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Viertes Kapitel
Das erste Ereignis

Diese Anwandlung der Schwäche und Verzagtheit ging so schnell vorüber, wie sie gekommen war. Dennoch schien Gabriel seit dem Tage von Antiochia nicht mehr derselbe. Er, der sonst stundenlang in seinem Zimmer gearbeitet hatte, verbrachte jetzt meist nur die Nächte zu Hause. Dann aber war er sehr müde und schlief wie ein Toter, über das Drohende, das ihn in der letzten Sonntagsnacht so tief verstört hatte, sprach er kein Wort mehr. Auch Juliette vermied es, die Rede darauf zu bringen. Sie war überzeugt, daß nichts Bedenkliches dahintersteckte. In ihrer Ehe hatte sie schon drei- oder viermal krisenhafte Zeiten an Gabriel miterlebt. Wochen einer schweren und grundlosen Verstimmung, Tage eines brütenden Verstummens, das sich durch kein freundliches Mittel lösen und aufheitern ließ. Sie kannte das. In solchen Zeiten wuchs die Wand zwischen ihnen auf, das Fremde, das Unüberwindliche, und sie war dann über ihren kindlichen Mut erschrocken, der sie verleitet hatte, ihr Leben an dieses schwere Blut zu ketten. Freilich, in Paris war es für Juliette anders gewesen. Die eigene Welt, in der Gabriel der Fremde war, stand als Übermacht hinter ihr. Hier aber in Yoghonoluk hatte sich ihre Lage verkehrt, und es ist sehr begreiflich, warum sich Juliette bemühte, bei aller Ironie ihr Wohlwollen für die »Halbwilden« in sich zu verstärken.

Man mußte ihn in Ruhe lassen. In jenem qualvollen Nachtgespräch sah Juliette nichts anderes als wieder eine der Verfinsterungen, die sie schon kannte. Die in unendlicher Sicherheit aufgewachsene Französin besaß nicht die geringste Vorstellungsgabe dafür, was Gabriel den Wüstensturm genannt hatte. Europa war ein Schlachtfeld. Es hieß, daß die Menschen in Paris wegen der Fliegerangriffe ihre Nächte in den Kellern zubringen mußten. Sie aber lebte hier in einem paradiesischen Frühling. Ein paar Monate konnte sie es noch sehr gut aushalten. Und dann würde man schließlich über kurz oder lang in die Avenue Kleber heimkehren. Inzwischen aber gab es für Juliette Arbeit über Arbeit, die ihren Tag auf das schönste ausfüllte. Sie hatte keine Zeit, viel nachzudenken. Ihr Ehrgeiz als Haus- und Gutsherrin war erwacht. Die Dienerschaft mußte zivilisiert werden. Sie bekam Gelegenheit, das ungeborene Talent des armenischen Volkes bewundern zu lernen. Howhannes, der Koch, entwickelte sich in wenigen Wochen beinahe zu einem französischen Küchenchef. Der Diener Missak war so vielseitig, daß Juliette daran dachte, ihn nach Frankreich mitzunehmen. Die beiden Mädchen, die sie in ihren Diensten hatte, versprachen vollkommene Zofen zu werden. Die Villa selbst war in recht gutem Zustand. Jedoch die scharfen Augen einer Frau sahen an manchen Stellen trotzdem Verwahrlosung und Verfall. Handwerker kamen ins Haus. Ihr Meister war ein würdiger Mann namens Tomasian, der alle Zimmermannsarbeit übernahm. Man durfte aber Tomasian keineswegs als Handwerksmeister begegnen, er selbst nannte sich Bauunternehmer, trug eine schwergoldne Uhrkette durchs Leben, an der das von Lehrer Oskanian gemalte Bild seiner verstorbenen Gattin im Medaillon hing, und versäumte ferner keine Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß seine beiden Kinder, Sohn und Tochter, in Genf studiert hatten. Er war auch von einer ermüdenden Gründlichkeit und verwickelte Juliette in langwierige Besprechungen. Dafür aber gelang es ihm, nicht nur die Schäden des alten Hauses in kurzer Zeit zu beheben, sondern auch für gewisse Einrichtungen, so gut es ging, Sorge zu treffen, die abendländischen Gewohnheiten notwendig waren. Die Handwerker arbeiteten geschickt und mit staunenswerter Geräuschlosigkeit. Bereits in den ersten Apriltagen konnte Juliette mit Stolz feststellen, daß sie an der weltabgeschiedenen syrischen Küste ein Hauswesen besaß, das sich ruhig, wenn man die primitive Beleuchtung und Wasseranlage ausnahm, mit jedem westlichen Ruhesitz hätte messen können.

Ihre größte Freude aber war der Obst- und Rosengarten. Hier sprach wiederum ihr Väterblut. Steckt nicht in jedem Franzosen ein erblicher Gärtner und Obstzüchter? Doch auch die Armenier sind geborene Gärtner, zumal die Leute vom Musa Dagh. Kristaphor, der Verwalter, war ein Meister dieses Faches. Juliette hätte die Möglichkeit eines solchen Fruchtgartens nie geahnt. Man erntete beinahe das ganze Jahr. Niemand, der sie nicht gekostet hat, könnte sich eine Vorstellung von der Süße und Saftigkeit armenischer Aprikosen machen. Selbst hier, jenseits der Wasserscheide des Taurus, behielten sie noch die ganze Frische ihrer Heimat oben am gartenreichen See von Wan. Juliette lernte in ihrem Garten immer wieder neue Frucht-, Gemüse- und Blumenarten kennen, von denen sie nie gehört hatte. Die längste Zeit verbrachte sie aber in der Rosenpflanzung, den Sombrero auf dem Kopf und die große Zwickschere Kristaphors in der Hand. Für eine Rosennärrin wie sie war's eine Berauschung, die sich nicht überbieten ließ. Ein weiter Plan, Stock neben Stock, Staude neben Staude, doch nicht in westlicher Exerzierordnung, sondern ein dichter Tumult von Farben und Düften auf dunkelgrünen Wogen. Damaskus war nah und Persien nicht fern. Die tausend Stämme dieser Vaterländer hatten ihre Kinder hierher entsandt, und wenn Juliette auf den schmalen Gärtnerpfaden dieses Meer durchschritt, so grüßte sie mit unzähligen Blicken und Atemzügen der Inbegriff aller Rosenheit. – Apotheker Krikor hatte ihr versprochen, wenn sie ihm genügend viele Körbe von frischen Blüten der echten Moschata damascena zustellen wollte, eine winzige Phiole von jenem Öl auszupressen, dessen Herstellung an jahrhundertealte Bräuche gebunden sei. Und er berichtete auch von einer Legende. Ein einziger Tropfen der echten Essenz besitze eine solche Kraft, daß ein Toter, dem man diesen Tropfen ins Haar tue, noch bei der Auferstehung danach duften und so den Engel des Gerichts für sich einnehmen werde.

Hie und da ritt Juliette mit Stephan aus. Awetis Bagradian hatte vier Pferde hinterlassen. Eines davon, ein recht kleines, gutmütiges Pferdchen, erhielt der Junge zum Geschenk. Bei diesen Spazierritten, die entweder in die Richtung der Ebene von Suedja oder auf der anderen Seite über Azir, Bitias nach dem Bienendorf unternommen wurden, folgte ihnen der Stallknecht, für den Juliette eine malerische Tracht entworfen hatte. Die Sucht nach Schönheit und dekorativer Pracht beherrschte sie, nicht allein für ihre eigene Person, auch in bezug auf ihre Umgebung. Wenn sie dann mit Stephan und dem bunten Begleiter über Kirchplatz und Hauptstraße von Yoghonoluk hoch einherschwebte, empfand sie sich als Fürstin dieser Märchenwelt. Manchmal dachte sie an ihre Mutter und die Schwestern in Paris. Wie beneidenswert kam ihr dann das eigene Leben vor. Wo sie auftauchte, wurde sie mit tiefer Ehrfurcht begrüßt, auch in den mohammedanischen Ortschaften, die sie bei längeren Ausflügen berührte. Es war klar. Der arme Gabriel wurde wieder einmal von einer Nervenkrise gepeinigt. Sie, Juliette, konnte von einer veränderten Welt auch nicht das allerleiseste Anzeichen wahrnehmen.

 

Gabriel Bagradian verließ täglich am Morgen das Haus. Doch er machte keine Spaziergänge auf den Musa Dagh mehr, sondern wanderte durch die Ortschaften. Das Verlangen, die Bilder seiner Kindheitswelt wieder in sich einzubürgern, war einem männlicheren Streben gewichen: er wollte die Menschen dieser Welt auf das genaueste kennenlernen, in ihrer Lebensart, in ihren Bedürfnissen, in Handel und Wandel.

Zugleich aber hatte er eine Anzahl von Briefen nach Stambul geschrieben; an seine armenischen Freunde von der Daschnakzaganpartei und mehr noch an seine ehemaligen Freunde unter den Jungtürken. Er argwöhnte wohl, daß die Zensur des Kaimakamliks von Antiochia die Beförderung dieser Briefe erschweren könnte, einer oder der andre aber mußte unbedingt sein Ziel erreichen. Von der Antwort machte er die Zukunft abhängig. War in der Hauptstadt alles beim alten geblieben, handelte es sich nur um eine rein militärische Maßregel, so wollte er trotz der Warnung des Agha Rifaat Bereket den Hausstand hier abbrechen und die Reise nach der Hauptstadt auch ohne den notwendigen Paß wagen. Erfolgte aber eine böse Antwort oder gar keine, so hatten sich die Befürchtungen des alten Türken als wahr erwiesen, die Falle war geschlossen und der Rückzug vereitelt. Dann galt es nur zu hoffen, daß ein Armenierfreund wie der Wali Djelal Bey in seinem Vilajet keine »Ereignisse« dulden und daß eine ländliche Siedlung wie die am Musa Dagh außerhalb der Brandherde liegen werde, die ja stets nur in den größeren Städten zu finden sind. In diesem Fall konnte das Haus in Yoghonoluk nach des Agha Worten wirklich eine ideale Zufluchtsstätte heißen. – Was aber das Ausbleiben seiner Einberufung zum Kriegsdienst anbetraf, so glaubte Bagradian die Absichten der ottomanischen Generalität genau zu durchschauen. Man nahm die armenischen Truppenteile aus der Front und entwaffnete sie. Warum? Die Türken fürchteten, daß eine so starke Minderheit wie die armenische mit den modernsten Waffen in der Hand bei einem unglücklichen Kriegsausgang dem Staatsvolk gewisse Rechte abtrotzen könnte. Wo es aber keine Soldaten gab, durften noch weniger Offiziere geduldet werden, die im rechten Augenblick die Führung an sich reißen würden.

So zureichend diese Erklärung auch war, Gabriel fand dennoch in keiner Minute wirkliche Ruhe. Seine Unruhe aber war nicht mehr nervös überreizt, sondern fruchtbar und zielhaft. Er entdeckte in sich eine Pedanterie, die er bisher nur an seinen wissenschaftlichen Arbeiten kennengelernt hatte. Jetzt aber kam sie ihm bei Erforschung wirklicher Verhältnisse zugute. Dabei stellte er sich gar nicht die Frage, zu welchem Zwecke er seine Bemühungen unternehme und wem er damit zu helfen gedenke. Gott weiß, wie viele Monate sein Leben in diesem Tale dauern würde. Er wollte von diesen Ortschaften und diesen Menschen alles wissen. In brüderlicher Verantwortung.

Er begab sich – dies war das erste – zu dem Ortsvorsteher von Yoghonoluk. Im Gemeindehaus der größten Ortschaft wurden auch die gemeinsamen Geschäfte der übrigen Dörfer geführt, hauptsächlich der Verkehr mit den Staatsbehörden. Muchtar Kebussjan war nicht anwesend. Der Gemeindeschreiber empfing Gabriel mit vielen Verbeugungen, denn der Besuch des Familienchefs der sagenhaften Bagradians bedeutete eine Auszeichnung.

Ob es Listen der Bevölkerung gebe. Der Schreiber wies mit Großartigkeit auf das verstaubte Regal an der Wand des Zimmerchens. Natürlich gebe es solche Listen. Und nicht nur in den betreffenden Kirchenbüchern sei jede Seele vermerkt. Man lebe hier ja nicht unter Kurden und Nomaden, sondern unter Christenmenschen. Vor einigen Jahren hätten die damaligen Muchtars auf eigene Faust eine Volkszählung durchgeführt. Im Jahre 1909 nämlich – nach der Reaktion gegen die Jungtürken und nach dem großen Massaker in Adana – sei von der armenischen Volksvertretung der Befehl eingelangt, eine Zählung in den sieben Dörfern vorzunehmen. Man habe roh gerechnet sechstausend Christen zusammengebracht. Der Effendi aber könne, sofern er es wünsche, in einigen Tagen die genaue Ziffer erfahren. Gabriel wünschte es. Dann erkundigte er sich, wie es mit dem Militärverhältnis der kriegsdienstpflichtigen Jugend stehe.

Diese Frage war schon heikler. Der Gemeindeschreiber begann ein bißchen zu schielen wie sein Herr, der Muchtar. Der Mobilmachungsbefehl habe bisher alle wehrfähigen Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren zu den Waffen gerufen, obgleich das Gesetz die obere Altersgrenze mit siebenundzwanzig vorschreibe. Etwa zweihundert Männer seien im gesamten armenischen Dörferbezirk betroffen worden. Davon hätten genau hundertundfünfzig den Bedel, die gesetzliche Loskaufsumme vom Militärdienst, entrichtet, und zwar fünfzig Pfund auf den Kopf. Der Effendi wisse ja, daß man hierzulande sehr sparsam sei. Die meisten Familienväter sorgen schon gleich nach der Geburt von Söhnen für den Bedel vor, um diese vom türkischen Soldatenschicksal zu befreien. Der Muchtar von Yoghonoluk sammle in Begleitung des Gendarmeriepostens bei jedem neuen Aufgebot die Steuer ein und entrichte sie persönlich im Hükümet von Antakje.

»Wie kommt es aber«, forschte Bagradian weiter, »daß es unter sechstausend Seelen nur zweihundert Männer im Wehralter gibt?« Er bekam eine Antwort, die ihm nicht unbekannt war. Der Effendi möge bedenken, daß der Mangel an rüstigen Männern ein Erbteil der Vergangenheit, eine Folge des schweren Blutverlustes sei, der in jedem Jahrzehnt mindestens einmal über das armenische Volk komme.

Das war nur eine schöne Redensart. Gabriel hatte selbst mehr als zweihundert junge Männer in den Dörfern gesehen. Es gab eben auch Mittel, dem Dienst zu entgehen, ohne den vollen Bedel zu leisten. Der pockennarbige Saptieh Ali Nassif befand sich gewiß in voller Kenntnis dieser Mittel. Bagradian kehrte zum Gegenstand zurück:

»Nun! Fünfzig Leute sind zur Musterung nach Antakje gekommen. Was ist mit ihnen geschehen?«

»Vierzig von ihnen sind behalten worden.«

»Und in welchen Regimentern, an welchen Fronten dienen diese vierzig?«

Das sei unbestimmt. Die betroffenen Familien hätten seit Wochen und Monaten keine Nachricht von ihren Söhnen. Die türkische Feldpost sei ja allgemein durch ihre Zuverlässigkeit bekannt. Möglicherweise befänden sie sich in den Kasernen von Aleppo, wo der General Dschemal Pascha seine Armee neu aufstelle.

»Und in den Dörfern spricht niemand davon, daß man Armenier zu Inschaat Taburi, zu Armierungssoldaten, machen will?«

»Man spricht manches in den Dörfern«, meinte der Schreiber scheu.

Gabriel betrachtete das kleine Regal. »Verzeichnis des Hausbesitzes« stand neben einer Ausgabe des »Kaiserlich ottomanischen Gesetzbuches« und daneben eine rostige Briefwaage. Er drehte sich unvermittelt um:

»Und die Deserteure?«

Der inquirierte Gemeindeschreiber ging geheimnisvoll zur Tür, öffnete und schloß sie wieder geheimnisvoll. Selbstverständlich gebe es auch hier Deserteure, hier wie überall. Warum sollten die Armenier nicht desertieren, da ihnen die Türken ja dazu das Vorbild lieferten? Wie viele Deserteure? Fünfzehn bis zwanzig. Ja! Man habe auch nach ihnen gefahndet. Vor einigen Tagen. Eine Patrouille, aus Saptiehs und regulären Infanteristen zusammengesetzt, unter Führung eines Mülasim. Die hätten den ganzen Musa Dagh abgesucht. Zum Lachen!

Das spitze Gesicht des blinzelnden Männchens verklärte plötzlich ein wilder und pfiffiger Triumph:

»Zum Lachen, Herr! Denn unsere Burschen, die kennen ihren Berg!«

 

Das Pfarrhaus, das Ter Haigasun bewohnte, war neben dem Muchtar- und dem Schulhaus das ansehnlichste auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk. Es hätte mit seinem flachen Dach und der fünffenstrigen Einstock-Front in jeder süditalienischen Kleinstadt stehen können. Das Pfarrhaus gehörte zu der Kirche der »wachsenden Engelmächte«, was dem Sinn nach soviel wie Himmlische Heerscharen bedeutet, und Awetis, der Alte, hatte in den siebziger Jahren damals beide zugleich errichten lassen.

Ter Haigasun war der gregorianische Hauptpriester des ganzen Bezirks. Zu seinem Wirkungskreis gehörten auch noch die Ortschaften mit gemischter Bevölkerung und die kleinen armenischen Gemeinden der türkischen Marktflecken Suedja und El Eskel. Er war unmittelbar vom Patriarchen in Konstantinopel zum Wartabed dieses Sprengeis, zum Vorstand der einzelnen Kirchen und ihrer verehelichten Priesterschaft ernannt worden. Ter Haigasun hatte auf dem Seminar zu Edschmiadsin studiert, zu Füßen des Katholikos, in dem die armenische Christenheit ihr höchstes Oberhaupt verehrte, und war demnach in jeder Weise der berufene Vikar in seinem Bezirk.

Und Pastor Harutiun Nokhudian? Wie kamen plötzlich protestantische Pastoren in diesen asiatischen Winkel? Nun, es gab eine beträchtliche Menge von Protestanten in Anatolien und Syrien. Die evangelische Kirche hatte diese Proselyten den deutschen und amerikanischen Missionaren zu verdanken, die sich der armenischen Opfer und Waisen so hilfreich annahmen. Der gute Nokhudian war selbst solch ein Waisenkind, den jene erbarmensreichen Väter nach Dorpat in Ostdeutschland gesandt hatten, damit er dort Theologie studiere. Doch auch er unterwarf sich in allen Dingen, welche nicht die engere Seelsorge betrafen, der Autorität Ter Haigasuns. In Anbetracht der stets gefährdeten Lage des Volkes spielten die dogmatischen Unterschiede in den Bekenntnissen keine herrschende Rolle, und die Vorrangstellung des geistlichen Führers – und dies war Ter Haigasun im wahrsten Sinn des Wortes – blieb unbekrittelt und unangefochten.

Gabriel wurde von einem alten Mann, dem Kirchendiener, in das Arbeitszimmer des Priesters geführt. Ein leerer, mit einem großen Teppich bedeckter Raum. Doch stand, zum Fenster gerückt, ein winziger Schreibtisch da und daneben ein ausgefaserter Strohsessel für Besucher. Ter Haigasun erhob sich hinter dem Schreibtisch und kam Bagradian einen Schritt entgegen. Er war nicht älter als achtundvierzig Jahre, doch sein Bart wies rechts und links zwei dicke weiße Strähnen auf. Seine großen Augen – Armenieraugen sind fast immer groß, schreckensgroß von tausendjährigen Schmerz-Gesichten – besaßen einen gemischten Ausdruck von scheuer Verlorenheit und entschlossenem Weltsinn. Der Wartabed trug eine schwarze Kutte und über dem Kopf eine Kapuze, die spitz zulief. Er versteckte seine Hände hie und da in den weiten Ärmeln der Kutte, als fröstle er selbst an diesem warmen Frühlingstag. Es war wie ein Frösteln aus Demut. Bagradian ließ sich mit Vorsicht auf den gebrechlichen Strohsessel nieder:

»Ich bedaure es sehr, hochwürdiger Herr, daß ich Sie niemals in meinem Hause begrüßen darf.«

Der Priester schlug die Augen nieder und machte mit beiden Händen eine Entschuldigungsgebärde:

»Ich bedaure es mehr als Sie, Effendi. Aber der Sonntagabend ist die einzige Zeit, die unsereins für sich selbst übrig hat.«

Gabriel sah sich um. Er vermutete, in dieser Pfarrkanzlei Akten und Folianten zu finden. Nichts davon. Nur auf dem Schreibtisch lagen ein paar Schriftstücke.

»Es liegt eine große Last auf Ihnen, das kann ich mir genau vorstellen.«

Ter Haigasun leugnete es nicht:

»Die weiten Entfernungen sind es, die soviel Zeit und Anstrengung kosten. Mir geht es so wie unserem Doktor Altouni. Schließlich wollen auch unsere Volksgenossen in El Eskel und oben in Arsus betreut werden.«

»Ah, so weit«, meinte Gabriel ziemlich geistesabwesend, »da kann ich mir wohl denken, daß Sie für gesellige Zusammenkünfte keine Zeit und Lust haben.«

Ter Haigasun sah vor sich hin, als sei er nicht richtig verstanden worden:

»Nein, nein! – Ich weiß die Ehre zu schätzen und werde zu Ihnen kommen, Effendi, wenn für mich eine Erleichterung eintritt ...«

Er unterbrach sich, wie um das Wort »Erleichterung« nicht näher erklären zu müssen:

»Es ist sehr begrüßenswert, daß Sie unsere Leute um sich versammeln. Die entbehren hier viel.«

Gabriel versuchte die Augen des Priesters festzuhalten:

»Glauben Sie nicht, Ter Haigasun, daß für gesellige Zusammenkünfte jetzt nicht die richtige Zeit ist?«

Ein kurzer, aufmerksamer Blick des Priesters: »Im Gegenteil, Effendi! Es ist jetzt die richtige Zeit dafür, daß unsere Leute zusammenkommen.«

Auf diese seltsam vieldeutigen Worte sagte Gabriel Bagradian zunächst nichts. Es verging eine ganze Weile, ehe er hinwarf:

»Man staunt wirklich, daß hier das Leben so ruhig weitergeht und sich niemand Sorgen zu machen scheint.«

Der Priester hielt seine Augen wiederum niedergeschlagen, als sei er bereit, jede Mißbilligung geduldig entgegenzunehmen.

»Ich war vor einigen Tagen in Antiochia«, bekannte Gabriel sehr langsam, »und habe dort mancherlei in Erfahrung gebracht.«

Die fröstelnden Hände Ter Haigasuns verließen die Ärmel der Kutte. Er legte die Fingerspitzen aufeinander:

»Die Menschen unserer Dörfer kommen nur selten nach Antiochia, und das ist gut. Sie leben in ihren eigenen Grenzen und wissen wenig von den Dingen da draußen.«

»Wie lange werden sie noch in ihren Grenzen leben können, Ter Haigasun ...? Was geschieht zum Beispiel, wenn alle unsere Führer und Vornehmen in Stambul verhaftet werden?«

»Sie sind bereits verhaftet worden«, entgegnete der Priester sehr leise. »Seit drei Tagen schon sitzen sie in den Gefängnissen von Stambul. Und es sind sehr, sehr viele.«

Die Entscheidung war für Gabriel gefallen, der Weg nach Konstantinopel verrammelt. Doch in diesem Augenblick machte die große Tatsache weniger Eindruck auf ihn als Ter Haigasuns Ruhe. Er zweifelte an der Zuverlässigkeit der Nachricht nicht. Die Priesterschaft war trotz der liberalen Daschnakzagans noch immer die größte Macht und die einzige wirkliche Organisation im Volke. Die weltlichen Gemeinden lebten in weitverstreuten Ortschaften und erfuhren vom Stromlauf der Welt meist erst dann, wenn er sie in seine Strudel gerissen hatte. Der Priester aber wurde als erster auf schnellen und geheimen Wegen von jedem gefährlichen Faktum in Kenntnis gesetzt, noch lange bevor es die Zeitungen der Hauptstadt bringen durften. Gabriel wollte sich noch einmal überzeugen, ob er richtig verstanden habe:

»Wirklich verhaftet? Und wer? Ist das ganz sicher?«

Ter Haigasun legte seine leblose Hand mit dem großen Ring auf die Schriftstücke:

»Es ist ganz und gar sicher.«

»Und da sind Sie als Hauptpriester von sieben großen Gemeinden so ruhig?«

»Mir würde die Unruhe nichts nützen und meinen Gemeinden nur schaden.«

»Sind auch Priester unter den Verhafteten?«

Ter Haigasun durchschaute wohl den Argwohn in dieser Frage. Er neigte ernst den Kopf:

»Sieben Priester bisher. Darunter der Erzbischof Hemajak und drei hochgestellte Prälaten.«

Trotz der niederschmetternden Kunde konnte Bagradian sein Tabakbedürfnis nicht länger beherrschen. Er empfing Zigarette und Feuer:

»Ich hätte früher zu Ihnen kommen sollen, Ter Haigasun. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich abgequält habe, um zu schweigen.«

»Sie haben sehr wohlgetan, zu schweigen. Und wir müssen weiter schweigen.«

»Wäre es nicht vorteilhafter, die Menschen hier auf die Zukunft vorzubereiten?«

Das wie aus Wachs geschnittene Gesicht Ter Haigasuns zeigte keine Regung:

»Ich kenne die Zukunft nicht. Doch ich kenne die Gefahren von Angst und Panik in einem Gemeinwesen.«

Der christliche Priester hatte damit fast die gleichen Worte wie der fromme Moslem Rifaat gesprochen. In Gabriels Geist aber ging ein blitzschneller Wachtraum vor sich. Ein riesiger Hund! Eine jener herrenlosen Bestien, welche die ganze Türkei unsicher machen. Auf dem Weg ein alter Mann, der aus Furcht vor dem Hund stehnbleibt, am Orte tanzt und sich mit einer jähen Bewegung zur Flucht wendet. Doch schon hat sich das reißende Tier in seinen Rücken verbissen ... Gabriel legte die Hand auf die Stirn:

»Die Angst«, sagte er, »ist das sicherste Mittel, den Feind zum Mord aufzureizen ... Aber ist es nicht sündhaft und sogar noch gefährlicher, dem Volke die Klarheit über sein Schicksal vorzuenthalten? Wie lange kann sich dieses Schicksal verheimlichen lassen?«

Ter Haigasun schien in die Ferne zu horchen:

»Noch dürfen die Zeitungen über all diese Dinge nicht schreiben, damit das Ausland nichts erfahre. Im Frühjahr ist auch die Arbeit groß und unsere Leute haben keine Zeit und kommen wenig herum. So kann uns mit Gottes Hilfe die Angst noch eine Weile erspart bleiben. Einmal aber wird es kommen. Früher oder später.«

»Was wird kommen? Wie sehen Sie es?«

»Ich sehe nichts.«

»Unsere Soldaten entwaffnet, unsere Führer eingesperrt!«

Ter Haigasun setzte die Aufzählung fort, immer noch mit Gleichmut, als bereite es ihm eine stille Befriedigung, sich selbst und seinem Besucher weh zu tun:

»Unter den Festgenommenen ist auch Wartkes, der Herzensfreund von Talaat und Enver. Einen Teil hat man verschickt. Vielleicht sind sie schon tot. Alle armenischen Zeitungen wurden eingestellt, alle Geschäftshäuser und Läden geschlossen. Und während wir hier miteinander sprechen, hängen auf dem Platz vor dem Seraskeriat fünfzehn unschuldige armenische Männer an fünfzehn Galgen.«

Gabriel Bagradian fuhr so heftig auf, daß der Rohrsessel umfiel:

»Was bedeutet dieser Wahnsinn? Wer kann das verstehen?«

»Ich verstehe nur, daß die Regierung gegen unser Volk einen Schlag plant, wie ihn selbst Abdul Hamid nicht gewagt hat.«

Gabriel fauchte Ter Haigasun so erbost an, als hätte er einen Feind, ein Mitglied von Ittihad vor sich:

»Und sind wir denn wirklich ganz machtlos? Müssen wir wirklich den Kopf schweigend hinhalten?!«

»Machtlos sind wir. Den Kopf müssen wir hinhalten. Schreien dürfen wir vielleicht.«

Der verfluchte Orient mit seinem Kismet, seiner Passivität, durchzuckte es Bagradian. Zugleich erfüllte ein Tumult von Namen, Beziehungen, Möglichkeiten sein Bewußtsein. Politiker, Diplomaten, die er kannte, Franzosen, Engländer, Deutsche, Skandinavier. Man mußte die Welt aufrütteln! Aber wie? Die Falle war geschlossen. Der Nebel zerfloß wieder. Sehr kleinlaut kam es ihm von den Lippen:

»Europa wird es nicht dulden.«

»Sie sehen uns mit fremden Augen.« Unerträglich war diese Gelassenheit Ter Haigasuns: »Es gibt heute zwei Europa. Die Deutschen brauchen die türkische Regierung mehr, als diese sie braucht. Und die andern können uns nicht helfen.«

Gabriel starrte den Priester an, dessen gescheites Kameengesicht nichts aus der Fassung bringen konnte:

»Sie sind der geistliche Hirte von vielen tausend Seelen« – Bagradians Stimme hatte fast einen militärisch scharfen Ton – »und Ihre ganze Kunst besteht darin, daß Sie den Leuten die Wahrheit vorenthalten, so wie man Kindern und Greisen ein Unglück verschweigt, um sie zu schonen. Ist das alles, was Sie für Ihre Herde tun? Was tun Sie noch?«

Mit diesem Angriff aber schien Gabriel den Priester tief getroffen zu haben. Seine Fäuste auf dem Tisch schlossen sich langsam. Der Kopf sank auf die Brust:

»Ich bete ...«, flüsterte Ter Haigasun, als schäme er sich, den geistlichen Kampf preiszugeben, den er bei Tag und Nacht mit Gott um das Heil seiner Gemeinde führte. Vielleicht war der Enkel von Awetis Bagradian ein Freigeist und Spötter. Der aber ging, laut atmend, im Zimmer umher. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand klatschend gegen die Mauer, daß der Verputz abbröckelte:

»Beten Sie, Ter Haigasun!«

Und noch immer im Befehlshaberton:

»Beten Sie ... Aber man muß Gott auch unterstützen

 

Das erste Ereignis, das Yoghonoluk von den verheimlichten Vorgängen in Kenntnis setzte, trat noch am selben Tage ein. Es war ein warmer, bewölkter Freitag im April.

Gabriel Bagradian hatte auf Stephans Bitte im Park der Villa ein paar grobgezimmerte Turngeräte aufstellen lassen. Der Knabe war in allen körperlichen Übungen sehr geschickt und ehrgeizig. Es wurde auch mancher Sport getrieben, an dem sich der Vater beteiligte. Scheibenschießen war der beliebteste. Juliette freilich verstand sich bestenfalls zum Krocketspiel. Gabriel, Awakian und Stephan begaben sich heute gleich nach dem Mittagstisch – an dem der Vater kein Wort gesprochen hatte – zum Schießstand, der außerhalb der Umfassungsmauer des Parkes auf einem waldigen Vorberg gelegen war. Dort hatte Bagradian in einer etwa fünfzig Schritt langen schluchtartigen Querrinne das Unterholz aushauen lassen. Unter einer hohen Eiche war eine Pritsche mit Holzkeil hingestellt, auf der man im Liegen die Scheibe, die am andern Ende der Rinne an einem Baum befestigt war, klar anvisieren konnte. Awetis, der Jüngere, hatte seinem Bruder einen üppigen Waffenkasten hinterlassen: acht Jagdflinten verschiedenen Kalibers, zwei Mauser-Infanteriegewehre und eine große Menge Munition.

Gabriel schoß leidlich gut, doch hatte er unter fünf Patronen nur einen vollwertigen Treffer zu verzeichnen. Der stark kurzsichtige Awakian enthielt sich des Wettbewerbs, um den Respekt seines Zöglings nicht allzusehr auf die Probe zu stellen. Dieser aber mußte ein Meisterschütze genannt werden, denn von den sieben Schüssen, die er aus dem kleinsten der Jagdstutzen abgab, steckten sechs in der Spielkarte, die als Mitte der Scheibe diente, und vier davon in der Figur. Der Erfolg, den Stephan als Schütze über seinen Vater errungen hatte, erregte ihn heftig. Dazu kam, daß der Umgang mit der Schußwaffe, das Aufreißen des Verschlusses, das kraftvolle Einschieben der Patronen, Zielen, Knall und Rückstoß, daß all diese kriegerisch rauhe Tätigkeit auf jeden halbwüchsigen Burschen verwirrend und begeisternd wirkt. Er spürte den Schmerz in seiner schmalen rechten Schulter nicht, den der Kolbenstoß verursacht, und würde dieses männliche Spiel leidenschaftlich bis zum Abend fortgetrieben haben, hätte sein Vater nicht plötzlich abgewinkt:

»Es ist genug!«

Über Gabriel war nämlich ein unbekannter Zustand gekommen, desgleichen er sich nicht erinnerte je empfunden zu haben: ein fades Gefühl seiner selbst. Die Zunge schwer und trocken. Hände und Füße kalt. Blutleere im Kopf. Dies aber waren nur die äußeren Merkzeichen eines Vorganges im Mittelpunkt des Lebens selbst. Mir ist nicht schlecht, dachte er, nachdem er eine Weile gewartet hatte, was mit ihm geschehen werde, mir ist nicht schlecht, ich möchte nur aus meiner Haut fahren, mich selbst abstreifen. Zugleich bemächtigte sich seiner der sinnlose Wunsch, zu laufen, davonzulaufen, gleichviel wohin. »Wir werden ein bißchen spazierengehn, Stephan«, entschied er. Nicht allein bleiben wollte Gabriel. Denn ihm war, als müßte er sonst mit kurzen hastigen Schritten gehn, immer weiter, nicht mehr zurückkehren, bis er außerhalb der Welt geraten sei.

Awakian übernahm es, die Gewehre ins Haus zu tragen. Vater und Sohn aber verließen den Park und traten den Weg hinunter nach Yoghonoluk an, das keine zehn Minuten entfernt lag. Gabriel kam sich auf einmal wie ein uralter Mann vor, sein Körper wurde ihm so schwer, daß er sich auf Stephan stützte. Ehe sie noch den Kirchplatz erreicht hatten, schlug ihnen ein scharfes Stimmengewirr entgegen. Die Armenier sind im Gegensatz zu den Arabern und andern Lärmerzeugern des Ostens in der Öffentlichkeit still und verschlossen. Ihr altes Schicksal schon hält sie zurück, sich in schreiende Ansammlungen zu mischen oder solche gar zu veranstalten. Jetzt und hier aber hatten sich etwa dreihundert Dorfbewohner zusammengerottet, die in einem Halbbogen die Kirche belagerten. Unter diesen Männern und Frauen, Bauern und Handwerkern, gab es einige, die lange kehlige Verwünschungen ausstießen und die Fäuste schüttelten. Die Flüche galten ohne Zweifel den Saptiehs, deren abgetragene Lammfellmützen die Köpfe überragten. Die Hüter der Ordnung verfolgten wahrscheinlich die Absicht, die Menge von der Kirche zurückzudrängen, um Stufen und Eingang frei zu halten. Gabriel packte Stephans Hand und zwängte sich durch den Menschenhaufen. Sie sahen zuerst nur den hohen zerlumpten Kerl, der um seine schwarze Mütze einen Strohkranz geschlungen hatte und in der rechten Hand eine kurzabgeschnittene Sonnenblume schwang. Mit tödlichem Ernst vollführte die Erscheinung, einem inneren Rhythmus gehorchend, müd-tappende Tanzschritte. Es waren aber keineswegs Tanzschritte der Betrunkenheit. Das sah man sofort. Die Menge beachtete den Tänzer mit der Sonnenblume gar nicht. Ihre Augen hafteten an einem anderen Bild.

Auf den Stufen der Kirche saßen vier Personen. Ein Mann, zwei junge Frauen und ein Mädchen, das zwölf oder dreizehn Jahre alt sein konnte. Es war ein menschliches Dahocken, wie Gabriel es nie gesehen hatte; eine Art von sitzender Leichenstarre bei lebendigem Leibe. Eine ähnliche Haltung hatten die Verschütteten, die man aus zweitausendjähriger Lavaasche ausgrub: »Als ob sie lebten«. Alle vier sandten einen stumpfen und weiten Blick in die Ferne, in dem nichts haftenblieb, nicht die bewegte Menge und nicht das Haus des Apothekers, das ihnen gegenüberlag. (Was ist das, ein Blick? Eine winzige Veränderung des Auges, eine dunkle oder helle Verfärbung. Und doch zugleich ein Flügelwesen, ein Engel, den der Mensch mit seiner Botschaft ausschickt. Diese Engel hier aber flogen mit ihrer Botschaft an allem vorbei, die Flügel vors Antlitz schlagend.)

Der Mann, noch jung, mit einem schmalen, verwilderten Bartgesicht, trug einen langen grauen Lüsterrock, wie ihn hierzulande protestantische Pastoren zu tragen pflegen. Der weiche Strohhut war die Stufen hinabgerollt. Seine Hosen waren unten gänzlich ausgefranst. Die zerrissenen Stiefel, die dicke Staubkruste auf Gesicht und Rock des Mannes deuteten auf einen Fußmarsch hin, der einige Tage lang gedauert haben mußte. Auch die Frauen trugen europäische Kleidung, und zwar keine schlechte, soweit sich dies bei dem Zustand, in dem sie sich befanden, erkennen ließ. Jene, die dicht neben dem Pastor saß – unzweifelhaft seine Frau –, schien sich nicht länger gegen eine Ohnmacht oder einen Krampfanfall wehren zu können, denn sie legte plötzlich den Oberkörper zurück und wäre mit dem Kopf auf die Stufe geschlagen, hätte der Mann den Arm nicht ausgestreckt, um sie aufzufangen. Dies war die erste, wenn auch immer noch sonderbar ruckweise Bewegung in der Gruppe. Die andere Frau, die noch sehr jung sein mußte, verriet Schönheit auch in dieser Verfassung. Wie fahl und abgemagert ihr Gesichtchen auch war, die Augen hatten einen fiebernden Schimmer, und der weiche Mund stand offen, nach Luft schmachtend. Sichtbar litt sie Schmerzen. Sie mußte verwundet sein oder einen Schaden genommen haben, denn ihr linker Arm, der einen verrenkten Eindruck machte, hing in einer Schlinge. Das kleine Mädchen schließlich, ein spitzes und spatzenhaftes Ding, hatte einen gestreiften Kittel an, wie ihn Kinder in Erziehungsheimen tragen. Unter diesem Kittel streckte die Kleine krampfhaft ihre nackten Füße vor, ängstlich bedacht, mit ihnen nichts zu berühren. Wie ein krankes Tier, dachte Gabriel, das seine verwundeten Pfoten von sich streckt. Und tatsächlich, die armen Füße des Kindes waren geschwollen, schwarzblau und mit offenen Wunden bedeckt. Ganz unversehrt und im vollen Besitze seiner Kraft schien nur der Tänzer mit der Sonnenblume zu sein.

Über den Platz kam ein älterer Mann gelaufen, den man offenbar mitten von der Arbeit abberufen hatte, denn er trug noch eine blaue Schürze vorgebunden. Stephan erkannte den Meister Tomasian, der die Ausbesserungsarbeiten in der Villa geleitet hatte. Dem Jungen, der oft um die Handwerker neugierig herumgeschlichen war, hatte Tomasian damals voll Stolz von seinem Sohn Aram erzählt, der in der Stadt Zeitun eine angesehene Persönlichkeit sei, Pastor und Vorstand des Waisenhauses. Dieser dort ist gewiß sein Sohn, wußte Stephan. Der alte Tomasian blieb mit fragend erhobenen Armen vor der erschöpften Gruppe stehn.

Pastor Aram holte mühsam seinen verflogenen Blick zurück, sprang mit erzwungener Leichtigkeit auf und versuchte ein beruhigendes Lächeln, als sei nichts Besonderes geschehn. Auch die Frauen erhoben sich, jedoch beide mit großer Anstrengung, denn hatte die eine einen unbrauchbaren Arm, so war die andre guter Hoffnung. Nur die Kleine in dem gestreiften Kittel blieb sitzen und glotzte ihre Leidensgenossen argwöhnisch an. Die jähen Ausrufe, die Weh- und Fragelaute der Begrüßung konnte man nicht verstehn. Als aber Pastor Aram den Vater umarmte, war es für einen Augenblick mit seiner Selbstbeherrschung zu Ende. Sein Kopf fiel auf die Schulter des Alten, und ein kurzes Aufschluchzen, ein rauhes Aushusten von Qual wurde hörbar. Das dauerte keine Sekunde, und die Frauen blieben stumm. Dennoch pflanzte es sich in der umgebenden Menge wie ein elektrischer Schlag fort. Wimmern, Schluchzen und Räuspern ging durch die Reihen. Nur verfolgte und unterdrückte Völker sind so gute Stromleiter des Schmerzes. Was einem einzelnen geschieht, ist allen geschehen. Hier vor der Kirche von Yoghonoluk waren dreihundert Volksgenossen von einem Leid ergriffen, dessen Geschichte sie noch nicht kannten. Auch Gabriel, der Fremde, der Pariser, der Weltbürger, der seine Abstammung längst überwunden hatte, auch er mußte etwas Würgendes niederzwingen, das in ihm aufstieg. Verstohlen sah er Stephan an. Aus dem Gesicht des Meisterschützen war der letzte Hauch von Farbe gewichen. Juliette wäre erschrocken, nicht nur über die Blässe des Knaben, sondern über den zügellosen Ausdruck von nicht verstehendem Entsetzen in seinem Gesicht. Sie wäre erschrocken, weil Stephan so armenisch aussah.

Inzwischen hatte sich Doktor Altouni eingefunden, Antaram Altouni, die beiden Lehrer, die man aus der Schule geholt, der Muchtar Kebussjan und zuletzt Ter Haigasun, der auf seinem Reitesel gerade von einem Besuch in Bitias zurückgekehrt war. Der Priester rief dem Saptieh Ali Nassif ein paar türkische Worte zu. Niemand von der Menge draußen dürfe die Kirche betreten. Er selbst aber schob die Familie Tomasian samt dem kleinen Mädchen durch das Portal. Der Arzt und seine Frau, der Muchtar, die Lehrer folgten. Auch Gabriel Bagradian und sein Sohn traten in die Kirche. Draußen in der starken Nachmittagssonne blieb der Menschenhaufen und der Tänzer mit der Sonnenblume zurück, der auf den Stufen zusammensank und einschlief.

Ter Haigasun führte die Erschöpften in die Sakristei, einen großen, hellen Raum, in dem ein Diwan und mehrere Kirchenbänke standen. Der Küster wurde um Wein und warmes Wasser gesandt. Der Arzt und seine Frau gingen sofort ans Werk. Das Mädchen mit dem verletzten Arm – Iskuhi Tomasian, des Pastors Schwester – wurde untersucht. Ebenso die Wunden Satos, der kleinen Waise, die Pastor Aram aus Zeitun mitgebracht hatte.

Als ein Fremder oder Noch-Fremder stand Gabriel Bagradian, die Hand Stephans haltend, abseits und hörte das Durcheinander von Fragen und das Durcheinander berichtender Antworten. So lernte er, trotz mangelnder Ordnung und Folgerichtigkeit, die traurige Geschichte der Stadt Zeitun und die Geschichte Pastor Arams und der Seinen kennen.

 

Zeitun heißt ein altes hochgebautes Bergnest im westlichen Teil des zilizischen Taurusgebirges. Es wurde ähnlich wie die Dörfer am Musa Dagh fast durchwegs von uransässigen Armeniern bewohnt. Da es aber ein sehr ansehnlicher Ort von etwa dreißigtausend Einwohnern war, so unterhielt die türkische Regierung dort eine bedeutende Zahl von Saptiehs und Truppen, von Offizieren und Beamten mit ihren Familien, was sie überall zu tun pflegte, wo eine nichttürkische Bevölkerung ausgewogen und überwacht werden sollte. Dies ist eine weltbekannte Taktik in all jenen Reichen, wo ein sogenanntes Staatsvolk allmächtig über andere Volksminderheiten herrscht. In der Türkei wurde sie besonders kraß geübt, da die Osmanen, die auf ihr adliges Vorrecht pochten, den verschiedenen »Millets« gegenüber nicht einmal die zahlenmäßige Überlegenheit besaßen. Nur Leute wie Gabriel Bagradian, die in Paris oder anderen Hauptstädten lebten, konnten in ihrem Idealismus bis zu diesem Frühjahr hoffen, daß eine Vereinigung der Gegensätze, eine Bereinigung der Blutsfeindschaft, ein Sieg der Gerechtigkeit unter jungtürkischer Flagge möglich sei. Gabriel kannte eine erkleckliche Zahl von diesen Advokaten und Journalisten, die sich durch die Revolution in den Sattel geschwungen hatten. In den Zeiten der Verschwörung war er mit ihnen nächtelang in den Cafés des Montmartre gesessen, bis ins Morgengrauen debattierend. Versicherungen ewiger Treue, messianische Zukunftsbekenntnisse wurden damals zwischen Türken und Armeniern gewechselt. Um des erneuerten Vaterlandes willen (mit dem er sehr wenig zu tun hatte) war er als verheirateter Mann in die Militärakademie eingetreten und in den Krieg gegangen, was den wenigsten von jenen türkischen Patrioten in Paris eingefallen war. Und jetzt? Er sah immer noch ihre Gesichter im Geiste, und eine nicht ganz erloschene Erinnerungswärme fragte erstaunt: Wie? Diese meine alten Freunde sind nun meine Todfeinde?

Die Sache mit Zeitun war eine grobe Antwort. Man stelle sich einen hohen schrundigen Felsen vor, von einer wilden Zitadelle gekrönt, und in diesen Felsen eingefressen die Waben der alten Stadt. Eine abweisende hochmütige Pyramide übereinandergetürmten Gassenwerks, die sich nur mit den neueren Stadtteilen in der Ebene festsaugt. Zeitun war von jeher ein Pfahl im Fleische des türkischen Nationalismus gewesen. Denn wie es heilige Orte und religiöse Wallfahrtsstätten auf der Welt gibt, die den Geist in Andacht versetzen, so gibt es Ortschaften der Grimmigkeit und des Hasses, die das Blut von völkischen Fanatikern zum Sieden bringen. Bei Zeitun hatte dieser Haß sogar seine klaren Gründe. Erstens war die Stadt bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein im Besitz freier Selbstverwaltung gestanden, ein Sachverhalt, der auf unangenehme Erfahrungen hindeutet, die das Staatsvolk sich in grauen Zeiten daselbst geholt haben mußte. Ferner hatte sich in den Zeitun-Armeniern der alte Unabhängigkeitsdrang ihrer Geschichte erhalten und machte sich oft in hochfahrenden und verletzenden Lebensformen geltend. Die unverzeihlichste Ursache des Hasses lag aber in der Erinnerung an ihr überraschendes Verhalten im Jahre 1896. Hatte doch damals der gute Sultan Abdul Hamid neben anderen Freischaren auch die Hamidijehs – worunter eine aus beurlaubten Sträflingen, Räubern und Nomaden zusammengesetzte Soldateska zu verstehen ist – eigens zu dem Zwecke ins Leben gerufen, damit er eine muntere Truppe zur Hand habe, die jene Ereignisse reuelos zu entfesseln bereit sei, mit denen er allenthalben den reformsüchtigen Mund der armenischen Millet gründlich zu stopfen hoffte. Während diese Freischaren nun überall anders die besten Erfolge zu verzeichnen hatten, zogen sie sich gerade in Zeitun eine blutige Schlappe zu, anstatt auch hier, wie es ihnen versprochen war, ein lustiges und ertragreiches Massaker zu feiern. Und das Schlimmste, selbst die regulären Bataillone, die zu ihrer Unterstützung herbeieilten, wurden von den Zeitunlis unter grausamen Verlusten aus den engen Gassen geprügelt. Nicht einmal die Belagerung mit großer Macht, die dieser Niederlage folgte, richtete das geringste aus. Zeitun blieb uneinnehmbar. Als sich schließlich die europäische Diplomatie für den tapferen Armenierstamm ins Mittel legte und die Botschafter bei der Hohen Pforte, die sich schmachbedeckt nicht zu helfen wußte, eine vollkommene Amnestie für Zeitun erwirkten, da kannte die knirschende Demütigung keine Grenzen mehr. Alle kriegerischen Nationen, nicht nur die osmanische, überwinden militärische Mißerfolge, die ihnen von Gleichgearteten zugefügt werden. Aber durch eine Rasse geschlagen werden, die dem Waffenideal abhold ist, durch Händler, Handwerker und Bücherwürmer sich erniedrigt zu sehn, das kann ein wehrhafter Sinn niemals vergessen. So übernahm die neue Regierung, nachdem die alte verschwunden war, die Erinnerung an die Schlappe von Zeitun und die Erbschaft des Hasses.

Welche Gelegenheit aber wäre zur Heimzahlung günstiger gewesen als der große Krieg? Ausnahmezustand und Kriegsrecht waren verkündet. Die männliche Jugend stand zum größten Teil an der Front oder lag in entfernten Kasernen. Die daheimgebliebene Bevölkerung hatte man sogleich in den ersten Tagen durch wiederholte Haussuchung gründlich entwaffnet. Es fehlte nur eines noch: die Gelegenheit.

Der Bürgermeister von Zeitun hieß Nazareth Tschausch. Er war der echte Bergarmenier. Hager, vornübergebeugt, blaß, mit einem buschig hängenden Schnurrbart unter der gebogenen Nase. Kein junger und gesunder Mann mehr, hatte er sich lange gegen die Übernahme der Verantwortung gewehrt. Er roch den brenzelnden Geruch der Zukunft. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel wurden täglich tiefer, wenn er den steilen Weg zum Hükümet emporstieg, um die neuen Verfügungen des Kaimakams zu lernen. Seine Hand, die einen groben Stock umklammerte, war von schmerzhaften Gichtknoten entstellt. Der gescheite Kopf des Nazareth Tschausch hatte sogleich eingesehen, daß es fortan nur eine einzige Politik geben könne, gegen jede Provokation gewappnet zu sein, keinem Gesinnungshinterhalt in die Falle zu gehn und um Gottes oder des Teufels willen ein strammer ottomanischer Patriot zu sein. Im übrigen hegte Nazareth Tschausch ebensowenig wie die anderen Zeitun-Armenier eine Tücke gegen die Türkei im Herzen. Sie war das Schicksal der Nation. Man kann mit der Erde, auf der man lebt, mit der Luft, die man atmet, nicht hadern. Er spielte mit keinen kindischen Befreiungsträumen, denn schließlich war die Wahl zwischen dem Sultan- und dem Zarenreich nicht minder schwer als überflüssig. Er blieb ein Anhänger jenes Wortes, das seinerzeit unter Armeniern eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte: »Lieber in der Türkei körperlich zugrunde gehn als in Rußland geistig.« Einen dritten Weg gab es nicht.

Die Verhaltungsweise gegenüber der türkischen Behörde war somit eindeutig bestimmt. Das lebendige Vorbild ihres Führers Nazareth Tschausch schuf in der Bevölkerung eiserne Zucht. Bis auf weiteres kam keine danach geartete Vorfallenheit den heimlich-lüsternen Wünschen der Obrigkeit zustatten. Eine blutrünstige Musterungskommission erklärte Krüppel und Kranke für tauglich. Gut! Sie rückten ohne Wimperzucken ein. Der Kaimakam schrieb ungesetzliche Steuern und Kriegsleistungen aus. Gut! Sie wurden pünktlich erstattet. Derselbe Kaimakam ordnete bei den dümmsten Anlässen Siegesfeiern und patriotische Umzüge an. Gut! Das Volk erschien, strahlend von Bravheit, und sang die vorschriftsmäßigen Hymnen und Triumphlieder zum Takt der türkischen Militärmusik ab.

Auf diese Weise also gelangte man zu keinen Ereignissen. Was der großen Provokation demnach nicht glückte, sollte die kleine erreichen. Mit einemmal tauchten im Bazar, in den Cafés und Herbergen, auf allen Gassen und öffentlichen Plätzen ortsfremde, aber dennoch zutunliche Armenier auf, mischten sich in die Unterhaltungen, kiebitzten beim Karten- und Beinspiel, schlichen sich sogar in die Familien ein, woselbst sie besonders tief über die unerträglichen Zustände und die wachsende Bedrückung seufzten. Die Tageslosung des Verrats, welche diese Spitzel und Naderer heimbrachten, deckte nicht einmal die Selbstkosten. So kam der erste Kriegswinter ins Land, ohne daß aus dem stillen Wasser Zeituns der kleinste »Fall« zu fischen gewesen wäre, wie er höhern Orts dringend begehrt wurde. Da entschloß sich der Kaimakam, selbst die Rolle des Agent provocateur zu übernehmen.

Das Glück oder vielmehr das Unglück von Nazareth Tschausch wollte es, daß er in dem Kaimakam einen ganz unzulänglichen Gegenspieler besaß. Dieser war kein blutiger Tyrann, sondern ein Durchschnittsbeamter alten Stils, der einerseits seine Ruhe haben wollte und andrerseits sich nach »oben« decken mußte. Dieses Oben bestand in erster Linie aus dem Mutessarif des Sandschaks Marasch, dem die Kasah von Zeitun unterstand. Der Mutessarif selbst war ein äußerst scharfer Mann, unerschrockenes Mitglied von Ittihad, gewillt, die Entschlüsse Envers und Talaats über die »verfluchte Rasse« erbarmungslos zu vollstrecken, und sei es gegen die Befehle seines Vorgesetzten, des Wali von Aleppo, Djelal Bey. Der Mutessarif überschüttete den Kaimakam mit Anfragen, Mahnungen und peitschenden Vorwürfen. Dadurch sah sich der dicke Landrat von Zeitun gezwungen – weit lieber hätte er in Frieden mit den Armeniern gelebt –, irgendein Anklagefaktum zustande zu bringen, wenn auch nur gegen eine einzige hervorragende Persönlichkeit. Das Wesen des farblosen Beamten besteht ja gerade darin, daß er ohne eigenen Charakter den jeweiligen Vorgesetzten spiegelt. Der Kaimakam machte sich also an den Muchtar Nazareth Tschausch heran, lud ihn täglich zu sich, überschüttete ihn mit Freundlichkeit und bot ihm sogar gute Geschäfte mit dem Staat an. Tschausch erschien nicht nur pünktlich, wenn es gewünscht wurde, sondern er machte sich auch mit der arglosesten Miene die geschäftlichen Anregungen zunutze. Bei diesen Zusammenkünften kam man natürlich immer herzlicher ins Gespräch. Der Landrat setzte dem Bürgermeister seine leidenschaftliche Freundschaft für die Armenier auseinander. Tschausch aber bat inständig, solches Wohlwollen nicht so zu übertreiben; alle Völker hätten ihre Fehler, die Armenier nicht zuletzt. Sie müßten sich erst je nach Verdienst ihren Rang im Vaterland erwerben. Welche Zeitungen denn der Muchtar lese, um sich über die Lage wahrheitsgemäß belehren zu lassen? Nur den »Tanin«, das offizielle Reichsblatt, gab Tschausch zur Antwort. Was aber die Wahrheit anbetreffe, so lebe man ja in einem weltumstürzenden Kriege und die Wahrheit sei überall eine der verbotenen Waffen. Der Kaimakam, in seiner hilflosen Einfalt deutlicher werdend, begann Ittihad zu lästern, die Macht hinter der Macht. (Wahrscheinlich kam es ihm sogar vom Herzen.) Nazareth Tschausch erschrak sichtlich:

»Es sind große Herren, und große Herren wollen das Beste.«

Der Gefoppte geriet in Wut:

»Und Enver Pascha? Was denkst du von Enver, Muchtar?«

»Enver Pascha ist der größte Krieger unserer Zeit. Doch was verstehe ich davon, Effendi?«

Nun begann der Kaimakam wehleidig zu blinzeln und zu betteln:

»Sei offen mit mir, Muchtar! Weißt du, daß die Russen vorrücken?«

»Was sagst du da, Effendi? Ich glaube es nicht. Es steht nicht in der Zeitung.«

»Nun sage ich es dir. Sei offen, Muchtar! Wäre das nicht eine Lösung ...«

Nazareth Tschausch unterbrach ihn fassungslos:

»Ich warne dich, Effendi! Ein hochgestellter Mann wie du! Sprich nicht weiter, um Gottes willen. Es wäre Hochverrat. Doch fürchte dich nicht! Dein Wort bleibt in mir begraben.«

Wo dergleichen feine List versagte, war die offene Roheit nicht ferne.

Selbstverständlich gab es auch in Zeitun und seiner rauhen Umgebung »Elemente«. Diese erhielten, je länger der Krieg dauerte, um so häufiger Zuzug von außen. Aus den Kasernen von Marasch waren nicht nur etliche Armenier, sondern mindestens ebenso viele Mohammedaner durchgebrannt. Der zerrissene Bergkegel Ala Kaja bot einen bewährten und angenehmen Aufenthalt für Deserteure jeder Sorte, wie es sich in den Kasernen herumgesprochen hatte. Zu diesen Deserteuren stießen noch ein paar Hitzköpfe, ein Dutzend freibeuternder Naturen, die entweder etwas auf dem Kerbholz hatten oder die unbekömmliche Luft der Stadt nicht länger atmen wollten. Mitglieder dieser scheuen Gesellschaft tauchten hie und da nachts in den Gassen auf, um Proviant zu holen oder ihre Familien zu besuchen. Bis auf ein paar harmlos landesübliche Räubereien taten sie niemand etwas zuleide und waren sogar bestrebt, kein Ärgernis zu erregen.

Eines Tages aber wurde in den Bergen ein türkischer Eseltreiber verprügelt, und es steht gar nicht fest, ob von jenen Deserteuren. Einige Ungläubige behaupteten, der verlauste Kerl habe sich für ein Bakschisch der kaiserlich ottomanischen Regierung selbst so übel zugerichtet. Doch Scherz beiseite, der Mann lag wirklich zuschanden geschlagen im Straßengraben. Hiermit aber war der ersehnte Vorfall gegeben. Die Müdirs und Unterbeamten legten undurchdringliche Gesichter an, die Saptiehs patrouillierten nur mehr in Doppelposten durch die Gassen, und Nazareth Tschausch wurde diesmal zum Kaimakam vor- und nicht eingeladen.

Revolutionäre Umtriebe nähmen in bedenklichster Weise überhand, klagte der Kaimakam. Seine Vorgesetzten, insbesondere der Mutessarif von Marasch, forderten durchgreifende Vorkehrungen. Wenn er noch länger zögere, sei es um ihn geschehn. Er rechne daher fest auf die Hilfe seines Freundes Nazareth Tschausch, der ja im Bezirk das größte Ansehen genieße. Es werde dem Muchtar ein leichtes sein, im Interesse der armenischen Millet einige Aufrührer und Verbrecher ans Messer zu liefern, die im Umkreis oder gar in der Stadt selbst verborgen seien. Hier ging der kluge Mann dem Dummkopf in die Falle. Er hätte sagen müssen:

»Effendi! Ich stehe Seiner Exzellenz, dem Mutessarif, und dir zu Diensten. Befiehl, was zu geschehen hat.«

Anstatt dessen aber gab er sich zum erstenmal eine Blöße:

»Ich weiß nichts von Verbrechern und Revolutionären, Effendi.«

»So kannst du uns den Platz nicht nennen, wo sich das Gesindel versteckt, um bei hellichtem Tage redliche Staatsbürger zu überfallen?«

»Da ich das Gesindel nicht kenne, so kenne ich auch seinen Aufenthaltsort nicht.«

»Das tut mir leid. Das Schlimmste aber ist, daß du in der letzten Freitagnacht zwei von diesen Staatsfeinden in deinem eigenen Hause empfangen hast.«

Nazareth Tschausch hob seine gichtischen Finger zum Schwur und leugnete. Es klang aber nicht sehr überzeugend. Da hatte der Kaimakam einen Einfall, und es war kein Einfall der Tücke, sondern er entsprang aufrichtig seinem bequemen Wesen, das alle Härte verabscheute:

»Weißt du was, Muchtar? Ich habe eine Bitte an dich. Mir werden all diese Ungelegenheiten mit euch nachgerade zuwider. Ich bin ein friedlicher Mann und kein Polizeihund. Nimm mir die Sache ab. Ich bitte dich, nach Marasch zu fahren! Sprich du mit dem Mutessarif! Du bist der Stadtvater, er ist der Verantwortliche. Meine Meldung über das Vorgefallene hat er in der Hand. Ihr beide werdet das Richtige schon ausfindig machen.«

»Ist das ein Befehl, den du mir gibst, Effendi?«

»Ich sage dir doch, eine persönliche Bitte. Du kannst sie ablehnen, aber es würde mich schmerzen.«

Der Kaimakam rechnete mit einem zwiefachen Gewinn. Er wurde Tschausch los, ehe er ihn einsperren mußte, und überstellte zugleich dem Mutessarif die wichtigste Persönlichkeit der Stadt zur Amtshandlung. Nazareth Tschausch dachte lange nach. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel reichten hoch in die Stirn. Er richtete sich an seinem Stock auf. Aus dem überlegenen war plötzlich ein schwerfälliger Mann geworden.

»Wenn ich nach Marasch gehe, begebe ich mich in Gefahr ...«

Der Kaimakam erwies ihm beruhigende Güte:

»Gefahr? Warum? Die Straße ist sicher. Ich will dir meinen eigenen Wagen leihen, und zwei Saptiehs sollen ihn zu deinem Schutz begleiten. Auch bekommst du einen Empfehlungsbrief an den Mutessarif mit, den du vorher lesen kannst. Und wenn du noch andre Wünsche hast, so werde ich sie erfüllen.«

Die gefurchten Züge des Bergarmeniers wurden ganz grau. Er stand alt und verfallen da wie der Stadtfelsen von Zeitun. Verzweifelt suchte er nach Gegengründen. Aber seine Lippen unter dem hängenden Schnurrbart regten sich nicht. Eine unbekannte Macht lähmte seinen Willen. Er nickte nur schwach. Am nächsten Tag verabschiedete er sich von den Seinen ohne viel Aufhebens. Eine kleine Reise. Er werde kaum eine Woche ausbleiben. Sein ältester Sohn begleitete ihn zum Wagen des Kaimakams. Das Einsteigen fiel ihm wegen seiner kranken Hände und Füße schwer. Der Jüngling stützte ihn. Während Tschausch den einen Fuß aufs Trittbrett hob, sagte er gelassen und leise, damit der Kutscher nichts höre:

»Oglum, bir, daha gelmem. Mein Sohn, ich werde nicht wiederkehren.«

Er behielt recht. Der Mutessarif von Marasch machte mit Nazareth Tschausch nicht viel Federlesens. Trotz des warmen Geleitbriefes wurde er als Träger einer ihm verhüllten Schuld empfangen, scharfen Kreuzverhören unterzogen und schließlich als Hochverräter und als Mitglied einer staatsumstürzenden Verschwörung in das Gefängnis von Osmanije geworfen. Da man auch bei weiteren Versuchen nichts über die geheime Organisation der armenischen Verratsbewegung aus ihm herausbekommen konnte, ja nicht einmal etwas über die Deserteure von Zeitun erfuhr, verabreichte man ihm die Bastonnade schärfsten Grades. Nachher wurden seine blutigen Füße mit einer ätzenden Säure übergossen. Dem war sein Körper nicht mehr gewachsen. Er starb nach einer Stunde unfaßbarer Qual. Vor den Fenstern des Gefängnisses spielte Janitscharenmusik. Sie sollte mit Trommeln und Pfeifen die Schreie der Gefolterten hinter den Fenstern zudecken.

Auch der Märtyrertod des Nazareth Tschausch hatte nicht die erwarteten Folgen. Es geschah vorerst nichts. Nur die Trauer und dumpfe Verzweiflung des Volkes nahm eine fast stoffliche Greifbarkeit an. In der finsteren Bergstadt brütete nun auch menschliche Finsternis, die den Atem verschlug wie schwarzer Nebel. Der März mußte kommen, damit zwei Vorkommnisse der Regierung endlich die Gelegenheit gaben, ihre Absichten zu verwirklichen. Das erste Geschehnis war ein Schuß aus dem Fenster. Ein Gendarmerieposten, der im Stadtbezirk Yeni Dünya vor dem Hause des hingerichteten Muchtars Tschausch vorbeischritt, wurde aus eben diesem Hause beschossen und leicht verwundet. Anstatt nun eine regelrechte Untersuchung durchzuführen, erklärte der Kaimakam lediglich, sein Leben sei in Zeitun bedroht, und verlegte, nach allen Richtungen Telegramme sendend, seine Residenz in eine außerhalb der Stadt gelegene Kaserne. Auch diese Handlungsweise entsprang deutlich seinem Wesen, das aus Dummschlauheit und ängstlichem Ruhebedürfnis gemengt war. Zugleich ließ er zum Schutze der mohammedanischen Bevölkerung eine »Bürgerwehr« ausrüsten, das heißt einige rasch zusammengetrommelte Hooligans bekamen ganz nach abdulhamidischem Muster je eine grüne Binde um den Arm und ein Mausergewehr in die Hand geliefert. Die guten türkischen Bürger, die in Zeitun lebten, rechtlich-würdige Menschen, waren die ersten, die sich über diesen Schutz empörten, den man ihnen angedeihen ließ. Sie gingen zum Kaimakam und forderten die sofortige Abschaffung der Wache. Es half nichts. Die Behörde war unerbittlich um ihre Sicherheit besorgt. Die Bürgerwehr gab nun endlich den sauberen Anlaß für jenen zweiten Vorfall, der die Entscheidung brachte. In einem kleinen öffentlichen Garten der Neustadt, Eski Boston genannt, pflegten sich am Nachmittag armenische Frauen und Mädchen gerne zu ergehen. Um einen schönen Brunnen standen ein paar Bänke im Schatten alter Platanen. Kinder spielten vor dem Brunnen. Die Frauen plauderten und handarbeiteten auf den Bänken. Ein Scherbetverkäufer schob seinen Wagen im Kreis. Dieser Garten wurde nun von den verlumptesten Mitgliedern der neuen Bürgerwehr überfallen. Die keuchenden Gesellen warfen sich auf die Armenierinnen, würgten sie und begannen ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen. Denn ebenso groß wie die Mordlust an den Männern der verfluchten Rasse war die Tollheit nach ihren Weibern, diesen zartgliedrigen Geschöpfen mit ihren schwellenden Lippen und ihren fremden Augen. Wehgekreisch und Kinderschrillen erfüllte die Luft. Doch im Nu war Hilfe da. Eine Übermacht von armenischen Männern, die, Böses ahnend, den Stadtschützlern nachgeschlichen waren, schlug sie mit nackten Fäusten, Riemen und Stöcken krumm und lahm und nahm ihnen, zum eigenen Verderben freilich, sämtliche Gewehre und Bajonette ab.

Offener Aufruhr gegen die Staatsgewalt! Der Tatbestand ließ sich nach dieser Entwaffnung der Hilfspolizei durch Aufständische nicht mehr leugnen. Noch am selben Abend wurde vom Kaimakam eine Auslieferungsliste herausgegeben, in der all diejenigen Einwohner namentlich angeführt waren, welche vom Gemeinderat selbsttätig der verhaftenden Behörde zuzuführen seien. In ihrer rasenden Erbitterung traten die betroffenen Männer zusammen, taten einen großen Schwur und verschanzten sich in einem alten Tekkeh, in einem verlassenen Derwisch- und Wallfahrtskloster, eine halbe Stunde östlich der Stadt. Als ihnen davon die Kunde ward, stieg vom Ala Kaja und andern Punkten des nahen Gebirges ein Teil der Deserteure nieder und vereinigte sich mit den Geflüchteten. In der kleinen Festung lagen alles in allem ungefähr hundert Mann.

Der Mutessarif in Marasch und die Regierungsspitzen in Stambul sahen sich am Ziel ihrer Wünsche. Die Zeit der kleinen Herausforderungen war vorüber und der effektvolle Aufruhr in schönster Blüte. Nun durften die neutralen und verbündeten Konsuln ihre Augen vor den armenischen Umtrieben nicht mehr verschließen. Schon zwei Tage später traf in Zeitun militärische Assistenz ein, vorläufig zwei Kompanien von Linieninfanterie. Der Jüs-Baschi, der kommandierende Major, begann sofort mit der Belagerung. Aber mochte er nun ein wirklicher Held sein oder nur ein Schwachkopf – als er ungedeckt hoch zu Roß an der Spitze einer Abteilung auf das Tekkeh zusprengte, um die Festung auf diese sehr offenherzige Art im Handstreich zu erobern, wurde er nebst sechs seiner Soldaten durch sichere Schüsse niedergestreckt. Das war in der Tat mehr, als man verlangt hatte. Der Heldentod des Majors wurde sogleich in allen Städten des Reiches mit Posaunenstößen verkündet. Ittihad arbeitete fieberhaft, um dem Aufschrei der Empörung den rechten Nachdruck zu verleihen. Keine halbe Woche verging und Zeitun hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Eine Streitmacht von vier Bataillonen und zwei Batterien war aufgeboten worden, um eine Rotte Verzweifelter und Fahnenflüchtiger auszuheben. Und dies geschah zu einem Zeitpunkt, da Dschemal Pascha jeden Mann und jede Kanone für seine vierte Armee brauchte. Trotz des gewaltigen Heerbanns aber wurde in das belagerte Kloster ein Parlamentär gesandt, um die Verlorenen zur Übergabe aufzufordern. Er bekam die antike Antwort:

»Da wir schon sterben müssen, so sterben wir lieber im Kampf.«

Das ganz und gar Überraschende jedoch war, daß sie nicht sterben mußten. Denn, kaum hatte die Belagerungsartillerie vier nutzlose Granaten gegen den verfallenen Bau abgegeben, als das Feuer auf irgendeine geheimnisvolle Einflußnahme hin plötzlich eingestellt wurde. Waren die wenigen Moslems, die sich unter den Eingeschlossenen befanden, ein zureichender Grund für solche ungehörige Menschlichkeit? Was aber auch immer damit geplant war, die lächerlich starke Streitmacht lag von Stund an untätig gegen das Häuflein von Deserteuren und Frauenverteidigern zu Felde und beschäftigte sich nach müßiger Soldatenart lediglich mit Menagieren, Pferdetränken, Rauchen und Kartenspielen. Die Einwohner von Zeitun sahen in dieser beklemmenden Ruhe mit Recht das Anzeichen eines besonders raffinierten Unheils. In ihrer Todesangst schickten sie eine Abordnung zum Kaimakam und baten, die tapferen Truppen möchten sie nur schnell von den verfluchten Rebellen befreien. Sie hätten mit ihnen nichts zu schaffen. Sollte einer der Missetäter in die Stadt flüchten, sie würden ihn erbarmungslos der Behörde übergeben. Wehmütig klagte der Kaimakam, die Vernunft komme zu spät. Das militärische Platzkommando fälle nunmehr alle Entscheidungen. Er selbst sei nur noch eine geduldete Nebensache. Die Abgesandten flehten, ob es nicht möglich sei, die Vermittlung Seiner Exzellenz des Wali Djelal Bey in Aleppo anzurufen. Wenn jemand die Verwicklung zum allgemeinen Besten lösen könne, so dieser würdige und wohlwollende Mann. Der Kaimakam verzog den Mund. Er könne nur raten, den Namen Djelal Bey aus dem Spiel zu lassen. Der Mutessarif habe ganz andere Verbindungen. Und Seine Exzellenz in Aleppo sei in dieser Hinsicht ein toter Mann. Das komme daher, wenn man der armenischen Millet zuviel Güte erweise. Er persönlich wisse ein Lied davon zu singen.

An einem strahlenden Märzmorgen verbreitete sich das schreckliche Gerücht in der Stadt, die Belagerten seien in der Nacht mit Zurücklassung von zwei Toten, die sie aber unkenntlich gemacht hätten, entkommen und im Gebirge verschwunden. Wer von den Zeitunlis nicht wundergläubig war, fragte: Wie, hundert zerlumpte, höchst auffällige Gestalten können spurlos durch eine Kette von mehr als viertausend geschulten Soldaten verschwinden? Und der Frager wußte wohl, was es zu bedeuten habe. Das Gefürchtete traf schon um die Mittagsstunde dieses Tages ein. Der Militärkommandant und der Kaimakam machten die Gesamtbevölkerung für den Ausbruch der hundert verantwortlich. Die hochverräterischen Zeitunlis hätten auf irgendeine teuflisch verschlagene Weise die Belagerten durch den sanft schlummernden Truppenring an den Wachtposten vorüber entwischen lassen. Auf die Nachricht dieses Verbrechens hin eilte der Mutessarif höchstselbst im Wagen aus Marasch herbei. Die Münadiers, die Austrommler, durchzogen mit dumpfem Wirbeln die ganze Stadt. Zahlreiche Amtsboten folgten ihnen, welche die Ältesten und Notabeln Zeituns zu einer »Konferenz mit dem Mutessarif und dem Platzkommandanten über die Lage« einzuladen hatten. Die Berufenen, fünfzig der angesehensten Männer, Ärzte, Lehrer, Priester, Großhändler, Unternehmer, erschienen ohne Verzug an Ort und Stelle, die meisten sogar noch in ihrem Arbeitsgewand. Nur wenige Ahnungsvolle hatten Geldmittel zu sich gesteckt. Die Konferenz bestand darin, daß man diese bejahrten und gewichtigen Männer auf dem Kasernenhof von rohen Unteroffizieren zusammentreiben und abzählen ließ wie Vieh. Die Sache habe nun ein Ende, hieß es, und noch heute würden sie zwecks ihrer »Umsiedlung« über die Linie Marasch–Aleppo den Weg in die mesopotamische Wüste nach Deïr es Zor antreten. Die Männer sahen einander stumm an, keiner bekam einen Anfall, keiner weinte. Vor einer halben Stunde noch achtunggebietende Prachtgestalten, wurden sie mit einem Schlag zu matt belebten Erdklößen, fahl und ohne Willen. Der neue Muchtar, ihr Sprecher, bat mit versagender Stimme nur um eine Gunst: Man möge doch um der göttlichen Barmherzigkeit willen ihre Familien in Frieden und in Zeitun lassen. Dann würden sie ihr Los mit Fassung ertragen. Die Antwort fiel grausam höhnisch aus: Nein, keineswegs, man kenne ja die Armenier zur Genüge und niemand denke daran, würdige Familienväter von ihren liebenden und geliebten Angehörigen zu trennen. Es sei vielmehr verfügt, daß jeder von ihnen die Seinigen schriftlich anweise, morgen, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, mit Sack und Pack zum Abmarsch gestellt zu sein. Weiber, Söhne, Töchter, Kinder, groß und klein. Der Befehl von Stambul laute dahin, daß die gesamte armenische Bevölkerung bis zum letzten Säugling umgesiedelt werde. Zeitun habe damit zu bestehen aufgehört, denn von nun an heiße es »Sultanijeh«, damit keine Erinnerung an einen Ort übrigbleibe, der es gewagt habe, dem osmanischen Heldenvolk zu trotzen.

Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. Militärische Bedeckung folgte den Ausgetriebenen, und es zeigte sich auf einmal, daß der mächtige Heerbann, den man zur Belagerung der Flüchtigen aufgeboten hatte, einen kleinen, aber um so pfiffigeren Nebenzweck besaß. Täglich am Morgen wiederholte sich nun das gleiche herzzerreißende Spiel. Den fünfzig vornehmsten Familien folgten hundert weniger vornehme, und mit der sinkenden Gesellschaftsklasse und Wohlhabenheit nahm die Zahl der Abgefertigten zu. – Gewiß, in den riesigen Etappengebieten der europäischen Kriegsfronten wurden alle Städte und Dörfer ebenfalls ausgesiedelt, aber so schwer dieses Los auch für die Heimatberaubten zu tragen war, es läßt sich mit dem der Zeitunlis nicht vergleichen. Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten mußte. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.

Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlorenes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch noch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen! Dem Haß überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, aber Tausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf. – Wer wagt es da noch zu sagen, er könne ermessen, welchen Jammer die Zeitun-Bewohner in jener langen Woche erlebten, die zwischen dem Abmarsch des ersten und des letzten Transportes lag? Selbst ein jugendlicher Mann wie Pastor Aram Tomasian, der ja, weil nicht in Zeitun gebürtig, bessere Aussichten besaß, wurde in diesen sieben Tagen vor dem Auszug fast zum Schatten.

Pastor Aram – man nannte ihn nur bei seinem Vornamen – lebte seit mehr als einem Jahr schon als Pfarrer der protestantischen Gemeinde und Leiter des großen Waisenhauses in Zeitun. Daß man ihm als kaum Dreißigjährigem die Leitung dieser Anstalt anvertraut hatte, hängt damit zusammen, daß die amerikanischen Missionare von Marasch in Aram ihren Lieblingsschüler sahen, auf den sie große Stücke hielten. Sie hatten ihn ja auch mit einem Stipendium für drei Jahre nach Genf gesandt, damit er dort seine Studien vollende. Er sprach daher fließend Französisch und recht gut Deutsch und Englisch. Das Waisenhaus der amerikanischen Missionsväter in Marasch war eine der freundlichsten Schöpfungen ihrer fünfzigjährigen Kulturarbeit. Es beherbergte in großen lichten Sälen mehr als hundert Kinder. Eine Schule war angeschlossen und auch für die städtische Jugend bestimmt. Außerdem umfaßte die Anstalt eine kleine Landwirtschaft, so daß der Bedarf an Ziegenmilch, Gemüse und anderen Nahrungsmitteln aus eigenem gedeckt werden konnte. Die Leitung des Waisenhauses erforderte demnach nicht nur erzieherische Umsicht, sondern auch praktische Tüchtigkeit. Pastor Aram, dem, wie jedem jungen Menschen, die unabhängige Selbstherrlichkeit schmeichelte, war mit Begeisterung bei der Arbeit. Er erlebte ein schönes, werkstattliches Jahr und spann noch höhere Pläne. Im vergangenen Frühjahr, kurz vor Antritt seiner großen Stellung, hatte er geheiratet. Howsannah, seine alte Liebe, war ein Mädchen aus Marasch, Tochter eines Pastors aus der ersten Generation des dortigen Seminars. Während die meisten Armenierinnen zart und eher klein gewachsen sind, hatte Howsannah eine hohe und etwas füllige Gestalt. Sie bewegte sich langsam, sprach nicht viel, machte oft einen teilnahmslosen Eindruck. Iskuhi aber behauptete einmal ihrem Bruder gegenüber, daß Howsannahs Sanftmut durch Eigensinn und Nachträgerei zeitweise gemildert werde. Diese heiter vorgebrachte Kennzeichnung schien aber nicht zuzutreffen, denn welche wirklich eigensinnige Frau würde ihre Schwägerin im Hause geduldet haben? Mit der neunzehnjährigen Iskuhi hatte es seine eigene Bewandtnis. Aram vergötterte seine junge Schwester. In ihrem neunten Jahre schon, nach dem Tode der Mutter, hatte er sie aus Yoghonoluk entführt, damit sie die Missionsschule in Marasch besuche. Später ließ er sie nach Lausanne kommen, wo sie ein Jahr in einem Pensionat untergebracht war. Die Kosten dieses vornehmen Ehrgeizes für die kleine Schwester deckte er mit klug ausgetüftelten Entbehrungen seinerseits. Er konnte sich ein Leben ohne Iskuhi nicht vorstellen. Howsannah wußte das und stellte selbst den Antrag eines Lebens zu dritt. Das junge Mädchen übernahm die Stellung einer Hilfslehrerin im Waisenhaus. Sie erteilte französischen Unterricht. Es war kein Wunder, daß Iskuhi Liebe erweckte, und nicht nur die ihres Bruders. Neben den herrlichen Augen war das Schönste an ihr der Mund. Auf ihren tiefgefärbten Lippen lag ein feuchter, lächelnder Pupillenglanz, als könne sie mit dem Munde sehn. Die drei hatten sich ein hübsches und gar nicht landesübliches Leben eingerichtet. Die Pastorwohnung lag im Waisenhaus. Sie verlor ihre Kahlheit schnell unter Howsannahs Händen. Diese hatte kunstgewerbliche Begabung und einen großen Spürsinn für schöne Dinge. Sie streifte in der Stadt und in den Dörfern der Umgebung herum, um den eingeborenen Frauen alte prächtige Gewebe, Holzarbeiten und anderen häuslichen Zierat abzuhandeln, mit dem sie dann ihre Räume belebte, welche Tätigkeit ihre Zeit oft wochenlang ausfüllte. Iskuhi aber hatte mehr Neigung für Bücher. Aram, Howsannah und Iskuhi lebten ganz eingesponnen. Das Waisenhaus und die Schule bildeten so abgeschlossene Welten, daß diese drei blühenden Menschen die drückende Gewitterluft in Zeitun kaum spürten. In seinen Sonntagspredigten entwickelte der Pastor bis tief in den März hinein aufmunternde Freudigkeit, die eher auf das friedliche Glück seines eigenen Lebens als auf eine geistesscharfe Beurteilung der Regierungsabsichten schließen ließ.

Der Schlag traf ihn so furchtbar, daß er taumelte. Er sah sein Werk verloren. Doch dann faßte er wieder die eitle Hoffnung, die Regierung werde nicht den Mut haben, das Waisenhaus zu schließen. Aram sammelte sich schnell. Ein Wort Howsannahs gab ihm noch am ersten Tag der Verschickungen seine Kraft wieder. Nur in solchen Augenblicken wie dem jetzigen erfülle sich der Sinn christlichen Priestertums aufs höchste. So sprach die Pastorentochter. Eingedenk solcher Mahnung spannte Aram Tomasian seine Energie übermenschlich an. Nicht nur hielt er seine Kirche Tag und Nacht offen, um den einzelnen Austreibungsgruppen auf ihren Dulderweg geistliche Kräftigung mitzugeben; er ging von Haus zu Haus seiner Pfarrkinder, von Familie zu Familie, trat unter die Weinenden, half mit all seinen Geldmitteln, organisierte in den Zügen eine gewisse Ordnung, schrieb Hilferufe an alle Missionen, die auf der Verschickungsstraße lagen, drechselte Bettelbriefe an türkische Beamte, die er für wohlwollend hielt, er verfaßte Eingaben und Zeugnisse, er versuchte für manche Personen einen Aufschub zu erwirken, er handelte mit türkischen Maultierbesitzern Preise aus, kurz er tat alles, was sich in dieser grauenhaften Lage tun ließ, und wenn er nichts tun konnte, nicht einmal mehr mit den Leiden des Evangeliums trösten, da setzte er sich stumm zu den Schmerzversteinerten, schloß die Augen, krampfte die Finger ineinander und schrie in seiner Seele zu Christus.

Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße nach Marasch mit langen Menschenschlangen füllte, die nicht vorwärts zu kommen schienen. Von der Zitadelle oben hätte ein Beobachter sie weit in die Berge hinein verfolgen können, und nichts hätte sein Grauen tiefer erregt als die schleichende Stille dieser Todeszüge, die durch das Grölen und Lachen der bewaffneten Schergen nur noch grausamer gesteigert wurde. Die ausgestorbenen Gassen Zeituns belebten sich inzwischen mit den Totenvögeln der Austreibung, mit Zufallsplünderern und Berufsdieben, mit der Stadthefe und mit räuberischen Umwohnern. Sie bezogen die verlassenen Häuser oder besuchten sie zumindest. Sofort setzte ein schwunghafter Speditionsverkehr ein. Leiterwagen und Karren fuhren auf, Lastesel zotteten heran. Gemächlich wurden Teppiche, Kleider, Wäscheberge, Bettstellen, Möbel, Spiegel auf das Fuhrwerk und die Tragtiere verladen, als handle es sich um eine rechtmäßige Übersiedlung. Die Behörden wehrten diesem Treiben nicht. Sie schienen sogar dem türkischen Bodensatz – sofern nur die Verjagung der Armenier klaglos verlaufe – damit stillschweigend eine Prämie zu gewähren. Es erinnerte fast an ein barbarisches Märchen, daß von jeglichem Handwerk je sechs Vertreter in »Sultanijeh« zurückbleiben mußten, damit das treibende Wrack des Alltags nicht ganz ohne Bemannung sei. Diese Glücklichen bestimmte aber nicht die Obrigkeit, sondern der Gemeinde lag es selbst ob, die Auswahl zu treffen, eine ausgewitzte Strafverschärfung, denn sie prüfte die Gemüter mit neuen Qualen.

Der fünfte Tag war bereits angebrochen, und Pastor Aram hatte noch keine Vorladung erhalten. Nur ein mohammedanischer Mollah, ein Stadtfremder übrigens, war bei ihm erschienen, die Kirchenschlüssel einzufordern. Die protestantische Kirche werde, wie er höflich mitteilte, bis zum Abendgebet in eine Moschee umgeweiht sein. Dennoch erstarb die Hoffnung in Tomasian nicht, man werde das Waisenhaus in Ruhe lassen. Er befahl, daß von nun an alles zu Hause zu bleiben habe, niemand dürfe sich sehen lassen, kein Kind und kein Lehrer. Er verfügte ferner, daß auch tagsüber die Fensterläden geschlossen zu halten seien, daß bei Nacht kein Licht gemacht werden dürfe und kein lautes Wort zu fallen habe, über das so lebensvolle Haus senkte sich eine angestrengte Ausgestorbenheit. Gerade solche Gottesfopperei aber fordert die Aufsässigkeit des Schicksals heraus. Am nächsten Tage, dem sechsten, überbrachte einer der Amtsboten, die wie Todesengel schrecklich die Stadt durcheilten, dem Pastor die Aufforderung, sich unverweilt zum Stadtkommandanten zu begeben.

Aram erschien im geistlichen Gewande. Sein Gebet war erhört worden. Nicht eine Spur von Angst und Erregung erniedrigte ihn. Er trat dem Stabsoffizier aufrecht und mit Ruhe entgegen. Das war in diesem Fall leider eine ganz verfehlte Haltung. Der Bimbaschi liebte es nämlich, wenn sich weinerliche Kreaturen vor ihm wanden. Dann war er bereit, ein Auge zuzudrücken, Vergünstigungen zu gewähren und ein guter Mensch zu sein. Die Sicherheit Arams aber erstickte dieses Wohlwollen, das aus dem Gegensatz seiner eigenen Größe zu dem bittflehenden Wurm entsprang:

»Sie sind der protestantische Pastor Aram Tomasian, gebürtig aus Yoghonoluk bei Alexandrette.«

Der Oberst grollte diesen Steckbrief herunter, ehe er sein Opfer anfuhr:

»Sie haben morgen mit dem letzten Transport abzugehn! In der Richtung Marasch-Aleppo! Verstanden?«

»Ich bin bereit!«

»Ich frage Sie nicht, ob Sie bereit sind ... Ihre Frau und sonstige Familie geht mit. Sie dürfen keinerlei Gepäck mitnehmen, das Sie nicht selbst zu tragen imstande sind. Sie erhalten nach Maßgabe der Möglichkeit als Verpflegung im Tag hundert Direm Brot. Das übrige käuflich zu erwerben, steht Ihnen frei. Jedes eigenwillige Verlassen der Kolonne wird durch den Transportkommandanten bestraft, im Wiederholungsfalle mit dem Tode. Die Benutzung von Fuhrwerk ist verboten.«

»Meine Frau erwartet ein Kind«, sagte Aram leise.

Dieses Bekenntnis schien den Bimbaschi zum Spott zu reizen:

»Das hätten Sie vorher bedenken müssen.«

Dann warf er einen neuerlichen Blick in seine Papiere:

»Die Zöglinge des Waisenhauses sind als armenische Kinder selbstverständlich von der Umsiedlung nicht ausgenommen. Sie haben pünktlich und vollzählig gestellt zu sein, sie und das gesamte Personal der Anstalt.«

Pastor Aram trat einen kurzen Schritt zurück:

»Darf ich Sie fragen, ob für diese hundert unschuldigen Kinder gesorgt werden wird? Es sind sehr viele unter zehn Jahren darunter, die niemals noch einen längeren Fußmarsch zurückgelegt haben. Und Kinder brauchen Milch.«

»Sie haben keine Fragen zu stellen, Pastor«, schrie der Oberst, »sondern meine Befehle entgegenzunehmen. Sie befinden sich seit einer Woche im Kriegsgebiet.«

Wäre Tomasian unter diesem Gebrüll zusammengesunken und in Furcht erstorben, der Bimbaschi hätte ihm vielleicht von seiner befriedigten Höhe herab die Ziegen zugebilligt. Der Pastor aber fuhr in ruhiger Hartnäckigkeit fort:

»Ich werde also die Ziegenherde unseres Hauses dem Transport nachtreiben lassen, damit die Kinder ihre gewohnte Milch erhalten.«

»Sie werden Ihr freches Maul halten, Pastor, und sich unterwerfen.«

»Ich werde ferner Sie, Effendi, für das Schicksal des Waisenhauses verantwortlich machen, das unverletzliches Eigentum amerikanischer Staatsbürger ist, die unter dem Schutz ihres Botschafters stehn.«

Der Bimbaschi fand zuerst kein Wort. Die Drohung hatte wahrscheinlich gewirkt. Dergleichen Götter werden schnell kleinlaut, wenn höhere Götter in Sicht kommen. Nach einer längeren, für einen Oberst ziemlich schmachvollen Pause bebte er:

»Wissen Sie, daß ich Sie vertilgen kann wie ein Ungeziefer? Ich brauche nur zu hauchen, und Sie haben nie gelebt!«

»Ich werde Sie daran nicht hindern«, erwiderte Pastor Aram, und er meinte seine Worte ernst, denn ein ungeheurer Todeswunsch hatte ihn überwältigt.

Wenn man Aram, Howsannah, Iskuhi fragte, welcher Zeitpunkt der Ausweisung für sie der schrecklichste gewesen sei, so antworteten alle drei: »Der Augenblick, bevor sich unser Transport in Bewegung setzte.« Es war ein Augenblick, in dem das tatsächliche Elend nur halb so stark sprach wie eine traumartige Zerschlagenheit, eine uralte Grauenserfahrung des Blutes, das sich vielleicht an dumpfe Urzeiten vor der errungenen Seßhaftigkeit und Rechtssicherung erinnern mußte. Eine Masse von tausend Menschen, ehrlos und hilflos zusammengeschweißt, fühlte jetzt nicht nur den endgültigen Verlust alles Eigentums und die beginnende Gefahr des Lebens, sie fühlte sich darüber hinaus als Gesamtheit, als Volkheit um die Aufstiegsmühe und den Kulturertrag von Jahrtausenden gebracht. Pastor Aram und die beiden Frauen waren von dieser allgemeinen und unergründlichen Schwermut mit umfangen.

Ein dunkler Tag mit niederhängendem Gewölk, in dem die Berge von Zeitun ihre vertrauten Häupter verbargen; für den Marsch weit günstiger als sonniges Wetter. Und doch schien die äußere Trübnis des Tages die Rücken der Ausgestoßenen tiefer zu beugen als die Lasten, die ihnen bewilligt worden waren. Der erste Schritt war etwas sehr Großes, etwas Heilig-Entsetzliches, das jede Seele durchzuckte. Die Familien drängten sich dicht aneinander. Kein Wort, nicht einmal ein Kinderweinen war zu hören. Doch schon nach einer halben Stunde, als das letzte Vorstadthaus hinter dem Volke lag, wurde es besser. Die ursprüngliche Kindlichkeit der Menschen, ihr rührend-vergeßlicher Leichtsinn gewann für einige Zeit die Oberhand. Wie aus der ersten Dämmerung ein einzelnes bescheidenes Zwitschern aufwacht, und schon fällt der ganze Chor ein, so lag bald über der Wanderung ein dichtes Geflecht zackiger Kinderstimmen. Beruhigende Mahnungen der Mütter. Auch die Männer riefen einander dies und jenes zu. Stellenweise konnte man schon ein geducktes Lachen hören. Viele Frauen und ältere Leute saßen auf Eseln, die man zugleich mit Bettzeug, Decken und Säcken beladen hatte. Der begleitende Offizier duldete es. Er schien die Härte der Ausführungsbefehle auf eigene Verantwortung und Gefahr mildern zu wollen. Auch Aram hatte für seine Frau einen Reitesel besorgt. Sie ging aber meist nebenher, da sie die Bewegung des Reitens fürchtete. Obgleich es klüger gewesen wäre, sie an der Spitze traben zu lassen, bildeten die Waisenkinder die Nachhut des Transportes. Hinter ihnen kam nur mehr die Ziegenherde, die der Pastor unbekümmert und ohne Rücksicht auf jenes Gespräch dem Zuge hatte nachtreiben lassen. Die Kinder empfanden das Ganze anfangs als eine vergnügliche Abwechslung und als ein rechtes Abenteuer. Iskuhi, die sich zu ihnen hielt, schürte diesen Frohmut, so gut sie nur konnte. Niemand hätte ihr Aufregungen und schlaflose Nächte angesehen. Auf ihrem Gesicht lag Gegenwartsfreude und Lebenslust. So zart und schwach ihr Körper auch schien, die allmächtige Anpassungskraft der Jugend hatte alles überwunden. Sie versuchte sogar, unter den Kindern ein Lied in Schwung zu bringen. Es war ein schönes Lied aus Yoghonoluk. Die Menschen dort sangen es bei der Arbeit im Weinberg und in den Obstgärten. Iskuhi hatte es in der Schule von Zeitun eingeführt:

»Die Unglückstage ziehen vorbei
Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.
Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,
Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.«

Aram Tomasian aber eilte sofort herbei und verbot das Singen. Der junge Pastor legte den Weg der anderen zweimal und dreimal zurück. Er tauchte bald bei den vordersten Gruppen auf, dann wieder bei den Nachzüglern, immer mit seiner großen umgehängten Kürbisflasche, die er allseits zu einem Rakitrank anbot. Auch er verströmte guten Mut, machte Witze, schlichtete Meinungsverschiedenheiten und versuchte auch für den gegenwärtigen Zustand eine Lebensform zu finden, in dem jedermann irgendeine Aufgabe zufiel. Unter den Handwerkern zum Beispiel hatten die Schuster die Pflicht, schadhaftes Schuhwerk während der Rasten schnell auszubessern; und ähnliches mehr. Obgleich sich in dem Transport nur wenige Protestanten befanden, war Tomasian der einzige Geistliche. Sämtliche gregorianischen und katholischen Priester waren nämlich bereits in den beiden ersten Verschickungstagen abgegangen. Der Pastor hatte somit die Pflicht, für alle Seelen zu sorgen. Er verfolgte eine eigene Taktik, um die Kräfte der Ausgetriebenen wachzuhalten. Unerträglich ist nur das Ziellose, er wußte es von sich selbst. Darum wiederholte er im Tone der heitersten Zuversicht immer dasselbe:

»Morgen abend kommen wir nach Marasch. Dort wird sich alles ändern. Wahrscheinlich werden wir dort längere Zeit untergebracht werden, bis der Befehl einlangt, daß wir heimkehren dürfen. Und wir werden heimkehren, das ist so gut wie sicher. Die Regierung in Stambul kann mit dem, was hier geschieht, nicht einverstanden sein. Wir haben ja schließlich Abgeordnete und eine Nationalvertretung. Auch werden die Konsuln einen großen Lärm schlagen. In zwei, drei Wochen kann alles wieder gut sein. Das Wichtigste aber ist, daß ihr mir gesund nach Marasch kommt und daß ihr stark und munter bleibt.«

Solche Reden wirkten befreiend, auch auf diejenigen, die entweder von Natur Schwarzseher waren oder zu klug, an die Unschuld der Zentralregierung zu glauben. Verfallene Gesichter hellten sich auf. Nicht nur das günstige Zukunftsbild tat Wunder, sondern das Ziel, die bestimmte, festumrissene Aussicht: Morgen sind wir in Marasch. Bei der großen Rast erwies sich der junge Offizier, der die türkische Begleitmannschaft befehligte, als ein prächtiger Mensch. Nachdem die Soldaten abgekocht hatten, stellte er dem Pastor aus freien Stücken die Kochkiste der Truppe zur Verfügung. Für die Maroden und Schwachen konnte daher ein warmes Essen zubereitet werden. Da man aber schon morgen in einer großen Stadt sein würde, schonten auch die Kräftigen ihre Vorräte nicht. Dadurch gestaltete sich der Marsch in den nächsten Stunden besonders leicht und zuversichtlich. Als man dann am Abend auf freiem Felde das Lager bezog und in todmüder Gleichgültigkeit sich auf den Decken ausstreckte, mußte man Gott von Herzen danken, denn der erste Tag war sehr glimpflich verlaufen. Nicht weit entfernt von dem Freilager gab es ein großes Dorf, namens Tutlissek. In der Nacht kamen einige der Yailadji, der Bergbewohner, aus diesem Dorf herüber, um die türkische Wache zu besuchen. Die Männer saßen würdevoll beieinander, rauchten gravitätisch und schienen eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Als die Zeitunlis gegen Morgen erwachten und nach den Eseln und Ziegen sehen wollten, um sie zu tränken, waren die Tiere verschwunden.

Dies war der Auftakt eines harten Tages. Schon in der zweiten Marschstunde ereignete sich ein Todesfall. Ein alter Mann sank plötzlich um. Der Zug stockte. Der junge, sonst so freundwillige Offizier ritt zornig heran: »Vorwärts!« Einige versuchten den Alten aufzuheben und weiterzuschleppen. Sie mußten ihn aber bald wieder niedergleiten lassen. Ein Saptieh stieß ihn mit dem Fuß: »Auf, auf, du Schwindler!« Als er aber mit verdrehten Augen und offenem Mund liegenblieb, schob er den Leichnam in den Straßengraben. Der Offizier hetzte: »Nicht stehenbleiben! Es ist verboten! Weiter, weiter!« Arams bewegte Bitte und das Jammergeschrei der Familie konnten weder die Mitnahme des Entseelten noch auch ein rasches Begräbnis erwirken. Es mußte genügen, daß man das Haupt des Toten ein wenig erhöhte und je einen großen Stein zu beiden Seiten legte. Ihm die Hände über die Brust zu falten, dazu war keine Zeit mehr, denn die Saptiehs begannen plötzlich fluchend mit Stöcken und Knüppeln auf die zögernden Scharen einzuhauen. Der Transport geriet in Verwirrung, in ein fluchtartiges Laufen, das sich erst beruhigte, als der Tote schon weit zurückgeblieben war und die Raubvögel des Taurus näher kreisten.

Kaum hatte sich das Entsetzen über dieses erste Opfer gelegt, als eine Yayli, eine plumpe zweispännige Kutsche, den Zug einholte. Die Wandernden wurden von der schmalen Straße in die sumpfigen Felder abgedrängt. Im Wagen saß ein umfangreicher Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, der viele Ringe an seinen Fingern trug. Mit seiner geschmückten Hand reichte er dem Kommandanten nachlässig ein Schriftstück zum Wagen hinaus. Er verfügte über das staatlich gestempelte Recht, sich eine oder mehrere Armenierinnen für seinen Hausbedarf auszuwählen. Da die Kutsche gerade mitten unter den Waisenkindern des Weges fuhr, fiel sein freundlich-müdes Auge auf Iskuhi. Er deutete mit seinem Stock auf sie und winkte ihr lächelnd zu. Der stattliche Mann hielt sich durchaus nicht für einen Frauenräuber, sondern für einen Frauenerlöser, war er doch bereit, eines dieser unseligen Geschöpfe seinem schmutzigen Geschick zu entreißen und bei sich aufzunehmen, in einer vorbildlichen Familie und in einem wohlverwahrten Stadthaus. Um so erstaunter aber war er, als die Schöne, anstatt sich beglückt in seine rettenden Arme zu begeben, laut den Namen »Aram« rufend, ihm entlief. Der Wagen folgte ihr. Vielleicht hätten alle Gründe, mit denen der Pastor seine Schwester zu schützen suchte, nichts geholfen. Daß er ihre europäische Erziehung ins Treffen führte, war ein Fehler der Verzweiflung, denn durch diesen Hinweis wurden die Wünsche des wohlwollenden Helfers in der Not nicht abgekühlt, sondern besonders erhitzt. Erst das schneidige Eingreifen des jungen Offiziers setzte dem Handel ein Ende. Dieser zerriß kurzerhand den Wisch des eifrigen Brautwerbers: Er, als verantwortlicher Kommandant, habe allein über das Schicksal der Verschickten zu bestimmen. Wenn sich der Effendi nicht mit der äußersten Geschwindigkeit entferne, so werde er ihn samt seiner Yayli auf der Stelle verhaften. Zur Bekräftigung dessen versetzte er der Kruppe des linken Pferdes einen Hieb mit der Reitpeitsche. Gekränkt verließ der um ein gutes Werk gebrachte Wohlbeleibte den Schauplatz in rücksichtslosem Trab. Von diesem Zwischenfall erholte sich Iskuhi schnell. Nach einer Weile erschien ihr die Geschichte wie eine Posse, die sie gar nichts anging, so daß sie über die komischen Einzelheiten in lautes Lachen ausbrach. Doch bald sollte ihr das Lachen vergehen. Es begann am Nachmittag mit dem Leiden der Kinder. Sonderbar war es, daß den Kleinen die wundgelaufenen Füße nicht allmählich, sondern plötzlich und allen auf einmal zum Bewußtsein kamen. Ein Klagen, Wimmern, Winseln, das den Frauen das Herz zerriß, setzte mit einem Schlage ein. Der gutherzige junge Offizier verstand aber nur in einem einzigen Punkte keinen Spaß. Bis auf die notwendigen Rasten durfte es keine Aufenthalte und Verzögerungen geben. Er hatte den Befehl, in den ersten Abendstunden mit dem Transport in Marasch einzutreffen. Während er alles andre oft gegen die Bestimmungen nach seinem Gutdünken einrichtete, gerade diesen Befehl wollte er pünktlich befolgen. Das hatte sich sein Ehrgeiz in den Kopf gesetzt. An eine Rast war also nicht zu denken, in der man die wunden Füße mit Öl und anderen Linderungsmitteln hätte behandeln können. »Das hilft alles nichts! Seht zu, daß wir nach Marasch kommen, dort könnt ihr euch pflegen! Vorwärts!« Es ging nicht anders, ein Teil der Kinder mußte getragen werden. Hierbei zeichnete sich auch die schwächliche Iskuhi aus, und zwar knapp bevor sie selbst die Beute eines schweren Unheils werden sollte.

Ihr Bruder hatte sie mehrmals davor gewarnt, immer am Ende des Zuges zu bleiben, und zwar hinter den Waisenkindern, die ihn beschlossen. Hier, knapp vor den feindselig nachfolgenden Soldaten und allerlei Greuelgestalten, die aus den Dörfern neugierig herbeigelaufen kamen, war gewiß die unheimlichste Stelle des Transportes. Iskuhi aber ließ sich nichts sagen, da sie die Überwachung der Kinder als ihre Pflicht ansah, zumal diese von Viertelstunde zu Viertelstunde immer müder und fußmaroder wurden. Die anderen Lehrer des Waisenhauses entfernten sich häufig, und dann blieb Fräulein Tomasian allein zurück, um die jammernde Schar mit verschiedenen Künsten vorwärts zu bringen. Des stets kläglicheren Gestolpers wegen zerriß auch der Zug öfter, und es entstand dann ein ziemlicher Zwischenraum zwischen der Nachhut und dem Hauptteil. Während einer solchen Trennung fühlte sich Iskuhi jäh von hinten angepackt. Sie schrie auf und suchte sich loszureißen. Über ihr ging ein furchtbares Gesicht auf, riesig, mit schmutzigen Bartstoppeln, schnaufend, augenrollend, stinkend, nicht menschlich. Sie schrie noch einmal gellend, und dann rang sie stumm mit dem Mann, dessen Speichel auf sie herabtroff, dessen braune Tatzen ihr das Kleid zerrissen, um sich in ihre nackten Brüste einzukrallen. Sie verlor die Kraft. Das Gesicht über ihr wuchs zu einer bergigen Höllenwelt, die sich immer verwandelte. Sie versank in dem scheußlichen Atem. – Iskuhis Glück wollte es, daß der Offizier auf das rasende Gezeter der Kinder hin scharf herangetrabt kam. Die braunen Tatzen schleuderten sie zu Boden. Die Gestalt suchte zu fliehen, erhielt aber doch noch einen Hieb mit der flachen Säbelklinge über den Nacken.

Iskuhi raffte sich auf, ohne weinen zu können. Anfangs glaubte sie nur, ihr linker Arm sei durch die Anstrengung des Kampfes fühllos geworden. Wie eingeschlafen, dachte sie. Doch plötzlich schlug der wahnsinnige Schmerz auf wie eine Stichflamme. Sprachlos durch diesen Schmerz, konnte sie ihrem Bruder nichts erklären. Howsannah und Aram führten sie. Kein Laut kam aus ihrem Mund. Alles an ihr war ohnmächtig, nur die Füße nicht, die kleine schnelle Schritte machten. Wie sie damals Marasch erreichen konnte, blieb ihr ein Rätsel. Als die Stadt in Sicht kam, trat der verzweifelte Tomasian an den Offizier heran und wagte die Frage, wie lange die Verschickten in Marasch würden bleiben dürfen. Er bekam die offene Antwort, dies hänge nur vom Mutessarif ab, jedoch mit einigen Tagen Aufenthalt sei bestimmt zu rechnen, weil ja der größere Teil der vorhergehenden Transporte noch immer in der Stadt liege. Man müsse mit neuen Einteilungen rechnen. Aram hob flehend die Hände:

»Sie sehen den Zustand, in dem sich meine Schwester und auch meine Frau befinden. Ich richte an Sie die Bitte, daß wir uns heute abend in die amerikanische Mission begeben dürfen.«

Der junge Mann zögerte lange. Das Mitleid mit der armen Iskuhi aber überwog schließlich seine dienstlichen Bedenken. Im Sattel schrieb er einen Erlaubnisschein für Pastor Aram und die beiden Frauen:

»Ich habe nicht das Recht, Sie freizulassen. Wenn man Sie erwischt, wird man mich zur Verantwortung ziehn. Sie haben den Befehl, sich täglich bei mir im Transportlager zu melden.«

Die Missionsväter empfingen die drei Schützlinge und Schüler mit gramvoller Liebe. Sie hatten ihr Leben dem armenischen Christenvolk geweiht. Und nun fuhr dieser Blitzschlag herab, der nur ein schwacher Vorbote der großen Vernichtung sein konnte. Sofort wurde ein Arzt herbeigerufen, ein sehr jugendlicher und unerfahrener leider. Er zerrte an Iskuhis Arm hin und her. Durch die Höllenqualen dieser Untersuchung und die überstandenen Strapazen verlor sie jetzt wirklich für ein paar Minuten die Besinnung. Er finde keinen Knochenbruch, erklärte der Arzt, der Arm sei aber ganz merkwürdig ausgerenkt und verzerrt. Das Übel liege in der Schulter. Er legte einen großen, festen Verband an und verabreichte ein Betäubungsmittel gegen den Schmerz. Gut freilich wäre es, riet er, wenn sich der Arm mindestens drei Wochen lang in starrer Ruhelage befände. Iskuhi schlief in dieser Nacht keinen Augenblick. Howsannah war in dem Zimmer, das man den Frauen angewiesen hatte, sofort in Schlaf verfallen, der einer Bewußtlosigkeit glich. Aram Tomasian aber saß am Tisch der Missionsväter und beriet mit ihnen, was zu geschehen habe. Das Votum fiel einhellig aus. Der Rektor Reverend E. C. Woodley traf die Entscheidung:

»Was auch immer geschieht, du darfst nicht weiter mit den Deportierten marschieren. Howsannah und Iskuhi gehen ja zugrunde, noch ehe ihr in Aleppo seid. Und außerdem bist du ja gar nicht nach Zeitun zugehörig, sondern von uns dahin entsandt worden.«

Pastor Aram geriet in einen der schwersten Gewissenskämpfe seines Lebens:

»Wie kann ich meine Gemeinde verlassen, jetzt in der Zeit ihrer höchsten Not?«

Wieviel Angehörige der protestantischen Gemeinde sich in dem Transport befänden, wurde gefragt. Er mußte zugeben, daß bis auf einen geringen Bruchteil alles der altarmenischen oder unierten Kirche angehöre. Doch dies beruhigte ihn keineswegs:

»Unter solchen Verhältnissen darf ich nicht nach Nichtigkeiten fragen. Ich bin der einzige Seelsorger, den sie haben.«

E. C. Woodley beruhigte ihn:

»Wir werden einen andern mit ihnen schicken. Ihr aber reist in eure Heimat. Dort wartest du, bis wir dich zu einem neuen Amt berufen.«

»Und was wird aus den Kindern?« stöhnte Aram Tomasian.

»Den Kindern kannst du dadurch nicht helfen, daß du mit ihnen in den Tod gehst. Das Waisenhaus von Zeitun ist unsere Anstalt. Du hast deine volle Pflicht getan, indem du die Waisen nach Marasch begleitet hast. Alles andere laß unsere Sorge sein. Du hast damit nichts mehr zu schaffen.«

Die quälende Stimme in Aram war nicht zum Schweigen zu bringen:

»Bin ich nicht zu mehr verpflichtet als zu meiner Pflicht?«

Der alte E. C. Woodley zeigte Ungeduld, obgleich er sich Arams im Herzen freute:

»Du glaubst doch nicht, Aram Tomasian, daß wir die Sache mit unserem Waisenhaus so ruhig hinnehmen werden. Was mit den Kindern geschehen wird, darüber ist noch lange nicht das letzte Wort gefallen. Du aber stehst uns im Wege, mein Junge! Als Pastor von Zeitun bist du kompromittiert. Verstanden? Gut! Und mithin enthebe ich dich feierlich deines Amtes als Waisenhausdirektor.«

Aram fühlte, daß er nur noch ein paar Minuten stark bleiben müsse, und Woodley werde dann seinem Willensentschluß keinen Widerstand mehr leisten, sondern ihn segnen für seinen christlichen Opfermut. Trotz dieses deutlichen Gefühls aber sagte er nichts mehr und beugte sich den Argumenten seines Missionsvaters. Für Howsannah und Iskuhi glaubte er es zu tun. Und doch erfüllte ihn, sooft er aus seinem unruhig bilderreichen Schlaf auffuhr, das Bewußtsein einer schweren Niederlage, eines Frevels an seiner Auserwählung und die Scham der Charakterschwäche.

Am andern Morgen begab sich Reverend Woodley in Begleitung des amerikanischen Konsularagenten zum Mutessarif und erwirkte für das Ehepaar Tomasian sowie für Iskuhi einen Reiseschein bis Yoghonoluk. Dieser lautete freilich nur für vierzehn Tage, binnen welchen die Reisenden ihr Ziel erreicht haben mußten. Trotz Iskuhis schwerer Verletzung waren sie daher gezwungen, die Fahrt schon am drittnächsten Tag anzutreten. Sie hätten den kürzeren Weg über Bagtsche wählen können, welches die nächstgelegene Station der anatolischen Eisenbahn war. Man riet ihnen dringend ab. Die Taurusstrecke war mit Soldatenzügen für die vierte Armee Dschemal Paschas überlastet. Die Vorsicht aber gebot heute, jede überflüssige Begegnung mit dem Militär zu vermeiden, zumal in Gesellschaft armenischer Frauen. Da der Pastor die Freiheit der Wahl an die Missionsväter abgetreten hatte, so fügte er sich ihnen auch, was den Reiseplan betraf. Anstatt der kurzen Eisenbahnfahrt lag ein beschwerlich endloser Weg von vielen Tagen vor ihnen. Ins Gebirge nach Aïntab zuerst, und dann über die gewundene elende Paßstraße des Taurus nach Aleppo hinab. Die Missionsväter stellten dem Pastor einen großen zweispännigen Wagen zur Verfügung und außerdem ein Reservepferd, das auch als Reitpferd verwendet werden konnte. Zugleich telegrafierten sie nach Aïntab an ihre Vertreter, damit dort ein neues Gespann bereitgehalten werde.

Die Reisenden hatten die Vorstadt von Marasch noch nicht verlassen, als ein Keuchen und flehentliches Geschrei den Hufschlag übertönte. Das Waisenmädchen Sato und der Hausknecht Kework rannten jammernd hinter ihnen drein. Zum Glück war es früher Morgen und noch niemand auf der Straße, um diese Szene zu verraten. So unangenehm es auch werden konnte, dem Pastor blieb nichts anderes übrig, als die unerwünschten Zuzügler in seine Gesellschaft aufzunehmen. Beide waren abnorme Fälle. Die kleine ausgemergelte Sato hatte als schwererziehbar und als Kreuz der Waisenanstalt von Zeitun gegolten. Alle Vierteljahre einmal kamen über Sato Anfälle von Vagabundiersucht. Sie verschwand dann und blieb mehrere Tage aus, um in halb tierischem Zustand, verdreckt und verlaust, sehr kleinlaut wiederzukehren. Zur Zeit dieser Anfälle war mit ihr nichts anzufangen. Sie verlor die Fähigkeit des geordneten Sprechens und alle sonstigen mühsam anerzogenen Errungenschaften. Auch nützte es gar nichts, sie einzusperren. Wie ein Gespenst entkam sie durch die Wände. Gelang es ihr aber nicht durchzubrennen, dann wurde Sato zum Satan und setzte das ganze Haus durch ihre geniale Erfindungskraft an Bosheit und Schadengier in Schrecken. Erst Iskuhis Einflußnahme hatte dieses Übel gemildert, vielleicht sogar aufgehoben, und zwar nicht etwa durch eine besondere Erziehungsleistung. Von Pädagogik verstand Iskuhi sehr wenig. Die Kleine aber hatte zu dem jungen Mädchen eine verzehrende Liebe gefaßt. Diese Liebe richtete in dem krankhaften Hirn Satos schwere Verwirrungen der Eifersucht an und schien sogar die Kraft zu haben, das allergefährlichste Gefühl zu erzeugen, Selbstverachtung. In ihrem weiten Kittel heranflatternd, schrie Sato unausgesetzt:

»Kütschük Hanum! Fräulein! Bitte Sato nicht allein lassen!« Dieses dünnknochige Nichts von Menschenkind bettelte mit todesgroßen und doch frechen Augen, in denen eine entschlossene Kraft lag, der man sich nicht entziehen konnte. Iskuhi und auch Howsannah hatten sich dieser Sato gegenüber niemals des Widerwillens, ja manchmal sogar eines Schauders erwehren können. Selbst wenn sie reingewaschen und gestriegelt war, flößte sie den Frauen einen körperlichen Ekel ein. Jetzt aber mußte, so peinlich der Zuwachs auch störte, die Kleine auf dem Rücksitz des Wagens verstaut werden. Der Knecht Kework nahm neben dem Kutscher Platz. Kework stammte aus Adana. Seitdem er dort bei einem der zahlreichen »Ereignisse« als halbwüchsiger Junge einen Kolbenhieb über den Kopf erhalten hatte, war er ein gutmütiger Kretin geblieben. Er konnte nur stotternd reden. Und wenn er, ähnlich wie Sato von der Vagabundiersucht, von seinem Tanzwahn befallen wurde, so ließ sich auch mit ihm nichts anfangen. Dieser feierliche Wahn, dessentwegen er der Tänzer genannt wurde, war eine stille und sehr harmlose Anfälligkeit, die sich nur selten einstellte, zumeist dann, wenn ihn etwas erregt hatte. Sonst aber versah Kework treulich seinen Dienst als Ofenheizer, Wasserträger, Holzhacker, Gärtner und leistete mit stummer Leidenschaft die Arbeit von zwei Männern. Wie viele wertvolle Kinder und Erwachsene wären zu retten gewesen, so ging es Aram durch den Kopf, und Gott schickt mir eine kleine Verbrecherin und einen Idioten. Dem Pastor war es, als läge in dieser Tatsache eine bedeutsame Erwiderung auf sein laues und opferflüchtiges Verhalten den ausgetriebenen Zeitunlis gegenüber. Sato hingegen wurde von einer ungestümen und ungetümen Lustigkeit erfaßt. Sie drängte sich mit ihren spitzen Knien an Iskuhi, sie lachte und gluckste in den Tag hinein, als sei die Ausstoßung das herrlichste Feiertagsgeschenk der Welt. Vielleicht war sie noch niemals in einem Wagen gefahren. Sie ließ ihre magere Hand mit den breiten, garstigen Nägeln wie über einen Bootsrand hinaushängen und im kühlen Kielwasser der Luft entzückt nachschleifen. All diese Beweise des Lebensglücks erweckten aber nur das Unbehagen und den Zorn der Reisenden. Iskuhi stieß ihre Knie zur Seite. Der Pastor, der neben dem Wagen ritt, drohte Sato, er werde sie, wenn sie nicht ruhig sitze, entweder erbarmungslos aus dem Wagen werfen oder ihr bestenfalls die Hände fesseln.

Die ermüdende Reise nach Aïntab – man mußte zweimal in elenden Dorf-Chanen übernachten – verlief ohne Zwischenfall. In Aïntab selbst rasteten sie drei Tage. Die Armeniergemeinde hatte auf das Telegramm E. C. Woodleys hin die neuen Pferde schon bereitgestellt. Seitdem am gestrigen Tag der erste Zeitun-Transport in der Stadt eingetroffen war und sie die Elenden mit ihren eigenen Augen sahen, warteten die Armenier von Aïntab fassungslos auf ihr eigenes Ende. Sie verließen kaum mehr ihre Häuser. Furchtbare Gerüchte gingen um. Es hieß, die Regierung werde mit Aïntab kürzeren und auch billigeren Prozeß machen: der armenische Stadtbezirk würde einfach niedergebrannt und die Einwohner zusammengeschossen werden. Dennoch überbot sich die Gemeinde an Liebesbeweisen gegen den Pastor und die Frauen. Es war, als hofften sie in diesen geretteten Opfern selbst mitgerettet zu werden. Aram Tomasian versuchte Sato in der Stadt unterzubringen. Sie klammerte sich aber mit solchem Entsetzen an Iskuhi, daß er sie schließlich wieder auf dem Rücksitz mitnahm, vielleicht zur Buße für seine eigene Sünde.

Noch bis Aleppo ging alles gut, obgleich man vier Tage lang über die Pässe des Taurus hinschlich, die größten Schwierigkeiten in den Stationen mit dem Pferdewechsel hatte und zweimal die Nacht in leeren Scheunen verbringen mußte. Die große Stadt aber mit ihrem Riesenbazar, den gepflasterten Straßen, den vielen Amts- und Militärpalästen, den schönen Gärten, den prächtigen Missionen, Hotels und Herbergen wirkte wie eine Erlösung auf die seelisch und körperlich Heruntergekommenen. Trotz der scharfen Untersuchung durch die Saptiehs an der Stadtgrenze – Sato und Kework waren nach einigen herzklopfenden Minuten als Dienerschaft durchgeschlüpft – senkte das Straßenbild der gleichgültig ziehenden Menschenströme den Schein der Freiheit in die Seele der Unfreien. Der Empfang durch die Missionare und die Gemeindevertretung unterschied sich jedoch gewaltig von der Aufnahme in Marasch und Aïntab. Die Missionare waren hier mit soviel Geschäften, Verpflichtungen, Lasten überhäuft, es ging bei ihnen so bürokratisch zu, daß Aram ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollte. Nur zwei bescheidene Zimmer erbat er für sich und seine Familie. Die armenische Gemeinde wiederum war steinreich und daher auch hartherziger und ängstlicher als die kleinen Leute von Aïntab. Die Sorge um ihr Schicksal war ja verschärft dadurch, daß sie mehr zu verlieren hatte als jene. Und noch eines: Als der Pastor von Zeitun sprach, merkte er sofort, daß der Name des verfemten Ortes bei seinen großstädtischen Brüdern beklommene Gefühle erweckte. Sie wollten offenbar vor der Obrigkeit mit jenen nichts zu tun haben, die als hartnäckige Aufrührer angeprangert waren. Die Anwesenheit des Zeituner Pastors in ihrer Kanzlei konnte ihnen Verlegenheiten bringen. Jetzt galt es, um der eigenen Rettung willen, sich in fanatischer Staatstreue selbst zu überbieten und keinen bedenklichen Umgang zu pflegen. Man trug dem Pastor eine Geldunterstützung an. Sonst könne man nichts für ihn tun. Er verzichtete dankend.

Die Zeit drängte, und Tomasian war gezwungen, selbst einen Wagen, eine Yayli, zu mieten, wie sie auf den Standplätzen in großer Zahl warteten. Zuerst lehnte der Fuhrwerksbesitzer die Zumutung ab, sich in die Unbequemlichkeit einer solchen Reise zu stürzen. Bis an die Küste hinter Antiochia. Er griff sich, über solche Narrheit entsetzt, an den Fez. Dann wurde nach vielen Beteuerungen mit »Inschallah« und »Allah bilir« der Fahrpreis dennoch ausgehandelt, worauf der Mann zwei Drittel des Geldes vorausverlangte und auch bekam, denn alle anderen Kutscher hätten sich ebenso benommen, der Pastor wußte es. Aram wählte die Straße nach Alexandrette, trotz des großen Bogens und Umwegs, den sie beschrieb. Er hoffte, in anderthalb starken Reisetagen bei der Abzweigungsstelle nach Antiochia und von dort in vierundzwanzig Stunden zu Hause zu sein. Knapp vor Sonnenuntergang des ersten Tages aber stieg der Kutscher vom Bock, besichtigte grämlich Pferdehufe, Räder, Achse und erklärte, er habe genug, die Pferde seien abgehetzt, der Wagen zu schwer belastet, er sei nicht verpflichtet, alle möglichen Armenier durch die Welt zu führen, und er werde jetzt sogleich umkehren, um noch zu einer guten Stunde in Turont einzutreffen, wo er Verwandte habe. Keine Bitte half, nicht einmal die Erhöhung des Fahrpreises um eine beträchtliche Summe. Er habe seinen Teil erhalten, er benötige nicht mehr, bekundete der Türke voll Großartigkeit. Er wolle aber ein übriges tun und die Fahrgäste das Straßenstück bis nach Turont völlig unentgeltlich zurückbringen, woselbst sie in dem prächtigen Chan seiner Verwandten in echten Betten trefflich nächtigen könnten. Pastor Tomasian hob den Stock und hätte den Unverschämten gezüchtigt, wäre ihm Howsannah nicht in den Arm gefallen. Darauf warf der Mann die Gepäckstücke aus der Yayli, zog die Zügel an und ließ die fünf Menschen mitten in einer leeren und öden Welt stehen. Sie wanderten dann noch eine Stunde lang auf der Straße weiter, in der Hoffnung, ein Dorf oder eine Fahrgelegenheit werde sich zeigen. Doch weit und breit kam nichts, kein Karren, keine Scheune, keine Hütte, kein Dorf. Wiederum mußte eine Nacht unter freiem Himmel zu Ende gelebt werden, und sie zog langsamer vorbei als die erste, denn niemand hatte mit ihr gerechnet. Die Biegung der Straße schimmerte im schwachen Mondlicht wie eine gefährliche Säbelklinge. Sie legten sich deshalb fernab von ihr auf eine nackte Erdstelle. Doch auch die Allmutter Erde erwies sich den Armeniern gehässig. Von unten drang Feuchtigkeit durch die Decken und eine summende Glocke von Sumpfluft stülpte sich über sie, in welcher die Gelsen ihr giftiges Lied sangen. Kework und der Pastor wachten, letzterer ohne den Jagdstutzen aus der Hand zu legen, den er von den Vätern in Marasch zur Waffe erhalten hatte.

Die letzte Steigerung des Elends aber blieb den folgenden fünfzig Stunden vorbehalten, welche die Wanderer brauchten, um Yoghonoluk zu erreichen. Es war ein Wunder Gottes, daß mit Howsannah kein Unglück geschah und daß Iskuhi nicht zusammenbrach. Der Pastor beging den Fehler, anstatt weiter auf der großen Straße zu bleiben, allzufrüh auf einen Karrenweg in südlicher Richtung abzuschwenken. Dieser Weg verlor sich nach einigen Meilen im Nichts. Und nun begann das große Suchen und Irren. Auf diesem letzten Dornenpfad bewährte sich Keworks unerschöpfliche Körperkraft. Er trug die Frauen abwechselnd auf seinem Rücken, weite Strecken lang. (Das Gepäck hatte man bald liegengelassen.) Der Pastor stapfte voran, nur auf eines bedacht, die Richtung innezuhalten, die das Gewölk der Küstenberge angab. Immer wieder fand sich ein Karrenweg, dem man ein Stück weit folgen konnte und der auf morschen Holzbrettern über die Wasserläufe setzte. Hie und da half auch ein Kangni, ein Ochsenkarren, über eine längere Strecke hinweg. Bösen Erlebnissen durch Menschen jedoch waren sie nicht ausgesetzt. Die wenigen Moslems, die ihnen begegneten, Bauern, erwiesen ihnen Freundliches, reichten ihnen Trinkwasser und Käse. Wäre ihnen aber Böses zugestoßen, sie hätten sich nicht gewehrt. Fühllos gegen die Schmerzen ihrer zerschlagenen Glieder, ihrer blutenden Füße, schwankten sie in einer narkotischen Wolke dahin, in der Höhle ihrer Erschöpfung. Selbst der starke Aram taumelte des Weges, nicht mehr ganz bei sich, verloren in einer schaukelnden Bilderwelt. Manchmal lachte er laut vor sich hin. Eine merkwürdige Kraft der Schmerzüberwindung bewies Sato. Auf ihren wunden, blauschwarz gelaufenen Füßen trabte sie hinter Iskuhi, als sei sie von ihren Streifzügen her solches gewöhnt.

Als Gabriel Bagradian die Vertriebenen auf den Kirchenstufen erblickte, waren sie noch in jenem Zustand erschöpfter Entrückung. Doch da sie jung waren, da die Wucht des Gerettetseins sie plötzlich überfiel, da die alten Gesichter des Vaters, des Priesters, des Doktors vor ihnen schwebten, da zitternde Worte erklangen, da die Wärme der Heimat sie umgab, kamen sie schnell zu sich, und die übermenschliche Ermattung wich ohne Übergang einer erregten Lebhaftigkeit.

 

Pastor Aram Tomasian beteuerte immer wieder: »Denkt nicht an die alten Massaker! Das ist viel schlimmer, viel trauriger, viel unerbittlicher als alle Massaker, und vor allem viel langsamer. Es bleibt bei Tag und Nacht ...«

Er preßte die Hände gegen die Schläfen:

»Ich kann damit nicht fertig werden ... Immer habe ich die Kinder vor den Augen ... Wenn sie Woodley nur retten könnte!«

Doktor Altouni bemühte sich schweigsam um Iskuhi. Die Männer aber redeten auf Aram ein. Nur allzuverständliche Fragen kreuzten einander:

»Wird es bei Zeitun bleiben?« – »Ist nicht die Gemeinde von Aïntab zur Stunde auch schon unterwegs?« – »Was hört man in Aleppo?« – »Gibt es keine Nachrichten aus den anderen Vilajets?« – »Und wir?«

Der Arzt, der den Verband heruntergewickelt hatte und Iskuhis braunrot verfärbten Arm nun mit warmem Wasser wusch, lachte schartig auf:

»Wohin will man uns noch deportieren? Am Musa Dagh ist man schon deportiert.«

Vom Platz her schlug der Lärm der Menge in den Raum. Ter Haigasun schnitt das Hin und Her ab. Er wandte sich mit seinen scheuen und zugleich so willensstarken Augen an Bagradian:

»Haben Sie die Güte, Gabriel Bagradian, und sprechen Sie zu den Leuten dort draußen ein paar beruhigende Worte, damit sie endlich nach Hause gehn.«

Warum suchte sich Ter Haigasun für seine Bitte gerade Gabriel aus, den Pariser, der zu diesen Dörflern keinen Zugang hatte? Es wäre die Sache des Muchtars Kebussjan gewesen, zu seinen Leuten zu reden. Oder verfolgte der Priester mit dieser Bitte eine verschwiegene Absicht? Gabriel Bagradian erschrak und wurde verlegen. Dennoch gehorchte er Ter Haigasun, nahm aber Stephan an der Hand mit. Das Armenische war wohl seine Muttersprache, doch im ersten Augenblick, da er jetzt zu der Ansammlung sprechen sollte – sie war mittlerweile zu einem Halbtausend angewachsen –, kam es ihm wie ein Übergriff, wie eine unerlaubte Einmischung vor. Fast wäre ihm das Türkische, die Militärsprache, näher gelegen. Aber es waren nur die ersten Laute, die ihn beklommen machten, dann strömten die Silben immer klarer, die alte Sprache begann in ihm zu keimen und zu sprießen. Er bat die Einwohner von Yoghonoluk und wer sich von den andern Ortschaften sonstwie eingefunden hatte, ruhig auseinander und nach Hause zu gehn. Es seien bloß in Zeitun und nirgendwo anders Unregelmäßigkeiten vorgefallen, deren wahren Grund man erst werde untersuchen müssen. Jeder Armenier wisse, daß Zeitun seit jeher immer einen Ausnahmefall bilde. Für die Leute vom Musa Dagh, die einem ganz andern Gebiet angehören und mit Politik nie etwas zu tun hatten, bestehe nicht die geringste Gefahr. Doch sei gerade in solchen Zeiten Ordnung und Ruhe heiliger denn je. Er, Bagradian, werde dafür sorgen, daß alle wichtigen Ereignisse von nun an in den Dörfern regelmäßig bekanntgemacht würden. Nötigenfalls sollten alle Gemeinden zu einer Volksversammlung zusammentreten, um die Zukunft zu beraten.

Gabriel spürte zu seinem eigenen Erstaunen, daß er sicher sprach, die angemessenen Worte fand, und daß von ihnen eine befriedende Kraft auf die Hörer überging. Jemand rief sogar: »Es lebe die Familie Bagradian!« Nur eine Frauenstimme jammerte: »Asdwaz im, mein Gott, was wird mit uns geschehn?«

Wenn die Leute den Platz auch nicht verließen, so zerschlugen sie sich doch in kleinere Gruppen und belagerten die Kirche nicht mehr. Von den Saptiehs lungerte nur noch Ali Nassif umher, seine beiden Kameraden hatten sich schön davongemacht. Gabriel trat auf den Pockennarbigen zu, der sich seit einiger Zeit nicht auszukennen schien, ob er in dem Effendi einen großen Herrn zu sehen habe oder ein Chansir kiafir, ein ungläubiges Schwein, das kraft der neuen Wendung der Dinge von Amts wegen einer Antwort überhaupt nicht würdig sei. Gerade wegen dieser seiner Unsicherheit ließ Bagradian den Saptieh sehr hoheitsvoll an:

»Du weißt, wer ich bin. Ich bin dein Höherer und Vorgesetzter, ich bin Offizier der Armee.«

Ali Nassif entschloß sich zum Strammstehn. Gabriel griff bedeutungsvoll in die Tasche:

»Ein Offizier gibt kein Bakschisch. Doch du erhältst von mir diese zwei Medjidjeh als Anzahlung für einen außerdienstlichen Auftrag, den ich dir hiermit erteile.«

Die aufgereckte Haltung Ali Nassifs wurde immer vorbehaltloser. Bagradian winkte ihm knapp, er möge in gewöhnliche Stellung übergehn:

»Ich sehe in letzter Zeit neue Gesichter unter euch Saptiehs. Hat dein Posten Zuwachs bekommen?«

»Wir waren zuwenig, Effendi, für den schweren Dienst und die weiten Wege. Deshalb hat man den Posten verstärkt.«

»Ist das der wirkliche Grund? Nun, darauf brauchst du mir keine Antwort zu geben. Aber wie bekommst du deine Befehle, die Löhnung und alles andere?«

»Einer von den Jungen reitet jede Woche nach Antakje, und der nimmt die Befehle von dort mit.«

»Hör also deinen außerdienstlichen Auftrag, Ali Nassif! Solltest du irgendeinen Befehl erhalten oder auch nur etwas von deinem Kommando erfahren, was für diesen Bezirk hier wichtig ist, du verstehst mich, so kommst du sogleich zu mir in mein Haus! Dort erhältst du dann den dreifachen Betrag der Anzahlung.«

Hoheitsvoll, wie er ihn angesprochen, ließ Bagradian den Saptieh stehn und kehrte in die Sakristei zurück.

Altouni hatte die Untersuchung beendet. Er höhnte:

»Da haben sie in Marasch ein großes Hospital, Instrumente, Operationssaal, ärztliche Bibliotheken, und dieser Esel von einem Kollegen hat den Arm nicht einmal eingerichtet. Was kann man dann von mir verlangen, der ich außer einer rostigen Zange zum Zähnereißen keinen Behelf besitze? Wir werden den Arm zwischen zwei Holzschienen legen müssen. Schrecklich sieht er aus. Ein angenehmes Zimmer, lange Bettruhe und Pflege wird nötig sein. Selbstverständlich auch für deine Frau, Aram!«

Der alte Meister Tomasian war verzweifelt:

»Und ich habe so wenig Platz, seitdem ich mein Haus verkauft habe. Wie werden wir uns nur einrichten ...?«

Gabriel Bagradian erbot sich sofort, Fräulein Tomasian ein Zimmer in seinem Haus einzuräumen, eins mit dem schönen Blick aufs Gebirge. Für Pflege werde genau nach Vorschrift Doktor Altounis gesorgt werden. Der Arzt war damit herzlich zufrieden:

»Koh jem, ausgezeichnet, mein Freund! Und dieses Unglücksgeschöpf da, Sato, wie, die nimmst du mir auch noch zu dir, damit ich meine hochverehrten Patienten alle beisammen habe. Meine alten Beine werden dir dankbar sein.«

So geschah es. Aram und Howsannah gingen mit Vater Tomasian und nahmen auch Kework, den Tänzer, mit, den der Alte in Haus und Werkstatt verwenden wollte. Stephan aber wurde von Gabriel vorausgeschickt, damit er Juliette von den Neuigkeiten in Kenntnis setze. Atemlos kam der Junge zu Hause an:

»Mama, Mama! Es ist etwas geschehen. Wir bekommen Hausgäste. Fräulein Iskuhi, die Schwester des Pastors aus Zeitun. Und noch ein kleines Mädchen mit blutigen Füßen.«

Juliette war von dieser überraschenden Mitteilung merkwürdig berührt. Gabriel hatte niemals Leute ins Haus gebracht, ohne sie zu fragen. In seinem Verhältnis zu ihr lag eine gewisse Unsicherheit, was Menschen anbetraf, zumal Menschen seiner eigenen Rasse. Als er aber bereits nach zehn Minuten mit Iskuhi, dem Ehepaar Altouni und Sato erschien, war Juliette die Güte selbst. So wie viele hübsche Frauen, konnte sie durch weibliche Anmut und insbesondere von einem jüngeren Wesen leicht bestochen werden. Der Anblick der armen Iskuhi rührte sie und weckte in ihr die Hilfsbereitschaft einer älteren Schwester. Während sie die nötigen Aufträge erteilte, sprach ihr Wohlgefallen: Wirklich apart! So feine Gesichter gibt es selten unter ihnen. In ihren zerfetzten Kleidern noch schaut sie vornehm aus. Und für eine Armenierin scheint sie ein recht gutes Französisch zu sprechen. Das Zimmer war schnell instand gesetzt. Juliette brachte eigenhändig dies und jenes für Iskuhi, sogar ein schönes spitzengesäumtes Nachtgewand aus ihrem Besitz. Nicht einmal mit der Preisgabe etlicher Toilettewässer und Parfüms zögerte sie, obwohl diese Schätze unersetzbar waren.

Altouni besah noch einmal, mit bitteren Ausfällen gegen die Mediziner der großen Stadt Marasch, Iskuhis Arm. »Hast du Schmerzen, Liebchen?« Nein, Schmerzen habe sie gar keine mehr, nur so ein Gefühl, ein dumpfes Gefühl – sie suchte nach einem Wort –, ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Der alte Arzt war der Überzeugung, daß auch seine Wissenschaft dem Arm des Mädchens nicht viel helfen werde. Dennoch legte er, weil er es nicht anders verstand, einen großen Verband an, der die Schulter bis zum Hals verhüllte. Es zeigte sich dabei, wie fest und sicher noch seine braunverrunzelten Greisenfinger arbeiteten.

Nicht lange darauf lag Iskuhi im weichen Bett, sauber gepflegt und friedlich. Juliette, die ihr bei allem geholfen hatte, wollte sich verabschieden:

»Wenn Sie etwas brauchen, mein Kind, so schütteln Sie nur energisch diese große Glocke. Das Essen wird zum Bett gebracht werden. Doch ich sehe noch vorher nach Ihnen.«

Iskuhi wandte der Gönnerin die Augen ihres Volkes zu, in denen noch immer die schreckhafte Ferne lag und nicht die wohlige Heimkehr:

»O danke, Madame ... Ich werde nichts brauchen ... Danke, Madame ...«

Und dann geschah, was weder in der furchtbaren Woche von Zeitun geschehen war, noch in den Tagen des Transportes und der Reise. Aus ihren Augen strömten die Tränen. Es war ein krampfhafter Erguß, es war ein Weinen ohne Schluchzen, ein Weinen gleichsam ohne Berg und Tal, eine Auflösung der Starrheit, etwas Weites und Trostloses wie das Steppenland dort im Osten, woher sie kam. Während Iskuhi regungslos weinte, stieß sie immer wieder die gleichen Worte hervor:

»Verzeihen Sie, Madame ... Ich habe das nicht gewollt ...«

Juliette hätte sich am liebsten zu Iskuhi hingekniet, sie geküßt und einen Engel genannt. Irgend etwas aber machte jede gewöhnliche Zärtlichkeit unmöglich. Die Entrückung, die das Mädchen noch immer umhüllte, das Erlebte, in dem sie noch immer verpuppt war. Juliette konnte ihrem warmen Impuls nicht gehorchen. So begnügte sie sich damit, ihre Hand leicht über Iskuhis Haar zu führen und schweigend am Kopfende des Bettes zu warten, bis der stumm Weinenden die Augen zufielen und sie in der gütigen Leere versank.

Mairik Antaram hatte indessen Satos Fußwunden behandelt und verbunden. Dann wurde die Kleine in einer der Dienerkammern zu Bett gebracht. Kaum aber war sie in tiefen Schlaf verfallen, als sie markerschütternde Schreie auszustoßen begann. Während sie in all diesen Tagen niemals ein Zeichen der Angst von sich gegeben hatte, schienen in der Traum-Wiederholung des Lebens hundert Peitschen auf sie niederzusausen. Es half nichts, daß man sie immer wieder beutelte. Sie schlief unerweckbar, und nach einer Weile begann das Ächzen und gellende Kreischen wieder von neuem. Manchmal klang dieses lange Heulen, als klammere es sich an einen hilfreichen Namen an: Kütschük Hanum!

Während die grausigen Laute aus der entfernten Kammer drangen, traf Juliette ihren Sohn, der gerade die große Haustreppe heraufkam. Stephan glühte. Das Neue, das Unbekannte, das Drohende erfüllte ihn mit reizvollen Wallungen. Er hatte im November seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert, kam demnach in das Alter, in dem Sensationen alle Knabenseelen begeistern. Auch große Gewitter und Wolkenbrüche beobachtete er vom Fenster mit dem sträflich funkelnden Wunsch, irgend etwas Außerordentliches möge geschehen. Jetzt horchte er, wohlig entsetzt:

»Hörst du, Mama, wie Sato schreit?«

Iskuhis Augen, mein Kind hat Iskuhis Augen, durchfuhr es Juliette, und die abgründige Verstrickung des Lebens wurde ihr einen Blitzschlag lang bewußt. Das erstemal packte sie eine große Angst um Stephan. Sie zog ihn in ihr Zimmer, preßte ihn an sich, während die fernen Schreie Satos noch immer das stille Treppenhaus durchhallten.

 

Am späteren Abend hatte Gabriel Bagradian den Priester Ter Haigasun, den Arzt Bedros Altouni und den Apotheker Krikor zu sich gebeten. Die Herren saßen allein in dem schwach beleuchteten Selamlik bei Tschibuk und Zigaretten. Gabriel wollte aus diesen drei hochgebildeten und sehr würdigen Notabeln herausbringen, wie sie die Dinge wirklich sahen, wie sie im Falle eines Ausweisungsbefehls zu handeln gedächten und welche Mittel der Siedlung am Musa Dagh zur Verfügung standen, um das tödliche Unheil abzuwenden. – Er brachte gar nichts heraus. Ter Haigasun schwieg beharrlich. Der Arzt erklärte, er sei schon Achtundsechzig, und die zwei, drei kurzen Jahre, die er noch zu leben habe, würden vorübergehen, so oder so. Käme aber das Ende auf irgendeine Weise früher, um so besser! Lächerlich, wer sich wegen ein paar lumpiger Monate Sorgen mache. Das ganze Leben sei nicht die Kosten einer einzigen Sorge wert. Die Hauptsache sei, den Menschen soviel und solange wie möglich Ängste zu ersparen. Darin sehe er seine Hauptpflicht, die er unter allen Umständen erfüllen wolle, alles andere gehe ihn nichts an. Apotheker Krikor rauchte in tiefer Ruhe sein Nargileh, das er mit Vorsicht vom Hause hierhergetragen hatte. Er wählte tiefsinnig unter den glühenden Kohlenstückchen das ihm sympathischste aus und drückte es langsam mit nackten Fingern auf den Tabakballen der Wasserpfeife. Vielleicht wollte er den andern sinnbildlich vorführen, daß er die Glut mit bloßen Händen greifen könne, ohne versengt zu werden. Sein schiefäugiger Mandarinenkopf mit dem Bocksbärtchen schien, von der feierlichen Aufmerksamkeit des Nargileh-Schmauchens tief erfüllt, alle Erregung zu mißbilligen, die des Geistes gelassenen Gleichmut verwirrte. Der Geist allein gibt der Wirklichkeit ein Recht, nicht umgekehrt. Warum etwas tun wollen? Alles Wirken ist in sich selbst schon verwirkt, das Denken aber denkt ewig. Krikor wußte nicht, was kommen werde. Er war jedoch willens, unter jeder Bedingung des Lebens, alles Zufällige, Gleichgültige, Unwesentliche, und sei es auch die härteste Veränderung, an sich abgleiten zu lassen. Zur Bekräftigung dieses wahrhaft philosophischen Ideals, dem er noch in und durch seine letzte Stunde zu dienen hoffte, wies er auf ein türkisches Sprichwort hin, das ebensogut in den Mund des alten Agha Rifaat Bereket gepaßt hätte:

»Kismetdén zyadé olmaß! Nichts geschieht, was nicht prädestiniert ist.« In diesen Worten tat sich die Gelegenheit auf, die quälende Tagesfrage zu verlassen und das Gespräch auf jene erhabenen Dinge hinzulenken, die, der zeitlich gehässigen Teilnahme längst entzogen, so kühl sind wie die Buchseiten, in denen sie ein göttliches Leben führen. Und die hohle Stimme des Apothekers verbreitete sich über die unterschiedlichen Prädestinationslehren, über das Verhältnis des Christentums zum Islam, über Gregor den Erleuchter, über das Konzil von Chalcedon und über den Vorrang der monophysitischen Lehre gegenüber der römisch-katholischen Anschauung. Schon die Worte allein berauschten. Der Priester sollte nur staunen, wie weit es ein Apotheker in der Theologie gebracht hatte. Er bekam auch die Namen, Daten und seltsamen Lehrmeinungen einiger Kirchenväter zu hören, von denen er in seiner Studienzeit nichts vernommen hatte, einzig darum, weil sie dem schöpferischen Ingenium Krikors ihr Dasein verdankten.

Zum Verzweifeln! Gabriel stampfte unhöflich mit dem Fuß auf. Jetzt haßte der Europäer in ihm all diese Schläfer und Schwätzer, die wehrlos im Tode versanken, wie sie im Schmutz umkamen. Er unterbrach Krikor mit einer verächtlichen Handbewegung:

»Ich möchte den Herren dringend eine Idee vorlegen, die mir heute eingefallen ist, während ich mit dem Saptieh Ali Nassif sprach. Ich bin schließlich noch immer türkischer Offizier, Frontkämpfer, besitze die Auszeichnungen aus dem letzten Balkankrieg. Was würden Sie davon halten, wenn ich mir meine Uniform anziehe und nach Aleppo reise? Dem General Dschemal Pascha habe ich vor Jahren einmal eine Gefälligkeit erwiesen ...«

Der alte Arzt fiel ihm beinah schadenfroh ins Wort:

»Dschemal Pascha hat sein Hauptquartier längst schon nach Jerusalem verlegt.«

Bagradian ließ sich nicht abbringen:

»Macht nichts! Wichtiger als Dschemal Pascha ist Djelal Bey, der Wali. Ich kenne ihn nicht, wir aber wissen alle von ihm, wer er ist und daß er uns nach Kräften helfen will. Wenn ich nun bei ihm erscheine, daran erinnere, daß der Musa Dagh abseits der Welt liegt und wir schon deshalb nichts mit irgendeiner Politik zu tun haben können, vielleicht ...«

Gabriel sprach nicht weiter und horchte in das ungerührte Schweigen. Nur das Wasser in Krikors Nargileh gluckste dann und wann. Es dauerte recht lange, ehe Ter Haigasun seinen Tschibuk zur Seite legte:

»Der Wali Djelal Bey« – er sah prüfend vor sich hin – »ist gewiß ein großer Freund der Nation. Er hat uns einige Wohltaten erwiesen. Unter seiner Regierung war auch das Ärgste nicht zu befürchten. Leider aber ist ihm seine Freundschaft sehr wenig gut bekommen ...«

Ter Haigasun zog aus seinem weiten Ärmel eine zusammengefaltete Zeitung:

»Heute ist Freitag. Der ›Tanin‹ vom Dienstag. Die Nachricht ist kleingedruckt und steht an einer unauffälligen Stelle.« Er hielt die Zeitung weit vor die Augen: »Wie aus dem Ministerium des Innern mitgeteilt wird, ist S. E. der Wali von Aleppo, Djelal Bey, in den dauernden Ruhestand versetzt worden. – Das ist alles.«


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