kriegskarte des Ottomanischen Reiches, die auf dem Konferenztisch lag, obgleich so große Dinge hier niemand angingen. Die Beamten des Hükümets aber vergnügten sich oft damit, die Fronten mit Fähnchen auszustecken. Trotz der wohlwollenden Künste der Beamten sah das Zukunftsbild nicht rosig aus. Die Fähnchen rückten immer weiter ins türkische Fleisch vor. Die Kriegslage unter Enver Paschas Führung rechtfertigte seinen Ruhm nicht. Die Kaukasusarmee, die besten Korps, bedeckten als unbegrabene Skelettfelder die Pässe und Täler des weglosen Gebirges. Die Russen aber standen schon an der Grenze Persiens, mit dem Gesicht gegen Mossul, und jagten Djewded Pascha, den bekannten Massakergeneral und Schwager Envers, vor sich her. Die Engländer mit ihren Hindus und Gurkhas bedrängten Mesopotamien. Die großartige Suez-Expedition Dschemals war im wahrsten Sinne des Wortes im Sande verlaufen. Der Wüstensand hatte Männer und Material verschluckt. Währenddessen aber drückten die Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli, von den Riesengeschützen ihrer Flotten unterstützt, fast schon die Tore Stambuls ein. Unendliche Mengen von Mordmitteln und anderem Kriegsgerät waren bei all diesen Gelegenheiten bereits vergeudet worden. Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig. Diese Erzeugungszentralen des Todes konnten die ihnen näherstehende Kundschaft und deren unermeßlichen Verbrauch kaum mehr kulant bedienen. Nur spärlich tröpfelte von der Riesenmasse der täglich erzeugten Kanonen, Haubitzen, Mörser, Maschinengewehre, Hand- und Gasgranaten ein Bruchteil für die Türkei ab, mußte aber dann mit möglichster Eile an die verschiedenen Fronten befördert werden. Daher kam es, daß die riesigen Etappengebiete des Reiches nicht nur von Mannschaften, sondern auch von Waffen und Gerät in hohem Grade entblößt waren. Vielleicht stand es im Etappenbereich der Vierten Armee, in Syrien, deshalb am schlimmsten, weil Dschemal Pascha seine zweite Suez-Expedition vorbereitete und alle verfügbaren Kräfte langsam in Palästina zusammenzog. Jedenfalls trafen aus Damaskus und Jerusalem unausgesetzt dringende Anforderungen von Männern, Kriegsmitteln und Proviant in den syrischen Städten ein. Maschinengewehre gar waren unerschwingliche Träume. Als der Kaimakam dieses Wort aus dem Munde des armen Mülasims hörte, sah er ihn mit seinen schweren Augen geistesabwesend an und murmelte versunken: »Maschinengewehre?!«

Der alte gutmütige Bimbaschi mit den roten Kinderwangen setzte seine Brille auf, obgleich nichts zu verlesen war. Vielleicht wollte er damit nur zeigen, daß er der Weitsichtigste unter allen war:

»Das Unglück ist wegen eurer Dummheit und eures Leichtsinns geschehn«, nickte er dem Mülasim zu, »denn das Reglement befiehlt, daß man eine feindliche Stellung vor dem Angriff auskundschafte. Nun aber, da die Sache so schlimm ausgefallen ist, frage ich den Kaimakam: Was willst du haben? Sollen noch mehr unserer Leute geopfert werden? Oder sollen wir diese Verfluchten auf ihrem Berge ruhig verkommen lassen? Was schaden sie uns? Die Deportation ist euer Geschäft, nicht unsres. Werdet ihr Zivilisten damit fertig! Wenn sie wirklich zehntausend Bewaffnete haben und mehr ...«

Der rothaarige Müdir hob, sich zum Worte meldend, die Hand:

»Sie haben nicht fünfhundert, nein, nicht dreihundert Bewaffnete. Ich muß es wissen, da ich die Nahijeh verwalte und in den Dörfern war ...«

Der Bimbaschi nahm seine Brille so zwecklos von der Nase, wie er sie vorhin aufgesetzt hatte:

»Am besten ist es, wir machen einen Strich unter die Angelegenheit. Die Verfluchten haben sich selbst deportiert. Was wollt ihr noch mehr? Es leben allerlei Leute an der Küste, Griechen, Araber. Soll ich vor ihnen einen lächerlichen Krieg aufführen? Wenn ich alle detachierten Garnisonen der ganzen Kasah zusammenkratze, bekomme ich keine vier regulären Kompanien auf die Beine. Und die Tschettehs, die Kurden und andre Halunken, die ich holen könnte, würden nicht nur über die Armenier, sondern auch über euch kommen. Drum glaubet mir: Am klügsten ist es, zu schweigen.«

Der verbissene Jüsbaschi mit den tiefliegenden Augen hatte seit einer Stunde schon eine Zigarette nach der anderen geraucht, ohne ein Wort zu sprechen. Jetzt erhob er sich und machte respektvoll gegen seinen Vorgesetzten Front:

»Bimbaschi Effendi, erlaube, daß ich mich gehorsamst über deine Worte verwundere. Wie können wir denn dieses schwere Unglück verheimlichen, in dem ein Kompaniekommandant, drei Offiziere und an die hundert Mann ermordet worden sind? Es ist schon ein unverzeihliches Versäumnis, daß wir einige Stunden mit der Meldung gezögert haben. Ich werde auch gleich nach dieser Konferenz und auf deinen Befehl den Rapport an das Generalkommando verfassen.«

Der Bimbaschi klappte zusammen. Seine Wangen wurden noch röter. Erstens, weil der Major recht hatte, er hatte immer recht, und zweitens, weil er ein Satan war. Der Kaimakam aber schien jetzt erst aus seiner Gedankenverlorenheit zu erwachen:

»Ich will die Geschichte im eigenen Wirkungsbereich liquidieren.«

Das war der vorsichtig bürokratische Ausdruck für einen verwickelten Entschluß, in dem die Angst vor dem Wali von Aleppo eine große Rolle spielte. Tägliche Erlässe forderten eine schlagartige und restlose Durchführung der Deportation. Der Widerstand der sieben Gemeinden konnte dem Kaimakam den Kragen brechen, denn er bedeutete sowohl mangelhafte Entwaffnung als auch lässige Aufsicht. Erhielt der Wali einen ungeschminkten Bericht über den Vorfall, hatte der Kaimakam von ihm und Ittihad das Schlimmste zu befürchten. Die Meldung mußte daher eine glimpfliche und verwischte Form erhalten. Der alte Oberst hakte ein:

»Wie willst du sie liquidieren, wenn deine Saptiehs auf den Transporten sind und die Soldaten an der Front?« Er kniff die Augen ein und sandte dem Major einen knirschenden Blick: »Dir aber befehle ich, Jüsbaschi, daß du in dem Rapport an das Generalkommando vier Bataillone und eine Gebirgsbatterie forderst, denn ohne Truppen und Artillerie können wir einen großen Berg nicht belagern.«

Der Jüsbaschi tat, als bemerke er die Wut des Alten nicht:

»Bimbaschi Effendi, ich habe deinen Befehl verstanden. Seine Exzellenz General Dschemal Pascha läßt sich jede Angelegenheit persönlich vortragen. Du kannst sicher sein, daß er dich unterstützen wird; die Armenierverschickung ist ja ein Werk seiner Freunde. Er wird es nicht dulden, daß ein paar lumpige Christenbauern ihr Spiel mit dir treiben.«

Bei Nennung des großen Namens wurden unter den Räten die verschiedensten Ansichten laut. Einer der jüngeren Müdirs verstieg sich sogar zu der Behauptung, Dschemal Pascha sei trotz seiner bekannten Rolle in der Regierung, was die Armenier anbetrifft, nicht ganz zuverlässig und habe sogar mit ihnen in Adana paktiert. Der Kaimakam, der wieder von seinem Halbschlaf befallen zu sein schien, hatte indessen seine Entscheidungen getroffen. Er mußte sich mit dem stärksten Mann, dem Major, verbünden und zu diesem Zwecke den alten Bimbaschi dem Verderben überliefern. Der Sündenbock war jedenfalls gefunden, wenn auch ein geduldig langsames Vorgehen geboten schien. Der Kaimakam gähnte tief auf und klopfte mit dem Elfenbeinknopf seines Stockes auf den Tisch:

»Ich hebe die Sitzung auf und bitte den Jüsbaschi, noch eine Weile bei mir zu bleiben, damit wir uns über unsere Berichte an die Zivil- und Militärbehörde gegenseitig verständigen. Bimbaschi Effendi, ich werde dir auch den meinen zur Billigung vorlegen.«

Am nächsten Morgen gingen zwei lange und gewundene Rapporte ab. Die scharfen Rückäußerungen trafen erst nach fünf Tagen ein. Der Musa Dagh habe, so lauteten die Befehle, mit den vorhandenen Mitteln und unter allen Umständen unverzüglich geräumt zu werden. Das einzige Zugeständnis an den Bimbaschi bestand aus zwei 10-cm-Feldhaubitzen, die sich auf dem Wege von Hama nach Aleppo befanden und nach Antakje umbeordert wurden. Die Geschütze trafen am siebenten Tag, das war der zwölfte August, am Bestimmungsorte ein. Ihre Bemannung setzte sich aus einem blutjungen Leutnant, drei Unteroffizieren, zwölf alten Reservekanonieren und ein paar schmutzigen Fuhrknechten zusammen. Haubitzen dieser Art ließen sich im Gebirge nur unter großen Schwierigkeiten verwenden.

In gewisser Hinsicht hatte es Stephan schwerer als sein Vater, den ja noch Kindheitserinnerungen mit dem Musa Dagh verbanden. Der Knabe aber war in Europa aufgewachsen, unter den Schulkindern Frankreichs, und kannte bis zur Ankunft in Yoghonoluk von seinem Volke nur diejenigen Personen, welche als Onkel, Tanten und sonstige Verwandte und Freunde das Ehepaar Bagradian in Paris, in der Schweiz und Stambul besucht hatten. Dies waren Leute, die genau so aussahen wie alle anderen Europäer und sich mit Stephan in einem ganz unauffälligen Französisch unterhielten. Um so verwundernswerter muß deshalb die große Verwandlung berühren, die sich an dem Knaben seit dem Tage vollzogen hatte, da er das erstemal in Herrn Hapeth Schatakhians Schulklasse getreten war. Binnen so kurzer Zeit schienen von Stephan die vierzehn Jahre Europa, sein ganzes Leben also, wie weggewaschen zu sein. Er sank, wenn man es so nennen darf, in sein Volk zurück, und dies zehnfach tiefer und gründlicher als sein Vater. (Verwunderlich bleibt auch der Gedanke, daß dieses Kind, wäre es nicht durch ein geheimnisvolles Schicksal nach Syrien verschlagen worden, wahrscheinlich niemals von seiner Blutzugehörigkeit etwas Lebendiges erfahren hätte und dadurch auch nichts von seinem innersten Selbst.) Bei Gabriel Bagradian lagen die Dinge anders. Seine Neuverwurzelung war ein Akt der Not und des Willens. Es mußte sein. Ihn trieb die Macht der Tatsachen und noch eine andre Macht, die hinter ihnen stand. Und doch, viel näher seiner Blutsheimat, war er von ihr dennoch viel weiter entfernt als der entferntere Stephan. Schon durch seine Ehe stand er zwischen den Rassen. Anfangs war es ihm gewissermaßen »taktlos« vorgekommen, als Fremder den Bodenständigen sein Rettungswerk aufzudrängen. Vielleicht lag darin eine Ursache jener feierlichen und doch gebrochenen Empfindung, die ihn nach dem Siege vom vierten August eigentümlich erfüllt hatte. Nicht so Stephan. Obgleich doppelten Blutes, schien der Anteil seiner Mutter in ihm ziemlich machtlos zu sein. Juliettens weibliche Einwirkung auf ihren Gatten spielte eine weit größere Rolle in Gabriels Natur als ihre mütterliche Teilhabe in der Natur Stephans. Man hätte oft meinen können, der Vater sei der durch hochgespannte Blutmischung Zerrissene und nicht der Sohn. Bei Stephan entwickelte sich alles sehr einfach. Er war zum orientalischen Armenierjungen geworden, zu dem, was alle anderen Mitschüler um ihn herum waren. Der Grund? Er hätte sich anders unter ihnen nicht behaupten können. Dieser zugleich gravitätischen, zugleich affenhaft geschmeidigen Jugend flößten nämlich weder die Manieren noch die Kenntnisse des feinerzogenen Stephan die geringste Achtung ein. Da half das beste Französisch nicht im Mündlichen und nicht im Schriftlichen, da halfen keine noch so schön auswendig gelernten Fabeln von Lafontaine und Gedichte von Victor Hugo, da half die verläßlichste geographische Wissenschaft ebensowenig. Was letztere anbelangt, so hatten die Buben und Mädel von Yoghonoluk ihre eigene Auffassung; sie legten überhaupt den selbstbewußten Volksvers vom »gebildeten Kind« auf sonderliche Art aus. Erzählte ihnen Stephan von den abendländischen Städten, so lachten sie ihn als einen ungeschickten Märchenerzähler aus, so wie sie ihn auslachten, wenn er seine Schulbücher unterm Arm trug anstatt auf dem Kopfe nach altem Brauch, der ihnen der einzig erlaubte schien. Schließlich tragen die Frauen, wenn sie vom Brunnen kommen, den Krug auch nicht unter der Achselhöhle, sondern schön auf Kopf oder Schulter. Was für vernagelte Köpfe müssen diese Europäer haben. Bei solchen Gelegenheiten bekam Stephan weise Sprichworte aus dem Volksschatz zu hören:

»Ihr gebt wohl den Kamelen das Wasser mit dem Löffel ein?«

Ganz im Gegensatz zu den Intellektuellen von der Sorte Schatakhians, die vor jeder westlichen Errungenschaft und vor dem Wonnehauch europäischer Ästhetik (Juliette) in Ehrfurcht vergingen, war die rauhe Dorfjugend des Musa Dagh von der Überlegenheit, ja dem ausschließlichen Höchstwerte der heimischen Lebensweise restlos durchdrungen, über den Vorzug von Daseinsformen läßt sich immer streiten. Dem einen tut das Hocken weh, dem andern das Sitzen. Der Glaube an die Höher- oder Minderwertigkeit solcher Formen wird nicht durch ihren absoluten Rang bestimmt – den gibt es nicht –, sondern durch die Diktatur der Umwelt. Stephans Umwelt erklärte schon in der ersten Schulstunde seinen englischen Anzug, den breiten Kragen, Manschetten, Strümpfe, Schnürstiefel für eine nicht nur närrische, sondern geradezu herausfordernde Bekleidungsart. Wäre Stephan ein verzärtelter Weichling gewesen, er hätte Papa sofort gebeten, ihm den Schulbesuch zu erlassen. Er aber nahm den Kampf auf. Man weiß ja schon, daß er seiner Mutter nach einem mehrtägigen Streit die Erlaubnis abgetrotzt hatte, die bodenständige Tracht sich anschaffen zu dürfen. Bald stolzierte auch er mit Schalwar-Hosen, dem Entari-Rock und der Aghil-Schärpe bekleidet über den Kirchplatz von Yoghonoluk. Seine Füße steckten nicht mehr in Schnürstiefeln, sondern in Pantoffeln. Juliette war entsetzt. Doch in Iskuhi erstand dem Jungen eine Helferin: »Warum soll er diese Kleider nicht haben?« fragte sie. »Sind sie denn weniger schön als die europäischen?« Juliette aber sah ihren Sohn mit abweisenden Augen an: »Er kommt mir vor wie aus einer Maskenleihanstalt kostümiert.« In den neuen Kleidern glich Stephan, der ein hübscher Junge war, den schönen Prinzen auf alten persischen Miniaturen. Juliette empfand es, doch sie empfand ebensosehr, daß dieser Prinz mit ihrem Kinde nichts mehr zu tun habe. Zwischen ihr und Stephan wurde ein Abkommen getroffen: Er durfte »kostümiert« zur Schule gehen, mußte aber zu Hause »normal« gekleidet sein. Nach der Flucht auf den Damlajik aber wurde dieser Vertrag hinfällig, weil es ja kein »zu Hause« und deshalb kein »normal« mehr gab. Von Stund an trug Stephan überhaupt nur mehr Entari und Schalwar. Übrigens bekam ihn Juliette nur selten auf dem Dreizeltplatz zu sehen, meist nur beim Mittagessen und vor dem Schlafengehen. Sooft er sich zeigte, war er erregt, verschwitzt und ungeduldig. Die Mutter hatte allen Einfluß auf ihn verloren. Es war, als habe er niemals ein zivilisiertes Leben kennengelernt. Juliette konnte sich oft kaum mit ihm verständigen.

Ja, Stephan war verwandelt. Doch wieviel Mühe diese Rückverwandlung ins Primitive ihn gekostet hatte, das wußte niemand. Er besaß nun die gleichen Gewänder wie die anderen. Diese Gewänder aber waren anfangs schmachvoll rein und ohne Riß. Die Sauberkeit war eine Schwäche – dies erkannte er –, deren Sitz in ihm selbst lag. Er konnte ein beklemmendes Gefühl nicht loswerden, wenn er schmutzige Hände und Füße, schwarze Nägel und ungekämmte Haare hatte. Als er eines Tages, noch in Yoghonoluk, sich Kopfläuse zugezogen, wand Mama mit angeekelten Händen ein petroleumgetränktes Handtuch um sein Haar, und er fühlte sich tief unglücklich. Stephan war der Dorfjugend gegenüber ständig im Nachteil. Seine Füße zum Beispiel blieben zart und weiß, wieviel Mühe er sich auch gab, mit ihnen in Staub, Schmutz, Schlamm umherzuwaten und sie allen möglichen Klettergefahren auszusetzen. Das einzige, was er erreichte, war Sonnenbrand, Blasen und Schrammen, die ihm außer heftigen Schmerzen auch noch Hausarrest zuzogen. Wie beneidete er die unverwundbaren Füße seiner Kameraden, braune dürre Tiertatzen, ihm unendlich überlegen. Bitter mußte Stephan leiden, ehe er sich durchsetzen konnte. All diese Haiks und Hagops, diese Anahids und Sonas sahen in ihm die längste Zeit nur einen Parvenü der Verwilderung. Geht es nämlich um Macht- und Gleichberechtigungsfragen, dann entwickeln selbst einfache Naturkinder den gehässigen Kastengeist eines bevorzugten Standes. Die Dorfjungen ließen Stephan fühlen, daß er nicht ihresgleichen sei und daß sein strahlendes Vaterhaus samt Herrn Awakian und dem Dienertroß ihnen nicht genug Achtung einflöße, um ihm »Echtheit« zuzuerkennen. Was hatte nun Stephan, der sonderbare Streber, in diesem Ringen einzusetzen? Ehrgeiz, Energie, die sich oft gegen seinen eigenen Körper richtete, und noch eine wichtige Eigenschaft dazu, die der Bauernjugend abging. Selbst Haik, über vierzehn Jahre schon, hoch aufgeschossen und muskelstark, das unbestreitbare Haupt der Bande, besaß das gesammelte, planende und folgerichtige Denken nicht, das Stephan aus Europa mitgebracht hatte. Diese orientalischen Kinder vergaßen ihre Pläne meist schon vor der Ausführung, sie wurden von ihren kurzatmigen Einfällen, von ihrer dumpfen Triebhaftigkeit herumgewirbelt wie Laub im Wind. Sah man ihnen nach der Schulzeit zu, so glichen sie einem erregten Tierrudel, das, sinnlos und unbekannten Regungen folgend, bald hierher stürmt, bald dorthin, ohne jedes ersichtliche Ziel. Wenn sie sich wie ein Vogelschwarm zu unbewachter Stunde auf die weiten Obstgärten niederließen, so konnte das noch als ein zweckhaftes Unternehmen gelten, weit öfter jedoch strichen sie, wie vom Dämon besessen, ins Bergdickicht oder zu einem seichten Tümpel oder auf ein Feld hinaus und begannen sich zu wälzen und zu suhlen. Diese Streifzüge endeten oft mit einer religiösen oder besser mit einer heidnischen Kultzeremonie, deren sie sich selbstverständlich nicht bewußt waren. Es begann damit, daß sie eine Runde bildeten, sich umfaßten, erst leise summend die Köpfe wiegten, dann ihre Stimmen und rhythmischen Bewegungen immer höher steigerten, bis alle zuletzt in einen heulenden Taumel sondergleichen gerieten. Auf manche unter ihnen wirkte diese Zeremonie so stark, daß sie die Augen verdrehten und Schaum vor dem Mund hatten. Sie übten damit in ihrer Einfalt nichts anderes als den altbekannten Versuch gewisser Derwischorden, sich durch epileptische Ichüberwindung mit den planetarischen Urkräften in geheimen Zusammenhang zu setzen. Von Erwachsenen hatten sie Ähnliches niemals gesehen, aber das Bedürfnis nach solchen Übersteigerungen lag in der Luft dieses Landes. Stephan, der Europäer, stand natürlich während derartiger Ekstasen hilflos abseits. Doch auch der große bedächtige Haik beteiligte sich an diesen Ausbrüchen nicht, vielleicht deshalb, weil er sich all jener Kräfte bis zum Rande voll wußte, welche die anderen durch ihr Gewiege und Geheule in sich hineinsoffen. In anderen Stunden wiederum gelang es Stephan, planvolle Unternehmungen zu veranstalten, und siehe da, nach einigen Erfolgen in dieser Richtung hatte er sich allgemach ein Ansehen errungen. Die volle Obmacht über seine Altersgenossen konnte er nicht an sich reißen. Eine Kraft fehlte ihm und mußte ihm fehlen, und zwar jene Kraft, welche das Leben dieser Jugend am mächtigsten beherrschte: hellsichtige Naturverschwisterung, die sich mit Worten gar nicht ausdrücken läßt. Wie ein guter Schwimmer in den Fluten liegen, sitzen, stehen, gehen, tanzen kann und mit unbeschreiblicher Körperfreude »in seinem Element ist«, so waren die Kinder des Musa Dagh im Umkreis des Berges unbeschreiblich in ihrem Element. Sie waren durchwoben von der Natur ringsum. Diese Natur war ihnen so eingefleischt, daß es kein Außen und Innen mehr gab. Jedes Blatt, das sich im Wind bewegte, jede Frucht, die vom Baume fiel, das Rascheln einer Eidechse, das Zirpen eines weit entfernten Wässerchens, all diese Tausendfalt wurde von ihren Sinnen nicht gespiegelt, sondern begab sich unmittelbar in diesen Sinnen, als sei jedes von ihnen ein kleiner Musa Dagh in Person, der alles aus sich selbst hervorbringe. Ihre Körper waren wie Brieftauben, die durch einen übermenschlichen Orientierungssinn sich nie verirren können. Ihre Körper waren wie dünne, schmiegsame Wünschelruten, die über allen verborgenen Erdschätzen zuckenden Ausschlag geben. Mit ihnen verglichen, besaß der Knabe Stephan, der allzulange das tote Pflaster getreten hatte, einen zwar geschickten und ehrgeizigen, aber stumpfen Körper.

Als dann das Volk auf dem Damlajik sein Lager aufschlug, als die leeren Streifzüge aufhören mußten und von der Jugend Disziplin und zielvolle Tätigkeit gefordert wurde, da wuchs das Ansehen Stephans immer höher, nicht zuletzt durch den kriegerischen Führerrang seines Vaters, der auf ihn abglänzte. Die Kohorte der Halbwüchsigen bestand aus Burschen zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Die wenigen Mädchen darunter waren keines über elf Jahre, da in jenen Gegenden die weiblichen Zwölfjährigen schon als reif gelten. Auch für die größeren Burschen sollte auf Ter Haigasuns Geheiß in den dienstfreien Stunden Schule gehalten werden. Es kam aber nie dazu, da die Lehrer, die entweder in den Stellungen oder in der Lagerverwaltung beschäftigt waren, keine Zeit hatten oder sich vom Unterricht drückten, den sie für gänzlich überflüssig hielten. Wenn man von Hapeth Schatakhian absieht, der den Befehl über die Spähergruppe führte, und von Samuel Awakian, der den Dienst der Ordonnanzen einteilte, so hatten die dreihundert und mehr Jungen, aus denen die leichte Truppe bestand, fast keine Oberaufsicht und blieben den größten Teil des Tages sich selbst überlassen. Es bildete sich daher aus den kräftigsten und verwegensten Gesellen eine freie Bande, die sich die Zeit auf eigene Faust vertrieb. Dies waren etwa fünfundzwanzig oder dreißig Burschen, die sich durch Hochmut und Tatendurst aus der breiten Plebs heraushoben. Sie trieben sich auf der Hochfläche des Damlajik herum und machten jede Kuppe, Schrunde und Schlucht unsicher. Sie wagten es auch, ihre Spiele bis in die Stellungen vorzutragen und die unter Nurhan Elleons Fuchtel übenden Zehnerschaften durch ihr neugieriges Herumlungern zu erbittern. Man verbot ihnen das unnütze Schweifen. Da wurden sie frech und verlegten ihre Tätigkeit auf das Gelände außerhalb des Verteidigungskreises, auf die Höhen jenseits des Sattels, auf den talzugekehrten Bergabhang, in die Felsenritzen und Wasserrinnen der Küstenseite. Eine Grenzübertretung der Stellungen galt auf dem Damlajik als ein Verbrechen. Die Bande aber wußte ihre Fürwitzigkeit so zu verschleiern, daß sie unentdeckt blieb. Stephan und Haik gehörten dazu, das war klar. Doch auch Sato hatte sich eingeschlichen und man konnte sie nicht loswerden. Obgleich die Familie Bagradian dem ortsfremden Bastard in ihrem Hause Zuflucht gewährt hatte, duldete ihn das Volk nur ungern im Kreise der Kinder. Deshalb war Sato völlig von der Laune der Horde abhängig. Einmal wurde sie verprügelt, das andre Mal erlaubte man ihr, mitzuhalten. Wie überall, so auch hier, hielt sie sich nur am Rande auf. Wenn die Schar über Stock und Stein jagte, lief sie mit, doch niemals dicht unter den andern, sondern immer ein gutes Stück abseits. Hockte aber die Bande in der Steineichenschlucht beisammen oder an irgendeinem anderen unerlaubten Ort außerhalb der Befestigungen, wurde geprahlt, Neues ersonnen oder nur nach gewohnter Art in wildschaukelnden Körperbewegungen das Dasein gesteigert, dann schauten Satos durstige Augen aus ihrer Einsamkeit herüber. Die Ewig-Abseitige mischte ihre gaumige Stimme in den Chor und ahmte auf ihrem Platz das tolle Körperschaukeln der Gemeinschaft nach.

In diesem Kreise gab es außer Sato noch einen Geschlagenen. Er hieß Hagop, und Stephan beschützte ihn. Hagops rechter Fuß war vor einigen Jahren in Antakje vom dortigen Militärarzt amputiert worden. Nun hüpfte der Junge an einer rohen Krücke umher: nur ein Stock mit einem Querholz drüber. Aber trotz dieser unzulänglichen Stütze bewegte sich Hagop mit einem leidenschaftlichen Ungestüm, mit einer wilden Gelenkigkeit, wie man sie gerade an Krüppeln oft beobachten kann. Er wollte den Zweibeinigen nicht nachstehen, und wenn er ihnen bei ihren Sturmläufen folgte, so maß der Abstand zwischen ihm und dem letzten keine Handbreit. Hagop stammte aus guter Familie und war mit den Tomasians verwandt. Er hatte nachdenkliche Augen und, was hierzulande eine große Seltenheit war, goldblondes Haar. Er las mit großem Eifer, was er zu Hause an Kalendergeschichten und ähnlichen Drucksorten vorfand. In Yoghonoluk hatte er sich von Stephan Bücher ausgeliehen. Er besaß den Ruf eines fleißigen Lerners, was trotz Apotheker Krikors erhabenem Vorbild und der bildungsfreundlichen Volkspoesie keine besondere Empfehlung in der Knabenhorde bildete. Ein Bücherwurm zu sein, war aber gar nicht Hagops Ehrgeiz. Er wollte rennen, spielen, klettern, raufen und, seitdem man im Kriege stand, die wichtigen Pflichten eines Meldeläufers, Spähers und Schleichpostens so gut erfüllen wie ein anderer. Stephan, der sich schon wegen seiner blonden Haare zu ihm hingezogen fühlte, förderte ihn, und nicht nur aus Mitleid. Haik jedoch stand Hagops Ehrgeiz hart im Wege. Ohne die geringste sentimentale Nachsicht ließ er ihn stets fühlen, daß ein Krüppel nicht in Betracht komme.

Haik war ein Fall für sich. Er verkörperte mit seinen vierzehneinhalb Jahren schon völlig das finstere Wesen des erwachsenen Bergarmeniers. In seiner nervichten Magerkeit, in dem langsamen, vornübergeneigten Gang, in dem schweren Herabhängen seiner großen Hände zeigte sich der herrische Hochmut einer fest in sich beruhenden Urrasse, der ihn von den meisten Mitgliedern des Knabenrudels mit ihrer jähen östlichen Körperunrast deutlich unterschied. Mag der Armenier in den Städten seiner Diaspora dem verschlagenen Ulyß gleichen – nicht grundlos verschmilzt die Odyssee List und Heimatlosigkeit im Charakter ihres Helden –, der Kern- und Hocharmenier in den Bergen ist unduldsam und hochfahrend. Diese verletzenden Eigenschaften setzt er mitsamt seinem großen Betätigungsdrang der beschaulichen und trägen Würde der Türken entgegen. Aus dem Zusammenstoß solcher Grundcharaktere läßt sich vieles erklären. Die Familie Haiks stammte aus dem Norden, aus dem Dokhus-Bunar-Gebirge, das schon in der Nähe der georgischen Grenze liegt. Seine Mutter, die Witwe Schuschik, war vor vierzehn Jahren mit dem Säugling eingewandert und hatte zwischen Yoghonoluk und Azir, außerhalb beider Ortschaften, ein Haus mit Obstgarten und Raupenzucht erworben, wo sie ganz allein ohne die geringste Hilfe wirtschaftete. Witwe Schuschik, eine blauäugige Riesin, war durchaus nicht beliebt, ja beinahe furchtsam gemieden. Obgleich sie so lange Jahre schon am Musa Dagh lebte, galt sie noch immer als Ortsfremde, denn das Volk von Yoghonoluk war, was die Einschmelzung Zugewanderter anbelangt, äußerst spröde. Fremde waren immer verdächtig und in sagenhafte Gerüchte eingehüllt. Von Witwe Schuschik ging die Sage, sie habe einst irgendeinen Frechling, der Ungehöriges von ihr begehrte, ohne viel Umstände mit ihren gewaltigen Arbeiterhänden erdrosselt. Mochte dies nun wahr sein oder erfunden, der Knabe Haik war jedenfalls der Leibes- und Seelenerbe ihrer muskelharten Gestalt und ihres abweisend düsteren Wesens.

Hochmütige Menschen verringern stets das Selbstgefühl der andern. Haik verringerte ständig Stephans Selbstgefühl. Er war schuld daran, daß der junge Bagradian sich immer neue Kraftbeweise abzwang, um »echt« zu werden. Der Wunsch, den finster skeptischen Haik von sich zu überzeugen, nahm, wie es bei feurigen Naturen dieses Alters die Regel ist, bitter quälende Formen an. Lehrer Schatakhian, der Höchstkommandierende der Jugendkohorte, rückte Stephan nicht nur in den Vordergrund, er machte ihm, dem Sohne Madame Juliettens, dem kleinen Franzosen, dem Kulturträger unter Wilden, auf alle erdenkliche Art den Hof. Er nannte ihn nicht anders als Monsieur Stephan, während er die andern mit rüden Beiworten bedachte. Er überließ ihm die Auswahl der zu leistenden Pflichten und schaltete ihn überall dort aus, wo die leiseste Gefahr zu vermuten war. Auch Samuel Awakian, sein alter Hofmeister, behielt ihn bei jeder Gelegenheit im Auge, um den Zögling vor dummen Streichen und Unheil zu bewahren. All diese Fürsorge wichtiger Persönlichkeiten beschämte Stephan, sie erniedrigte ihn vor Haiks Angesicht zu einem verweichlichten Herrensöhnchen und stellte seine schwererrungene Echtheit und Härte immer wieder in Frage. Das Ärgste aber war, diese Bevorzugung machte Haik immer noch überheblicher, denn Schuschiks Sohn ging der Wahrheit auf den Grund, und seine erkennenden Augen ließen sich durch leere Gesten nicht betrügen. Wenn Stephan jetzt, von innerer Anspannung schlaflos, sich auf seinem Bette im Scheichzelt wälzte, arbeitete sein aufgewühltes Hirn: Gott, was kann ich nur tun, um es dem Haik zu zeigen!

Dabei aber war der Kampf um Haik nur eine Front des Krieges, den die ehrgeizige Seele des Bagradiansohnes für ihren Ruhm führte.

Zu dieser Zeit, es war der neunte Tag des Musa Dagh, begann sich im Lager der Mangel an Brot und Früchten, der fast ungemischte Fleischgenuß vorerst noch leise, aber doch schon unangenehm fühlbar zu machen. Die herrliche Harisa war nach dem Siegesfest am fünften Tage zu Ende gegangen; die Tonirs standen leer, denn der Führerrat hatte für eine Woche die Verteilung der geretteten Mehlreste eingestellt. Man vergrößerte die Fleischration, ohne das Mißbehagen dadurch beseitigen zu können. Nach einem strengen Erlaß war die Milchausgabe derart geregelt, daß lediglich die Kranken, Schwachen und Kinder bis zu zehn Jahren die mager fließende Ziegen- und Schafmilch erhielten und nur ein unbeträchtlicher Teil für die Butter- und Käsebereitung übrigblieb. Alles schimpfte auf die Gemeinwirtschaft und tatsächlich nach einem unbegreiflichen Gesetz schien diese summarische Verwaltungsart das allgemeine Gut zu verringern und zu verschlechtern, anstatt es zu sparen. Obgleich Juliette, seitdem sie bei Doktor Altouni arbeitete, eine große Menge ihrer Vorräte, Konserven, Zucker, Tee, Reis, dem Lazarettschuppen zur Verfügung gestellt hatte, besaß sie noch hinreichend viel Zwieback und Teegebäck, um sich und ihrer Umgebung über das fehlende Brot hinwegzuhelfen. Stephan bekam noch nicht die geringste Entbehrung zu spüren. Haik hingegen hatte sich schon über das ewige zähe Schaffleisch beklagt, das, nicht abgelegen, auf dem Feuer kaum gargebraten, halb blutig noch, ohne jede Zutat hinuntergeschlungen werden mußte. »Hätte man wenigstens ein paar Aprikosen und Feigen«, seufzte er gierig. Stephan sah die weiten Obstgärten vor sich, die den Fuß des Musa Dagh bedecken. Er sagte vorläufig nichts.

Der Tagesdienst der Jugendkohorte war weitverzweigt. Bei allen dreizehn Stellungen mußte immer ein Posten der Ordonnanzgruppe bereit sein, ebenso bei den zahlreichen Beobachtungsständen. Lehrer Schatakhian inspizierte seine Truppe täglich und veranstaltete zu überraschender Zeit Probealarm. Selbständige Unternehmungen größeren Formats konnten daher nur unter dem Schutze der Nacht durchgeführt werden, wenn man von Pflichten frei war und nicht beobachtet wurde. Noch im Laufe dieses neunten Tages entwickelte Stephan dem unnahbaren Haik seinen Plan, der verwunderlicherweise einem Fremden und keinem Einheimischen eingefallen war. Seit dem Aufbruch hatten sich zwar ein paar mutige Leute noch zwei- oder dreimal ins Tal gewagt, um die Vorräte zu ergänzen, waren aber stets unverrichteterdinge zurückgekehrt, da in den Dörfern bei Tag und Nacht starke Gendarmerieposten patrouillierten. Stephans Plan ging dahin, durch einen nächtlichen Streifzug der Kohorte in die Obstgärten dem allgemeinen Notstand abzuhelfen. Haik sah seinen ehrgeizigen Nebenbuhler gemessen an, wie ein reifer Künstler einen vordringlichen Anfänger betrachtet, der von den Schwierigkeiten seines Vorhabens wenig ahnt. Dann aber nahm er die Organisation des heimlichen Ausfalls selbst in die Hand und stellte die Raubgruppe zusammen. Stephan hatte natürlich große Angst, daß Papa von seiner Teilnahme an dem Abenteuer erfahren und ihm daraufhin die Freiheit empfindlich beschneiden könnte. Er gestand auch diese seine Besorgnis. Haik aber, der schon vergessen zu haben schien, daß der ganze Plan nicht sein Eigentum war, erwiderte in dem unleidlichen Ton, den er so meisterhaft beherrschte:

»Wenn du dich fürchtest, kannst du ja oben bleiben. Das ist viel besser für dich.«

Diese Worte trafen Stephan ins Herz, und er gelobte sich, keinen Gedanken mehr den Sorgen seiner Eltern zu widmen. Der Beutezug wurde noch in derselben Nacht ins Werk gesetzt. Etwa neunzig Burschen stahlen an Säcken, Butten, Tragkörben zusammen, was sich nur vorfand. Um zehn Uhr nachts, als die Feuer schon erloschen waren und alles sich schlafen gelegt hatte, schlichen sie sich in kleinen Gruppen aus dem Lager und an den Wachtposten vorbei über die schützende Grenze. In langen Sätzen stürmten sie den Berg hinab und erreichten, wie vom Winde getragen, in dreiviertel Stunden schon die ersten Gärten. Bis ein Uhr pflückten sie unterm Licht einer zarten Mondsichel die Früchte, Aprikosen, Feigen, Orangen, wie Rasende. Auch Stephan bewies dabei gelegentlich seine Körperkräfte, obgleich er das erstemal im Leben eine derartige Arbeit leistete. Haik, dem Führer, war es gelungen, von der Pflockstelle drei Esel loszubinden und mitzuzerren. Diesen wurden nun in wilder Eile die vollen Tragen aufgehuckt. Doch auch jeder von den Burschen schleppte ansehnliche Lasten auf dem Rücken. Es gelang ihnen knapp vor Sonnenaufgang wieder im Lager zu sein. Man empfing die Ausreißer, die in Unkenntnis der Gefahr um ein Nichts ihr Leben gewagt hatten, mit Vorwürfen, Beschimpfungen, ja Hieben und doch auch wieder mit Stolz. Stephan schlug, noch ehe die Stadtmulde erreicht war, einen Haken und schlich sich in das Scheichzelt, das er mit Gonzague Maris teilte. Gabriel und Juliette erfuhren nichts von dem gefährlichen Ausflug ihres Sohnes. Die ganze Ausbeute der nächtlichen Streifung kam für ein Volk von fünftausend Menschen kaum in Betracht. Dennoch aber gab sie dem Pastor Aram Tomasian die Anregung, in der drittnächsten Nacht mit zweihundert Reservisten und unter Bedeckung von zwei Zehnerschaften einen ähnlichen Versuch zu wagen. Leider hatte er nur einen geringen Erfolg. Denn gerade in der dazwischenliegenden Zeit waren die Bauern der mohammedanischen Nachbarschaft in die armenischen Obstgärten eingebrochen, um eine gute Ernte heimzuführen, von der nur unreifer oder verfaulter Abfall zur Nachfechsung zurückgeblieben war.

Weit tollköpfiger und überflüssiger jedoch war die andre Geschichte, die Stephan kurz nachher ausheckte. Es wäre übrigens falsch, in ihr einen heroischen Mutbeweis zu sehen. Der Junge hatte keine Vorstellung von der Gefahr, in die er sich begab. Dies zeigte schon die unbegreifliche Torheit, daß er niemand anderen als den Krüppel Hagop zum Hauptgefährten seiner Tat erwählte. Haik sollte erleben, wie wenig Stephan seiner bedurfte. Das war das Wichtigste.

Der Bagradiansohn hatte jene Altersgrenze schon erreicht, jenseits deren der werdende Mann sich nicht nur gegen seine Säfte behaupten muß, sondern auch gegen ein Riesentrugbild der Welt, das ihn in jeder Minute die Nichtigkeit seines kaum erwachten Selbst würgend fühlen läßt. Das Fieber der eigenen Entwicklung kreuzte sich unheilvoll mit dem allgemeinen Fieber auf dem Musa Dagh. Die Kameraden, diese Dorfrangen, waren harthäutige Felsgewächse oder sparsame Bergtiere. Mit vier Jahren schon völlig geprägt, wuchsen sie gleichmäßig, erlebten wenig Übergänge und keine Verwirrungen, um ihre Prägung, ein wenig abgegriffen und verwischt zuletzt, bis zum Tode zu bewahren. Stephan hingegen trug die Erbschaft entfernter Völker in sich, den Hochstand und Nervenverbrauch von drei überanstrengten Generationen, seine europäische Kindheit und als schwerste Last eine gierige Seele, die nie und nirgends Ruhe fand. Seine Mutter sah wohl, wie er abmagerte, wie in seinem Gesicht die Schatten wuchsen. Was aber sollte sie tun, woher die gewohnte Nahrung für den Jungen nehmen? Manchmal zog sie ihn in ihr Zelt und er mußte trotz wütenden Protestes mehrere große Gläser Milch hinabwürgen. Dann wieder kümmerte sie sich tagelang nicht um ihn. Wie lange werden wir alle noch leben? Diese Frage stellte sie sich oft, doch es war keine ganz aufrichtige Frage, denn Juliette konnte es sich gar nicht vorstellen, daß irgend jemand, und sei es der blutrünstigste Saptieh, ihr auch nur die Haut ritzen werde. Dennoch war es ihr sehr angenehm, so zu fragen, da alles damit gleichgültig wurde und ihrer Sehnsucht, sich fallen zu lassen, entgegenkam. Die Verstörung ihres Wesens machte immer größere Fortschritte.

Stephans toller Streich entstand aus folgendem Anlaß:

Iskuhi Tomasian klagte öfters darüber, daß sie in der Verwirrung des Aufbruchs dasjenige vergessen habe, was sie nun am schmerzlichsten vermisse: drei oder vier Bücher, Lieblinge, darunter ihre Konfirmationsbibel, ferner ein Elfenbeinkruzifix, beides Arams Geschenke. Sie hatte diesen Schatz aus dem Zusammenbruch von Zeitun gerettet und während jener furchtbaren Verschickungstage immer mit sich getragen. Jetzt aber – sie konnte es sich selbst nur mit ihrer körperlichen Gehemmtheit ungenügend erklären – waren Bücher, Bibel und Kruzifix in der Villa Bagradian zurückgeblieben. Sie litt sehr unter diesem Verlust, den sie als Kränkung ihres Bruders empfand.

Nicht nur Sato zog es leidenschaftlich in Iskuhis Nähe, auch Stephan versäumte keine Gelegenheit, sich an sie heranzupirschen. War aber das Waisenhausmädchen mit ihrem glucksenden »Kütschük Hanum«, mit ihrem fröstelnden Sehnsuchtsgesumm und den lüsternen Schmutzkrallen unabwendbar zudringlich wie eine herbstliche Schmeißfliege, so setzte sich Stephan in verehrungsvollem Abstand auf den Boden und verschlang Fräulein Tomasian mit stummen Blicken. Ging er dann fort, so war er vollgetrunken von seligem Unglücklichsein. Ihr herrliches Bild bewegte sich in seinem Geist. Ein paar gelöste Haare wehten ihr in die Stirn. Die Lippen mit dem feuchten Pupillenglanz standen staunend offen. Sie bedeckte den kranken linken Arm mit der Rechten, als schäme sie sich. Ihre kleinen Brüste atmeten sichtbar, und schutzbedürftig still sahen die Fußspitzen unter dem Kleid hervor. Das Herzbetörendste aber war es, wenn sie in seiner Phantasie zu ihm ans Bett in das Scheichzelt trat und sang. Besonders jenes Lied, das sie persönlich an ihn richtete, konnte er nicht satt bekommen:

»Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums ...«

Aber nicht die Worte waren es, sondern ihre Stimme, die ihm wie ein streichelnder Schauer über die Haut lief. Früher hatte er Mama so geliebt, doch was war Mama jetzt gegen Iskuhi, wenn man an diese Stimme dachte? Mama sang nicht, und wenn sie hie und da ein paar Töne hervorbrachte, um an ein französisches Chanson zu erinnern, so klang es falsch und pfauenhaft. In Iskuhis kühler und klarer Stimme aber konnte man sich ausstrecken wie in einem Bad.

Am Morgen nach einer von seinen traumgehetzten Nächten pfiff er Sato heran, die den Versammlungsplatz der Haik-Bande umlauerte:

»Sind schon welche im Haus unten?«

Sie verstand ihn sofort. Es wäre ganz falsch, Sato wegen ihrer gaumigen Tierlaute und ihres schweifenden Schakalgehabens für eine Idiotin zu halten. Sie war ein Zwitter, ein Grenzwesen, besaß aber eine starke Intelligenz der Nerven, besonders wenn es sich um Aufspürungen von Zusammenhängen handelte. Sie verstand nicht nur, daß Stephan von ihr wissen wollte, ob sich die sauberen Erben schon im Hause seiner Väter zu Yoghonoluk einquartiert hatten, das war nicht schwer, sie erfaßte aber gleichzeitig auch Sinn und Ziel der Frage. Stephan gedachte durch einen verrückten Handstreich sich in den Besitz von Iskuhis Büchern zu setzen, wenn sie überhaupt noch vorhanden waren. Sato begann Grimassen zu schneiden und zu zwinkern wie meist in erregten Augenblicken. Für Stephan war es kein Geheimnis, daß sie als einziges Wesen auf dem Musa Dagh ein Doppelleben führte. Sie blieb manchen halben Tag und vor allem manche Nacht verschwunden, worüber sich niemand Gedanken machte. Dann hielt sie sich im Tale auf und besuchte ihre Freundschaft, das Friedhofsvolk. Die Nachrichtenvermittlung zwischen Berg und Tal war eine wertvolle Scheidemünze, mit der sich Sato die Gunst ihrer Freunde unten sowie auch die ihrer Feinde oben erkaufte. Auf diesem Wege bekam dann das Lager nicht unverläßliche Berichte über die Zustände und Vorgänge in den Dörfern. Man erfuhr, daß in Yoghonoluk ein Posten von zehn Saptiehs einquartiert sei, und ebenso in Bitias und Habibli. Man hörte ferner, daß der mohammedanische Pöbel die Häuser schon bis auf den letzten Nagel und das letzte Fensterkreuz auszurauben begonnen habe, als ihm ein unerwartetes Verbot des Kaimakams in den Arm gefallen sei. Nur drei Mohadschirfamilien, die aus Zilizien eingetroffen waren, hatten die Erlaubnis bekommen, sich anzusiedeln. Der Janhagel der Ebene aber gab seine Ansprüche nicht so schnell auf, sondern wartete in den Ortschaften auf einen günstigeren Gegenwind. Man erfuhr auch, daß sich in der letzten Woche einige Mollahs, islamische Kleriker, in den Dörfern gezeigt und die Kirchen besichtigt hätten, weil diese demnächst in Moscheen sollten umgewandelt werden. Stephan bekam die Kunde, daß im Hause Bagradian sich ein Mohadschir mit einer mehrköpfigen Familie eingenistet habe, Leute, die erst vor ein paar Tagen mit einem Ochsenkarren in Yoghonoluk eingelangt seien. Es gab in der Tat dergleichen Feinschmecker der Verschickung, die deren Gerücht von Ort zu Ort und weiter nachreisten und, wählerisch wie sie waren, sich nicht mit der erstbesten Wohnstätte zufriedengaben. Sato wußte sogar genaueste Einzelheiten. Die Mohadschirsippe hatte im großen Selamlik ihr Lager aufgeschlagen, verbrachte aber die angenehmen Nächte zumeist im Freien auf dem Dache. Stephan, in seiner Besessenheit, überlegte nicht viel. Nur Hagop vertraute er sich an. Der Einbeinige bettelte und flehte. Er wollte mitgenommen werden. Die Eitelkeit entschied. Wenn Hagop dabei war, hatte Stephan nicht nur einen Zeugen seiner Tat, sondern er konnte damit auch dem unbeugsamen Haik eine Zurechtweisung erteilen. Der verblendete Junge wagte dieses heikle Unternehmen, mit nichts anderem ausgerüstet als mit einer elektrischen Taschenlampe. Seine Hilfstruppe bestand aus einem Kobold und einem Krüppel.

Sato war übrigens bereits lange vor Abend aufgebrochen. Sie gedachte, Nunik, Wartuk, Manuschak und ihre übrigen Freunde zu alarmieren. Die Gräberleute waren merkwürdigerweise sakrosankt. Niemand vergriff sich an ihnen. Die Saptiehs und der Pöbel ließen die Gesellschaft links liegen, die Verschickungsbefehle schienen für sie nicht zu gelten. Man billigte ihnen Unverletzbarkeit nicht nur deshalb zu, da bei ihnen nichts zu holen war, sondern weil sie vom und mit dem Tode lebten. Sato aber hatte diese Garde nicht etwa zusammengetrommelt, weil sie um Stephans Leben besorgt war. Gefühle wie Anhänglichkeit, Liebe und Sorge waren ihr gänzlich unbekannt. Selbst ihre Leidenschaft für Iskuhi war nur die Wunschgier, von einem Wesen, das sie entzückte, anerkannt zu werden und von ihm Besitz zu ergreifen. Sato kannte die Haupteigenschaft Nuniks. Wenn sie der gewaltigen Neugierde ihrer großen Freundin gehörige Nahrung zuführte, legte sie ein Kapital von Wohlwollen bei ihr an. Eine Mißachtete und selbst beim Abschaum nur Geduldete ist darauf angewiesen, eine flinke Agentin der menschlichen Begierden zu sein. Auch war es Sato bekannt, daß die alte Nunik einen besonderen Wissensdrang für alles hegte, was mit der Familie Bagradian zusammenhing.

Als knapp vor Mitternacht Stephan und Hagop durch das offene westliche Gartentor den mit Sand bestreuten Hof und Freiplatz des Hauses betraten, da saßen die Klageweiber im hauchschwachen Viertelmond schon rundum unter den Bäumen und machten verzweifelte Zeichen. Die Krücke Hagops nämlich tappte und knirschte sehr laut im Sand. Stephan gab dem Krüppel einen leichten Stoß, damit er zu den Totenvögeln hüpfe.

Es ist kaum begreiflich, daß solch ein empfindsames Kind wie der Bagradiansohn in dieser Minute von keiner Angst erfaßt wurde. Mochte er sich auch der Gefahr nicht voll bewußt sein, so hätte ihm doch die Nacht, seine Verlorenheit unter wildfremden Spukgestalten und der Anblick des Hauses, in dem die Mohadschirfamilie schlief, einen gewaltigen Schreck einjagen müssen. Dies aber war ja der krankhafte, der sinnverwirrte Zustand, den weder Gabriel noch Juliette an ihrem Knaben bemerkt hatten. Dem Anschein nach verwegen ohne Grenzen, konnte Stephan, als Opfer einer Sinneslähmung, nicht mehr genau zwischen dem Wachbild und dem Traumbild seiner Welt unterscheiden. Er trat langsam, fast schlendernd ins offene Haustor, als kehrte er von einem Spaziergang zurück. Die lockende Einbildung, es wäre nichts geschehen und alles beim alten geblieben, überfiel ihn mit solcher Macht, daß er in der Halle stehenblieb, ruhevoll in sich versunken. Dann erst knipste er die Taschenlampe an, in deren Licht ihn sein Vater einst im Schlafe betrachtet hatte, und stieg gelassen die Treppe zum Oberstock hinauf. Hier war alles noch unverändert. Kaum ein wenig Verwüstung und Verschmutzung machte sich bemerkbar. Die Plünderer hatten nur die leichteren Gegenstände fortgetragen, Schränke und Bettstellen standen auf ihrem alten Fleck. Stephan trat zuerst in sein Zimmer und starrte lange auf die windbeschäftigte Gartenlandschaft im ausgehängten Fenster und auf die schwarze Masse des Musa Dagh. Die Sinnverrückung ließ ihn wähnen, er wäre niemals dort oben gewesen, wo sich die Kammlinie des Damlajik gegen den mattscheinenden Himmel abzeichnete. Mama und Papa schliefen daneben in ihrem Zimmer und ihm war, als sollte er sich selbst sogleich zu Bett begeben. Mühsam besann sich Stephan erst wieder seiner Aufgabe. Nicht um der Gefahr zu entgehen, sondern um Iskuhi nicht zu stören, schmiegte er sich auf Fußspitzen in ihr kahles Zimmerchen. Außerhalb des stumpfen Lichtkreises der Taschenlampe war es voll von ihr. Im Lichtkreis aber stand ein halbzerbrochener Stuhl wie ein verschmähtes Wesen. Und unter diesem Stuhl, besudelt und zerrissen, lagen ein paar Bücher. Auch die Konfirmationsbibel. Sie war unversehrt. Das Elfenbeinkruzifix fand sich nicht. Glückstrahlend drückte Stephan Bücher und Bibel an sich und lief mit laut polternden Schritten über die Treppe hinab, durch den Flur und vors Tor. Die Gefährten warteten weit hinten im Schatten. Er aber, der sie nicht gleich sah, rief ihnen, in seiner Geistesbefangenheit völlig von Gott verlassen, mit kräftiger Stimme zu:

»Hagop, Sato! Wo seid ihr? Da seht her! Ich hab's!«

Der Hall dieser Worte in der leeren Wölbung der Nacht war so laut, daß es sich oben auf dem Dache des Hauses sofort zu regen begann. Gestalten schwankten auf. Ein Baß grölte etwas hinunter. Dann keiften Weiberstimmen dazwischen. Der Hexenkreis am Rande des Freiplatzes stob auseinander und davon. Man hörte Hagops Krücke eifrig den Boden klopfen. Stephan verblieb noch immer wie gelähmt auf dem hellsten Platz des Vorhofs. Der kleine Lichtpunkt der Taschenlampe glomm still in seiner Hand. Erst als die Peitschenhiebe der Gewehrschüsse um seine Ohren pfiffen und es im Innern des Hauses zu rumoren begann, riß er sich von sich selbst los und begann in großen Sprüngen zu fliehen. Doch wohin? Es zeigte sich nun, wie tief Stephan, das Kind der Avenue Kleber, den Söhnen dieser Ost-Erde trotz all seiner ehrgeizigen Bemühungen unterlegen war. Während sogar der einbeinige Hagop mit seiner klappernden Krücke spurlos im unzugänglichen Nichts verschwand, lief der Rasende durch den östlichen Gartenausgang den Dorfweg nach Yoghonoluk hinab. Den städtischen Knaben zog das Gebahnte an. Es war wie ein Zwang seiner Natur, obgleich er spürte, daß er eine unsinnige Richtung nahm. Er wäre fast den Saptiehs in die Arme gelaufen, die, durch die Schießerei aufgestört, jetzt, die entsicherten Gewehre in der Faust, vom Kirchplatz heranstürmten. Stephan trat zur Seite und kauerte sich in den Graben. Das Wunder geschah. Die Saptiehs rannten an ihm vorüber. Diesen aber kamen die Mohadschirleute entgegen, brüllend und wild fuchtelnd. Die Türken schienen allesamt von einer rasenden Angst gepackt. Sie vermuteten einen plötzlichen Überfall der armenischen Krieger. Sie schossen wie Wahnsinnige nach allen Seiten, teils um ihre Furcht loszuwerden, teils um die Posten in den anderen Dörfern durch Schnellfeuer zu Hilfe zu rufen. Erst als sich der Lärm gegen Nordwesten verzogen hatte, warf sich eine blinde, richtungslose Todesangst über Stephan. Wie ein Käfigvogel, der das Fliegen verlernt hat, taumelte er an einer verfallenen Mauer vorbei in das Gelände hinaus. Er geriet in einen verwilderten Obstgarten, dessen Gestrüpp ihn kaum losließ, keuchte über einen Abhang, der mit schlangenartigen Kriechreben bespannt war, stürzte, raffte sich hundertmal wieder auf, bis er endlich dieser Falle entkam. Dann war weiche Erde unter seinen Füßen, dann wieder eine Steinhölle. Plötzlich mußte er sich durch ein unüberwindliches Dickicht hindurchdrehn, das ihm Dornen und stahlscharfe Blätterschwerter entgegenstreckte. Er stolperte weiter, keines Gedankens, keines Zieles mehr fähig. Nun bekam er zu spüren, daß der Entari-Kittel der Bewegungsart seines Körpers nicht entsprach und ihn beim Laufen wie ein tückischer Feind hemmte. Seine Hände, seine Füße waren mit brennenden Rißwunden bedeckt, das Gesicht in Schweiß gebadet. Auf einer Lichtung sank er zusammen. Er wußte nicht, wo der Damlajik war, wo Yoghonoluk, wo er selbst. Eine kleine Ohnmacht nebelte ihn für zwei Minuten ein. Doch seine Kräfte kehrten schnell zurück. Die Todesangst zerrann und ein wunderbarer Gleichmut trat an ihre Stelle. Er streckte sich aus, wie zum Schlaf. Der überreiche Himmel der Augustnacht stand unbeweglich über ihm. Unter den Milliarden Sternen flimmerte keiner. Stephan war allein in und mit der ganzen Welt. Er wußte, daß Vater und Mutter ihm nicht helfen konnten. Das erstemal erlebte sein Kindergeist das Gefühl der Allverlorenheit, der erbarmungslosen Vernichtungsjagd im Raume, der mit zahllos eisigen Augen zusieht. Kinder reicher Leute, die im Mittelpunktswahn aufgewachsen sind, lernen niemals oder sehr spät erst dieses Gefühl kennen, das jedes verfolgte Tierchen überwältigt, wenn es, in eine Mulde geduckt, den Atem anhält. Es war ein gutes, ein sehr wohliges Gefühl. Stephan brauchte gar nicht an Iskuhi zu denken. Wenn man daliegt, so erdangeschmiegt, so weltanheimgegeben, dann kann auch das Schlimmste nicht allzu schlimm sein. Er starrte in den Himmel. Dort oben fing ein Atmen an, ein Lichtgewoge, ein Näherkreisen. Weich hob es Stephan auf und küßte ihn, weil er so schwach war, so wehrlos, verlassener als irgend etwas. Alle Wonne der Welt sammelte sich in einem einzigen Punkt, und dieser Punkt lag mitten in ihm selbst. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Zum erstenmal im Leben ergoß sich sein Geschlecht. Er schlief ein, verschmolz mit der Erde, totenhaft.

Stimmen in der Nacht weckten ihn. Die Saptiehs schienen ihre Jagd auf diesen Platz auszudehnen. Sie knallten ein paar Schüsse aus dem Gehölz. Dann wurde es still. Stephan glaubte nicht, daß sie abgezogen wären. Gewiß hatten sie ihn entdeckt und lauerten nur auf den Augenblick, wenn er sich erheben werde. Der Himmel war schwarz und ohne Mond; so lange hatte er vorhin geschlafen. Nur wenige Sterne sah man jetzt, verwischt und aufgesogen wie von einem Löschblatt. Der Raum war eng und eingesargt. Dem Knaben kam es vor, als läge er nicht auf dem Erdboden, sondern auf einem eklig elastischen Hügel von klebrigen Schnecken. Und doch, er durfte sich nicht rühren, nicht aufstehen, da die Saptiehs lauerten. Wenn er aber den Tag abwartete, dann war er doppelt und dreifach verloren. Endlich entschloß er sich, zuerst auf dem Bauch, nachher auf den Knien ein Stück vorwärtszukriechen. Die Welt war voll gestaltloser Hindernisse. Vorsichtig richtete er sich auf. Unter seinen Füßen dehnte sich ein unebenes Etwas mit Spitzen und Zacken und rechts und links von ihm ein gepanzertes Etwas mit Stacheln und Ruten. Er zwängte sich durch die dornige Blindnis. Gewiß haben sie den blonden Hagop schon umgebracht, und er ist schuld daran. Doch auch Stephan wird nie wieder heimkommen. Seine Hand, die Iskuhis Bibel umkrampfte – die anderen Bücher hatte er fortgeworfen –, war trotz der warmen Nacht steifgefroren. Nachdem er noch ein sinnloses Stück durch diese ungeschaffene Welt geirrt war, schaltete er die Taschenlampe ein, gewärtig, Saptieh-Schüsse würden sofort aus dem Hinterhalt krachen. Da nichts geschah, ließ er die Lampe brennen, obgleich sie seinen Irrweg nicht klärte. Dennoch aber führte er den Retter herbei. Unversehens lag Stephan einem Menschen in den Armen: Haik. Der Bursche hatte, dank Satos Verräterei, noch rechtzeitig von dem Wahnwitz des Durchbrennens erfahren. Er war über Stephans freche Selbständigkeit, die ihn auszuschalten wagte, sehr erbost, zugleich aber erfüllte ihn als Stärkeren und Überlegenen die Sorge um den anmaßenden Herrensohn, der diesem Unternehmen nicht gewachsen war. Obwohl er ihn anfangs seinem Schicksal überlassen wollte, hatte es ihn später doch nicht auf dem Damlajik geduldet, und er war zu dem gefährlichen Zeitpunkt ins Tal gekommen, als die Saptiehs mit ihrer Treibjagd auf die vermutete Armenierschar begannen. Seine unbestechlichen Sinneskräfte hatten ihn schließlich in die Nähe Stephans geführt, als dessen Lampe aufglomm. Nun schüttelte er wütend den Bagradiansohn:

»Da hast du es, was du für ein dummer Prahler bist!«

Stephan war zu schwach, um für seine Schande eine ehrenvolle Rechtfertigung zu finden. Er hing schwer an Haiks Arm und ließ sich von ihm schleppen. Doch von Schritt zu Schritt gewann er, an der Seite des unüberwindlichen Rivalen, mehr von seinem Mute zurück. Er hielt ihm die Beute vor die Nase:

»Die Bibel der Iskuhi Tomasian hab ich aus dem Haus geholt.«

Die glosenden Reste eines Feuers stiegen aus dem Nichts, keine fünfzig Schritt von ihnen entfernt. Unter den Friedhofsleuten saßen Sato und Hagop. Stephan überwand seine Zerschlagenheit. Nur zurück! Haiks Führerschaft machte ihn sicher. Sein Vater fiel ihm ein. Das Abenteuer der heutigen Nacht ließ sich nicht verbergen. Er fürchtete den Empfang. Trotz Stephans Ungeduld dauerte der Heimweg endlos. Sie mußten immer wieder Rast halten, denn Hagop kam nicht vorwärts. Stellenweise schleiften Haik und Stephan oder Haik und Sato den armen Krüppel, den sie untergefaßt hielten, ein langes Stück über den steilen Pfad. Hagop weinte die ganze Zeit. Es war zuviel für ihn gewesen. Er hatte nicht mehr die Kraft, es den Gesunden gleichtun zu wollen. Es war schon sieben Uhr, als sie bei den Stellungen auftauchten. Die drei sahen gespenstisch aus, wie Verwundete. Stephan mußte sich sofort mit einem Schüttelfrost zu Bett legen. Es kam zu einer großen Szene mit Mama:

»Wenn du solche Abscheulichkeiten begehst, bist du genau so wie Sato, ein schmutziger Vagabund. Dann mag ich dich gar nicht!«

Diese Worte waren ehrlich und taten ihr weh. Juliette hatte zornige Tränen in den Augen:

»Was ist dir eingefallen? Warum hast du das getan?«

Stephan schwieg, denn er wagte nicht die Wahrheit zu sagen. Er spürte genau, daß er dadurch das Verhältnis zwischen Mama und Iskuhi schwer getrübt hätte. Er haschte nach der abwehrenden Hand seiner Mutter, Verzeihung suchend, wie er's als kleines Kind getan, wenn er nicht trotzig war. Unter der Decke aber hielt er die Bibel Iskuhis ängstlich zwischen die Knie geklemmt, damit Mama sie nicht finde.

Als er jedoch später allein mit dem Vater war und dieser, dicht vor ihm stehend, immer eindringlicher und mit ernsten Augen den Grund seiner frevelhaften Schicksalsversuchung von ihm wissen wollte, da gab er endlich, nach langem Leugnen und Geschichtenerfinden, sein Geheimnis preis. Bis auf die Brust errötend, zog er die Bibel hervor. Der Vater nahm sie in die Hand, blätterte zerstreut in ihr, klappte sie zu, bekam ein strenges und hartes Gesicht, so daß Stephan schon auf eine sehr schwere Strafe gefaßt war. Anstatt dessen aber gab ihm Papa Iskuhis Bibel zurück, ohne den Vorfall auch nur mit einem Worte mehr zu berühren. Ehe er aber das Zelt verließ, erteilte er Stephan den Befehl – und zwar weit mehr im dienstlichen Ton des kriegerischen Befehlshabers als in dem gebietenden des Vaters –, er habe sich von nun an täglich nach dem Erwachen und vor dem Schlafengehen bei ihm zu melden, wo immer er sich auch in diesen Stunden aufhalte. Awakian bekam Auftrag, die Jungen fortan schärfer im Auge zu behalten.

 

Gabriel Bagradian hatte die Schonzeit, die ihm die Türken gewährten, nicht müßig verstreichen lassen. Man konnte nun wirklich sagen, daß die Verteidigungswerke auf einen vollgültigen Stand gebracht waren. Die Männer der Zehnerschaften und die Arbeiter der Reserve hatten in dieser Woche nicht weniger schuften müssen als in den Tagen vor dem vierten August. Die Stellungsgräben waren nun alle verlängert und vertieft, das Vorfeld durch Hindernisse gesichert. Zu den zweiten Gräben führten Verbindungsgänge, ebenso zu den vorgeschobenen Nestern, die mit Zweigen bedeckt waren, um den tapfersten Schützen Gelegenheit zu geben, den Angreifern in den Rücken zu fallen oder die Stolpernden niederzumachen. Gabriel zerdachte sich unablässig den Kopf, um an allen dreizehn Einfallspunkten Listen, Kunstgriffe und Fallen der Verteidigung zu erfinden, die den Ausgang des Kampfes immer weniger von der menschlichen Zuverlässigkeit abhängig machen sollten. Seine flüchtig erworbenen Kenntnisse an der Offiziersschule in Stambul und seine Erfahrungen aus den Artilleriekämpfen von Bulaïr halfen ihm weniger dabei als ein altes taktisches Lehrbuch des französischen Generalstabes, das er einmal der Kuriosität halber bei einem Antiquar erstanden hatte. Angesichts dieses Buches, das nun so zu unerwarteten Ehren kam, beschlich Gabriel ein sonderbar philosophisches Gefühl (kein rechter Gedanke): Diese Taktik habe ich seinerzeit nichtsahnend gekauft, nur weil mir das Titelblatt gefiel, oder weil mich der unbekannte Stoff anzog, obgleich mich Militärwissenschaft damals gar nicht interessiert hat. Und doch, in jener Stunde des Kaufes hat mein Schicksal, ganz unabhängig von meinem Willen, vorbewußt aus mir gehandelt. Ja, dieses mein Kismet scheint wirklich fix und fertig zu sein von A bis Z. Denn schon im Jahre 1910 hat es mich vor der alten Buchhandlung am Quai Voltaire nur deshalb festgehalten, weil es dieses Buches für seine späteren Zwecke bedurfte. Ich war also nur der Schauspieler meines Kismets, wie wenn etwa Coquelin als Marquis in der Komödie seine Handschuhe auf dem Tisch vergißt, und dann wird er, rückkehrend, Madame mit ihrem Geliebten ertappen. Nur weiß Coquelin zwischen sich und dem Marquis einen Unterschied zu machen. Bei mir aber fällt mein Selbst mit der Rolle allzufest zusammen.

Dies war übrigens die einzige philosophische Träumerei, die Gabriel Bagradian seit Wochen unterlief. Er schüttelte sie auch sogleich wie etwas Lästiges ab. Schon während seiner Kampfvorbereitungen in Yoghonoluk hatte er bemerkt, daß sich sein Tatsachensinn sofort trübte, wenn er seiner Neigung zur Beschaulichkeit nachgab. Er kam somit zu der Erkenntnis, daß der echte Tatmensch (der er nicht war) notwendig geistlos sein muß. Was aber das taktische Lehrbuch anbetraf, so fand er darin eine Anzahl von Warnungen, Hinweisen, Zeichnungen, Rechenexempeln, die er in kleinem Maßstab auf die gegebenen Verhältnisse anwenden konnte. Tschausch Nurhan Elleon und die Unterführer hielten mit den Zehnerschaften täglich die strengsten Übungen ab. Gabriel Bagradian stellte in den einzelnen Abschnitten die vielfältigsten Manöveraufgaben, damit jeder einzelne sich mit jeglichem Stein und Strauch vertraut mache und für alle nur möglichen Angriffsfälle die entsprechende Gegenwehr schon vorgesehen sei. Auch die Alarmmaschine war nun bereits auf das äußerste verfeinert. Innerhalb einer knappen Stunde konnten trotz der ziemlich großen Entfernungen alle Posten besetzt, umbesetzt und die größten Mannschaftsverschiebungen durchgeführt werden.

Nicht minder erstaunlich aber muß das in der Stadtmulde geleistete Werk genannt werden. Pastor Tomasians Leidenschaftlichkeit hatte sich gegen die Fülle der kleinen Zwiste, gegen die Gehässigkeiten der engen Nachbarschaft, gegen das Unbehagen an der Gemeinschaftsernährung sowie gegen den versteckten Widerstand und die Verschlafenheit der Muchtars siegreich behauptet. Wiederum war es ein abendländischer Mann (drei Studienjahre in Genf), der Gabriels Kampf gegen östliches Geschehenlassen so erfolgreich unterstützte. Ohne Zweifel bedeutete Ter Haigasun die unvergleichlich stärkere Persönlichkeit als der ausgezeichnete Aram, und doch, der Vikar des armenischen Tales war im Norden nur bis Edschmiadsin, im Westen nur nach Stambul, im Süden nur nach Jerusalem gekommen und daher nicht ganz frei von jener Empfindungsstumpfheit gegen abschaffbare Unbill, die dem Europäer das Leben im Morgenlande so gründlich erschwert. Trotz seiner erprobten Macht über die Gemüter hätte Ter Haigasun vielleicht das Werk Aram Tomasians nicht so schnell vollbracht und im Laufe von zehn Tagen das elende Freilager der Stadtmulde in eine Siedlung verwandelt, die immerhin einem Marktflecken zu Zeiten Abrahams und der Erzväter ähnelte. Jede Familie, ob arm, ob reich, besaß nun ihre wohlverdeckte Laubhütte, ein paar Quadratmeter wettergeschützten Bodens, durch Teppiche, Matten, Bettzeug wohnlich gemacht. Dieses blasse Echo eines Heimes genügte schon, die Menschen in den wichtigen Gefühlswahn einzulullen, auch hier oben würden ihre irdischen Verhältnisse dauernden Bestand haben. Das Lager war nicht nur in einzelne Gemeindequartiere geteilt, die Hütten bildeten sogar ganze Straßenzüge, die alle in den großen Altarplatz einmündeten. Die Bodenfläche der Stadtmulde war uneben und höckerig, doch der Siedlungsbau und die Wege waren so angelegt, daß dieses Auf und Ab ziemlich gemildert schien. Der Altarplatz, der Mittelpunkt dieser primitiven, aber starkbevölkerten Ortschaft, machte einen geradezu stattlichen Eindruck. Nachdem Muchtar Thomas Kebussjan die Errichtung seines hölzernen Gemeindehauses durchgesetzt hatte, gaben seine sechs Kollegen nicht früher Ruhe, bis auch sie, als nicht weniger würdige Gemeindehäupter, das Recht erhielten, ähnliche Blockhäuser auf den Altarplatz hinzusetzen. Das schönste Werk Vater Tomasians aber war und blieb die große Regierungsbaracke, die nicht nur wirkliche Fenster und Türen besaß, sondern auch mit Schindeln gedeckt war, die aus den Vorräten des Baumeisters stammten. Die Festigkeit des Gebäudes konnte als Sinnbild jener kühnen Hoffnungen gelten, welche die Verteidiger erfüllte. Es bestand aus drei Räumen, einem großen Mittelzimmer, dem Sitzungssaal, und zwei kleinen Seitenkammern. Die rechte Seitenkammer war durch eine feste Wand vom Sitzungsraum abgetrennt. Diesem Kotter war die Rolle des Staatsgefängnisses zugedacht, für den Fall, daß man sich eines schweren Übeltäters entledigen mußte. Ter Haigasun aber war der Überzeugung, diese Armesünderzelle werde sich als überflüssig erweisen. Die linke Kammer war dem Apotheker Krikor zugewiesen. Krikor hatte zwischen sich und der Politik eine Bücherwand mit einem schmalen Durchgang aufgebaut, jenseits deren sein Bett stand. Seine schmuckhaften Tiegel, Vasen und Retorten hatte er auf Wandbrettern untergebracht, während Petroleumkannen, Tabakballen und Bürstenbinderwaren zu seiner großen Genugtuung fehlten, da sie dem allgemeinen Volksgut einverleibt worden waren. Die Regierungsbaracke vereinigte demnach nicht nur den Charakter eines Parlaments, Ministeriums und Gerichtshauses, sondern auch den einer Bibliothek und Universität. Denn hier empfing Apotheker Krikor seine Jünger, die Lehrer, um sie seinerseits zu belehren. Von Tag zu Tag seltener verließ der Meister sein Gehäuse. Vielleicht wollte er die große Gefangenschaft auf dem Damlajik dadurch aufheben, daß er sie für seine Person noch enger beschränkte. Vielleicht auch wollte er die ganze Lebensveränderung damit ungeschehen machen, daß er sie aus seinem Augenkreis bannte. Er saß stundenlang starr auf seinem Bett, nur hie und da ein Buch aus der Wand nehmend, um es vorsichtig gleich wieder zurückzustellen. Sein Körper krümmte sich sichtbar zusammen. Die Lehrer, die nun wichtige Amtswalter waren, besuchten ihn nur selten. Kamen sie aber, enttäuschte sie der Meister immer bitterer, denn er vermehrte ihr Wissen nicht mehr durch unerhörte Tatsachen aus der allgemeinen Weltkunde, sondern tischte ihnen dunkle Geschichten mit tiefsinniger Moralität auf, die sie schnell wieder aus seiner Nähe vertrieben. Hrand Oskanian faßte deswegen sogar eine heftige Abneigung gegen den ehemals Hochverehrten, was mehr für sein dermaliges Krieger- als für sein einstiges Dichtertum sprach. »Der Alte ist nicht mehr ganz bei sich«, meinte er wegwerfend zu dem Kollegen Schatakhian, der aber den Geschmähten erbittert verteidigte. Während der großen und kleinen Führerberatungen verließ der Apotheker, obgleich er doch zu den Gewählten gehörte, seine Seitenkammer nicht, aber er schaute mit seinem gelben Mandarinengesicht aus erstaunten Schlitzaugen in den Sitzungssaal hinüber, als könne er die Sprache dieser Menschen überhaupt nicht verstehen. In den Nächten jedoch erhob er sich oft von seinem Lager und setzte sich vor das Regierungsgebäude. Er blinzelte zu dem Ewigen Licht hin, das unter dem Altarbild brannte, zu den beiden Petroleumlampen, die den Platz erhellten, er lauschte in die Laubhüttengassen hinein, aus denen Schlafgeräusche drangen. Alle halben Stunden kam die Patrouille der Nachtwache und begrüßte den Apotheker. Dieser aber gab keine Antwort, sondern schüttelte unablässig den Kopf. Es schien die Gebärde einer unendlichen Verwunderung zu sein, die gar nicht mit sich fertig werden kann, war aber in Wirklichkeit das erste Anzeichen eines bedenklichen Körperverfalls.

 

Man sieht demnach, und man sieht es nicht ohne Rührung, daß diese winzige Menschheit von fünftausend Seelen den langen Weg der Zivilisation in einem Katzensprung wiederholte. Sie war hier oben von allen Mitteln nahezu entblößt angekommen. Das bißchen Petroleum, ein paar Kerzen, die notwendigsten Werkzeuge, das war alles, woraus ihre Kulturerbschaft bestand. Der erste Wolkenbruch schon hatte den armseligen Haufen von Decken, Betten, Laken, Matten verwüstet, das einzige, was sie noch an häuslichen Bequemlichkeiten besaßen. Und doch, nicht der allseitig unabwendbare Tod, nicht die niedrigste Notdurft vermochte es, in ihnen die göttlicheren Bedürfnisse auszulöschen, die Sehnsucht nach Religion, nach Ordnung, nach Vernunft und geistigem Wachstum. Ter Haigasun las die Messe an Sonn- und Feiertagen wie immer. Auf der Schulhalde wurde Unterricht für die Kinder gehalten. Bedros Altouni, der Siebzigjährige, und Mairik Antaram hatten den Lazarettschuppen musterhaft instand gesetzt und rauften mit allen übrigen Führerstellen, um für ihre Kranken die besten Nahrungsmittel zu ergattern. Im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten des Tals hatte sich die allgemeine Moral sogar gehoben. Auf den abgemagerten und blassen Gesichtern lag eine gewisse Zufriedenheit. Der lange Augusttag hatte nicht Stunden genug, soviel Pflichten gab es zu erfüllen. Schon um vier Uhr morgens begann die erste Arbeit. Die Melkerinnen zogen auf den Platz, wo die Hirten bereits die Geißen und Mutterschafe zusammengetrieben hatten. Die Milch wurde dann in großen Gefäßen an die westliche Grenze der Stadtmulde geschafft, wo Mairik Antaram schon wartete, um die Verteilung an die Familienmütter, das Lazarett und die Käserei vorzunehmen. Zur selben Zeit pilgerten Frauen und Mädchen in langen Zügen zu den nahe fließenden Quellen, um ihre großen Tonkrüge mit dem frischen Quellwasser zu füllen, das in diesen Gefäßen auch bei der größten Sonnenglut eiskalt blieb. Die zahlreichen Quellen mit ihrem herrlichen Wasser bildeten eine der größten Segnungen, die der Musa Dagh seinen Kindern spendete. Während die Züge mit den Wasserträgerinnen heimkehrten, begaben sich die sieben Muchtars auf die Schafweiden, um das Schlachtvieh für den Bedarf des nächsten Tages auszuwählen. Was den Fleischverbrauch anbelangt, so machten sich allerdings frühzeitig sehr bedrohliche Anzeichen fühlbar. Ein Fettschwanzschaf ergab in diesen Gegenden trotz doppelten Lebendgewichtes weniger als zwanzig Oka oder fünfundzwanzig Kilogramm eßbaren Fleisches. Da über fünftausend Menschen fast ausschließlich von diesem Fleische leben mußten, darunter sehr viele schwer arbeitende, kam eine tägliche Stückzahl von ungefähr fünfundsechzig zu schlachtenden Schafen heraus, wollte man die Zehnerschaften und die Arbeitsreserve wirklich sättigen. Wie lange aber war bei dermaßen erschreckender Herdenverminderung das Leben auf dem Berg möglich? Dies konnte sich jeder selbst ausrechnen. Ter Haigasun und Pastor Aram Tomasian erließen schon am dritten Sonntag eine scharfe Verordnung, laut deren von den Schlachttieren nichts mehr, auch die Eingeweide nicht, fortgeworfen werden durfte. Zugleich wurde die tägliche Zahl auf fünfunddreißig Schafe und zwölf Ziegen herabgesetzt. Damit aber waren andere, das Schlachttier betreffende Gefahren noch keineswegs behoben. Da durch die Stadtmulde, die außerhalb ihrer befindlichen Lageranstalten und nicht zuletzt durch den Stellungsbau sehr viel Weidegrund verlorengegangen war, zeigte sich schon in den ersten Tagen an den Herden ein beträchtlicher Gewichtsverlust. Niemand aber wagte es, die Hirten mit ihren Tieren auf die Triften jenseits des Nordsattels zu schicken. Der Schlachthof war in der Nähe eines Wäldchens ziemlich abseits von der Stadtmulde gelegen. Dennoch aber durchdrangen die Angst- und Todesschreie der Tiere allmorgendlich das Lager. Die Metzger hängten anfänglich die ausgeweideten Hammel und Schafe an die Bäume, wo sie ein oder zwei Tage verblieben. Infolge der großen Sommerhitze aber verdarb das Fleisch sehr schnell. Man grub es deshalb nach den ersten unangenehmen Erfahrungen in die Erde ein, wo es sowohl frisch bewahrt wurde als auch besser ablagerte. Nachdem ein Teil der Metzger am frühesten Morgen sein Tagewerk vollendet hatte, um daraufhin sofort wieder in die Zehnerschaften einzurücken, begann der andre Teil seine Tätigkeit. Auf langen, aus Baumstämmen zusammengenagelten Tischen wurde das Fleisch in kunstgerechte Stücke zerhackt. Von hier brachten es die Frauen, die jeweils den Küchendienst hatten, auf den Feuerplatz. Dort waren inzwischen schon auf zehn großen, ummauerten, doch offenen Feuerstellen das Reisig und die klobigen Holzscheite in Brand gesetzt worden. An hohen dreibeinigen Galgen schwankten mächtige Wasserkessel über den Flammen. Das Fleisch aber briet an langen Stangen und Spießen im offenen Feuer. Die Speisenausgabe erfolgte täglich einmal gemeindeweise durch die Muchtars in Gegenwart Pastor Aram Tomasians. Für jede Ortschaft wurden wiederum auf langen Balkentischen die Familienportionen zurechtgeschnitten. Bitias, um ein Beispiel zu nennen, besaß jetzt nach dem Verlust der Protestanten unter Harutiun Nokhudian hundertundzwölf Familien. Hundertundzwölf Hausfrauen also marschierten an dem Dorftisch reihenweise auf und nahmen aus der Hand ihres Muchtars den genau abgewogenen Anteil in Empfang. Eine Amtsperson, zumeist der Oberpriester oder Lehrer, prüfte auf einer Liste die Kopfzahl der Verköstigten nach und vermerkte durch einen Strich die ordnungsgemäße Ausfolgung der Mahlzeit. Es läßt sich wohl denken, daß dieser Vorgang geraume Zeit in Anspruch nahm und daß hiebei hitzige Zusammenstöße nicht ausblieben. Die Natur hatte eben bei Erschaffung des Schafes und des Zickleins nicht hinreichend für Gerechtigkeit gesorgt. Die einen bekamen das üppige Brust- und Bauchfleisch, andern wieder fielen nur die flechsigen und knochigen Teile zu. Die düsteren Charaktere unter den Weibern sahen in dieser ungleichmäßigen Behandlung durch das Schicksal von feindseligen Menschen ausgeheckte Kniffe und Hinterlisten, um eigens ihnen einen giftigen Tort anzutun. Den Beruhigungskünsten Aram Tomasians oblag es nun, diese eifernden Seelen vom Spiel des Zufalls zu überzeugen und der betreffenden Frau Jeranik und Kohar zu beweisen, daß ihr Schicksal, das sie heute benachteiligte, sie gestern bevorzugt hatte. Solcher logischen Abgeklärtheit waren aber Jeranik und Kohar meist nicht fähig und zogen mit bösen Augen ab, die Fälle der Benachteiligung in ihren Herzen verdoppelnd. Noch ehe aber die zivile Speisenausgabe stattfand, war das Beste schon für die Truppen ausgesondert worden, denen ihre Menage von der hiezu bestimmten Gruppe der Jugendkohorte in die Stellungen hinausgetragen wurde. Alle aber mußten mit dieser einzigen Mahlzeit am Tag ihr Auskommen finden, denn am Abend kochte in den großen Kupferkesseln nur Wasser, in das man irgendein Wurzelwerk warf, um den schalen Absud kurzerhand als »Tee« zu bezeichnen.

Pastor Aram hatte auch einen ständigen Ordnungsdienst eingeführt. Zwölf Bewaffnete sorgten als Polizei für Ruhe und Ordnung in der Stadtmulde. Sie gingen in allstündlichen Runden bei Tag und Nacht mit den gewichtig drohenden Schritten von Schutzleuten durch die Zeilen der Laubhütten und ließen die Bewohner fühlen, daß Kriegsrecht herrsche und jeder sich jetzt doppelt zusammennehmen müsse. Sie trugen ferner auch die Verantwortung für die allgemeine Reinlichkeit, die Gabriel Bagradian, Pastor Aram, Bedros Altouni, Hapeth Schatakhian und andere »Westler« in fanatischer Weise zur großen Lebensfrage erhoben hatten. Vieles, was in den Dörfern der unbestrittene Brauch gewesen, hier oben wurde es verboten. Man durfte die Abfälle nicht vor die Laubhütten werfen, kein Spülwasser auf die Lagergassen schütten und vor allem die heimlichen Bedürfnisse nur an jenen Stellen verrichten, die vom Führerrat dazu bestimmt worden waren. Bagradian hatte von allem Anfang an auf die Herstellung tiefer Senkgruben bestanden. Verstieß jemand gegen eines der Reinlichkeitsgebote und wurde dabei ertappt, so verhängte der Führerrat unerbittlich über ihn ein eintägiges Fasten, das heißt, er bekam seine Mahlzeit nicht ausgefolgt.

Der Alltag, den Ter Haigasun für die neuen Lebensumstände so weise angestrebt hatte, bürgerte sich über Erwarten schnell ein. Er war jedoch von dem gemächlichen Alltag des Tales sehr verschieden und voll von Reibungen und Härten. Zu gewissen Stunden, besonders nach Feierabend, wenn die Arbeit den Sinn nicht mehr ablenkte, lastete Mißvergnügen und Gereiztheit über den Sippen. Aram Tomasian vertrat daher im Führerrat die Ansicht, man müsse den außerordentlichen Härten dieses Lebens durch gewisse Veranstaltungen das Gleichgewicht halten, um für eine kurze Abendstunde wenigstens die Seelen vom Druck zu befreien. Es wäre gut, wenn jeder zweite oder dritte Tag eine erfreuliche Abenderwartung in sich schlösse. Das Volk möge sich auf dem Altarplatz versammeln, damit einer der Führer zu ihm spreche, und zwar durchaus nicht über die gegenwärtige Lage, sondern über allgemeine Gegenstände der Nation und des Lebens, die den Blick in die Weite ziehen und die Herzen über sich selbst erheben. Gabriel Bagradian stimmte dem Pastor sogleich zu. Ter Haigasun aber schlug die Augen mit einem kaum merklichen Lächeln aus seiner gewohnten Versunkenheit auf. Er wies darauf hin, daß dieses schöne Vorhaben an einem allzu trockenen und belehrenden Charakter leide. Solch eine hochgespannte Rede bringe wohl den ernsten und klugen Männern, deren es jedoch nur verdammt wenige gebe, einen Vorteil, während dabei die Frauen, die Mädchen, die gesamte Jugend leer ausgehe. Gerade aber von diesem schwankenden und gefühlsbedingten Volksteil hänge die Widerstandskraft des Lagers mehr ab als von den gesetzten und vernünftigen Leuten. Man möge deshalb nach einer Reihe von plagereichen Tagen für einen Abend der einfältigen Vergnügungen und des lustigen Vergessens sorgen. Possenreißer und Geschichtenerzähler gebe es ja im Lager genug, ebenso Tanzmusikanten in großer Menge. Jeder zweite Mann zupfe ja den Tar oder die Sazgitarre. Auch die Kamantschageige und Flöte haben ihre Spieler, von der Handtrommel ganz zu schweigen. Die Musik sei das Geschäft Asajans, des Lehrers und Kirchenchorführers, der diese Festveranstaltungen gleich in die Hand nehmen müsse. Der zwirnsdünne Sänger erstaunte tief, daß sein Erzfeind und Peiniger Ter Haigasun ihn eines solchen Auftrags würdigte. Und er staunte noch mehr, als derselbe allen rohen Belustigungen abholde Ter Haigasun die Errichtung eines hölzernen Tanzbodens, einer Tenne, wie sie in Yoghonoluk zu solchen Zwecken verwendet wurde, nicht nur erlaubte, sondern sogar anempfahl. Ganz unerhört aber war es, daß der Priester keinen Einspruch dagegen erhob, als Vater Tomasian mit seinen Gesellen diese Teufelsbühne aus rohen Brettern am andern Ende des großen Platzes aufzuschlagen begann, und zwar genau dem heiligen Altar gegenüber. Für den nächsten Abend schon wurde das erste Tanzfest angesetzt. Der Führerrat erschien mit Ter Haigasun an der Spitze, die Notabeln alle, auch Gonzague Maris und Juliette, die Gabriel eigens darum gebeten hatte. Zuerst hielt Pastor Aram eine kurze Ansprache, in der er Gott um Verzeihung bat, daß man angesichts der grausamen Leidenszeit dem irdischen Bedürfnis nach Lustbarkeit nachgehe. Als zweiter gab Lehrer Asajan mit einer scharfen Trompetenstimme (wo doch seine Körperlichkeit bestenfalls ein hauchendes Falsett erwarten ließ) einige patriotische Lieder zum besten, darunter auch jenes flammende:

»Hoch sind die Berge Armeniens ...
Wir fürchten nicht den Tod durch Feuer und durch Schwert.«

Der nächste Mitwirkende in der Künstlerreihe war das Grammophon des Hauses Bagradian. Zuerst krächzte es den Krönungsmarsch aus dem »Propheten« in die Abendluft, dann aber sang es leise das traurige Orchesterstück »Aases Tod« von Edvard Grieg. Bei dieser Nummer sah sich die Menge, die im dichten Halbkreis die Tenne umstand, träumerisch an, als habe ihr jener Norweger das langsame Stück aus der eigenen Seele gesungen. Weniger Glück als Edvard Grieg hatte der schwerbewaffnete Hrand Oskanian, der nachher die Tribüne betrat. Er donnerte zwei pathetische Gedichte so haßerfüllt herunter, als sei er ein Anklagerichter, der mit einem Verbrecher abrechnet. Die Silben übersprangen einander so wütend, daß die wenigsten Hörer etwas verstanden. Bei dem ersten Gedicht stand die Sache noch nicht so schlimm. Es hieß »Die armenische Wiege« und war den Leuten nicht unbekannt:

»In einer fernen Stube schaukelt
Ein Weib die Wiege hin und her.
Von grauer Dämmerung umgaukelt,
Sinkt ihr das Haupt, von Sorgen schwer.

Die alte Frau hält einsam Wache
Und wärmt sich an des Herdes Glut.
Sie wiegt ihr Kind, das Kind heißt Rache,
Das lautlos in der Wiege ruht.

Ihm tönen keine Zärtlichkeiten,
Kein Lied, das süße Namen nennt.
In seinen Augen, die sich weiten,
Ein ungeheures Feuer brennt.

So grausam flammen diese Brände,
Und dennoch lautlos weint das Kind
Und ballt zur Faust die kleinen Hände,
Zu warten, bis sie größer sind.

Kein Ton der festversperrten Lippe
Verrät des Säuglings Todesmut,
Der hier in seiner Zedernkrippe,
Ein neuer Herr und Heiland, ruht.«

Der Schweiger aber begnügte sich leider nicht mit diesem berühmten Poem des Dichters Waruschan, hielt er sich doch selbst für einen »Aschugh«, einen Volksbarden. Er beglückte deshalb sein Publikum auch noch mit einem langen Gedicht eigener Machart, das den einzigen Vorzug hatte, trotz seiner vielen Strophen wie ein wilder Platzregen nieder- und vorbeizugehn. Als kein Beifallszeichen der verdutzten und verständnislosen Menge des Barden Ohr berührte, hob er sein Mausergewehr, ob grüßend oder dräuend, wurde nicht klar, und verließ stolz den Schauplatz, um den Musikanten Platz zu machen.

Nun begann der bessere Teil des Festprogramms. Erst zierten sich die jungen Leute, bald aber traten einige Paare zum Tarz Bar und Polor Bar an, zu den heimischen Berg- und Stampftänzen. Später zog Gabriel auch Juliette unter die Tänzer, um mit ihr ein paar Schritte zu versuchen. Nach einer Minute schon bat sie ihn aufzuhören, denn diese Art Tanz verstehe sie nicht. Auch Gonzague Maris und Hrand Oskanian erhielten von ihr einen Korb. Letzterer fand Trost darin, daß er sich in diese Ablehnung mit dem »Eleganten« teilen durfte. Iskuhi aber tanzte mit Gabriel einen ganzen Polor Bar zu Ende. Sie sah in dem zuckenden Schein des Feuers heiter und rosig aus, obgleich sie niemals noch unter ihrem Gebrechen so sehr gelitten hatte wie während dieses Tanzes. Gabriel kehrte dann sehr bald in die Nordstellung zurück, und auch die Frauen gingen nach Hause. Das Volk aber blieb noch lang und warf immer neue Nahrung in das Feuer. Unter den Tänzern ragte sonderbarerweise Sarkis Kilikian, der Russe, als ein Meister hervor. Trotz seines wenig einladenden Äußeren wurde er von den Mädchen als Partner begehrt. Er tanzte mit geschmeidigen und erfinderischen Gliedern, während sein jugendlicher und lebensmatter Totenkopf mit feierlicher Wurstigkeit über den Tänzerinnen schwebte. Der schwachsinnige Kework drehte sich selbstversunken zwischen den Paaren. Er hatte diesmal keine Sonnenblume, sondern einen abgerissenen Myrtenzweig in der Hand.

Dies ist, mit groben Strichen gezeichnet, das Leben, wie es sich in den ersten vierzehn Tagen des Musa Dagh abspielte. Im Keime war alles vorhanden, was das Leben der ganzen Menschheit ausmacht. Unser Volk befand sich in einer Einöde, ausgesetzt im leeren Raum. Der Tod umgab es fugenlos, und nur Schwärmer konnten auf eine Erlösung von dem Tode hoffen. Des Volkes kurze Geschichte entwickelte sich nach dem Naturgesetz des geringeren Widerstands. Dieses Gesetz hatte ihm auch die gemeinwirtschaftliche Lebensform aufgezwungen, in die sich die meisten wohl oder übel fügten, obgleich sie die freie Selbstverköstigung dem Zwange weit vorzogen. Die Reichen aber, zuvörderst die schwergeschädigten Herdenbesitzer, litten tief unter der Entziehung ihres Eigentums. Die klare Überzeugung, daß sie auf dem Wege der Verschickung nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihr Leben viel früher würden verloren haben, half ihnen dennoch nicht über die Bitterkeit der Verarmung hinweg. Auch jetzt, da doch die Lebensdauer nur mehr eine Frage von Wochen oder Tagen war, taten diese Personen alles, um sich von der grauen Masse durch eine begünstigte Lebensform wenigstens dem Scheine nach zu unterscheiden. Trotz der schweren Anforderungen, die der Tag stellte, war die Sehnsucht des Volkes nach Vergessen, nach Genießen, ja sogar nach Geist ebensowenig zu unterdrücken wie in allen anderen Menschenstädten der Welt. Es gab einen Mann wie den Apotheker Krikor, desgleichen sich gewiß nicht überall fand, einen großen Stoiker, der unter dem blutigen Schwerte noch seine allumfassende Wissenschaft weniger aus der geliebten Bücherei als aus dem furchtbaren Nichts schöpfte. An den Rändern der Einöde waren Verteidigungswälle gegen den Tod errichtet, doch innerhalb dieser Wälle fühlte sich das Volk ganz unbegreiflich sicher und so geborgen, daß es in lächerliche Streitigkeiten verfiel, daß es am Abend sang und tanzte. Unüberwindbar blieben die Bedingungen des Lebens. Eine Rückkehr ins Tal gab es nicht, in die paradiesische Vorzeit, aus der diese kleine Menschheit, ohne ihre Schuld zu kennen, durch einen grausamen Befehl der höchsten Regierungsstelle verjagt worden war. Rückkehr gab es nicht, dafür aber gab es vortreffliche Männer, die eine gütige Fügung dem Volke in seiner Not geschenkt hatte. Diese hervorragenden Persönlichkeiten, diese unerschrockenen Führer machten sich die Bedingungen des Mosisberges bis zu einem gewissen Grade dienstbar, so daß zutrauliche Gemüter in freundlichen Stunden hoffen konnten: Das Schicksal wird am Ende nicht unsere Führer, sondern unsere Führer werden am Ende das Schicksal unterwerfen.

In der Mitte der Ansiedlung erhob sich der Altar. Wenn zur Zeit der letzten Nachtwache, eine Stunde vor dem Morgengrauen, die verblassende Milchstraße über ihm kreiste, als sei er Mitte und Nabel des Alls, dann kniete Ter Haigasun, sein Priester, manchmal auf der obersten Stufe, den Kopf aufs offene Meßbuch gepreßt. Ter Haigasun war ein lebenserfahrener, skeptischer Mann. Gerade darum aber sammelte er die Mächte des Gebetes so leidenschaftlich in seiner Brust. Wenn keiner mehr an Rettung glaubte, so mußte er als einziger und letzter durchdrungen sein vom kommenden Wunder, von der Gewißheit des Heiles und dem bergeversetzenden Glauben an die Erlösung vom Tode. Um diesen bergeversetzenden Glauben an ein Paradoxon, angesichts des hiesigen Lebens unbegreifbar, rang die Seele Ter Haigasuns im einsam schamhaften Gebet.

Juliette hatte sich zu einer gänzlich neuen Lebensführung aufgerafft. Sie erhob sich jetzt knapp vor Sonnenaufgang, kleidete sich schnell an, um Mairik Antaram bei der Milchverteilung zu helfen und so früh wie möglich unter den Kranken im Lazarettschuppen zu sein. Was sie leistete, war noch immer keine Tat des Erbarmens, sondern etwas weit Schwierigeres, ein Versuch, sich dem ganz und gar Fremden unterzuordnen und einzugliedern. Es gab keine andere Möglichkeit für sie. Gabriel hatte recht gehabt. Niemand kann gewissermaßen als Ausländer von Distinktion unverbunden und unverbindlich in einer menschlichen Gemeinschaft hausen, die den Tod erwartet.

Ein oberflächlicher Menschenbeobachter könnte sich hier leicht wider Juliette verhärten: Was wollte denn diese Hochnäsige? Worauf eigentlich war sie so eingebildet, daß sie sich nach fünfzehnjähriger Ehe noch immer gegen die Welt ihres Gatten sträubte? Lebte nicht jetzt in derselben Stunde so manche europäische Frau in diesen Ländern, die mit Heldenmut ihr Leben dem gemordeten und geschändeten Armeniervolke weihte? Gab es nicht eine Karen Jeppe in Urfa, die in ihrer Wohnung die Flüchtlinge versteckte und mit ausgebreiteten Armen die Tür vor den Saptiehs schützte, bis sie abzogen, denn eine Dänin abzuschlachten wagten sie doch nicht. Reisten nicht deutsche und amerikanische Diakonissinnen unter den schwersten Strapazen bis nach Deïr es Zor und in die Wüste hinein, um den verhungernden und umherirrenden Frauen und Kindern der Ermordeten ihre schwache Hilfe zu bringen? Und diese Frauen waren mit keinem Armeniermann verbunden und hatten keinen Armeniersohn geboren. Solche Vorwürfe scheinen zu treffen, sind aber dennoch ungerecht. Juliette war viel zu unselig, um kalt und überheblich zu sein, sie war der Mensch auf dem Musa Dagh, der über das allgemeine Leiden hinaus noch tief unter sich selbst litt. Als Französin war ihr eine gewisse Starrheit angeboren. Die Romanen sind bei all ihrer äußeren Geschmeidigkeit innerlich unbeweglich und abgeschlossen. Sie sind formvollendet. Sie haben ihre Form vollendet. Mögen die Nordländer noch immer wie Wolkengebilde voll Spannung und Verwandlung sein, die Franzosen lieben es im allgemeinen, weder aus ihrem Land noch aus ihrer Haut zu fahren. Juliette teilte diese Starrheit ihrer Rasse in hohem Maße. Ihr fehlte die Einfühlungskraft, die zumeist ein Kind der formlosen Unsicherheit ist. Hätte Gabriel von Anfang an den stetigen Willen gehabt, sie mit vorsichtiger Hand seiner Stammeswelt entgegenzuführen, vielleicht wäre alles anders geworden. Doch Gabriel gehörte ja selbst zu den Parisern, zu den Assimilianten, die von Armenien als von einer klassisch vornehmen, aber ein wenig unwirklichen Sache sprachen. Der spärliche Verkehr mit Armeniern, die bewegten politischen Gespräche im türkischen Revolutionsjahr, die Aufnahme Samuel Awakians ins Haus, dies alles reichte nicht hin, um einer Frau wie Juliette eine rechte Vorstellung von den Dingen zu geben, geschweige sie auf die eigene Seite herüberzuziehen. Sie wußte fünfzehn Jahre lang im Grunde nicht mehr, als daß sie einen ottomanischen Staatsbürger geheiratet hatte, doch was es heißt Armenier sein, welche Schicksale und Pflichten es mit sich bringt, das war ihr erst vor wenigen Wochen schreckhaft bewußt geworden. Die Schuld an Juliettens Verwirrung lag demnach zum großen Teil in Gabriel selbst. Nun rächte sich an ihr seine liebende Schwäche, die immer die Überlegenheit der Französin anerkannt und mit größtem Zartgefühl ihr die Schärfen der Blutsverschiedenheit ferngehalten hatte. Doch warum hätte er sich in Paris anders verhalten sollen, war er doch selbst erst durch die Zwangslage in Yoghonoluk zu seinem Armeniertum erwacht. Er mußte jetzt oft an die Worte des Agha Rifaat Bereket denken: »Du hast sie geheiratet, und folglich bleibt sie dem Karma deines Volkes verfallen.« Juliette war wirklich diesem Karma verfallen, denn angenommen, sie hätte sich ohne Gabriel und Stephan gerettet, wäre sie nicht ebenso unglücklich oder unglücklicher gewesen als jetzt?

Gabriel und Stephan, die einzigen Menschen, die sie auf der Welt besaß, waren ihr nah und waren ihr doch so ferne, als ob das Weltmeer zwischen ihr und ihnen läge. Sie kümmerten sich kaum um sie, sahen sie mit heimlicher Strenge an. Keiner von beiden konnte ihr Liebe zeigen. Sie liebten sie nicht. Und die andern alle? Das Volk haßte sie. Juliette spürte es an den erstarrten Gesichtern, an dem jähen Schweigen, sooft sie ins Lager kam. Die Mißgunst der Weiber verbrannte ihr den Rücken, wenn sie an den tratschenden Gruppen vorüberging. Die Muchtarin Kebussjan, diese Spionin, mochte ihr schöntun, soviel sie wollte, Juliette spürte, daß man ihr alles übelnahm, sowohl ihre Absonderung als auch ihren Pflegedienst, vor allem aber den Dreizeltplatz, über dessen märchenhaft reiche Versorgung mit allen Leckerbissen und Glücksgütern der Welt die gierigsten Gerüchte umzugehen schienen. Fremdenhaß und lächerlicher Neid folgten ihr in allen Blicken, davon war Juliette überzeugt. Was hatte dagegen der Snobismus von zwei Narren wie Schatakhian oder Oskanian zu bedeuten, die sich in ihrer Gegenwart teils durch zutunliches Geschwätz, teils durch überhebliches Schweigen wichtig machten? Gut zu ihr war bloß Mütterchen Antaram. Doch diese Güte genügte ihr nicht. Sie kam nur aus dem Mitleid eines großen Frauenherzens, das sich der Not bedrängter Schwestern erbarmte. Und Iskuhi? Zwischen der Älteren und der Jüngeren hatte sich eine hilfsbereite Freundschaft angebahnt. Und doch, gerade Iskuhi war die Fremdeste der Fremden, sie war mehr als alle Volksfrauen der Mittelpunkt des Unüberwindlich-Andern. Juliette erlebte in diesen Tagen eine unbeschreibliche Verlorenheit. Sie, die Herrschende und Glänzende, die immer Wärme, immer Bewunderung hervorgerufen hatte, nun war sie nur geduldet und, schlimmer, nicht geachtet. Sie wähnte, unter der allgemeinen Mißgunst täglich häßlicher zu werden. Sie vernachlässigte ihr Gesicht, sie pflegte ihre Erscheinung nicht mehr, weil sie sich der gewohnten Sorgfalt schämte und die Müdigkeit sie niederzog. Verfolgungswahn! Die Armenieraugen ringsum schienen sie anzuklagen und ihr allein die Schuld zu geben. Aus dem allem aber wuchs eine neue Qual: Frankreich! Die Kriegsnachrichten, die bis in das Tal des Musa Dagh gedrungen waren, stammten sämtlich aus türkischen Zeitungen und lagen viele Wochen, ja Monate zurück. Juliette wußte also nur von Niederlagen Frankreichs, sie wußte, daß die feindlichen Armeen im Herzen ihrer Heimat standen. Sie, die sich stets nur um die eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte, sie, die von Politik und allgemeinen Schicksalen immer gelangweilt und unberührt geblieben war, sie wurde nun auf einmal durch zehrende Sorgen um das Vaterland überwältigt. Ihre Mutter, mit der sie sich so wenig verstand, ihre Schwestern, mit denen sie so gut wie zerworfen war, kamen ihr im Traume jetzt unendlich nah, ja sie beherrschten ausschließlich ihre Nächte in dem kleinen Zelt. Die Mutter lag immer wieder auf dem Sterbebett. Juliette war mit einem heimtückischen Bummelzug auf der Gare de l'Est eingefroren und barfuß, halbnackt, nur mit einem tscharschaffartigen Schlafrock bekleidet, durch hundert endlose Gassen in Mamas Wohnung gerannt. Die Sterbende aber wandte mit großer Kunstfertigkeit ihr starres Gesicht von der Tochter ab, wie diese sich auch drehte und wendete, um einen Blick zu erhaschen. Doch nicht nur Mutter und Schwestern, sogar die beiden Schwäger, der eine Beamter im Marineministerium, der andre Ingenieur, spielten eine gekränkte und ablehnende Rolle, zu der sie als schwerverwundete Reserveoffiziere das volle Recht hatten. Pensionatsfreundinnen tauchten auf, die Juliette schnitten, obgleich sie sich vor ihnen auf die Knie warf. Dann und wann erschien der tote Vater, fein wie immer, im schwarzen Gehrock mit schwarzen Glacéhandschuhen, das rote Bändchen im Knopfloch. Er sah Juliette erstaunt an und wiederholte seine Lieblingswendung immer wieder: »So etwas tut man nicht.«

Je schlimmer aber die Nächte waren, um so pünktlicher kam Juliette zur Arbeit. Sie wollte gar nicht »menschlich« sein, wie Gabriel ihr geraten hatte, sie wollte nur ihre Alleinheit, ihre Verlorenheit überwinden. Mit großer Hingabe diente sie. Ihre Geruchsnerven besiegend, kniete Juliette neben die Kranken hin, zu diesen halbbewußtlosen Alten auf ihren groben Decken, sie entblößte ihre fiebernden Körper, befreite sie vom Schmutz, wusch ihnen die entstellten Gesichter mit den Toilettewässern, die sie noch besaß. Sie opferte in diesen Tagen viel. Einen Teil ihrer eigenen Wäsche gab sie hin, aus ihren Bettlaken ließ sie Windeln für Säuglinge und Wickel für die Kranken zuschneiden. Für sich selbst behielt sie nur das Notwendigste. Doch wie sich Juliette auch bemühte, in den stumpfen Fischaugen der Fiebernden und in den abweisenden Augen der Gesunden war keine Dankbarkeit, ja nicht einmal Anerkennung für sie, die Fremde, zu lesen. Selbst Gabriel fand kein Wort des Lobes für sie. Vor zehn Tagen noch so ritterlich um seine Frau bemüht, war sie auch für ihn nun zum überflüssigen Ballast geworden. Und in dieser Verlassenheit mußte sie sterben, einsamer und ärmer als der Ärmste hier oben auf dem Musa Dagh.

In solchen Stunden des überschwellenden Selbsterbarmens verhehlte Juliette geflissentlich vor ihrem eigenen Herzen, daß sie durchaus nicht so ganz verlassen war. Gonzague Maris wich nicht von ihrer Seite, seitdem er die unselige Verlorenheit in ihren Augen bemerkt hatte. Er verdoppelte seinen aufmerksamen Dienst und sprang ihr helfend bei, wo und wie er nur konnte. Juliette sah mehr denn je in ihm den Sohn einer französischen Mutter, den Kulturmenschen ihresgleichen, einen entfernt Verwandten. Seit den letzten Tagen aber war die gute Vertraulichkeit zwischen ihnen durch irgend etwas gefährdet, nicht nur von seiner Seite, sondern auch von ihrer. Die Grenze hatte er nach wie vor nicht überschritten. Doch ließ er sie zum erstenmal ein Begehren spüren, ohne die Ehrerbietung auch nur im leisesten zu verletzen. Dieses An-der-Grenze-Sein, diese Nähe ohne Berührung brachte Juliette neue Verwirrungen. Sie mußte viel an Gonzague denken. Dazu kam, daß er ihr trotz der französischen Mutter noch immer recht unheimlich war. Menschen, die sich stets in der Hand haben, Menschen, die unendlich lang warten können, sind unheimlich. Auch gehörte Gonzague zu denjenigen, welche in der Erregung nicht rot, sondern bleich werden.

Die Veränderung aber hatte damit begonnen, daß Gonzague Maris von einem Tag zum anderen jene verschwiegene Reserve verlor, die Juliette nie hatte begreifen können, und ihr von seinem Leben zu erzählen begann.

Juliette blieb jeden Morgen drei oder vier Stunden im Lazarettschuppen, so lange zumeist, bis die Kranken ihr Mittagessen bekommen hatten. Um diese Zeit wurde sie gewöhnlich von Gonzague Maris abgeholt. War sie noch nicht fertig, so wartete er. Seine aufmerksamen Augen lagen unablässig auf ihr. Sie fühlte sich von diesen Augen umhegt. Und es war auch so. Denn wenn sie sich, nicht ohne eine leichte Absicht, allzulange verwirtschaftete, trat er zart an sie heran und flüsterte:

»Jetzt ist es genug! Lassen Sie die Dinge stehn, Juliette! Sie sind zu gut für solche Arbeit. Sie wird Ihnen schaden.«

Mit sanfter Entschiedenheit zwang er sie dann, den Krankenort zu verlassen. Sie ging gerne mit ihm. Da Gonzague keiner Pflicht unterworfen war und eine solche vom Führerrat auch nicht erbat, hatte er seine Zeit dazu benützt, auf der Meerseite des Damlajik einige wunderschöne Naturwege, Aussichtspunkte und Ruheplätze zu entdecken. Sie seien ebenso schön, behauptete er, wie dergleichen berühmte Örtlichkeiten an der Riviera. Juliette und Gonzague saßen jetzt täglich zu den verschiedensten Stunden auf den luftigen oder geschützten Sitzen, auf den freien oder schattigen Felsvorsprüngen dieser Riviera, die sich, durch ein breites Gürtelband der Myrten-, Rhododendron- und Arbutusbüsche von der Hochfläche getrennt, in einer langen auf- und absteigenden Linie am Rande der Riesenmauern hinzog, mit denen der Küstenberg ins Meer stürzt. Beide fühlen sich unendlich allein. Denn wer wollte sie, die Fremden, vermissen?

An diesem Tage, dem vierzehnten des August und dem fünfzehnten des Musa Dagh, schien Gonzague Maris ein ganz andrer zu sein als sonst. Juliette hatte ihn noch nie so traurig gesehn, so knabenhaft melancholisch, so ziellos beschattet. Seine Augen – in denen keine Weite lag, selbst wenn sie ins Weite sahen – ließ er, wie Juliette annahm, ins Endlose schweifen. In Wirklichkeit aber richtete er seinen Blick auf einen ganz bestimmten Punkt, der freilich durch eine vorgelagerte Bergnase verdeckt war. Seine Gedanken suchten die Mündungsebene des Orontes mit den großen, in der Sonne blitzenden Gebäuden der Spiritusbrennerei. Juliettens Frage, die ihrem, nicht seinem Zustand entsprach, war daher sehr verfehlt:

»Haben Sie Heimweh, Gonzague?«

Er lachte kurz auf, und sie verspürte beschämt den peinlichen Unsinn ihrer Worte. Sie gedachte seines Lebenslaufes, den ihr Gonzague in einigen Bruchstücken mit leicht wegwerfender Ironie erzählt hatte, als sei er daran nur halb und nicht einmal mit seinem besten Wesensfragment beteiligt. Der Vater, ein Bankier in Athen, hatte eine französische Gouvernante zu seiner Mutter gemacht. Als das Kind noch nicht vier Jahre alt war, kam es zu einer Katastrophe. Papa entwischte nach Amerika und ließ die Mutter mit Kind und ohne Geld zurück. Mama aber, die für den Durchgeher noch immer Liebe empfand, reiste unter großen Schwierigkeiten mit dem kleinen Gonzague hinüber. Dort gelang es ihr zwar nicht, den richtigen Mann stellig zu machen, doch bei der Jagd fand sie schließlich einen andern. Es war ein älterer Schirmfabrikant aus Detroit, der Mama heiratete und den Knaben adoptierte. »Ich kann deshalb«, gestand Gonzague, »mit vollem Rechte zwei Namen verwenden. Aber ich finde, daß der Name Gonzague MacWawerley bei meinem Äußeren sehr unwahrscheinlich klingt, ich bleibe deshalb bei Maris.« Er begründete diese Namenswahl mit großem Ernst. Der armen Mutter Gonzagues war in der Ehe mit dem Schirmfabrikanten kein dauernder Segen beschieden. Die Gemeinschaft wurde getrennt, sie mußte das Haus in Detroit verlassen, und Gonzague wanderte von Internat zu Internat, bis er fünfzehn Jahre alt war. Um diese Zeit lernte er durch Schicksalsfügung seinen wahren Vater kennen, der es wieder zu einem bescheidenen Vermögen gebracht hatte. Der alte Mann kämpfte mit Gewissensbissen, da Gonzagues Mutter auf der Armenabteilung eines New-Yorker Hospitals gestorben war. Er schickte den Sohn mit etwas Geld nach Athen zu seinen Verwandten. Von den nächsten Jahren erzählte Gonzague nur in der trockensten Kürze. Sie seien weder gut noch schlecht und schon gar nicht interessant gewesen. Erst sehr spät, nach einer elenden Kindheit und abscheulichen Jugend, habe er sich in Paris selbst gefunden; das heißt, er habe in sich einige mäßige und recht gewöhnliche Gaben entdeckt, mittels deren er jedoch immerhin befähigt sei, sich durch die Welt zu schlagen. Seit Jahren lebe er in der Türkei, nachdem er durch die Hilfe väterlicher Verwandten den Weg nach Stambul und Smyrna gefunden habe. In Stambul bediene er die Korrespondenten amerikanischer Zeitungen mit Berichten und Lebensschilderungen aus der inneren Türkei. Er studiere aber auch, wenn es ihm nicht gerade glänzend gehe, bei kleinen italienischen Operngesellschaften und Wiener Operettentruppen die Chöre ein. Zuletzt habe er sich sogar einem Kabarett-Manager aus Pera als Klavierbegleiter verdungen, um bei der Kunstreise eines Häufleins abgetakelter Chansonetten und Tänzerinnen in der dunkelsten Türkei mitzuwirken.

Dies alles klang völlig wahrhaftig. Was hätte auch an all den trüben und banalen Dingen erlogen oder aufgeschnitten sein sollen? Gonzague hatte diesen dürftigen Abriß seiner Lebensschicksale so nachlässig zu Worte gebracht, als stünden sie tief unter ihm, als seien sie die niedrige Voraussetzung für sein eigentliches Leben, von dem nur seine Augen sprachen, wenn sie auf Juliette lagen. Sie glaubte an die Wahrheit des Erzählten, und dennoch kam es ihr auswechselbar vor. Eine Sekunde lang durchzog sie der Argwohn, daß Gonzague wahrscheinlich für jede Frau jeweils eine andre, aber ebenso farblose Vergangenheit besitze.

»Wie viele Frauen«, forschte sie, »waren bei der Künstlertruppe, die Sie bis Alexandrette begleitet haben?«

Die Erinnerung an diese Truppe schien für ihn so lästig zu sein, daß er die Frage fast mürrisch beantwortete:

»Achtzehn oder zwanzig werden es gewesen sein.«

»Es waren doch gewiß auch junge und hübsche darunter. Ist Ihnen eine nahegestanden, Gonzague?«

Er schüttelte eine solche Zumutung erstaunt ab:

»Artisten führen ein ernstes und nüchternes Leben. Und für Kokotten bedeutet die Liebe eine Arbeitsleistung, die sie nicht überflüssig verschwenden.«

Juliettens Neugier gab so schnell nicht nach:

»Sie haben sich einige Monate lang in Alexandrette aufgehalten. In einer kleinen schmutzigen Hafenstadt ...«

»Alexandrette ist gar nicht so lächerlich wie Sie meinen, Juliette, es gibt dort einige sehr kultivierte armenische Familien mit schönen Häusern in großen Gärten ...«

»Ach so, ich verstehe, eine dieser Familien war der Grund Ihres langen Aufenthaltes ...«

Gonzague leugnete nicht, daß er für eine junge Dame in Alexandrette Neigung gefaßt und daher seinen Vertrag mit der Varieté-Gesellschaft gebrochen habe. Juliette sah merkwürdigerweise bei Erwähnung jener Dame Iskuhi vor sich, doch aufgeputzt, geschminkt und mit Schmuck behangen, was zu ihrem Bild ja gar nicht paßte. Gonzague enthielt sich jeder weiteren Schilderung seines Erlebnisses und erklärte, die Geschichte sei ein Irrtum gewesen und nun versunken und vergessen. Nur einen einzigen Zweck habe sie gehabt, ihm über Beilan den Weg nach Yoghonoluk zu weisen, den Weg in die Villa Bagradian.

Wenn Juliette das Sein und Haben Gonzagues überdachte, so kam ihr die eigene Verlorenheit nicht mehr so grausam vor. Gab es ein raffinierteres Nirgendhingehören als das seine? Wie unter einem Glassturz von Öde und Liebesverlassenheit saß er traurig neben ihr. Er hatte sich entschlossen, an Juliettens Todesschicksal bescheiden teilzunehmen, ohne Wimperzucken, ohne Dank zu fordern, als handle es sich nur um eine kleine Galanterie, die nicht der Rede wert ist. Und dabei hatte Gonzague noch hunderttausendmal weniger hier zu suchen als Juliette. Wie störte sie das Wort »nostalgie«, das sie vor einer Weile ausgesprochen hatte! Wonach sollte dieser Arme denn Heimweh empfinden? Vor seinen Blicken lag nur das Leere. Jetzt begriff Juliette, warum der junge Mensch, der sich eines mikroskopischen Gedächtnisses rühmte, gar keine oder auswechselbare Erinnerungen hatte. Dieser junge Mensch, der ihr mit angespannter Zurückhaltung so viel liebende Sorgfalt erwies, hatte selbst niemals Liebe empfangen. Knabenhaft saß er neben ihr auf einem glatten Felsblock, ganz dicht, von der Schulter bis zum Knie; doch er berührte sie nicht, er ließ noch immer eine Ahnung von leerem Raum zwischen sich und ihr. Dieser messerscharfe Abstand der Tugend und Selbstüberwindung brannte fast. Gonzague schwieg. Doch in Juliettens Herzen ging ein sehr gefährliches süßes Mitleid auf. »Gonzague«, fragte sie und erschrak vor dem Gesang in ihrer Stimme. Langsam wandte er sich ihr zu. Es war wie Bestrahlung. Sie nahm leise seine Hand. Nur um sie zu streicheln. Doch dann konnte sie nicht anders. Ihr Gesicht, ihr Mund schob sich vor. Auch Gonzagues Augen erloschen. Eine letzte wartende Aufmerksamkeit verzuckte in ihnen, dann starb der Blick. Er ließ Juliette ganz nahe kommen, ehe er sie mit einem plötzlichen Ruck an sich riß. Sie wimmerte leise unter seinem Kuß. Die Jugend der treuen Frau war vorübergegangen und sie hatte nicht erfahren, wieviel fremde Wollust in ihr erweckbar war. Sofort aber entstand ein Schmerz, der ihr den Kopf zersprengen wollte. Es war der gleiche, beinahe hypnotische Kopfschmerz wie damals, als Gonzague das erstemal im Empfangszimmer von Yoghonoluk so düster Klavier gespielt hatte. Sie stieß den Mann zurück, um ihre Abwehrkräfte zu sammeln. Ein Gedanke wuchs auf: Nicht er hat meine, sondern ich habe seine Hand genommen. Nun bin ich in seiner Hand. Hinter diesem Gedanken schoß ein zweiter höher: Er hat mich seit Wochen mit voller Absicht so weit gebracht, damit ich die Schuldige sei. Im nächsten Augenblick flossen die Abwehrkräfte in sich zusammen, denn Gonzague hielt Juliette an seine Brust gepreßt und küßte sie wieder. Die Kopfschmerzen zergingen in unerträgliches Glück. Purpurne Finsternis, und fern in ihr ein letzter dünner Lichtspalt des Entsetzens: Ich bin verloren. Denn jetzt erst, in seinen Küssen, wurde dieser verhaltene junge Mensch, dieser zart dienende Begleiter, zu dem wahren Gonzague: Nicht mehr ein adrettes Kind des Nichts, sondern eine ungeahnte Kraft, glücklich und unglücklich zu machen. Sein Mund sog aus ihr das Geheimnis, das sie selbst nicht kannte, beseligend und rachsüchtig.

Er ließ sie erst los, als das furchtbare Schreien anhob. Sie fuhren erschrocken auseinander. Eine Herzschwäche drohte Juliettens Atem zu ersticken. Meine Haare sind aufgegangen, dachte sie und versuchte ihre Hände zu heben, als wären es schwere Werkzeuge. Was ist das? Er stützte sie. Sie gingen in die Richtung, woher das höllische Geschrei kam. Nach wenigen Schritten schon erkannte er es:

»Die Esel des Lagers! Sie sind toll geworden.«

Und tatsächlich, als Gonzague und Juliette zum nahen Pflockplatz der Pack- und Reittiere kamen, hatten sie ein Bild wie aus einem wüsten Traum vor sich. Die braven Esel schienen in wilde Fabelwesen verwandelt zu sein, rissen an den Halftern, stiegen hoch, tanzten auf den Hinterbeinen und schlugen nach allen Seiten aus. Schaum troff aus ihren Lefzen, ihre Augen waren verglaster Schreck. Auch die langen Laute, die sie ausstießen, glichen eher einem trillernden Gewieher als dem ärmlichen Auf und Ab der Eselsprache. Ein Wahnsinnsphantom schien die Kreaturen in Angst versetzt zu haben. Es war kein Wahnsinn. Der Tierinstinkt hatte die Wirklichkeit knapp vor ihrem Eintreten vorausgefaßt. Fern, jenseits des Nordsattels, dröhnte ein breiter Schlag, nach einigen Atemzügen begann oben etwas näher zu rauschen, dann folgte ein kurzer, scharfer Knall und südab von der Stadtmulde stand in mäßiger Höhe eine schneeweiße Wolke. Die Esel schwiegen jäh. Ein sanftes Winseln und Flöten versäuselte ringsum. Die Menschen stürzten aus den Laubhütten. Nur die wenigsten wußten, was vorging, und daß dieses feine Wölkchen über dem Berg eine Schrapnellwolke war.

Das Geschützfeuer überraschte auch Gabriel Bagradian im Lager.

Er war müde, da er in der letzten Nacht kaum geschlafen hatte. Immer wieder waren beunruhigende Meldungen von den einzelnen Abschnitten eingetroffen. Ohne Zweifel trieben sich in den zwei letzten Nächten türkische Späher vor den Stellungen umher und versuchten durch die Postenkette zu schlüpfen. Bagradian hatte daher für die kommende Nacht die große Bereitschaft anbefohlen und einen ständigen Patrouillendienst eingesetzt. Als er gegen Mittag auf der Bank seines Hauptquartiers saß, um sich einen Augenblick auszuruhen, wurde er von einem qualvollen Wachtraum heimgesucht, Juliette lag tot auf dem breiten Bette des Pariser Schlafzimmers, und zwar querüber. Sie war mehr als tot, sie war gefroren, ein einziges Stück mattfleischfarbenen Eises. Um die Leiche seiner Frau aufzuschmelzen, sollte er sich neben sie legen ...

Mühsam schüttelte er diesen Tagmahr ab. Es war klar, er benahm sich schlecht zu Juliette. Aus Feigheit wich er ihr aus, Gott weiß wie lange schon. Wenn sein Amt und sein Leben ihm jetzt auch keine Minute frei ließ, so war dies doch nicht der Grund, der seinem Gewissen standhalten konnte. Er entschloß sich daher, bis heute abend das Kommando an Nurhan Elleon abzugeben, um den Nachmittag mit Juliette zu verbringen. Im Zelt fand er sie nicht. Iskuhi trat gerade aus dem ihren. Bruder Aram war bei Howsannah. Sie wollte das Ehepaar nicht stören. Gabriel bat Iskuhi, bei ihm zu bleiben, bis Juliette heimkehre. Sie ließen sich auf den kurzgemähten Grasboden des Dreizeltplatzes nieder. Gabriel dachte angestrengt nach, was sich an Iskuhi so auffallend verändert haben könne. Ja, das war es, sie trug nicht mehr eines der Kleider, die ihr Juliette geschenkt hatte, sondern ein weites, großgeblümtes Gewand aus hellem, leichtem Stoff mit hoher Taille und Puffärmeln, das einen altmodischen Eindruck machte und auch der einheimischen Frauentracht nicht glich. Iskuhis zerbrechliche Gestalt war ihm früher oft arm und abgehärmt erschienen. Das bauschige Kleid aber verlieh ihr eine zarte schwebende Fülle und verbarg den gelähmten Arm. Noch nie habe ihr ernstes Gesichtchen so frei geleuchtet, dünkte es Gabriel, wie unter dem breiten Seidenschal, den sie über den Kopf geworfen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen. Er sah mit Erstaunen, daß Iskuhi einen ziemlich großen und leidenschaftlichen Mund hatte. Einen roten Schleier müßte sie tragen, fiel ihm ein. Und da er heute seinen müden und träumerischen Tag hatte, erwachten in seinem Bewußtsein Bilder aus der Urzeit des Lebens:

Yoghonoluk, das Haus des Großvaters. Auf dem weichen Grasboden des Parks ist das weiße Damasttuch für das Frühstück schon ausgebreitet. Alles erwartet ehrfürchtig Awetis Bagradian, den Alten, zur ersten feierlichen Mahlzeit des Tages. Auf dem Dreifuß dampft der silberne Teekessel. In Körben häufen sich Berge von Aprikosen, Weintrauben und Melonen auf flachen Schüsseln. Hölzerne Teller mit frischen Eiern, Honig und Aprikosenleder. Unter einer blendenden Serviette wartet das dünne Brot, das der Hausherr nach dem Gebete brechen wird. Gabriel ist acht Jahre alt und hat einen ähnlichen Entari-Kittel am Leib, wie Stephan ihn jetzt trägt. Wäre das Frühstück nur schon vorbei! Dann wird er sich auf den Hängen des Musa Dagh umhertreiben, um große Geheimnisse zu entdecken. Indessen schaut er gebannt auf das faltige Damasttuch. Vielleicht verbirgt sich eine große Schlange darunter. Ein goldenes Rauschen verkündet das Nahen des Großvaters. Doch sonderbar, der alte Awetis ist nichts anderes als dieses goldene Rauschen, er tritt aus ihm nicht hervor, sein goldener Klemmer an der Schnur, sein weißer Spitzbart, sein schwarz-gelber Morgenrock, seine roten Saffianschuhe werden nicht sichtbar, sein Bild bleibt verborgen, obgleich er mächtig da ist. Dafür aber sieht Gabriel, wie alle Frauen langsam den Schleier über den Kopf ziehen und dem Herrn ehrfürchtig den Rücken kehren, wie es sich geziemt. Ist das eine wirkliche Erinnerung oder nur eine aus Erinnerungsstücken falsch zusammengesetzte Einbildung? Gabriel wußte es nicht. Iskuhi aber war jedenfalls, unbekannt warum, dem Teppich seiner Urzeit eingewoben. Sie saß ihm gegenüber auf der Erde. In ihr Gesicht versunken, erinnerte er sich erst nach langer Zeit, daß man auch etwas sprechen müsse:

»Was haben Sie zu Stephan, diesem Monstrum, gesagt, Iskuhi?«

Sie spreizte die Finger der rechten Hand auseinander. Eine Geste des Unbehagens und der Mißbilligung:

»Ich war entsetzt, Gabriel Bagradian, und ich war ganz verzweifelt, daß er es meinetwegen getan hat.«

Er zögerte mit seinen Worten:

»Auch ich war natürlich entsetzt. Die Folgen dieses Dummenjungenstreiches sind nicht auszudenken. Nun, Gott sei Dank ist es gut abgelaufen. Eine Warnung für mich! Man muß auf den Burschen besser achtgeben. Aber wie? Er ist in einem schrecklichen Alter.«

Iskuhi bekam ihr altkluges Lehrerinnengesicht:

»Ja, man muß sich mehr um Stephan kümmern. Der Himmel weiß, was in ihm vorgeht.«

»Nicht nur der Himmel weiß es, Iskuhi. Auch ich kann mir ganz gut denken, was in ihm vorgeht ... Wenn er nicht mein Sohn wäre, würde mir der Streich ganz gut gefallen ...«

Er ließ dieses Geständnis ausklingen und fragte erst nach einer kleinen Pause:

»Und Ihre Bibel, Iskuhi? Ist sie wirklich die Dummheit wert, die Stephan begangen hat?«

Iskuhi erhob sich schnell:

»Ich hab sie sehr gern. Schon deshalb, weil sie mir Aram geschenkt hat. Wenn Sie wollen, so zeige ich sie Ihnen. Bitte, warten Sie.«

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, lief sie eilig ins Zelt und brachte das Buch. Jetzt setzte sie sich dicht neben Gabriel. Spitz stachen ihre kleinen Knie unter dem weichen Kleidstoff hervor. Sie wollte die Bibel aufschlagen, stutzte aber, als fürchte sie Gabriels strenges Urteil:

»Künstlerischen Wert hat sie gar keinen, Gabriel Bagradian. Ich aber finde die Bilder hübsch ...«

Gabriel beachtete die Bibel gar nicht, sondern ließ seinen Blick auf Iskuhis Mund verweilen:

»Sie lieben Ihren Bruder wohl mehr als alles andre auf der Welt, wie?«

Dies klang fast wie ein leichter Tadel. Iskuhi schlug ihr Lieblingsbuch angelegentlich auf, als spreche sie nicht gern über ihre Gefühle:

»Wir sind aneinander sehr gewöhnt, Aram und ich. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.«

Sie rückte noch ein bißchen näher und hielt ihm das erste Bild hin, damit er es bewundern könne. Gabriel, der etwas kurzsichtig war, neigte sich über den volkstümlichen Quartband, der aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammte. Die hellkolorierten kindlichen Bildchen besaßen einen gewissen Reiz. Sie erinnerten mit ihren gezierten Figuren, mit ihren schief schmachtenden Gesichtern, mit ihren blumigen Umrankungen an mittelalterliche Evangelienbücher. Der Charakter der Abbildungen war aber alles andre als freundlich fromm. Der armenische Maler hatte sich, der gepeinigten Volksseele entsprechend, mehr für die krassen, pathetischen oder kopfhängerischen Gegenstände entschieden, zumal was das Alte Testament anbetraf: Die Vertreibung aus dem Paradiese! Das lodernde Schwert war ein Krummsäbel und der Erzengel trug eine Glorie, die einem diamantgeschmückten Turban ähnelte. Oder: Kain erschlägt den Abel! Das niederschwelende Feuer des verschmähten Altars ergab eine kriecherisch-satanische Randleiste. Als Gabriel Bagradian gerade die Opferung Isaaks betrachten wollte, krepierte das erste Türken-Schrapnell ein paar hundert Meter südlich der Stadtmulde, unterhalb der ersten Gipfelkuppe des Damlajik. In langen Sprüngen stürzte er davon. Auf dem Wege begegnete ihm Doktor Altouni auf einem Reitesel. Der Alte mußte absteigen. Bagradian mißhandelte das Tier mit Stock und Absätzen, so daß es den Reiter in ungewohntem Galopp in die Nordstellung brachte.

 

Die Türken hatten diesmal ihren Schlag feldmäßiger und listiger vorbereitet. Der Bimbaschi-Militärkommandant von Antiochia, jener freundliche alte Herr mit den schläfrigen Äuglein und roten Kinderwangen, führte den Kriegszug in eigener Person. Sonderbarerweise hatte sein Stellvertreter, der scharfe Jüsbaschi, gerade in diesem Zeitpunkt einen kurzen Urlaub genommen und war nach Aleppo gereist, so daß er außerhalb jeder Verantwortung stand. Da des Bimbaschi ebenso geruhsame wie kluge Mäßigung sich im Rate gegen den Kaimakam und den Major nicht hatte durchsetzen können, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Feldzug gegen den Musa Dagh mit größter Beschleunigung zu rüsten. Der Ärger und die Erbitterung über seine Feinde gaben den Entschlüssen und Vorbereitungen des gemächlichen Mannes einen unerwartet tatkräftigen Schwung. Er verbrachte beinahe einen ganzen Tag im Telegrafenamt von Antakje. Der Morseapparat spielte in die drei Richtungen von Alexandrette, Aleppo und Eskereh, um alle kleinen Ortsbesatzungen des Militärs und der Gendarmerie, die innerhalb der Bezirksgrenzen stationiert waren, auf die Beine zu bringen. Binnen viermal vierundzwanzig Stunden hatte der alte Oberst eine beträchtliche Streitmacht von etwa tausend Gewehren und zwei Geschützen zusammengetrommelt. Sie bestand aus den zwei regulären Kompanien, die in Antakje disloziert waren, aus zwei Zügen desselben Regimentes, die aus den kleinen Ortschaften kamen, aus jener Halbbatterie, die im Laufe dieser Tage in der Garnison eingetroffen war, ferner aus einer ganzen Kompanie Saptiehs und schließlich aus einer großen Freischar von irregulären Tschettehs aus dem Gebirge bei Hammam. Gleichzeitig hatten Kundschafter die Stellungen des Damlajik, wenn auch nicht ganz zuverlässig, so doch zum Teil ausgeforscht. Der Aberglaube an die zwanzigtausend Armenier und ihre Maschinengewehre war in nichts zusammengebrochen. Dem Bimbaschi stand, was Mannschaft und Bewaffnung anlangt, eine derartige Übermacht zur Verfügung, daß die Liquidation des Armenierlagers nur eine Frage von Stunden sein konnte. Die Taktik hatte in einem völlig gedeckten Aufmarsch und in einem überfallartigen Zugriff zu bestehen, dies war das Wichtigste. Beides, der gedeckte Aufmarsch und die Überraschung, gelangen dem Bimbaschi vortrefflich. Sämtliche Beobachter auf dem Musa Dagh wurden getäuscht. Der Oberst hatte seine Armee in zwei ungefähr gleichwertige Einheiten geteilt, die unabhängig voneinander operieren sollten. Die eine Hälfte marschierte in der Nacht des dreizehnten August unter den schärfsten Vorsichtsmaßregeln gegen den Flecken Suedja und lagerte sich, wohlverteilt und verborgen, in den Ruinen von Seleucia, unterhalb der Südbastion. Das andere Korps hingegen, bei dem sich der Kommandant und die Artillerie befand, zog ein Stück der Straße Antakje-Bailan in nordwestlicher Richtung entlang und wandte sich dann auf schlechten Maultierwegen ins Gebirge. Hiebei erhielt der Kriegsplan des Bimbaschi das erste Loch. Die schweren Feldhaubitzen kamen kaum vorwärts, obgleich je zwei Männer unablässig in den Speichen jedes Rades lagen und andere den schweren Sporn der abgeprotzten Geschütze die fünfzehn Meilen des sauren Bergweges mit ihren Händen tragen mußten. Die Packesel, die man als Gespann benützte, erwiesen sich als artilleristische Zugtiere so gut wie unbrauchbar. Die Folge dieser Mißhelligkeit war eine Verspätung von zehn Stunden. Diese Truppe, die schon einen halben Tag früher als die erste aufgebrochen war, kam anstatt in der Nacht des dreizehnten August gegen Mittag des vierzehnten auf den Höhen des Musa Dagh an, welche sich nördlich des Sattels erstrecken. Der Doppelangriff, der für die erste Stunde nach Sonnenaufgang angesetzt war, wurde damit hinfällig. Der Hauptmann, der das Südkorps befehligte, und seine Soldaten, die den Kopf aus ihren Verstecken in den glühenden Ruinen nicht heben durften, waren durch das Ausbleiben des vereinbarten Angriffszeichens (der erste Haubitzenschuß) und durch das endlose Warten unter den Strahlen der erbarmungslosen Sonne schon völlig zermürbt. Noch schlimmer stand es um die Nordgruppe. Ein fünfzehnstündiger Gebirgsmarsch ohne Nachtruhe, nur durch drei kurze Rasten unterbrochen, lag hinter ihr. Der Oberst hätte sich sagen müssen: Ich werde heute meinen Leuten Ruhe gönnen, dem Hauptmann nach Suedja Botschaft senden und den Angriff auf morgen früh verschieben. Der bequemen Natur des alten Herrn gemäß würde auch jedermann hundert gegen eins gewettet haben, daß er diese Entscheidung treffen werde. Und doch geschah das Gegenteil. Bequeme Menschen sind sehr oft auch ungeduldige Menschen. Sind sie in eine unerwünschte Unternehmung verwickelt, so wollen sie mit Knall und Fall fertig werden. Der Bimbaschi befahl dem Mülasim der Artillerie, seine Haubitzen sofort in Stellung zu bringen, ließ in großer Hast abkochen und führte bereits eine Stunde später seine Kompanie in dünnen Schwärmen gegen die armenische Sattelstellung, wo sie sich zuerst in großem Respektabstand in kleinen Schluchten, hinter Bäumen und Felsblöcken mäuschenstill versteckte. Der alte Friedensoberst hielt keine feurige Ansprache an seine Soldaten, sondern fluchte anstatt dessen still in sich hinein. Er fluchte dem Kaimakam und dem Jüsbaschi, er fluchte dem Etappengeneral, der ihm anstatt zerlegbarer Gebirgskanonen diese dicken und unbeweglichen Haubitzen geschickt hatte, er fluchte vor allen Dingen auf Seine Exzellenz, den Herrn Armeekommandanten Dschemal Pascha, den er einen schwarzen, buckligen Schwindler nannte. All diese politischen Offiziere von Ittihad waren seiner Meinung nach ein freches Verrätergesindel. Sie hatten die Verschwörung gegen den alten Sultan angezettelt und hielten den neuen im Palast gefangen. Lächerliche Subalternoffiziere, die sich selbst zu Generalen, Exzellenzen und Paschas ernannten. Früher hätte es dergleichen Kaliber nicht einmal zum Jüsbaschi gebracht. Und die Schande mit den Armeniern verdankte man auch nur diesen Ittihadschweinen. Zu Abdul Hamids goldener Zeit hatte es wohl öfters unter den Christenhunden ein Schlachtfest gegeben, aber nicht eine Schlacht, die ein hoher Stabsoffizier wie er, der Bimbaschi, liefern mußte. Der erschöpfte und zornige Mann wartete mit seinem Stab auf den Eröffnungsschuß. Er hatte dem Haubitzenleutnant befohlen, zuerst ein paar Lagen gegen die Wohnstätten des Armeniervolkes abzugeben. Nicht einmal die sogenannten Generalstabskarten dieses Ittihadgesindels in Stambul stimmten, und man mußte nach den Distanzen einer solchen Karte die Schrapnells und Granaten auf dem Bergrücken des Damlajiks placieren. Der Bimbaschi rechnete damit, daß die Beschießung des Lagers unter den Frauen und Kindern eine Panik verursachen und auch den Kampfesmut der Männer herabstimmen werde.

Die Berechnung war nicht unrichtig. Die Haubitzen hatten mehr Zufalls- als Zielglück. Von zwölf Geschossen gingen drei Schrapnells über der Stadtmulde nieder. Die Füllkugeln richteten nicht nur äußern Schaden an, sondern verwundeten drei Frauen, einen alten Mann und zwei Kinder, glücklicherweise nur leicht. Der Volltreffer einer Granate jedoch zerstörte den Depotspeicher, setzte ihn in Brand und vernichtete den letzten Rest der Mehlvorräte sowie alles, was an Tabak, Kaffee, Reis und Zucker vorhanden war. Der Speicher stand in Flammen, und es muß eine Gnade Gottes genannt werden, daß das Feuer auf die nur mäßig entfernten Laubhütten nicht übergriff. Die Verwirrung unter dem Volk war ebenso groß wie das Unheil. Auf die Kämpfer aber wirkte das Geschützfeuer wie ein zehnfacher Alarm. Wer dienstfrei war, flog an seinen Posten. Nurhan Elleon brachte die Gräben binnen wenigen Minuten auf den vollen Angriffsstand. Die Ordonnanz- und die Spähergruppe der Jugendkohorte versammelte sich hinter den Linien. Als Gabriel Bagradian auf dem Esel herankeuchte, fand er in allen Teilen seiner Maschine schon volle Bereitschaft vor. Wenige Minuten später traf bereits die erste Meldung von der Südbastion ein. Der Überfall glückte somit den Türken nicht vollkommen. Ihr Angriff stieß auf überraschte, aber gefaßte Verteidiger.

Sarkis Kilikian und die Südbastion hatten heute ihren großen Tag. Der Feind war hier noch ohne jede Erfahrung. In dem breiten, vegetationslosen Halbrund des Bergabsturzes mit seinen Steinhalden und Trümmerterrassen hatten die türkischen Späher keinen Vorstoß gewagt. Der kommandierende Hauptmann wußte nicht einmal, ob hinter den zackigen Blöcken des beherrschenden Felsturmes eine Besatzung lag. Die mohammedanische Bevölkerung der menschenreichen Orontesebene, die durch den Bergkrieg erregten Einwohner der Marktflecken Suedja, El Eskel und Jedidje behaupteten, daß sich seit vielen Tagen hinter diesem Felsenkranz nichts mehr rühre und in der Nacht kein Feuerschein zu sehen sei. Der Kompanieführer jedoch war vorsichtig und supponierte jedenfalls auf dem Südrand des Damlajik armenische Stellungen, wenn auch der Anschein gegen ihr Vorhandensein sprach. Längst hatte er seine Mannschaft in eine Frontal- und in eine Umgehungsgruppe geteilt. Jene bestand aus den regulären Truppen, diese aus den Tschettehs und Saptiehs. Während die einen den unmittelbaren Aufstieg unternahmen, sollten die andern dort, wo der Halbbogen des Berges das Meer berührt, oberhalb des Gebirgsnestes Habaste, der angenommenen Armenierstellung in den Rücken fallen. Der türkische Hauptmann ließ seine Kompanie keine Schwarmlinie bilden, sondern lange gänsemarschartige Ketten, um eine möglichst kleine Schußfläche zu bieten. Da die Tempelruinen Seleucias, die den Soldaten Deckung geboten hatten, auf einer breiten Bergstufe dreihundert Meter über dem Meere lagen, hatten die Angreifer noch einen kahlen Trümmerberg von beinahe der gleichen Höhe zu überwinden, um an den Rand der Steinhalde zu gelangen, die von der Südbastion gekrönt wird. Diese Halde war nicht unbezwinglich steil, bot überall Schützendeckung und war deshalb nach der Ansicht des Bimbaschi weit besser für den Angriff geeignet als irgendeiner der waldigen Aufstiege des Damlajik, der hinter jedem Baum und Busch den Armeniern Schlupfwinkel des Hinterhaltes öffnete. Auch hätte man auf der überall eingesehenen Dörferstraße den Aufmarsch nicht verheimlichen können.

Die Befehlsverhältnisse auf der Südbastion waren durchaus nicht geklärt, was als ein bedenklicher Fehler im allgemeinen Verteidigungsplan Bagradians gelten muß. Seiner Meinung nach war dieser Punkt gerade des freien und steilen Geländes wegen weit weniger bedroht als der Nordsattel und die Eichenschlucht. Deshalb hatte er ja auch in die ziemlich große Besatzung der Bastion alle Deserteure und Pseudodeserteure gesteckt, die unzuverlässige Unterwelt des Damlajik gleichsam, die er dem Volke möglichst fernhalten wollte. Der Abschnittsführer war ein altgedienter Soldat aus Kheder Beg, ein matter und langsamer Mann, der sich gegen das widerspenstig jähzornige Element der Deserteure nicht durchsetzen konnte. Lehrer Oskanian, der Kommissär und vom Kriegskomitee eingesetzte Oberaufseher, hatte es durch seine falsche Schulmeisterstrenge und Wichtigtuerei verstanden, schon am ersten Tage eine lächerliche Figur zu werden. Der aufbegehrende Knirps konnte diesen abgebrühten, vom Leben verprügelten Gesellen nicht die Ehrfurcht einflößen, die zu verdienen er überzeugt war. Es ist demnach nur selbstverständlich, daß die stärkste Persönlichkeit dieses Abschnittes das Heft allgemach in die Hand bekam: Sarkis Kilikian.

Der Russe schien nach seiner Niederlage durch Bagradian eine innere Wandlung erlebt zu haben. Er spielte nicht mehr den ungebundenen Gast, der sich nach Willkür dem Volksleben anbequemte, sondern unterwarf sich von jenem Tag an widerspruchslos der Kriegsordnung. Und mehr als das, er betätigte sich in seinem Abschnitt als erfindungsreicher Festungsingenieur. Die aus großen Steinblöcken lose errichteten Verteidigungsmauern erhöhte und verstärkte er in mehrtägiger rastloser Arbeit und schuf eine primitive, aber sinnvolle Maschine, um die Abwehrkraft vernichtend zu steigern. Hinter jeder dieser drei in ziemlich weiten Abständen der Steinhalde zugewandten Mauern hatte er aus hohen Eichenstämmen rechteckige Galgen errichten lassen. An dem Querpfosten dieser Galgen hing, an starken Hanfseilen waagrecht befestigt, ein dicker Widderbalken, der an dem einen Ende eine Art mächtiger Tischplatte oder eisenbeschlagenen Schildes trug. Man konnte die Seile der Aufhängevorrichtung verkürzen oder verlängern und dadurch den Stoßpunkt des Widders auf die Mauer verschieben. Wenn die überaus schwere Schildplatte von einem weitgespannten Pendelpunkt auf die Mauerblöcke sauste, bekam sie eine Stoßgewalt, die sich mit menschlichen Kräften nie hätte erreichen lassen.

In dem Augenblick, da das Haubitzfeuer begann und die Beobachter meldeten, daß die türkischen Schützenketten die Bergstufe oberhalb der römischen Tempelruinen zu erklettern begannen, verlor der von Gabriel Bagradian eingesetzte Abschnittskommandant völlig den Kopf. Er starrte aus einer Lücke der Felsbastion gebannt auf die Vorhalde hinab, ohne sich zu einem Befehl aufraffen zu können. Hrand Oskanian, der gewaltige Knirps, wurde weiß wie Papier. Seine Hände zitterten so stark, daß er den Verschluß seines Karagewehres nicht zu spannen vermochte, um die erste Patrone einspringen zu lassen. Sein Magen hob sich, und Oskanian verlor das Gleichgewichtsgefühl. Vor einer halben Stunde noch ein drohender Mars, hatte der schwarze Lehrer jetzt nicht mehr Kraft genug, sich aus dem Staube zu machen. Die Stimme versagte ihm. Er folgte Sarkis Kilikian bei jedem Schritte wie ein Hündchen. Der Aufseher suchte bei dem Beaufsichtigten zähneklappernd Schutz. In den stumpfen Augen des Russen war achatne Ruhe wie immer. Sofort versammelten sich die Deserteure und auch die übrigen Zehnerschaften um ihn als dem natürlichen Oberhaupt. Keiner achtete mehr des Mannes aus Kheder Beg. Auch Kilikian sprach beinahe kein Wort. Er schritt inmitten des Haufens die Verteidigungswerke ab und bezeichnete mit der Hand jene Leute, die er zur Besatzung des Felsturms, der Abwehrmauern und Nebenschanzen bestimmte. Hinter den Widdergalgen waren auf hohen Steinhaufen leiterartige Gerüste errichtet. Je zwei Männer erstiegen sie jetzt, um auf Kilikians Befehlszeichen den Widder auf die Mauer sausen zu lassen. Der Russe befolgte die gleiche Taktik wie Bagradian am vierten August. Er wartete auf die richtige Sekunde. Nur schien seine gleichgültige, tote Geduld unendlich größer zu sein als die Gabriels. Als die Vorhuten der Türken bereits über dem Rand der Steinhalde auftauchten, zündete er sich mit seinem vorsintflutlichen Feuerzeug eine Zigarette an. Oskanian neben ihm zuckte und keuchte: »Jetzt! Jetzt, Kilikian, los!« Während er den Wergstreifen vergeblich in Brand zu setzen suchte, hielt Kilikian den Lehrer mit der freien Hand fest, damit er nicht aufspringe und ein verfrühtes Zeichen gebe. Durch den gefahrlosen Aufstieg und den tiefen Frieden des Berges in Sicherheit gewiegt, ließen sich die Türken gehen, rückten zusammen, redeten und bildeten dichte Klumpen. Erst als sie etwa die Mitte der Steinhalde erreicht hatten, stieß Kilikian einen langen Pfiff aus. Die Sturmwidder mit den mächtigen Schildplatten donnerten gegen die lockeren Mauern. Die leichteren Steine der oberen Schichten spritzten aufstaubend und fauchend wie Geschosse davon, während sich die großen Kalkblöcke des Unterbaus vornüberneigten und mit großen wilden Sprüngen unter die Türken krachten. Schon die erste Wirkung war entsetzlich. Nun aber griff der Armenierberg höchstselbst in den Kampf ein, um die Vernichtung des Feindes so grausam zu vollenden, daß diese Naturkatastrophe an der syrischen Küste auch in künftigen Menschenaltern nicht vergessen werden wird. Die Abwehrmauern waren zwischen den Zinnenkranz des Felsturms eingebaut. Die Gewalt der Widder erschütterte auch die natürliche Kalkkrone in ihren Grundfesten und riß große Splitter der Zacken mit zu Tal. Diesem unbeschreiblichen Steinschlag konnte die Vorhalde, die aus einem dicken und losen Steingeschiebe bestand, nicht widerstehen. Mit dem betäubenden Zischen und Prasseln einer noch niemals erlebten Sturmbrandung geriet sie ins Rutschen und riß wie eine ungeheure Flut aus Kalk und Kreide alles, was von den Türken noch lebte, mit sich hinab. Es war mehr als eine grausige Felslawine. Der Damlajik selbst schien sich vom Anker gerissen zu haben und in Fahrt zu kommen. Der Hügel ging über die Ruinen der Oberstadt von Seleucia nieder, warf ganze Säulen um und zertrommelte stille efeuumwachsene Mauern. Zehn Minuten lang sah es aus, als habe der Berg die größte Lust, bis nach Suedja und an die Orontesmündung vorzurücken. Die Westgruppe des türkischen Korps wurde oberhalb des Dorfes Habaste vom Steinschlag gestreift. Die halbe Mannschaft konnte sich durch ein gnädiges Schicksal retten. Die andre Hälfte wurde getötet oder verwundet, das Dorf selbst zum Teil zerstört. Nach einer Viertelstunde trat hohle Totenstille ein. Der Bergbruch lag wieder tückisch-friedlich in der Sonnenglut. Vom Nordsattel krachten dumpf die Granateinschläge der Haubitzen herüber. Als sich kein Steinchen mehr bewegte, pfiff Kilikian zum zweitenmal. Die erstarrten Deserteure und die anderen Kämpfer kamen in Bewegung. Unter Führung des Russen spazierte die Besatzung der Südbastion gemächlich die Bergstufe hinab, machte allen türkischen Verwundeten mit großer Ruhe den Garaus und raubte die Toten buchstäblich bis auf die Haut aus. Dieses Geschäft wurde mit gelassenster Gründlichkeit besorgt, ungeachtet des schweren Kampfes, den die Brüder im Norden zu bestehen hatten. Sarkis Kilikian vertauschte seine Lumpen mit der funkelnagelneuen Montur eines türkischen Infanteristen. Trotz des frischen Blutes auf dem Rock des Toten drehte und wendete sich der Russe hin und her, als fühle er sich neugeboren. Hrand Oskanian aber hatte den höchsten Punkt des Felsturmes erstiegen und schoß wie ein Toller in die Luft, um seinen Anteil an dem Siege zu bekräftigen. Während des imposanten Geknatters, das er verübte, wunderte er sich nicht wenig, was für ein unbeträchtlich Ding die Tapferkeit für einen tapferen Mann ist.

 

Weder Gabriel Bagradian noch auch der Bimbaschi auf der Gegenseite wußten etwas von dem entsetzlichen Schicksal der Südgruppe. Im Kampfeslärm hatten beide den langen Donner der Lawine nur als ein fernes Rauschen gehört. Hier auf dem Nordsattel gestaltete sich die Schlacht sehr hart und unglücklich für die Armeniersöhne. Ob nun die Haubitzen vom Schicksal hoch begünstigt wurden oder durch eigenes Verdienst so glänzend arbeiteten, Tatsache war's, daß nach einer Stunde langsamen Sperrfeuers vier Volltreffer einen Teil des großen Riegelgrabens zerstört hatten und daß drei verstümmelte Leichen und einige Schwerverletzte auf der Erde lagen. Gabriel Bagradian war immer nur mit Not den heulenden Sprengstücken entgangen. Seine Haut war starr wie eingeregnetes Leder. Er spürte genau, daß er heute keinen souveränen Tag hatte. Die Einfälle und Entschlüsse sprangen nicht leicht wie sonst aus seinem Geist. Er hätte – dieser Vorwurf brannte – die Verluste vermeiden können. Zu spät gab er Tschausch Nurhan den Rückzugsbefehl. Doch war er klug genug, diesen auf der Felsseite durchführen zu lassen. Den Türken war es gelungen, in einem hohen Baum einen Beobachtersitz aufzuschlagen, von dem aus sie ein Stück des Grabens übersahen und die Feuerwirkung der Geschütze korrigieren konnten. Die Steinbarrikaden zur Rechten hingegen waren ihrem Blick entzogen. Im Bewußtsein des Unglücks vom vierten August fürchteten sie die erbarmungslosen Steilwände des Musa Dagh und wagten kein Umfassungsmanöver mehr. Die Verteidiger verließen einzelweise den Graben und drückten sich tiefgeduckt an den Blöcken und Vorsprüngen des Labyrinths vorbei, bis sie die Reservestellung erreichten, die ihrerseits auch wieder über einem Bodeneinschnitt lag. Der zweite Graben war heute nicht besetzt, da es Gabriel nicht gewagt hatte, auch nur eine einzige Zehnerschaft von den Verteidigungspunkten des Bergrandes abzuziehen. Er war fest überzeugt davon, daß die Türken auch noch an einer dritten Stelle einen Überfall versuchen würden. Eis in den Adern, wußte er, daß, wenn dieser Reservegraben hier verlorenging, dem phantasievollsten Martertod von fünftausend Menschen, den je die Welt erlebt, nichts mehr im Wege stand. Der türkische Beobachtungsoffizier schien von der Rückzugsbewegung nichts gemerkt zu haben. Die Granaten fielen jetzt im Zeitabstand von je einer Minute auf den ersten Graben. Da sich dort nichts mehr rührte, hielt ihn der Bimbaschi für sturmreif. Eine endlose Pause verging, dann brach im Waldesdickicht der Gegenhöhe ein wüstes Trommeln und Trompeten aus. Die Schwarmlinien wurden von brüllenden Offizieren und Chargen vorgetrieben. Dieses Brüllen vermischte sich mit dem nicht ganz furchtlosen Sturmgeschrei der Mannschaft. Es waren fast durchwegs frischeingerückte Jungsoldaten, die nach einigen Wochen flüchtiger Ausbildung von ihren anatolischen Holzpflügen weg das erstemal ins Feuer kamen. Als diese Rekruten aber merkten, daß ihr Sturmlauf widerstandslos vonstatten ging, blähte sich ihr Mut auf, und der wildeste Rausch, den die Masse kennt, kam über sie. Sie rasten die struppige, hindernisübersäte Lehne empor und besetzten mit knatterndem Jubel den großen Verteidigungsgraben. Der Oberst erkannte, daß die Sache gut im Zuge war und daß man den Siegesdrang der jungen Mannschaft ja nicht dürfe erkalten lassen. Er ließ daher die Stellung von den nachrückenden Saptiehs besetzen und hetzte die trunkenen Sturmlinien in dichten Reihen vorwärts. Das Haubitzfeuer vorverlegen zu lassen, wagte er freilich nicht, um sich und die Seinigen nicht zu gefährden.

Nicht nur Gabriel Bagradian, auch jeder Armeniersohn in dem zweiten Graben wußte, was auf dem Spiele stand. Leben, Geist und Körper jeglichen Mannes war schwarze Nacht, in der nur ein unerträglich scharfer Brennpunkt glühte: der Visierblick aufs Ziel. Hier gab es keine Führer und keine Führung mehr, sondern lediglich das versteinernde Bewußtsein: Hinter mir das offene Lager, die Frauen, die Kinder, mein Volk! – und so war es. Sie warteten in gewohnter Weise, bis keine Kugel mehr fehlen konnte. Auch Gabriel und Aram Tomasian schossen das erstemal mit unbewegtem Blick auf ihre Opfer, wie im Traum versunken. Das nächste geschah über ihren und Nurhans Willen hinweg, das heißt, ihr Wille war in dem der Gesamtheit völlig gelöst. Nachdem sie die fünf Patronen der Magazine verschossen hatten, luden sie nicht mehr von neuem. Wie auf einen einzigen scharfen Befehl schwangen sich die Armeniersöhne aus dem Graben. Es war alles so ganz anders als damals am vierten August. Kein einziger Blutschrei drang zwischen den fest aufeinandergepreßten Lippen hervor. Stumm und schwer warfen sich vierhundert Männer jeden Alters bis zu fünfzig Jahren auf die entsetzte Türkenjugend, die sofort aus ihrem Rausch erwachte. Ein finster wogender Nahkampf, Mann gegen Mann. Was halfen da die langen Bajonette auf den Mausergewehren. Bald bedeckten sie den Grund der Bodenwelle. Die knochigen Armenierfäuste suchten unabwendbar die Gurgeln der Todfeinde, und ihre starken Zähne verbissen sich raubtierhaft und besinnungslos in die Türkenkehlen, um das Blut der Rache zu trinken. Schritt für Schritt wich die Linie der Kompanie zurück. Die Saptiehs aber, die der alte Bimbaschi – der nicht mehr seine rosigen, sondern die violetten Wangen eines Schlaggerührten hatte – in den Kampf werfen wollte, ließen ihn im Stich. Ihr Offizier erklärte, die Gendarmerie sei eine Ordnungs- und keine Kampftruppe und daher zu Sturmangriffen auf einen bewaffneten Feind nicht verpflichtet. Auch unterstehe sie den bürgerlichen Pflichten und nicht der militärischen Macht. Der seiner Natur nach so milde Bimbaschi drohte in besinnungsloser Wut, er werde den Offizier mit all seinen Saptiehs samt und sonders erschießen lassen. Wer trage denn die Schuld an dem ganzen Armenierdreck? Die Beamten und das feige, stinkende Saptiehpack, das gegen hilflose Frauen und Kinder mutig sei und sonst nur rauben, morden, stehlen und vergewaltigen könne. All seine Wut half dem Alten nichts. Die beleidigten Saptiehs verließen den Graben und zogen sich auf die Gegenhöhe zurück. Und doch, niemand kann wissen, wie das würgende Ringen geendet hätte, wäre in dieser Stunde nicht Hilfe gekommen.

Als die Kunde von dem Steinlawinen-Wunder und von der völligen Vernichtung der türkischen Südgruppe die Stadtmulde und die Zehnerschaften der freien Abschnitte erreicht hatte, wurde das ganze Volk von kampfdurstiger Raserei erfaßt. Ter Haigasun und der Führerrat konnten die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. In lästerlichem Übermut fühlten sich die Seelen der göttlichen Unterstützung sicher. Die Ordonnanzen berichteten inzwischen von dem Rückzug im Norden. Die Reserve griff zu ihren Krampen, Hacken und Äxten. Männer und Weiber schrien auf Ter Haigasun ein: Zum Nordsattel! Sie wollten es heute den Türkenhunden zeigen! Dem Priester blieb nichts andres übrig, als sich an die Spitze des hellen Haufens zu stellen. Auch die freien Zehnerschaften strömten gegen Norden. Die regellose Übermacht, die von allen Seiten mit Wahnsinnsheulen einbrach, entschied die Schlacht binnen weniger Minuten. Die Türken wurden bis über den eroberten Graben hinaus in ihre Ausgangsstellung zurückgeschleudert. Bagradian rief Ter Haigasun zu, er möge die Reserve sogleich ins Lager zurückführen. Wenn die Haubitzen jetzt ihr Feuer eröffneten, würde in dem dichten Menschenknäuel unabsehbares Unglück geschehen. Mit großer Mühe gelang es dem Priester, die entfesselte Horde wieder zurückzutreiben. Schweiß- und blutbedeckt begannen die Verteidiger indessen, die zerstörten Stellen des Hauptgrabens in fieberhafter Eile auszubessern. Gabriels gemarterte Nerven erwarteten in jedem Augenblick die erste Granate. Bis zur Dämmerung war es noch länger als eine Stunde.

Die Granate, deren Heulen Bagradian ununterbrochen hörte, kam und kam nicht. Hingegen ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Ein langes Trompetensignal sprang auf. Hinter dem Waldrand der Gegenhöhe entstand lebhafte Bewegung, und sehr bald meldeten die Späher, daß sich die türkische Streitmacht im Eilschritt zurückziehe, und zwar auf dem kürzesten Wege ins Tal. Man konnte noch bei vollem Tageslicht beobachten, wie sich die Truppen auf dem Kirchplatz von Bitias lagerten und wie der Oberst mit seinem Stab in scharfem Trab über Yoghonoluk und die südlichen Dörfer gegen Suedja ritt. Es war ein Tag, siegreicher und vor allem gnadenreicher als der vierte August. Und doch herrschte am Abend kein Jubel, ja nicht einmal eine glühende Freude, weder in den Stellungen noch auch in der Stadtmulde.

Man hatte die Toten heimgebracht. Nun lagen sie, unter ihren Decken verborgen, in einer Reihe auf dem ebenen Weideplatz, den Ter Haigasun wegen seiner besonders dicken Erdschicht zum Kirchhof bestimmt hatte. Seit dem Tage des Aufbruchs waren bisher nur drei alte Leute gestorben, deren frische Gräber rohe Kalkblöcke mit schwarz daraufgemalten Kreuzen kenntlich machten. Jetzt wurden auf einmal sechzehn neue Grabstellen notwendig, denn zu den Opfern des Haubitzenfeuers kamen acht Männer, die im Nahkampf gefallen, und fünf andere, die im Laufe der Stunden ihren Wunden erlegen waren. Zur Seite jedes Toten hockte seine Verwandtschaft. Doch kein lautes Wehgeschrei, sondern nur wimmerndes Klagen ertönte.

Rings um den Lazarettschuppen lagen die Verwundeten mit ihren eingeschrumpften Gesichtern und versunkenen Frageaugen. Der Innenraum konnte nur einen kleinen Teil von ihnen fassen. Der alte Arzt hatte eine unabsehbare Arbeit zu leisten, der er sich weder mit seinen Kenntnissen noch mit seinen Kräften gewachsen fühlte. Ihn unterstützten außer Mairik Antaram noch Iskuhi, Gonzague und Juliette. Besonders Juliette arbeitete an diesem Tage mit einer geradezu wilden Hingabe, als wollte sie in dem Dienst an den Verwundeten ihren Mangel an Liebe für dieses Volk gutmachen. Sie hatte die wohlbestellte Hausapotheke herausgeschleppt, die vor der Abreise in den Orient von dem Pariser Hausarzt der Bagradians eigens zusammengestellt worden war. Ihre Lippen waren farblos. Manchmal schwankte sie, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dann suchte ihr Blick Gonzague. Sie sah ihn an, nicht wie einen Geliebten, sondern wie einen erbarmungslosen Mahner, der sie zwang, ihre Kräfte weit über ihr Maß hinaus anzuspannen. Auch Apotheker Krikor war pflichtgemäß mit seinen Arzneien erschienen. Er besaß in der Hauptsache nur zwei Wundmittel: einige Pakete mit blutstillender Gaze und drei große Flaschen mit Jodtinktur. Letztere bildete einen besonders wertvollen Schatz, da das Jod wenigstens die Eiterung jener Wunden verhindern konnte, deren Heilung oder Nichtheilung Bedros Altouni knurrend der Natur zu überlassen gezwungen war. Der Apotheker gab dieses Allheilmittel nur mit zögernder Hand aus und goß, sobald die Tinktur allzusehr abnahm, Wasser in die Flasche nach.

Stephan, der mit Haik und seiner Bande die beiden Schlachtfelder, den Friedhof und Lazarettschuppen umstreifte, sah das jammervolle Treiben mit an. Es war der erste Anblick von Toten, von Verstümmelten und schreienden oder stöhnenden Verwundeten in seinem Leben. Die Schreckensbilder machten ihn um Jahre älter, doch nicht ruhiger. Die frühreife Leidenschaftlichkeit in seinem Gesicht bekam einen finsteren, feindseligen Ausdruck. Wenn er jetzt vor sich hin starrte, glich er manchmal seinem Vorbild Haik, nur mit einem Stich ins Maßlose und Überspannte. Nach Einbruch der Nacht meldete er sich, wie es ihm geboten war, beim Vater in der Nordstellung. Die Führer saßen im Kreise um Gabriel Bagradian. Er hielt die Zünder einer Granate und eines Schrapnells in der Hand und erklärte ihnen das Wesen der Tempierung. Bei der Granate stand die Kerbung des Ringes auf dem Buchstaben A, das heißt, sie war als »Aufschlag« tempiert. Die Kerbe des Schrapnellzünders aber zeigte auf die Ziffer drei, was soviel wie dreitausend Meter bedeutete, jene Distanz, die zwischen der Rohrmündung und dem Zielpunkt lag. Der Zünder war etwa einen Kilometer hinter der ersten Linie gefunden worden. Man konnte demnach in der Berechnung nicht allzu stark fehlgehen, wenn man die Geschützstellung etwa zweitausend Meter jenseits der Sattelhöhe annahm. Gabriel Bagradian ließ die Karte des Musa Dagh im Kreise herumgehen. Er hatte den möglichen Punkt schon eingezeichnet. Die Stellung konnte, wenn man folgerichtig dachte, nur in der kahlen Rinne gelegen sein, die sich den Steilrand des Musa Dagh auch in nördlicher Richtung entlang zieht. Nur dieses schmale, aber freie Band bot den Haubitzen ein gutes Schußfeld, während sonst überall hohe Baumgruppen den Geschossen im Wege standen, was eine unmögliche Elevation der Geschützrohre erfordert hätte. Stephan, Haik und die anderen Jungen hatten sich hinter die Männer gehockt und hörten atemlos der Beratung zu. Nurhan Elleon erwog die Möglichkeit eines Angriffes auf die Geschütze. Gabriel Bagradian lehnte entschieden ab. Entweder, so meinte er, geben die Türken ihre Unternehmung auf, dann werden sie die Haubitzen wieder ins Tal schaffen. Oder sie haben einen neuen Plan, dann werden sie in der Nacht einen Stellungswechsel durchführen. In beiden Fällen sei ein Angriffsversuch überflüssig und höchst gefährlich, denn eine starke Geschützbedeckung, vielleicht sogar ein ganzer Zug Infanterie, könne aus der Deckung heraus unter den Angreifern die größte Verheerung anrichten. Man habe ja an den Türken erlebt, was es heißt, offen zu stürmen. Er aber, Bagradian, wolle kein einziges Armenierleben mehr aufs Spiel setzen. Der eigensinnige Nurhan verteidigte seine Anregung. Es entstand ein heftiger Meinungsstreit, der längere Zeit hin und her wogte, bis der Befehlshaber ihn scharf abbrach:

»Tschausch Nurhan, auch du bist übermüdet und zu nichts Rechtem mehr brauchbar. Schluß! Geh schlafen! Nach einigen Stunden werden wir weitersehen!«

Die Knaben aber waren nicht müde, sie fühlten sich zu allerlei brauchbar, es knisterte in ihnen von Überwachheit. Stephan holte sich die Erlaubnis, diese Nacht in der Stellung verbringen zu dürfen. Der Vater, der sein Lager schon aufgeschlagen hatte, gab ihm eine seiner Decken. Das Bedürfnis nach Bett und geschlossenem Raum war Gabriel schon verlorengegangen. Nicht einmal im Freien konnte man atmen, so schwül dehnte sich die Nacht. Die erschöpften Männer schliefen ein, wie betäubt. Einer trat noch die Reste des Feuers auseinander, ehe er sich hinlegte. Die Doppelposten bezogen die Wache und behielten die Zugänge des Sattels scharf im Auge. Wie eine lautlose Vogelkette huschten die Jungen auf und verschwanden hinter den Felsbarrikaden. Der starke Augustmond hatte sein zweites Viertel schon aufgefüllt. In dem überscharfen Licht standen die Knaben eng gedrängt zwischen den kreidigen Blöcken und zischelten und zirpten. Anfangs war es ein blanker Unsinn und ein zielloses Durcheinander im aufwühlenden Mondlicht. Doch auf dem Grunde ihrer abenteuersüchtigen Seelen lag derselbe kitzelnde Wille, der Stephan erfüllte. Kindliche Neugier zuvörderst. Die Geschütze sehen! Unter der Haik-Bande befanden sich etliche Leuchten der Spähergruppe. Konnte man nicht einen Kundschaftergang unternehmen, ohne ausdrückliche Befehle durch Hapeth Schatakhian und Samuel Awakian erhalten zu haben? Stephan warf diese lockende Frage auf. Die Geschichte mit Iskuhis Bibel hatte durch ihre Tollheit sein Ansehen beinahe bis zur Höhe Haiks erhoben. Dieser duldete mit der nachsichtigen Ironie des unüberwindlich Stärkeren den Aufstieg des Bagradian-Sohnes. Manchmal leuchtete jetzt sogar durch sein spöttisches Beschützertum der schwache Schein einer freundschaftlichen Neigung auf. Haik winkte den anderen, ihn in völliger Ruhe zu erwarten. Er wollte zuerst schauen, was dort oben los sei. Er, dessen hellsichtige Naturangeschmiegtheit von keinem erreicht wurde, wies jede Begleitung mit einer knappen Geste zurück. Lautlos verschwand er, um schon nach dreißig Minuten wieder unter dem Schwarm aufzutauchen. Man sehe die Geschütze taghell, berichtete er mit funkelnden Augen. Es seien große, dicke, schöngoldene Dinger, die in einem Abstand von sechs Schritten nebeneinander stünden. Er habe nicht mehr als vierzehn schlafende Kanoniere gezählt und keinen Offizier darunter. Nur ein einziger Wachtposten sei aufgestellt.

Haik hatte richtig gezählt. Das Schicksal dieser Haubitzen war auch der Grund, weshalb der arme Bimbaschi mit den Kinderwangen sich noch glücklich schätzen mußte, anstatt als General-Pascha seine Laufbahn als militärischer Rechnungsbeamter der anatolischen Eisenbahn zu beenden. Vor dem Kriegsgericht schwur er zwar bei Allahs Barmherzigkeit hundert Eide, daß er die im Reglement vorgeschriebene Geschützbedeckung nicht vergessen habe, sondern daß die verbrecherischen Saptiehs und Tschettehs sich ohne Erlaubnis aus dem Staube gemacht hätten. Obgleich diese Wahrheit erweislich war, half sie dem Guten nicht im geringsten. Er hätte die Pflicht gehabt, einen Zug der regulären Soldaten vor die Batteriestellung zu legen. Mit diesem Versehen aber war das Pech des Bimbaschi noch nicht erschöpft. Der Leutnant der Artillerie war nach dem Abzug der Infanteristen in seiner gänzlichen Befehlsverlassenheit und in Ermangelung eines auch nur halbwegs verläßlichen Unteroffiziers selbst zu Tal gestiegen, um sich die Ordre de bataille für den nächsten Tag zu holen. Daraufhin aber waren auch die als Fahrkanoniere gedungenen Eseltreiber in der gesunden Meinung, man brauche sie des Nachts ja nicht, ohne weiteres in die Dörfer verduftet. Angesichts solcher Feldmoral und der grausigen Begebenheit im Süden fiel das Urteil über den Bimbaschi noch unverhältnismäßig milde aus. Sonderbarer- und glücklicherweise griff Dschemal Pascha, »der schwarze bucklige Schwindler«, der sich sonst um jede Kleinigkeit kümmerte, diesmal nicht persönlich ein. Vielleicht waren die Suez-Sorgen des Feldherrn daran schuld, vielleicht auch noch ein andrer Grund, der mit dem Verhältnis des häßlichen Dschemal zu dem von der Welt vergötterten Enver in Stambul zusammenhing.

Haik und zwei der tüchtigsten Späher kletterten auf Katzensohlen den Felsgrat jenseits des Sattels entlang. Stephan folgte ihnen etwas schwerfälliger. Hagop, der Einbeinige, hatte selbstverständlich zurückbleiben müssen. Sein Freund Stephan war es diesmal gewesen, der den ehrgeizigen Krüppel anherrschte, er solle doch endlich Ruhe geben. Sato lauerte in dieser Nacht nicht im Umkreis der Bande, weil sie mit wichtigen Gängen beschäftigt war. Stephan und Haik trugen Gewehre und Patronen bei sich, die sie von den Pyramiden und aus den Munitionsbeuteln der Zehnerschaften entwendet hatten. Ein fälliger Zwist war zwischen diesen beiden heute auszutragen. Sooft nämlich Stephan, auf seine Schützenkunst pochend, behauptet hatte, er könne auf fünfzig Schritt aus einer Spielkarte den Kopf der Figur herausschießen, war Haik kalt und höhnisch geworden: »Du bist immer derselbe Aufschneider.« Jetzt galt es, dem Hochmütigen endlich zu beweisen, daß unter vielen wirklichen Prahlereien die Treffsicherheit des Schützen Stephan keine war. Und Stephan Bagradian führte diesen Beweis auf furchtbare Art.

Haik zog den Stadtknaben durch die dichten Rhododendronbüsche bis an die Grenze der Batteriestellung. Zehn Schritte vor ihnen schnarchten die Schläfer. Der Posten blickte aus leeren Augen in den durch das starke Mondlicht sternlosen Nachthimmel. Zeit und Raum dehnten sich ahnungslos und voll Geduld. Stephan prüfte mehrere Äste, damit er den Lauf des Mausergewehres bequem auflegen könnte. Er zielte sehr lange und ohne Erregung, als seien die Gestalten dort nicht von Fleisch und Blut, sondern die ausgeschnittenen Jahrmarktpuppen einer Schießbude. Dieses Kind der europäischen Kultur war jetzt von keiner anderen Regung erfüllt als von dem Ehrgeiz, die im Mond leuchtende Menschenstirn des Wächters vors Korn und das Korn richtig in die Visierscharte zu bekommen. Mit dem kältesten Herzen der Welt zog er das Züngel ab, empfand selbstbewußt Knall und Rückstoß und sah, mit sich herzlich zufrieden, den Mann zusammenbrechen. Als die Schläfer aufsprangen, nicht wissend, was hier vorging, zielte er schneller, aber um nichts unsicherer, und zog noch einmal, zweimal, dreimal, viermal das Zünglein ab, immer wieder den Verschluß mit kräftigem Griffe spannend. Die fünfzehn Türken waren Redifs, ältere Männer, die von dem Sinn dieses Feldzuges kaum eine Ahnung hatten. Sie irrten durcheinander. Fünf Kameraden wälzten sich schon in ihrem Blute. Der Feind war unsichtbar. Da suchten diese braven, zum Militär gepreßten Bauern nicht lange erst Deckung, sondern stürzten in kopfloser Flucht davon, in den Wald hinein, weit, weit fort, auf Nimmerwiedersehen. Haik jagte ihnen die fünf Kugeln seines Magazins nach. Keine traf, wie Meister Stephan verächtlich feststellen konnte. Die Haubitzen, die Protzen, die Munitionswagen, die Geschoßverschläge, die Karabiner, die Zugtiere blieben verlassen zurück. So rächte ein vierzehnjähriger Knabe mit fünf Patronen die millionenfache Ausrottung seines Stammes an harmlosen, zu den Waffen gezwungenen Bauern, an den Unrechten also, wie es ja der Krieg und die Rache immer mit sich bringen.

 

Als die Posten in der tiefen Mondstille der Nacht die Schüsse im Norden scharf hintereinander fallen hörten, weckten sie die Führer. Die Jungen aber, die im Felsgebiet der Ihrigen warteten, packte wilde Angst. Sie fühlten sich verantwortlich. Laut rufend und fuchtelnd stürzten sie hervor. Hagop aber hüpfte mit seiner erbitterten Gelenkigkeit zu Gabriel Bagradian, der sich, noch vom Schlaf verwirrt, erhoben hatte. Der Einbeinige deutete verzweifelt auf die Gegenhöhe und schrie immerfort: »Haik und Stephan! Sie sind dort! Stephan und Haik!« Gabriel begriff das Geschehene nicht. Er wußte nur, daß Stephan in Gefahr sei. Wie ein Rasender jagte er in die angegebene Richtung. Hundert Männer aber packten ihre Gewehre und rannten dem Führer nach. Tschausch Nurhan Elleon war natürlich darunter. Als Bagradian, bei der Geschützstellung angelangt, die Gefallenen sah und Stephan unverletzt, da riß er den Sohn mit schmerzhaftem Griff an sich, als wollte er ihn noch nachträglich schützen. Die anderen aber befiel lähmende Bestürzung. Keiner beachtete die jungen Helden und Eroberer der Geschütze, die über der Beschäftigung mit dem stahlbronzenen Riesenspielzeug die gefahrdrohende Zeit und Wirklichkeit, ja selbst den blutigen Tod ringsum vergessen hatten. Die atemlosen Armenier standen eine Weile erstarrt. Zu groß war der unglaubwürdige Eindruck, zu atemraubend der Triumph dieser Beute, als daß jemand sich Zeit genommen hätte, nach dem Kampf zu fragen. Nur rasch die Geschütze bergen, ehe die Türken zurückkommen! Die Aussichten der Verteidigung schnellten gewaltig empor. Zweihundert Arme tauchten auf. Die Gespanne, die Protzen, die Munitionswagen wurden auf die Höhe getrieben und die Haubitzen an die Protzen gehängt. Jeder einzelne schob mit, riß an den Strängen oder griff in die Speichen. Die Fahrt rasselte über den weglosen, zerschrundeten Bergrücken, aber die Nacht löste Stock und Stein, die Härte aller Hindernisse in weiche Nachgiebigkeiten auf. Manchmal schien es, als schwebten unter der begeisterten Kraft der zupackenden Arme die Lafetten hoch über dem Boden.

Keine drei halbe Stunden vergingen, und die Haubitzen waren, trotz der unglaublichen Bodenverhältnisse, dort in Stellung gebracht, wo Gabriel Bagradian sie haben wollte. Er hatte sich die Tat Stephans kurz berichten lassen. Der Schreck aber, der in seinem Herzen noch nachzitterte, verschloß seinen Mund. Er konnte den Sohn nicht beloben. Der verwegene Handstreich auf eigene Faust gab seiner Überzeugung nach nicht nur den Halbwüchsigen, sondern auch den Zehnerschaften ein gefährliches Beispiel. Wenn jeder die Lust bekam, sein eigenes Heldenstückchen zu spielen, so ging die einheitliche Befehlsgebung und Disziplin auf dem Damlajik zum Teufel, jene beiden Mächte, die einzig und allein das Leben des Volkes für einige Zeit noch verbürgen konnten. Noch tiefer aber saß die Sorge um Stephan selbst. Zweimal hatte ihn ein übergnädiges Schicksal aus halsbrecherischen Wagnissen, die er selbst nicht zu begreifen schien, heil zurückgeführt. Der Junge war gewiß nicht bei Sinnen. Und auf dem Dreizeltplatz einsperren konnte man ihn nicht. Gabriel Bagradian aber gab sich diesen Gedanken nicht hin, denn jetzt erfüllten die Geschütze gänzlich seinen Geist. Er kannte die Type dieser Feldhaubitzen genau, denn er hatte während des Balkankrieges bei einer Batterie dieser Art gedient. Es waren österreichisch-ungarische 10-cm-Feldhaubitzen, Muster 1899, der Türkei von den Skodawerken geliefert. In dem Munitionswagen des zweiten Geschützes befanden sich noch dreißig Geschosse in den Verschlägen. Gabriel sah alles, was er brauchte und an dessen Gebrauch er sich noch leidlich erinnerte. Die Richtapparate für verdecktes Schießen, eine Feuerinstruktion und Schußtabellen im Lafettenkasten. Er rief seine alten Kenntnisse ins Gedächtnis zurück, berechnete die Entfernung nach Bitias, suchte die Position des türkischen Nachtlagers genau zu ermitteln, schraubte am Aufsatz, um die angenommene Seitenrichtung festzulegen, zog die Höhe seines Standortes in Betracht, elevierte die Geschützrohre mit dem kleinen Rad, bis die Libelle der Wasserwaage ins Gleichgewicht kam, dann erst klappte er die Verschlüsse auf, tempierte zwei Granaten mit dem Schlüssel, schob die Geschoßzylinder ins Rohr und drückte die Kartuschen nach. Sehr lange brauchte seine ungeübte Hand zu diesem Werk, bei dem ihm nur Tschausch Nurhan in sehr bescheidenem Grade helfen konnte. Beim ersten Morgenstrahl kontrollierte Bagradian alle Richtelemente noch einmal, dann knieten er und Nurhan, jeder nach Vorschrift, zur Seite ihrer Haubitze, die Zündschnur in der Hand. Der kurze schreckliche Knall, Schlag auf Schlag, zerfetzte die Luft. Rückfahrend bohrte sich der Sporn der Geschütze tief in die Erde. Weitab von Bagradians Ziel gingen die schlechtgelenkten Schrapnells irgendwo über dem Tale nieder. Schon bloß das Ereignis genügte, um das ganze mohammedanische Land von dem neuen Christensieg, von dem Verluste der türkischen Artillerie, von der Uneinnehmbarkeit des Damlajik und von der offenkundigen Tatsache in Kenntnis zu setzen, daß die Armeniersöhne einen Pakt mit den fernhin bekannten Dschinns, den bösen Geistern des Musa Dagh, geschlossen hatten. Die Tschettehs waren noch im Laufe der Nacht verschwunden und ein Teil der Saptiehs, die nicht in diese Nahijeh gehörten, mit ihnen. Der dürftige Rest der Kompanien aber war überzeugt, daß auch der Angriff einer ganzen Division auf den Teufelsberg aussichtslos bleiben würde. Der Bimbaschi hätte einen neuen Angriffsbefehl nicht wagen dürfen, ohne eine Meuterei der jungen Mannschaft heraufzubeschwören. Er dachte auch gar nicht an eine solche Vermessenheit, sondern an eine weit kleinlautere Frage: Waren die langen Züge mit den Toten- und Verwundetenwagen unbemerkt nach Antakje gekommen, wie er es ausdrücklich befohlen hatte? Das Gesicht des alten Mannes war aschgrau. Nach zwei schlaflosen Nächten und den Aufregungen des Kampfes konnte er sich kaum mehr auf seinem Pferde aufrecht halten. Sein Untergang war besiegelt. Des Bimbaschi tief herabgemindertes Denkvermögen, das in guten Tagen schon allzu bequem war, konnte auf kein Mittel verfallen, den gottverfluchten Kaimakam samt allen Beamtenfüchsen, die an der Armenierschmach schuld waren, mit in den Untergang zu reißen.

Die beiden gewaltigen Donnerschläge in nächster Nähe wirkten in der Stadtmulde wie dröhnende Signale des göttlichen Heils. Selbst die Härtesten und Verschlossensten umarmten einander und weinten. »Vielleicht will Christus unsre Rettung doch!« Der morgendliche Lichtgruß hatte noch niemals so von innen erleuchtet geklungen. – Was die Bagradians anlangt, schien nun, doppelt bekräftigt, ihr Königsrang für immer festzustehen. Zu Gabriel kamen einige Männer und baten ihn um die Erlaubnis, seinem Sohne Stephan den Heldentitel »Elleon« verleihen zu dürfen. Gabriel Bagradian lehnte nicht ohne leichte Heftigkeit ab. Sein Sohn sei noch ein Kind, das von Gefahr keine Vorstellung habe. Er wünsche nicht, Stephan eitel zu machen und ihn dadurch zu neuen Wahnsinnstaten anzueifern, die einmal ein entsetzliches Ende nehmen könnten. Durch die Strenge seines Vaters kam Stephan daher um die öffentliche Anerkennung. Er mußte sich mit der kleinen Münze des Lobes begnügen, die ihm in den nächsten Tagen überall zuteil wurde. In späterer Zeit schrieben die armenischen Chronisten, die über die Schlachten auf dem Damlajik berichteten, nur über »die Heldentat eines jugendlichen Schützen«, ohne den Namen zu nennen. Doch was hätte dem Bagradian-Sohn selbst der namentlichste Nachruhm genützt?

Gabriel Bagradian war längst ein andrer, und nicht minder Stephan Bagradian. Ungestraft treiben weichgeborene Menschen das blutige Handwerk nicht, und wären sie auch zehntausendmal im Recht. Auf des Knaben feine Stirn hatte irgendein wüster Gott des Musa Dagh sein dunkles Insiegel gepreßt.

 

In der großen Nacht dieses vierzehnten August hatte sich noch etwas andres, wenn auch weit weniger Denkwürdiges zugetragen. Sato war noch im Laufe des Abends auf dämmernden Schleichwegen zu ihren Freunden im Tal gestoßen. Sie sollten den Hergang der Schlacht erfahren, sie sollten hören, daß sechzehn Tote auf der Erde unter ihren Decken lagen und daß die Schmerzensschreie der Verwundeten sich stets nur steigerten, wenn der dumme Hekim Altouni die Wunden mit braunem Wasser bestrich. Die lebendige Zeitung der Bergbewohner und des Gräbervolkes konnte heute in groß aufgetanen Neuigkeiten schwelgen und sich ihre Lebensberechtigung für viele Tage voraus verdienen. Wenn Sato die Bedürfnisse ihrer Kunden bediente und sich Liebkind fühlte, schienen sich ihre Pupillen in auf- und abschwellende Lichtschlitze zu verwandeln, und ihre kehligen Wortbrocken verkündeten erregt und selbstbeglückt die Sensationen. Die Friedhofsleute hörten es gerne, die alte Manuschak, die alte Wartuk und Nunik, die Älteste von allen, wenn man ihr's glaubte. Sie nickten verständnisinnig. Ein großes Selbstbewußtsein kam über sie. Nicht waren sie mehr überflüssig und verworfen, nein, sie hatten ein Amt, unangefochten und seit Menschengedenken von ihnen ausgeübt. Sechzehn Tote lagen oben auf dem Damlajik. Die Toten brauchten sie. Sobald sie aber ihres Amtes walteten, hatten ihre Erzfeinde unterm Volk, Bedros Altouni und die anderen Aufklärer, ihre Macht wider sie verloren und durften keine der Klagefrauen von der Stelle weisen.

Und Nunik und Wartuk und Manuschak und eine Anzahl andrer Bettlerinnen noch begaben sich mit dem bedachtsam würdigen Schritt von beamteten Wesen zu ihren Wohnhöhlen, die im Umkreis des Friedhofs lagen. Sie zerrten ihre vollgestopften, schmutzstarrenden Säcke hervor, auf denen sie sonst die verlausten Häupter zu betten pflegten. Was im Abgrund dieser Säcke in dichter und dauerhafter Verwesung faulte, das zu beschreiben, fehlen die Begriffe. Es war erlesenes Zeug, im wahrsten Sinne des Wortes vom Boden erlesenes Zeug, seit einem halben Jahrhundert. Die Sammelwut der alten und armen Weiber in aller Welt, das Aufbewahren vermotteten Trödels, das Zusammenscharren schimmligen Abfalls, der eifersüchtig gehütete Bettelschatz von Lumpen und Moder, hier war er zu einer wahren Orgie des Stinkend-Zwecklosen ausgeartet. Und doch, siehe da, diese Altweibersäcke schienen neben Stoffresten, Flicken, leeren Schachteln, steinharten Brot- und Käserinden auch Handwerkszeug von Nunik, Wartuk, Manuschak zu enthalten. Jede von ihnen zog das gleiche mit dem ersten Griff aus ihrem unerschöpflichen Sack: einen langen, grauen Schleier und einen Tiegel voll fetter Salbe. Sie hockten sich hin und begannen ihre Gesichter anzuschmieren wie Schauspieler. Es war eine dunkelviolette Schminke, die ihre ausgefahrenen Runzeln füllte und die beinahe unglaubwürdigen Altersgesichter in zeitlos erhabene Larven verwandelte. Insbesondere Nunik mit ihrer Lupusnase und dem starken Gebiß, das aus der dunklen lippenlosen Maske hervorfletschte, machte ihrem romantischen Ruf als ahasverische Heilkünstlerin volle Ehre. Sie brauchten lange zu ihrem Schminkwerk. Plötzlich aber unterbrachen sie ihre Zurüstungen und bliesen hastig den Kerzenstumpf und den Docht im ranzigen Ölnapf aus, den sie vor sich stehen hatten. Hufschlag und Stimmen zogen vorüber. Dies war der Augenblick, in dem der Bimbaschi mit seinem Stab gegen Suedja ritt. Als der Lärm in Habibli-Holzdorf verschwunden war, erhoben sich die Weiber, hüllten ihre zausigen Grauköpfe in die Schleier, nahmen jedes einen langen Stock in die Hand und machten sich in ihren zerrissenen Klapperpantoffeln auf den Weg. Sonderbar weit griffen ihre dürren braunen Greisenbeine aus. Sato folgte ihnen, durch den großartigen Anblick eingeschüchtert. Wie sie schweigend an ihren Stöcken im halben Mond dahinschritten, fehlte den Klageweibern nicht viel zu Chorgestalten der antiken Tragödie.

Wie unverwüstlich war die Lebenskraft dieser armenischen Hexen, wie stark ihr Herz! Nicht einer ging der Atem schneller, als sie nach dem steilen Aufstieg durch die Steineichenschlucht auf dem Begräbnisplatz des Lagers ankamen. Die violetten Klageweiber waren hinreichend bei Kräften, um sofort an die Arbeit zu gehen. Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern hockten sich zu den Toten. Ihre schmutzigen Klauen enthüllten die schon erstarrten Gesichter. Und dann hub an ihr Gesang, älter vielleicht als die ältesten Lieder der Menschheit. Der Text bestand nur aus dem Namen des jeweiligen Toten. Er wurde ohne Unterbrechung wiederholt, bis der letzte Stern sich im ergrünenden Himmel löste. So arm der Text war, so reich veränderte sich die Melodie. Manchmal war's nur ein langes gleichlautendes Stöhnen, manchmal eine Kette heulender Koloraturen, manchmal ein ödes, schmerzverschlafenes Nicken derselben zwei Töne, endlos, manchmal ein schrilles Aufbegehren, und dies alles nicht etwa frei und der willkürlichen Eingebung folgend, sondern gesetzmäßig und überliefert von jeher. Nicht jede der Sängerinnen besaß die altbewährte Kunst und Stimme Nuniks. Es gab unter ihnen auch mäßige und daher eigennützige Künstlerinnen, deren Gedanken sich während der Arbeit ausschließlich mit dem Geldbeutel der Hinterbliebenen befaßten. Was nützten denn dem reichsten Manne hier oben seine Pfunde und Piaster? Beschenkte er aber das Bettelvolk in verschwenderischer Weise, so vollbrachte er nicht nur ein gottgefälliges, sondern auch ein nützliches Werk. Die Klageweiber, die Blinden und die anderen Ausgeschlossenen waren in der Lage, die klingenden Piaster auch in den mohammedanischen Dörfern aufs beste umzusetzen, ohne daß ihnen ein Leid geschah. Auf diese Weise ging das Armeniergeld nicht zugrunde, sondern kam armen armenischen Seelen zugute, womit sich der Wohltäter billigen Kaufes ein himmlisches Verdienst erwarb. Zwischen den einzelnen Gesängen wurde Nunik von ihren Kolleginnen aufgefordert, mit all ihrer Beredsamkeit diesen logischen Standpunkt zu vertreten und den altgewohnten Preis für die Totenklage wesentlich zu heben. Im Morgengrauen erschienen die Angehörigen und brachten die langen feingewebten Leichenhemden. Dies war kostbarer Familienbesitz, der bei keiner Ortsveränderung zurückbleiben durfte. Die Hemden, in denen der Mensch dereinst ja aufersteht, Festkleider sondergleichen also, machten die Familienmitglieder einander an den feierlichsten Tagen des Lebens zum Geschenk. Der Auftrag, ein solches Hemd zu nähen, galt als eine ganz besondere Ehre, die nur den würdigsten Frauen der Verwandtschaft zukam.

Das Geheul der Klageweiber war nun zu einem leisen und verinnerlichten Säuseln zusammengesunken. Es begleitete die Zeremonie der Waschung und Einkleidung wie ein trostloser Trost. Zuletzt wurden die langen Hemden unter den Füßen mit einem doppelten Knoten zugeknüpft. Die Gebeine sollten dadurch vor Zerstreuung geschützt werden, auf daß der letzte Sturm, der die Knochen der zu richtenden Menschheit zusammenfügt, keine Ungelegenheit habe, die richtigen ineinanderzupassen. Gegen Mittag waren die Gräber ausgehoben und alles zur Bestattung fertig. Auf sechzehn aus starken Ästen zusammengebundenen Bahren wurden die Gefallenen dreimal um den Altar getragen, während Ter Haigasun die Totengesänge anstimmte. Nachher sprach er auf dem Begräbnisplatz einige Worte zu dem Volke:

»Diese lieben Brüder hat der blutige Tod uns entrissen. Und doch müssen wir Gott, dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist inbrünstig für die unverdiente Gnade danken, daß sie im Kampfe in der höchsten Freiheit sterben durften und unter den Ihrigen hier in der Erde ruhen werden. Ja, noch besitzen wir die Gnade eines freien und eigenen Todes. Und darum müssen wir, um die Gnade, in der wir leben, richtig zu erkennen, immer und immer wieder an die Hunderttausende denken, denen diese Gnade entzogen ist, die in der schändlichsten Sklaverei sterben, die unbestattet in den Straßengräben und auf den weiten Steppen faulen oder von den Geiern und Hyänen gefressen werden. Wenn wir die Kuppe zu unsrer rechten Hand hier besteigen und nach Osten blicken, so haben wir das unendliche Leichenfeld unsres Volkes vor Augen, wo es keine geweihte Erde, kein Grab, keinen Priester, keine Einsegnung gibt und nur die Hoffnung auf das letzte Gericht. So lasset uns denn in dieser Stunde, während wir diese Glücklichen in die Erde senken, des wahren Unglücks bewußt sein, das nicht hier, sondern dort draußen liegt!«

Diese kurze Ansprache holte ein tiefes Aufstöhnen aus der Brust des Lagervolkes, das sich vollzählig versammelt hatte. Dann trat Ter Haigasun zu den Butten mit der heimatlichen Totenerde. Sechzehnmal schöpfte er daraus und schüttete ein Häuflein unter den Kopf jedes Gefallenen. Man sah es seiner bedächtigen Hand an, wie sie mit dieser kostbaren Erde immer zögernder geizte.


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