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Elftes Kapitel.
Zenua

Am Tage nach dem Fest der »Kleinen Sonne« meldete der Türsteher der Verbannten den Besuch des Cher-Hep. Dieser Tag nach der Sonnenwende sowie die drei anderen Tage nach den großen Jahrfesten des Sonnenumlaufs waren jeweils die vorgesehene Zeit, in welcher der Oberste Zeremonienmeister des Todes zu Noph als Fürsorger aller Reichsgefangenen im Hause des unglücklichen Joachas erschien. Dieses Haus unterschied sich in nichts von den farbigen und luftigen Wohnhäusern der vornehmen Ägypter, die außerhalb des städtischen Markttreibens in gartenreichen Vororten siedelten. Es besaß eine stattliche Menge von Wohn- und Wirtschaftsräumen, einen hübschen Gartenhof und einen eigenen Frauenflügel. Dennoch hielten sich die Verbannten, die schon die ernsten Maße des Wohnhauses Salomos vergessen zu haben schienen, meist nur in einem einzigen Raume auf. Denn wie alle Leidenden und Trauernden suchten sie immerfort gegenseitig ihre Nähe. Es war eine geräumige und erfreuende Halle, ganz in Rot und Grün gehalten, deren mit tröstlichen Lebensbildern bemalte Decke von drei Paaren schlanker Lotussäulen aus edlem Holz getragen wurde. Hier erteilte zur Stunde Jirmijah dem heranwachsenden Mathanjah und Ebedmelech Unterricht. Hamutal saß dabei, wie immer, und hörte zu. In ihren schönen Kuhaugen lag nicht mehr der tönende Gleichmut, mit dem sie Josijah so oft begütigt hatte. Ihre feurigen Obergewänder und der erklirrende Schmuck waren abgelegt für immer. Dennoch durchleuchtete die ihrem Toten aufgeopferte Schönheit heimlich das Grau ihrer Witwenschaft. Am leichtesten schien Joachas selbst sein Unglück zu tragen. Ein leidenschaftliches Tun hatte in Noph sich seiner bemächtigt, das alles trübe Brüten in gedankenfernen Eifer auflöste. Er schnitzte, schreinerte, zimmerte den ganzen Tag an hölzernen Figürchen und Püppchen, an kleinen Schränkchen und Schächtelchen und an allerlei andern Gegenständen von schwer erkennbarer Form. Ruhlos und gestaltungssüchtig waren seine Finger immer gewesen, nun aber hatte die zierliche Kunst Ägyptens das bastelnde Leben in ihnen erweckt. Dem armen König war in einem Winkel der Lotushalle eine Werkstatt eingerichtet worden, aus der er sich fast niemals fortrührte.

Auch jetzt, da der unförmige Verschnittene seines Vaters den erhabenen Besuch in die Halle führte, hockte Joachas mit seinen vielen Schnitzmessern, Hobeln und Leimtöpfen in dem Werkwinkel, wo die Späne flogen. Der Cher-Hep war nicht allein erschienen, sondern in Begleitung zweier Nebenpriester, älterer Männer gleich ihm. Es mußte aber Verwunderung erregen, daß der höchste Verwalter des Totenreiches ein junges ägyptisches Mädchen an der Hand führte, dessen große Augen mit ernster Aufmerksamkeit an Hamutal haften blieben. Man schob für die Königinmutter, den König und den Cher-Hep in geziemender Entfernung die löwenfüßigen Lehnstühle zurecht, auf denen sie Platz nahmen, während die anderen stehnblieben, Jirmijah und die Knaben hinter dem Sitz Hamutals, die ägyptische Gruppe hinter dem Cher-Hep. Jirmijah, der sich mit seinen Schülern zurückziehen wollte, wurde durch eine Gebärde des Zeremonienmeisters zurückgehalten. Er konnte nun die kahle Schädelkugel des Geheimwissenden genau betrachten, sein gelbes Gesicht mit den kleinen, zurückgezogenen Augen, die von dicken Fleischwülsten überwölbt waren, auf denen zwei dünngeschminkte Striche die Brauen ersetzten. Der Cher-Hep sprach sehr langsam und deutlich, als bereite die Wahl jedes Wortes um der zutreffenden Richtigkeit willen seinem Gewissen Schwierigkeiten. Er sprach in skrupelhaftester Weise gewählt. Die geschmeidige Mundart von Nu-Ptah, zu staatsmännischen Unterredungen überaus tauglich, besaß für die feinsten Schatten der Rangunterschiede und Rechtsempfindlichkeiten eine unerschöpfliche Fülle des Ausdrucks. Sie gab auch einem entthronten König wie Joachas, einem Gefangenen ohne Hoffnung, den gebührenden Titel, nicht zu groß und nicht zu klein, auf daß er nicht etwa das reizbare Selbstgefühl eines Gesunkenen kränke. Dieser Titel lautete ungefähr: »Seine königliche Herrlichkeit im einstweiligen Ruhestande.« Dies war die ernsthafte Anrede, mit welcher der Cher-Hep Joachas beehrte, während er die Königinmutter, da sie keines staatlichen Ranges verlustig gegangen war, schlicht »Meine Herrin« benannte. Der Fürsorger der Reichsgefangenen ließ sich von seinen Begleitern eine Papyrusrolle reichen, die er zum Zeichen der Verehrung an die Lippen führte, jedoch nicht entfaltete. Darauf tat er der Königlichen Herrlichkeit im Ruhestande kund, daß er begnadet sei, eine Weisung der erhabenen Kanzlei des Vaters und Sohnes der Götter in Händen zu halten. Bevor er aber auf den Inhalt einging, pries er die obersten Gottheiten – wobei er höflichkeitshalber auch die Gottheit des Hauses David an letzter Stelle einfügte –, daß nunmehr nach traurigen Verwicklungen das Land Jehuda durch des guten Gottes Gunst einer lichteren Zeit entgegengehe. Den hohen Verbannten aber empfahl er, angesichts der gnadenreichen Erhaltung des Königtums und Königshauses zu Jerusalem, dem eigenen Lose nicht länger gram zu sein. Dann erst entfaltete er mit langen, spitzen Fingern die Papyrusrolle, warf einen flüchtigen Blick auf die Schrift und berichtete: In der unermeßlichen Güte, die dem Lichte einwohnt, habe Pharao sich entschlossen, den Bestand Jehudas nicht aufzuheben, da er mit der Treue des gegenwärtigen Königs zufrieden sei, dem die überströmende Huld seiner Sonnennatur alles geschenkt habe, selbst den neuen Namen, den er trage. Jojakim erbringe die Beweise seiner Anhänglichkeit im gewünschten Maße, insbesondere durch die pünktliche Abzahlung der Kriegsbuße, die von den hohen Geheimräten des auf Erden wandelnden Sonnengottes in nachsichtig-gerechter Weise bemessen worden sei. – Und jetzt nannte der Cher-Hep eine Zahl, die selbst den schweren Verstand des Joachas wie ein Keulenschlag traf: Hundert Kikar Silber und ein Kikar Gold. Dies waren mehr als hundert Zentnergewichte Silbers und Goldes, die zu schleppen mehrere Wagen kaum hinreichten. Wie mußte Jojakim das Land geschätzt haben, in den Steinpalästen der Reichen, in den Lehmhütten der Kleinbauern, um diese fürchterliche Darwägung aufzubringen, mit der er Pharaos Wohlwollen erkaufte. Jirmijah aber erkannte, daß Necho noch andere Gründe haben mochte als diese Schätzung, um des geschlagenen Landes zu schonen. Sollte der Herr wahrhaftig zu Chananjah gesprochen haben und nicht zu ihm? Hatte der hübsche Mann aus Gibeon, der den haarigen Mantel wie eine Verkleidung trug, das Richtige über Ägypten gekündet? War vielleicht der aufwärts strömende und gewappnete Nil im Stromland wirklich versiegt?

Jirmijahs Gedanken wurden durch die Stimme des Cher-Hep unterbrochen. Es war eine sonderbar fahle Stimme, so fahl wie der nackte Schädel des sehr Hochwürdigen. Jirmijah hörte dieser Stimme an, daß sie nicht das sprach, was den Geist des Geheimwissenden eigentlich bewegte, sondern bei aller Gewähltheit nur gleichgültig vorgeschobene Dinge, Erfordernisse eines Nebenamtes, die ihn nicht berührten.

»Der gute Gott«, sagte er, »ist willens, die Lage Seiner Herrlichkeit im einstweiligen Ruhestande zu verbessern. Er dehnt die Gnade, die der Lichtstrahl seinem Wesen gemäß nicht beschränken kann, auf das königliche Haus aus, das zu Noph herbergt, und erkennt ihm die Freizügigkeit innerhalb des Gaues zu, unter der Bedingung, daß ein Ortswechsel jeweils der Kanzlei des Cher-Hep gemeldet werde.«

Eine leere Förmlichkeit! Was sollten Joachas und Hamutal mit dieser gebundenen Freizügigkeit beginnen? Sie bedeutete nichts. Viel erfreulicher hingegen war das Gnadengeschenk eines Kutschierwagens samt Gespann, das ihnen an diesem Tage übergeben werden sollte. Und noch eine Vergünstigung, die größte von allen, wartete Hamutals.

»Meine Herrin hat mir einst gestanden«, der Cher-Hep wandte sich, seine Worte prüfend, an die Königinmutter, »daß sie die Gesellschaft eines lieblichen und begreifenden Herzens sehr entbehre ... Ich habe daher für sie das liebliche und begreifende Herz einer jungen Gesellschafterin ausgewählt ...«

Der Zeremonienmeister des Todes erhob sich bei diesen Worten, nahm das ägyptische Mädchen bei der Hand und führte es dicht vor den Sitz Hamutals:

»Dies ist He-Nut-Dime, die Frühverwaiste aus der uralten und sehr würdigen Familie May-Ptah, die Tochter des zum Osiris verewigten Geheimrates und Verwalters der Stapelplätze des guten Gottes im nördlichen Ausland ... Sie hat ihre Kinderzeit an den Grenzen des Landes meiner Herrin verbracht und ihr Ohr freut sich sehr, die Sprache meiner Herrin zu vernehmen ...«

Diese vom Cher-Hep verkündete Freude gab He-Nut-Dimes Wesen freilich nicht zu erkennen. Der Ausdruck des sehr großen und schmächtigen Mädchens war ein sonderbar aufmerksamer und besonnener Ernst. Die Augen He-Nut-Dimes glichen durchaus nicht den geschlitzten und blickesammelnden Augen der jungen Ägypterinnen, die gestern beim heiligen Umgang der »Kleinen Sonne« die Körperschaft des schönen Lebens dargestellt hatten. Betrachtende Ruhe lag in der Waise Augen. Und noch etwas anderes, das so schnell sich nicht deuten ließ. Die große Freude hingegen schien Hamutal zu erfüllen, die sich in Wahrheit nach einem lieblichen und begreifenden Weibesherzen gesehnt hatte. Sie stand rasch auf, zog He-Nut-Dime zum Licht, prüfte sie mit erregtem Lächeln und drückte das fremde Mädchen in einem plötzlichen Überschwang ans Herz.

   

Der Cher-Hep hatte seinen besonderen Zartsinn dadurch bewiesen, daß unter allen von ihm bevormundeten Waisen seine Wahl gerade auf He-Nut-Dime gefallen war. Nicht nur der feinen Redensart einer Edelsprache nach, sondern in Wirklichkeit lebte nun ein liebliches und begreifendes Herz im Hause der Verbannten zu Noph. Auch zeigte es sich bald, daß He-Nut-Dimes sinnender Ernst und betrachtende Ruhe keiner verborgenen Schwermut des Wesens entstammten, sondern im Gegenteil einer gar eigenartig gemessenen Heiterkeit, die den vom Bann Belasteten sehr wohltat. Die schöne Anwesenheit des fremden Mädchens in der Lotushalle brachte ihnen allen, nicht nur Hamutal, wohltuende Erleichterung und verscheuchte die gegenseitigen Erbitterungen, denen in der Verbannung eng aneinander gefesselte Seelen so leicht ausgesetzt sind.

Es waren zumeist die beiden Stunden vor Mittag, in denen Jirmijah mit den Knaben lernte. Wie daheim in Salomos Wohnhaus bestand der Unterricht zum erwünschteren Teil aus freien Erzählungen und Reden des Lehrmeisters, die sich, den jeweiligen Lesungen folgend, über vielerlei göttliche und weltliche Gegenstände verbreiteten. Da das Neue und Bunte ohne Wiederholungen aus Jirmijahs Mund strömte, so hielten Mathanjahs, des Launischen, strahlende Augen regungslos stand, und auch Ebedmelechs tanzdurchzuckte Glieder zappelten nicht. Der Mohrenjunge hatte schon das elfte Lebensjahr erreicht und begann die Ehre zu ahnen, die ihm durch die gleichberechtigte Teilnahme an einer hohen Gotteslehre bewilligt wurde, deren er durch Herkunft und Stand nicht würdig war. Man sah ihm die verzweifelte Anstrengung an, mit welcher er sich zur Sammlung zwang und den sinnlosen Frageteufel in seiner Seele beständig niederkämpfte. – Jirmijahs Lehrstunden lockten nicht nur die Königinmutter an, sondern auch die dienenden Hausgenossen, sofern sie gerade frei waren. Nachmurmelnd hingen sie an den Lippen des Lehrers, die ihnen die Heimat heranzauberten und mehr als dies, ihr Herz mit den Taten und Worten des wahren Herrn labten, der wie sie ein Fremder war in diesem Lande. Nur Joachas ließ sich durch Jirmijahs Wortmacht in seinem Geschnitzel und Geschabe nicht stören, in der unermüdlichen Regsamkeit seiner Finger, mit der er die bittere Regungslosigkeit seines Geistes betäubte.

Die treueste Lauscherin Jirmijahs aber war He-Nut-Dime. Während Hamutal auf einem der löwenfüßigen Lehnstühle saß, hockte das liebliche und begreifende Herz dicht neben ihr auf dem Boden. Es war, besser gesagt, eine reizende Art des Kniens, wie es junge ägyptische Damen von je bevorzugten. Die leichte Last des Körpers ruhte auf der Ferse des rechten Fußes, dessen schmale Sohle sichtbar war, während das spitze linke Knie, rechtwinklig vorgestreckt, im gefältelten Gewande hoch und fremd vor der Brust stand. In dieser Stellung konnte He-Nut-Dime zwei Stunden verharren, ohne müde oder ungeduldig zu werden. Ihr groß aufgeschlagenes Auge sah prüfend vor sich hin. Die Worte wurden nicht einfach von ihr hingenommen, sondern feinhörig, mit leicht gerunzelter Stirn verarbeitet. Der Cher-Hep hatte nicht übertrieben. He-Nut-Dime verstand die Sprache des Herrn. Sie verstand sie nicht ganz vollkommen und nicht immer in der reinen Mundart Jehudas, aber je länger sie im Hause weilte, um so seltener mußte sie nach der Bedeutung irgendeines Wortes fragen. Aus einem einst angesammelten Schatz schienen sich ihr durch Erinnerung allgemach auch ungebräuchlichere Worte zu erschließen. Fand sie ein solches Wort in sich selbst und sprach es zögernd aus, dann lachte sie vor Scham und wurde sehr rot.

Die Tochter des »zum Osiris verewigten geheimen Rates und Verwalters der Stapelplätze des guten Gottes im nördlichen Auslande« war in Gaza Kind gewesen, der Haupt- und Hafenstadt der Pelischtim, nicht fern den Grenzen Jehudas. Dort hatte der Verstorbene das Amt des Hafenvogtes innegehabt, worin sich zeigte, daß der gute Gott einerseits den Namen der uralten Familie May-Ptah wohl zu schätzen wußte, andrerseits seinen Träger vom Hofe fernzuhalten beliebte. Den Grund dieser huldvollen Ungnade schien He-Nut-Dime nicht zu kennen. Die Sprache der Pelischtim aber hatte sich zwar seit Menschenaltern der Sprache des Herrn ein wenig angenähert, war jedoch keineswegs so gleichlautend, daß He-Nut-Dimes Kenntnisse sich dadurch hätten erklären lassen. Sie mochte vielleicht von Ammen und Kindermägden aus dem Lande Adonai Elohims aufgezogen worden sein, deren Lieder und Sprüche in ihrem Herzen nun erwachten. He-Nut-Dime aber sprach darüber zu niemandem, und Hamutal vermied es, sie auszuforschen.

Jirmijah ließ während der Lehrstunden – er fühlte, wie seine Beredsamkeit sich von Tag zu Tag steigerte – den Blick hie und da auf der jungen Ägypterin ruhen. Trotz ihres selbstbeherrschten Ernstes konnte sie das Spiel des Wiedererkennens auf ihren noch ganz kindhaften Zügen nicht verbergen, verstehendes Aufleuchten, fragende Verdüsterung und immer wieder durstige Hingabe an das Gehörte.

Eines Tages nach der Mahlzeit, als sich Jirmijah auf dem Gartenhof erging, trat He-Nut-Dime frei auf ihn zu:

»Mit welchem Namen darf deine Dienerin dich anreden? ...«

Es waren die ersten Worte, die sie unmittelbar an ihn richtete. Der flüchtige Künder des Herrn schlug die Augen nieder. Die große Nähe eines jungen Weibes erweckte seine quälende Schüchternheit. Sie aber zeigte sich gar nicht schüchtern, sondern entschied selbst, ohne Antwort abzuwarten:

»Ich werde dich nennen wie Mathanjah dich nennt: unser Lehrer ... Wenn es dir recht ist und du He-Nut-Dime dieses verstattest ...«

Er sah auf, lächelte, nickte. Auf ihrem siebzehnjährigen Antlitz zeigte sich aber kein Lächeln, sondern jener entschlossene Ernst, mit dem sie oft die Stirn runzelte.

»Ich möchte deinem Gotte dienen«, sagte sie kurz und schnell.

Jirmijahs Seele zog sich vor diesen Worten zu seinem eigenen Erstaunen zurück: »Er ist ebensowenig mein Gott, wie er dein Gott nicht ist. Er ist dein und mein Gott.«

Sie dachte eine Weile über diese Antwort scharf nach. Dann traf ihn einer ihrer langen prüfenden Blicke:

»Was du da gesprochen hast, unser Lehrer, das betrifft mich vielleicht mit großer Wahrheit ... Doch höre mich an, ich wünsche mir, daß er, der mein Gott ist, auch mein Gott werde ...«

Sie hob ihre schmalfingrige Hand wie zu einem Schwur. Jirmijah aber blieb unnahbar und half ihr wider Willen nicht weiter. Sie verließ ihn schnell, mit gesenktem Kopf. So streng und ungelenk verlief das erste Gespräch, das Jirmijah und He-Nut-Dime miteinander führten.

   

Die Sehnsucht nach Jirmijahs Gott aber war kein spielerischer Traum der ägyptischen Waise, sondern ein verzehrendes Feuer. Dem ersten Gespräch folgten andre. Bald wurden es tägliche Gespräche, um derentwillen er auf seinen alltäglichen Lustwandel zum großen Platz von Nu-Ptah verzichtete.

Inmitten des Hausgärtchens befand sich ein schöngemauertes Wasserbecken mit rot und silbern flitzenden Zierfischen und einem Überwurf von Teichrosen, die in der Stunde des Sonnenuntergangs ihre Blütenkelche schlossen wie zarte Fäuste. Am Rande dieses Beckens saß He-Nut-Dime neben Jirmijah. Das Stück Himmel über ihnen war voll von schwebenden und stürzenden Sperbern Ptahs. He-Nut-Dime hielt die Knie eng aneinander gezogen und die Ellenbogen an den Leib gedrückt. Ihre langgefiederten Hände lagen in wohlerzogener Regungslosigkeit auf dem Schoß. Sie vermied es, den Mann anzuschauen. Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf ihre schmalen Füße, die innerhalb der Hausmauern bloß gingen.

»Unser Lehrer verrate mir endlich«, kämpfte sie hartnäckig, »wie ich's doch anfange, dem Herrn zu dienen ...«

Schon war Jirmijahs Herz bewegt durch die unablässigen Versuche des Mädchens, sich dem Ewigen anzunähen. Er hatte niemals daran gedacht, irgendeine einzelne Seele der Völker unmittelbar zum Herrn zu führen. Allzu verwickelt war das Verhältnis von Abrahams, Isaaks und Jakobs Gott zu den Seinen und zu den Andern, als daß eine leichtfertige und ungeregelte Vermischung des Glaubens wünschenswert gewesen wäre. Nicht verstreute Seelen, sondern die Völker als solche würden einst zur reinen Erkenntnis und zum Dienste des Herrn vordringen und um die heilige Mitte des Tempels geschart sein, ohne sich aufzulösen. Dennoch durchdrang Jirmijah, der dicht neben diesem den Herrn ersehnenden Mädchen saß, wohltuende Wärme, so daß er lächelte:

»He-Nut-Dime dient unserm Herrn dadurch, daß sie ihn liebt ...«

Dieser ausflüchtende Bescheid machte sie sehr unzufrieden:

»Eine Liebe ist gar nichts, die nur im Herzen bleibt ... Wie vermöchte He-Nut-Dime zu lieben ohne Opfer ... Unser Lehrer sage mir doch, wie ich dem Herrn opfern soll ...«

»Es gibt nur einen Ort in der Welt«, entgegnete Jirmijah, »wo man ihm opfert ...«

Sie warf erzürnt den Kopf zurück:

»Jirmijah ist sehr schlau. Doch auch He-Nut-Dime ist nicht ganz so einfältig, wie er zu denken scheint ... Die Kraft eines Gottes ist das Opfer des Menschen ... An Darbringung, Weihung, Räucherung stärkt er sein Herz ... Am meisten aber labt er sich an den Geschenken, die uns schwerfallen ... Als ich noch jung war, habe ich der kuhköpfigen Hathor meinen kleinen Singvogel geschenkt, den ich so sehr liebte ... Und Isis, die klügste unter allen hohen Göttern des Zweilands, bekam mehr als einen goldnen Schmuck von mir, die ich doch arm bin ... Was aber müßte ich dem Herrn opfern, der alle Welten und Götter geschaffen hat, die geringer sind als er? ...«

Jirmijahs Stimme mußte eine aufsteigende Bewegung unterdrücken, um kühl zu bleiben:

»Hat He-Nut-Dime gestern in der Lehre nicht die Worte gehört, die der Herr durch Samuel, den Künder, sprach? Gehorsam ist besser als Opfer! Das größte Geschenk, das wir ihm machen können, ist die Annahme seines Geschenkes, der Gebote ...«

Eine ganz leise spöttische Gekränktheit färbte ihre Worte:

»Unser Lehrer fragt den Mathanjah gar oft nach den Geboten und bekommt nur stotternde Antwort ... Warum fragt er nicht auch einmal He-Nut-Dime, die neben ihm sitzt, damit er ihren Verstand erkunde?«

Sie schwieg eine Weile. Dann bekam sie eine ängstlich scheue Stimme, als habe sie sich entschlossen, etwas höchst Törichtes und zugleich Verbotenes zu fragen:

»Ist der Herr wirklich ganz unsichtbar?«

»Es gibt kein geschaffenes Auge, das ihn sieht.«

»Ja, aber ... Jirmijah möge nicht weghören, wenn ich auch sehr Sündiges rede ... Die Sonne ist die Erscheinung des Sonnengottes, wie alle Welt, Weise und Unweise, sagen ... Er ist sichtbar und unsichtbar zugleich ... Der Gott fährt in seiner Barke über den Himmel, doch das geschaffene Auge erträgt es nicht, ihn anzuschauen ...«

»Die Sonne, He-Nut-Dime, ist nicht der Herr, sondern ein Geschöpf des Herrn.«

»Und der Blitz?«

»Der Blitz ist nicht der Herr. Der Herr ist die Gewalt, die den Blitz aussendet.«

»Und der Sturm?«

»Der Sturm ist nicht der Herr. Der Herr ist der Wille, der den Sturm entfesselt.«

Eine sonderbare Freude hatte Jirmijah über des Mädchens Unnachgiebigkeit. Er faßte He-Nut-Dimes Hand, die sehr kühl war. In ihren Augen arbeiteten die Gedanken vor sich hin. Plötzlich fühlte Jirmijah einen ganz schwachen Druck der kühlen Finger:

»Und doch, mein Lehrer, ich wünschte mir, der Unsichtbare wäre nur ein klein wenig sichtbarer ...«

Ihr Blick hob sich zum dunkelblauen Himmel des Nachmittags, unter dem die stolzen Sperber taumelten und schwebten. Nur langsam und müde fand sie jetzt die Worte, als habe die innere Erregung und der Kampf um den unverkörperten Gott ihre Kräfte erschöpft:

»Jirmijah sehe doch die Sperber dort oben, deren Wohnung niemand kennt ... Sie sind die geflügelten Abbilder Ptahs ... Und der Apis, der angebetete, den seine Pfleger auf Knien bedienen, er ist das wohlgestaltete Abbild der Seele des Orisis ... Und Osiris, der Held und Erlöser, der ins Totenreich hinabsteigt, er hat einen treuen Beistand. Dies ist Anubis, der Beller, mit seinem Schakalskopf ... In gar manchem Hundeblick erkennt der Priester das treue Abbild der Seele des Anubis, der dem Helden in der Unterwelt voranläuft ... So hat alles Göttliche sein sichtbar lebendiges Abbild, damit er unter uns sei ... Von den Abbildern allen aber machen wir uns wieder Abbilder, nicht nur die großen in den Tempeln, sondern auch die kleinen in unseren Kammern ... Denn die Stunde kommt und man ist ganz allein und hat Angst und muß ein Licht anzünden vor den Himmlischen, einen Blumenstrauß weihen und ein wenig räuchern, damit das scheue Herz sich beruhige ... Nun aber hat He-Nut-Dime gelernt, daß dies alles sehr schlimm ist, sehr sündig ... Und doch, mein Lehrer möge mich endlich darüber belehren, was unter allen Abbildern der Welt das Abbild des Unsichtbaren ist ...«

Unter der Wärme von Jirmijahs Hand war He-Nut-Dimes Hand warm geworden. Er ließ sie nicht los.

»Hat die Lernende«, fragte er, »nicht schon Antwort darauf erhalten? Heißt es nicht von Ihm, daß Er sich den Menschen zum Abbild erschuf?«

Sie wandte das erstemal während dieses Gespräches ihm ihre Augen offen zu:

»So sind die Menschen die Abbilder des Unsichtbaren, Ewigen, wie dort oben die Sperber die Abbilder Ptahs sind?«

»He-Nut-Dime sagt es ... Aber sprich nicht von den Sperbern und vergleiche das Wirkliche nicht mit dem Unwirklichen ...«

Ihr Blick trübte sich von Glaubensmühe:

»Alle Menschen? Sind auch die Siechen, die Krüppel, die Besessenen, die Narren, die Frevler Ebenbilder des Herrn?«

Einem unzufriedeneren Frager und Widersprecher glaubte Jirmijah noch niemals Rede gestanden zu sein.

»He-Nut-Dime möge begreifen«, sagte er, »daß viel Verderbnis über das Ebenbild kam und manches Gefäß verzogen und verworfen ward wie der Ton in des Töpfers Hand ...«

Bei diesen Worten erfaßte eine sonderbare Empörung das Mädchen. Sie riß heftig ihre Hand los. Blut schoß ihr in die Wangen:

»Nicht glaube ich und will nicht glauben, daß alle Menschen das Abbild des Herrn sind ... Denn ich glaube fest und will glauben, daß ein einziger Mann das Abbild des Herrn ist ... Jirmijah!«

Beide sprangen erschrocken auf. Sie wandte den Kopf verstört zur Seite und stammelte:

»Möchte mich Jirmijah doch zum Tempel führen, damit ich ein Opfer darbringe dem Herrn, dessen Abbild er ist ...«

»He-Nut-Dime«, beschwor er sie.

Noch immer abgewandten Gesichtes, bekannte sie flüsternd:

»He-Nut-Dime, die Tochter des Osiris May-Ptah, heißt He-Nut-Dime ... Und doch, damals, hat mich die Mutter mit einem andern Namen geheißen ... Mit einem heimlichen Namen in der Sprache des Herrn ...«

»Und weißt du diesen Namen noch?« fragte Jirmijah, von Erregung übermannt.

He-Nut-Dime sah ihn sinnend an, schüttelte den Kopf:

»Wie vermöchte ich dieses Namens zu gedenken, da ich meiner Mutter nicht mehr gedenke, nicht ihrer Stimme, nicht ihres Angesichts ...«

Was Jirmijah sich in uneingestandenen Träumereien ausgedacht hatte, ihr Bekenntnis beschwor es in seinen Mund. Er machte zärtlich feierlich die Gebärde des Handauflegens, ohne ihren Scheitel zu berühren:

»Ich nehme dir den Namen He-Nut-Dime und gebe dir einen Namen, deiner Mutter gleich, in der Sprache des Herrn. Heiße fortan Zenua!«

Die junge Ägypterin stand eine Weile starr mit halbgeschlossenen Augen. Dann bewegte sie sich von Jirmijah fort zu dem ummauerten Weiher und betrachtete in dem schon abenddunklen Wasser ihr schattenhaftes Spiegelbild zwischen den geschlossenen Rosen und Lotusblüten. Abschiednehmend verbeugte sie sich und rief:

»He-Nut-Dime ist gegangen ...« Dann kehrte sie ihr sehr blasses Antlitz Jirmijah zu und verkündete, ohne ein Schrittchen ihm entgegenzutun: »Zenua kommt ...«

Nun aber hob sie die Hände wie eine Schale zum Himmel, während ein übermütiges und zugleich gefährlich verzücktes Lachen sie durchschütterte:

»Gott Jirmijahs! Nimm Zenua an!«


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