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Zweites Kapitel.
Die Stimme außen und innen

Der Knabe Baruch wartete mit Jirmijahs Eselin und seinem eigenen Tier am Tempeltor Benjamin. Der überschwengliche Festabend war einer Mitternacht gewichen, die vor Leere und Lautlosigkeit hallte. Eine einzige, schon verknisternde Pechfackel hing im Mauerring. Die Priesterwache hockte schläfrig im Torgang, der Ablösung harrend. Als der Riegel hinter Jirmijah zugeschoben wurde und er ins Freie trat, da kam kein Wort der Beschwerde aus dem Munde Baruchs, des Sechzehnjährigen, obgleich dieser einen sehr entbehrungsreichen Tag des verehrenden Wartens verbracht hatte. Jirmijah bemerkte sofort, daß der Knabe vor Kälte zitterte. Er hängte ihm seinen eigenen Mantel um die Schultern. Wenn er die sonderbare Anhänglichkeit dieses Jungen sich oft nur mit Widerwillen gefallen ließ, so erwies er ihm doch immer wieder schamhafte Fürsorge, wie gerade jetzt. Wortlos saßen sie auf und ritten ins Tal des Kidron hinab. Der große Mond und Ascheras, der Himmelskönigin Stern, herrschten noch immer. In ihrem toten Lichte zeichneten sich die knorrigen Sykomoren und Terebinthen am Wege klar ab. Die Olivenhaine hingen an der Lehne des Ölbergs wie das leichte Räuchergewölk eines Opfers, das sich ostwärts verzieht. In den Dörfern standen die dunklen Würfel der Häuser störrisch da, als erzürne sie das mitternächtige Geräusch. Die wilden Hunde, die tagsüber durchs Land schweiften, hatten sich in ihre Höhlen verkrochen. Die beiden Heimkehrenden hörten nichts als dann und wann ein fernes Klagegeheul, das scharfe Kläffen eines Schakals und den kurz aufschwebenden und wieder ersterbenden Traumschlag irgendeines Singvogels im zittrigen Geäst.

Wie es die gute Erziehung vorschrieb, richtete der Jüngere das Wort nicht an den Älteren, ehe dieser das Zeichen zur Eröffnung des Gespräches gegeben hatte. Dies aber geschah erst auf der Höhe des bestandenen Hügelkammes, dort wo die Straße sich trauernd von Jerusalem, der Hochgebauten, abwendet und über die Grenzgemarkung Jehudas und Benjamins hinab in die feste Stadt Anathot führt. Jirmijah berichtete seinem Jünger von den Ereignissen der heutigen Passahnacht im Tempel, wobei er versuchte, kurz und trocken zu sein und keinerlei Nachdruck auf ihre unzweifelhafte Bedeutsamkeit zu legen. Es gelang ihm aber kaum, die drei großen Geschehnisse in ihrer Bedeutung herabzumindern: die Vorlesung aus der wiedergefundenen Lehre, zu der ihn, den Jüngsten, die Laune des Königs Josijah bestimmt, das Lob und den Tadel, den er empfangen hatte, und endlich die Zeugenschaft vor dem Allerheiligsten, deren er gewürdigt worden war. Der verständige Knabe Baruch hatte sein ganz bestimmtes Vorwissen über Jirmijah. Und diese Witterung oder Ahnung war es, die ihn an die Fersen des Einsamen von Anathot heftete und ihn tagtäglich mit dem süßen Schauder erfüllte, er folge einem Großen des Altertums nach. Jirmijahs Bericht von den Geschichten, die sich heute während seines Ehrendienstes im Tempel und an der Passahtafel des Königs begeben hatten, verjagte mit einem Male des Knaben fröstelnde Übermüdung. Er stützte sich im Sattel auf:

»Nun hat mein Lehrer seinen Beweis ...«

»Warum nennst du mich Lehrer? ... Ich bitte dich doch jeden Tag, mir keinen unrechten Namen zu geben ...«

»Was ist mein Herr denn andres als mein Lehrer?«

»Ein unrechtes Wort ... Nenne mich älterer Bruder, Landsmann, oder wenn es dir gefällt und wenn es so sein muß, ›mein Herr‹ ... Ich selbst bin nicht einmal Schüler ... Wer könnte etwas lernen von mir ...«

Und nun entspann sich eine Unterredung, die jeder Fremde als das Wortspiel zweier Unzurechnungsfähiger verdächtigt hätte. Baruch, der Sohn Nerijahs, rief sehr laut in die leere, hallende Nacht:

»Und doch habe ich heute während meines Wartens in den Schriften etwas gelernt, was von meinem Herrn nicht kommt, aber für meinen Herrn bestimmt ist ...«

Jirmijah erschrak beinahe und forschte unwillig:

»Ist es wieder eine Stelle?«

Freudig kam die Antwort:

»Es ist wieder eine Stelle!«

Jirmijah trat seiner Eselin in die Weichen und peitschte sie grimmig mit seinem Stock, so daß sie aus ihrem Trott auffuhr und in den besten Trab verfiel, der ihr zur Verfügung stand. Das kleinere und schwache Tier Baruchs konnte kaum folgen. Dessenungeachtet begann der Junge stoßweise und atemlos, wie es der Eselstrab ohne Bügel mit sich brachte, seine frische Wissenschaft zu offenbaren:

»Und da Samuel, der Knabe, dem Herrn diente unter Eli, da war des Herren Wort teuer zu derselbigen Zeit und nur wenig Weissagung gab es ...«

Jirmijah rief, ohne seinen Ritt zu verlangsamen oder sich umzudrehen, über seine Schulter zurück:

»Mein Landsmann Baruch irrt ... Nicht für mich ist diese Stelle bestimmt ... Von Samuel, dem Propheten, stammt mein Vaterhaus nicht ab ... Eli, der Priester, ist unser Ahnherr, Eli, der kleine alte Mann, auf dem wenig Ruhm liegt ... Eli mit seinen nichtswürdigen Söhnen ...«

Baruch keuchte auf seinem armen Eselchen hinterdrein, ohne sich im singenden Vortrag einschüchtern zu lassen, drohte ihm auch der Atem auszugehen.

»Und es begab sich zu selbiger Zeit, daß Eli auf seiner Lagerstatt ruhte. Seine Augen fingen an, dunkel zu werden, und er sah nicht mehr ...«

Jirmijah, der Kurzsichtige, gleichmäßig weitertrabend:

»Die Augen Elis, meines Ahnherrn, fingen an, dunkel zu werden im Alter ... Die meinen sind dunkel und schwach schon jetzt ... Was willst du von mir? ...«

So viel wollte der Knabe von ihm, daß die Worte des alten Schriftberichtes in seinem Munde sich drangvoll überstürzten:

»Und Samuel hatte sich gelegt in der Hütte des Herrn, wo die Lade war und die Lampe des Herrn noch nicht verloschen ... Da rief der Herr: Samuel! ... Dieser aber antwortete: Hier bin ich ... Und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich. Du hast mich gerufen ... Eli aber sprach: Ich habe nicht gerufen. Geh wieder hin und lege dich schlafen! Und er ging hin und legte sich schlafen ...«

Jirmijah begann seine Eselin zu spornen und zu hetzen, um ihr eine noch schärfere Gangart abzunötigen. Aus den Worten des Knaben verfolgte ihn der Verfolger. Hatte er sich nicht seit Jahren schon dem beständigen Anruf »Jirmejahu« entzogen, ohne zu sagen »Hier bin ich«. Und der Verfolger gewann Macht und stärkte die kurzen Beine von Baruchs Tier, so daß sie fast Sattel an Sattel ritten. Und Jirmijah mußte hören, wie der Herr zum zweiten Male den jungen Samuel rief. Vielleicht war Samuel nicht älter gewesen als er, Jirmijah, damals war, da diese leisen, unfertigen Rufe ihn zu suchen begannen, diese scheuen Bild-Gespinste ihm vor den Augen zu weben, all das, was er sehnsuchtsvoll fürchtete und furchtsam ersehnte und mit erbärmlicher Geschicklichkeit floh. Baruchs Stimme aber durchdrang ihn jetzt, abgerissen jede Silbe, mit der letzten Kraft ihres ausgepumpten Atems:

»Und der Herr rief Samuel wieder zum dritten Male. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich; du hast mich gerufen ...«

Oh, sehr gehorsamer Samuel! Dreimal erhebst du dich ruhig, trittst dreimal an das Lager des Alten und sagst in Treue: Hier bin ich! – Sie ritten an dem niedern Würfel eines Bauernhauses vorüber. Auf dem Dach verschwanden bei ihrem Nahen einige Schatten, die einen Dreifuß, dessen Flämmchen man schon lange gesehen hatte, ängstlich mit sich ins Innere nahmen. Gewiß ein Opfer für Aschera. Die Bauernweiber hatten wohl der Göttin geräuchert und ihr heilige Sternenkuchen geweiht. Das Verderben, der große Abfall glomm unter der Asche fort, trotz König Josijah, um bei jedem Windstoß aufzuflammen. Und des Herren Wort war teuer zu derselben Zeit und nur wenig Weissagung gab es. Jirmijah ließ seine Eselin in Schritt fallen. Mit brüchigem Klang, aber ruhigen Atems vollendete die Jungenstimme die überlieferte und aufgeschriebene Geschichte:

»Da merkte Eli, daß es der Herr war, der den Knaben rief, und sprach zu ihm: Gehe wieder hin und lege dich schlafen. Doch wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört ...«

Genau bei diesen Worten »Rede, Herr, denn dein Knecht hört« macht Jirmijahs Eselin einen großen Schreckenssprung zur Seite, so heftig, daß der Reiter ins Wanken gerät. Doch kein Nachttier ist vorbeigehuscht, keine Schlange, keine Wurzel, kein Schatten liegt über dem Weg. Die zottigen Flanken der Eselin zittern. Sie spreizt die Vorderbeine weit auseinander und stößt mit geblähten Nüstern einen überaus menschlichen, ja herrischen Klageruf aus. Dann kann sie lange nichts mehr zur Fortsetzung ihres Weges bringen. Die beiden jungen Leute müssen absteigen, das Tier beruhigen, ihm schmeicheln und zureden. Baruch blinzelt erregt, aber unterläßt mit Klugheit jeden Hinweis darauf, daß sich soeben ein neues, ein unwiderlegliches Zeichen ereignet habe. Einige Lichter im Talgrund zeigen an, daß man nicht mehr ferne von Anathot ist.

   

Das Anwesen Hilkijahs, des Priesters, lag vor den Toren der befestigten Stadt Anathot, auf der Kuppe eines guten und fruchtreichen Hügels. Es war ein prächtig großes Besitztum, das viele Morgen Ackerlandes im Geviert umspannte. Hierher hatte König Salomo einst vor zwölf Menschenaltern den Hohepriester Ebijathar, Hilkijahs Vorfahren, verbannt. Dem Henkerstode war dieser Ebijathar nur dadurch entgangen, daß er sich am Tage, da David vor der Lade Gottes einhertanzte, unter ihren Trägern befunden hatte. Alte umwölkte Geschichten aus der Sagenzeit! Doch das weitgestreckte Herrenhaus war noch dasselbe wie in Ebijathars Tagen, dieselbe Schutzmauer mit denselben Toren umgab noch Vater Hilkijahs Güter, ja selbst die schadhaften Stellen dieser uralten Mauer lebten seit Menschengedenken in der Erinnerung der Kinder des Vaterhauses.

Jirmijah hatte seine Eselin entsattelt, abgerieben, getränkt und gefüttert. Dann erst schlich er sich über den Wirtschaftshof durch die kleine Pforte in sein Vaterhaus. Er fürchtete, seine Mutter werde wachgeblieben sein und ihn erwarten, wie sie es oft tat, wenn er, von jenen unfertigen Anrufungen verfolgt, in der Nacht das Haus verließ, um in Gesellschaft von Bäumen, Hügeln und Sternen nicht so allein mit Adonai sein zu müssen wie in seiner Kammer. Er hatte mit Abi, seiner Mutter, über diese Bedrängnisse niemals gesprochen, die ihn oft schon um seine Sinne gebracht hatten, so daß er sich mehr als einmal auf freiem Felde wie einen Gottgeschlagenen wiederfand, der außerhalb seines Körpers schweift. Wenn seine Mutter auch nichts wußte, so schien ihr Blick doch manches zu erraten. Deshalb trug sie Furcht und Kummer um Jirmijahs Seele und erwartete ihn wachend, wenn er plötzlich zum spöttischen Unmut der anderen Hausgenossen nach der Abendmahlzeit die Wohnung verließ. Heute aber war es spät, und nach mehr als einstündigem Ritt von der Hauptstadt konnte das Morgengrauen nicht mehr sehr ferne sein. Die Mutter hatte sich schlafen gelegt, jedoch fürsorglich den Riegel der Hintertür nicht versperrt und sogar ein brennendes Öllämpchen auf die Schwelle gestellt.

Den Schein des Henkellämpchens mit der Hand abdeckend, drückt sich Jirmijah am heiligen Elterngemache vorbei. Das Innere des Hauses wird durch einen langen Gang in zwei Teile geteilt. Am Ende dieses Ganges liegt seine eigene Schlafkammer. Aufseufzend tritt er in den kleinen, niedrigen Raum, dessen Deckengebälke er mit wenig Mühe berühren könnte. Das große leere Viereck des Fensters öffnet sich gen Norden. In der milden Jahreszeit hat man die hölzernen Läden aus den Angeln gehoben und die nach Honig schmeckende Nachtluft des Nissan-Monds strömt in freien, übermütigen Wellen herein. Jirmijah stellt die Lampe auf die Fensterbrüstung, als wolle er dem Himmel ein geheimes Zeichen geben, daß er heimgekehrt sei. Sogleich versammelt sich ein Tanz von Nachtfaltern um das einzige Flämmchen dieser Stunde, das sie anbeten können. Jirmijah lehnt sich in die Nacht hinaus. In der Dunkelheit sieht er nicht weit entfernt einen Haufen zugehauener Steinquadern, die man auseinandergeworfen hat. Noch zur Zeit seiner Kindheit stand hier der Hausaltar des Herrn. Von seinem Vater und dem ganzen Geschlechte Hilkijahs wurden nach dem Brauche damals noch die täglichen Ganzopfer Zebaoth dargebracht, so lange, bis das Verbot erfolgte, dem wahren Gott an einem andern Orte zu opfern als in seinem eigenen und einzigen Hause. Der Knabe Jirmijah hatte mit Eifer selbst dabei geholfen, den ehrwürdigen Altar ohne jegliches Werkzeug mit der nackten Hand zu zerstören. Ein paar Ellen westlich von diesem Steinhaufen erhebt sich ein verfallenes Würfelgebäude, dessen Anblick die Kinder Hilkijahs, solange sie klein waren, stets mit frommem Grauen erfüllt hatte. Denn zur Vorväterzeit, lange, lange vor König Josijahs Tagen, hatte dieses Haus den Herrn selbst beherbergt, als Weihtum des Geschlechtes, als Kapelle der Besitzung. Jetzt wurde es nur dann noch aufgetan und betreten, wenn Hilkijah oder Obadjah, der älteste, wirtschaftende Sohn, mit einem Anrainer, Pächter oder Viehhändler einen Kaufbund stifteten und ihn nach allen Regeln beschworen.

Jirmijahs Auge suchte, an dem baufälligen Weihtum vorbei, das vertraute Bild der Hügelwellen und Bergketten, die sich im Mondlicht nach Norden verlieren. Es ist der liebe Fensterblick seines bisherigen Lebens, vom ersten Erwachen des Gottesnamens in ihm bis heute, der Nacht des Ehrendienstes im Tempel. Von dieser Landschaft, vom Norden her, waren alle die Bilder und Ereignisse herangeschwebt, die sich seinem Herzen eingeprägt hatten. An diesem Fenster war er, ein siebenjähriger Knabe, gestanden, als der nördliche Himmel sich plötzlich vom grimmigen Staube fremder Reitermassen verdunkelte. Das Volk der Skythen, Schittim genannt, war in die Welt des Herrn eingebrochen. Bezopfte, breitmäulige Leute mit Schlitzaugen und erbarmungslosen Wolfsgesichtern, ein Volk, das nicht einmal Abgötter besaß. Sollte sich durch sie der geweissagte Gerichtstag erfüllen, der jetzt und immer wie ein drohendes Wetter über Jehuda hing? Man wußte es nicht. Mit schreckgeweiteten Augen hatte ihn die Mutter vom Fenster fortgerissen. Hals über Kopf war Hilkijahs ganzes Haus hinab in die feste Stadt geflohen, sich zu verbergen. Doch der zögernde Zebaoth hatte nur gewarnt und gedroht und mit den Bildern des Endes gespielt. Die Wolken der Reiterstürme waren südwärts verbraust, wie sie gekommen. Brandschatzung und Mord lagen hinter ihnen. Der Herr aber hatte das Haus seines Dieners verschont.

Jirmijahs schwache Augen brennen übernächtig. Vor Sonnenaufgang schon hatte er sich erhoben, um zum Tempel zu pilgern. Nur wenige Stunden noch fehlen zum neuen Tag. Dennoch vermag er sich vom Fensterblick seines Lebens nicht abzukehren. In der späten Mondnacht, die alles seltsam zusammenzieht, ahnt er die große Straße dort, die den Sattel emporführt. Ein feiner milchiger Nebel, ein geheimnisvoller Staub, von keinem Huf und keinem Fuhrwerk aufgewirbelt, liegt über ihr. Es ist, als ob der Reigen aller Bilder und Begebenheiten sich in diesem langsamen Mondstaube zusammendrängte, um Abschied zu nehmen von Hilkijahs jüngstem Sohne, der in seinem Fenster regungslos die Welt belauscht hat, Jahr um Jahr: immer wieder Pilgerscharen aus Manasse und Ephraim, den Stämmen des Nordens, die durch des Herrn Gericht zu Schatten geworden sind. Sie ziehen zum Tempel hinauf, den Erstlingsschnitt ihrer ermatteten Felder darzubringen. Karawanen auch in unendlicher Folge, die vielerlei Warengüter, für die kein Name noch erfunden ist, von Tyrus und Sidon, und weiter noch, von Assur und Babel, den Reichen des wandelnden Nachthimmels, ja vom fernsten Indien über Jerusalem in das Haus der Knechtschaft am Nil hinabtragen, das die Toten verewigt. Aberhundert ballenbeladene Kamele, königlich traurig, im nickenden Gleichschritt eines hinter dem anderen, Prachtkutschen fremder Fürstlichkeiten, von Läufern, Ausrufern und bunten Wundergestalten umschart. Oder die stolzen Gesandtschaften Assurs, scharf trabende Gepanzerte mit Zipfel- und Kegelhelmen. Purpurne Schabracken auf goldgezäumten Rossen, ein blitzender Gigant an der Spitze ...

Und jetzt ist es an der Zeit. Vor Müdigkeit fühlt Jirmijah seine Glieder nicht mehr. Zwischen zwei Fingern löscht er das zusammengeschrumpfte Lichtchen aus. So rasch überwältigt ihn die Erschöpfung, daß er aufs Lager fällt, ohne das abgeworfene Gewand vorher vom Boden aufzuheben. Sein Sinn ist leer. Keines der Bilder und Ereignisse dieses Tages bringt sich in flüchtige Erinnerung. Es ist ein Schlaf ohne Übergang, jäh und tief.

Doch dieser Schlaf kann kaum den zehnten Bruchteil einer Stunde gedauert haben, als er so plötzlich weicht, wie er gekommen ist, und einen völlig Erwachten zurückläßt. Dies ist ja das Unaussprechbare an dem, was sich jetzt begibt, daß Jirmijah weniger träumt als je, daß er wacht, klar und frisch wie nach mehrstündiger Ruhe, und der Wirklichkeit und Wahrheit in sich und um sich restlos mächtig ist. Er setzt sich auf und blickt in die nächtige Kammer. Was ist geschehen? Den Ausschnitt des Fensters hat etwas verdunkelt. Von draußen dringt es herein, biegt und verteilt sich nach allen Seiten, so daß es die ganze Stube erfüllt; nichts Undeutlich-Wallendes, sondern alles klar und ausgebildet bis in das letzte Blättchen. Ein dichtes Blütengezweige ist es, das üppig eindringt und, lebendig sich spaltend, wie ein Netz an den Wänden hinrankt. Als wüchse vor dem Fenster plötzlich ein Baum, dessen Äste in die Kammer greifen. Die Zweige des Mandelbaums sind's, die am frühesten wach werden im Jahr, gleich am Ende des Winters, wenn sich noch keine Knospe sonst rührt. Die Zeit der blühenden Mandeln ist jetzt zu Passah schon viele Wochen lang vorbei. Und doch, das Zweigicht des Erwachens, der Ermunterung, der Morgenfrühe, der Jugend, dringt unablässig durch das Fenster. Unzählige Knospen springen auf, weiß und rosarot, entfalten sich, fallen ab, weil andere nachdrängen. Mit Händen könnte Jirmijah die herzbewegende Blust greifen, Zweig um Zweig, Wachblüte an Blüte. Aber er regt sich nicht auf seinem Lager. Er weiß: dies ist ein Gesicht! Es ist ihm sogar nicht ganz unbekannt, dieses Gesicht der Blütenzweige, wenn es niemals auch nur ein Hundertteil solcher Deutlichkeit und Fertigkeit erreicht hat. Er hält den Atem zurück. Sein Gehör ist aufs äußerste gespannt. Die Stimme muß kommen, die Stimme, die er ja kennt, wenn auch nur als kurze, ungenaue Einflüsterung, oder als fernen, hohlen Anruf, wie von Bergen herabhallend, als täuschenden Echolaut oder als ein prickelndes Mahnen im Innern des eigenen Kopfes. Immer, wenn ein Gesicht und die Stimme ihn überfiel, ist er entflohen und hat sich mit wildem Herzklopfen versteckt. Wie einen Minderjährigen, noch nicht Mannbaren, entsetzte ihn die Furcht vor Erfüllung der Mannbarkeit. Heute aber – er weiß es –, heute hilft ihm keine Flucht mehr; denn er ist mannbar für Gott geworden.

Und die Stimme kommt genau in dem Augenblick, da er ihren Eintritt erwartet. Eine klare und sanfte Mannesstimme. Dunkelrund füllt sie die Kammer aus. Jeder Mauerritz, jede Holzscharte ist gleichzeitig und gleichmäßig voll von ihr. Doch wunderbarerweise hat die Stimme keine Stelle, von der ihre Schwingungen ausgesendet werden. Sie entsteht und verbreitet sich allenthalben auf einmal. Der ganze Raum bringt sie hervor. Es ist, als sei sie immer dagewesen, verdunkelt nur vom allgemeinen Geräusch der tätigen Welt. Nun scheint dieses Allgeräusch zurückzutreten, wodurch die Stimme hervortritt. Doch auch Jirmijah ist ein Raum. Und auch ihn erfüllt das Allgeräusch, das sich jetzt zurückzieht und die Stimme freigibt. Sie erfüllt demnach nicht nur den äußeren Raum um Jirmijah, sondern auch den innern Raum, der er selbst ist. Die Stimme spricht innen und außen zugleich. Ein doppelter Klang, der sich deckt. Und die Mannesstimme sagt sanft und klar: »Jirmejahu ...« Nach einer Weile antwortet der Gerufene schweren Atems: »Hier bin ich ...«

In dieser Antwort liegt noch ein letzter Rest von listiger Feigheit. Denn dieses »Hier bin ich« genügt nicht. Anders lautet die Formel, Gottes Stimme zu stellen und sie festzuhalten. Der Priester Eli hat sie dem Knabenpropheten Samuel anvertraut, diese Formel, und Baruchs Mund hat sie vorhin wiederholt, nicht ohne verborgene Ermächtigung. Jirmijah weiß genau, was er zu tun hat. Doch vielleicht geht es noch einmal vorüber. Es geht nicht vorüber an ihm. Wieder füllt sich der Raum, dessen auch er ein Teil ist, gleichzeitig und gleichmäßig mit der dunkelrunden Stimme, die spricht: »Jirmejahu!«

Überwunden und mit schwindender Furcht öffnet Jirmijah wie ein zaghaft Betender die Hände und sagt die Formel:

»Rede, Herr, dein Knecht hört.«

Nun umschreiten die Worte der Stimme fast körperhaft das Lager und versammeln sich am Kopfende. Denn nicht mehr gleichzeitig und gleichmäßig ist auf einmal das raunende Erlauten, sondern es scheint um Jirmijahs Haupt an Dichtigkeit zuzunehmen:

»Ich habe dich gekannt, eh ich im Leib deiner Mutter dich schuf –
Ich habe dich ausgesondert, noch ehe sie dich gebar –
Ich habe als Künder dich unter die Völker gestellt –«

Innen und außen, wie ein sich deckender Gleichklang, ertönt das dreimal unabänderliche »Ich habe«. Fremd, nicht zu fassen fremd ist die Botschaft, die es bringt. Nie hat Jirmijah in seiner verborgensten Verborgenheit geahnt, daß er zum Werkzeug eines göttlichen Vorhabens bestimmt sein könne, daß er, Hilkijahs und Abis schüchterner Sohn, ein Mensch wie viele andere, vor seiner Geburt schon so viel Zukunft zu tragen hatte. Zwar, daß irgend etwas mit jenen unfertigen Gesichten und Rufen seit seinem dreizehnten Lebensjahr gemeint und gewollt sei, das war weder für ihn noch für Baruch, den Ahnungsvollen, ein Geheimnis. Doch was bedeutet das Wort: »Ein Künder unter den Völkern?« Welche Völker? Die großen Völker? Assur, Babel, Ägypten? Und er? Wer war er? Ein Scheuer, der die Menschen fürchtete, der sich stets nach Einsamkeit sehnte, ein Untätiger, der jeglichen Streit floh. Wenn Jirmijah auch in dieser großen Stunde, gelähmt, fast ohne Atem und Puls, eingeklammert von solchem Geschehen, dasitzt, so hat sein Geist nicht die geringste Spur von Wachheit, Umsicht und Spannkraft eingebüßt. Noch sucht er nach Auswegen, nach Aufschub und Gnadenfrist. Mit vollem Wissen um die Unzulänglichkeit seiner Begründung stammelt er im quengelnden Gebetslaut von Kindern:

»Herr, Herr, ich tauge nicht ... Ich bin zu jung ...«

Wie matt ist diese Ausflucht für einen Aufgerufenen, der älter als zwanzig Jahre ist. Die ungerührte Antwort der Stimme erfolgt jetzt kaum mehr im äußeren Raume. Sie scheint sich ganz in Jirmijahs Innenraum zurückgezogen zu haben:

»Sage nicht, ich bin zu jung. Sondern gürte die Lenden und geh!«

In der kurzen Spanne Zeit zwischen seinem ersten »Rede, Herr, dein Knecht hört« und diesem Auftrag »Sondern gürte die Lenden und geh«, ist Jirmijahs Mut mit unerklärlicher Raschheit gewachsen. Eine große Sicherheit kommt über ihn, als sei er im Umgang mit der Stimme schon alt erfahren. Er gleitet vom Lager und sitzt nun am Bettrand. Das Mandelzweigicht des Erwachens weicht wie mit Neckerei ein wenig vor ihm zurück und verhüllt jetzt völlig den Ausschnitt des Fensters. Die Stimme aber weicht nicht zurück. Sie ist wie immer hier und dort, dem ausfüllenden Wasser in einem Gefäße gleich:

»Was siehst du?«

»Ich sehe erwachende Frühlingszweige.«

»Du hast recht gesehen ... Mein Wort erwacht, daß ich's vollbringe.«

Jirmijah springt auf. Zu dem Mut seiner Seele tritt eine neue, schluchzende Begeisterung, Adonai festzuhalten, ihm anzugehören für immer. Mit brustzersprengender Dankbarkeit erkennt er: dies hier ist nicht Täuschung, nicht Traum, nicht Zauberei, sondern so nah und wahr und wirklich wie er selbst. Er breitet weit die Arme aus. Da sind die Zweige mit den Wachblüten plötzlich dürr geworden und beginnen zu brennen. Im Rahmen des Fensters aber, oder besser, draußen in der nun mondlosen Nacht, zwischen Himmel und Erde, hängt ein großer Kessel an unsichtbaren Ketten. Die Flammen der Feuerung aber sind sichtbar, die ihn von unten her umlecken. Auch dieser Kessel besitzt ein unübertreffliches Dasein. Das Feuer rötet den Siededampf, der ihm entzischt. Er schwankt ein wenig an seiner unsichtbaren Aufhängevorrichtung, und zwar dergestalt, daß sein Rand sich von Norden her gegen Jirmijah neigt und, überschwappend, dicke rotkochende Patzen von Lava, Glutpech oder Schmelzeisen ringsum verspritzt. Die Stimme hat jetzt zum erstenmal einen festen Standort. Ihre Raunung ergeht dicht hinter Jirmijahs Ohr:

»Was siehst du?«

»Ich sehe einen siedenden Kessel von Mitternacht her ...«

»Du hast recht gesehen. Von Mitternacht kommt das Gericht.«

Diese Weissagungen übersteigen weit Jirmijahs Fassungskraft. Noch hat er die Gabe nicht, sie zu deuten. Wie frei und unabhängig ist doch der Herr von dem Geiste, den er aussondert, sich seiner zu bedienen. Jirmijah aber wird nicht mehr lange Kraft haben, die Begegnung zu ertragen. Schon werden seine Knie weich und wankend. Immer mehr Dampfgewölk entsendet der Kessel. Die ersten Flecken des Morgenrots streut er umher. Da erhebt sich noch einmal die Raunung des Herrn, und jetzt erst merkt der Ausgesonderte, daß die sanfte, klare Mannesstimme, dies dunkelrunde Ertönen, nicht spricht wie gewöhnliche Menschen, sondern im kühlen, singenden, im eingeteilten Tonfall der Priester:

»Ausreißen, zerbrechen, verstören, verderben sollst du – und bauen und pflanzen!«

Die beiden letzten Worte »und bauen und pflanzen« bleiben wie ein Gesang der Kinder Asaphs jubelnd schweben. Jirmijah will rufen, daß er's in Gehorsam auf sich nimmt. Er kann nicht rufen. Jeder Laut in ihm ist erstorben, jede Antwort durch das Ungeheure abgewürgt. Da trifft ihn die Berührung des Herrn.

Und der Herr reckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege mein Wort in deinen Mund. – So nackt und hölzern wird Jirmijah fortan, wenn Neugierige ihn zur Rede stellen, das Unbeschreibliche beschreiben, was jetzt an ihm geschieht. Und jedesmal werden diese Worte der Umschreibung seine Seele quälen wie Anmaßung und leerer Betrug. Gott Zebaoth hat keine Hand, die er von seinem Orte ausstreckt. Er hat eine Stimme, diese Stimme ist sein Ruach, sein Hauch, den er in den Raum um und in Jirmijah stößt wie eine Trompete. Der Hauch Zebaoths erregt den Schall. Das Erz der Trompete aber wirkt mit, ihn hervorzubringen. Ohne diesen Trichter hätte der Hauch keinen Schall. Die Stimme des Herrn braucht den Innenraum des Menschen. Hauch ist Geist. Hand ist nicht Geist. Und doch, wenn Adonai auch keine Hand besitzt, so berührt er Jirmijah dennoch mit der Hand, er berührt ihn mit wirklicher Berührung. Und diese Berührung ist ein kurzer Schlag auf den Mund. Er durchblitzt den Menschensohn mit dem Schmerz aller Schmerzen, mit der Wollust aller Wollust zugleich. Gäbe es ein Feuer, im tausendsten Teil eines Augenblicks ein Wesen von Fleisch und Blut zu Asche zu brennen: dieser Schmerz wäre der Schmerz der Berührung. Auf dieser geschaffenen Erde gibt es jeden Vergleich für Schmerz. Für die Wollust jener Berührung aber fehlt der Vergleich. Und noch eine dritte Macht liegt in dem Schlag auf den Mund: ein scharfes, eisklares Wissen, nun und allzeit ein anderer zu sein, erneuert und umgeboren durch Tötung und Wiederbelebung.

Laut schreit Jirmijah auf, ehe er zusammenstürzt.


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