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Erstes Kapitel.
Im Tempel

 

Incipit vita Hieremiae prophetae

 

Der Mann, der seine Hand an die Augen hält, um sie vor der blendenden Abendsonne zu schützen, sieht nicht ohne Verwunderung an seinem Gelenk ein breites Lederband. In dieses Band ist eine Kapsel eingenäht und die Kapsel enthält einen Pergamentstreifen mit einigen Schriftzeichen. Ein starker Segen Gottes. Eine Spanne lang hat er sich in den Anblick verloren und muß erst wieder zurückfinden in die Erinnerung seiner selbst. Noch immer schwebt ihm das Lederband mit dem Segensspruch vor Augen. Ja, seine Mutter, des Hilkijah Weib, knüpfte es am Morgen dieses Tages um sein Gelenk, ehe er aus Anathot ritt, um in den wahrhaftigen und einzigen Tempel des Herrn einzugehen. Das Segensband ist ein Erbstück aus seiner Mutter Vaterhaus von altersher. Dieser Tag aber ist ein Tag der Ehre, ein Tag, da der Herr im Tempel seiner Jugend sich freut. Wie erregt war die Mutter gewesen. Sie selbst hatte ihn geweckt. Und wohlbegründet war ihr Stolz. Aus allen Vaterhäusern der Priesterschaft, die ringsum im Lande leben, ohne im Tempel bedienstet zu sein, hat von den jüngsten Söhnen einzig ihn, Jirmijah, die Berufung getroffen. Sein Vaterhaus freilich ist eines der ältesten in Jehuda und Benjamin, reicht es doch in die heilige Gezeit bis zu Ebijathar, dem Verbannten, bis zu Eli, dem Priester von Siloh, bis zu Mose und Aaron selbst. Heute ist Jirmijah auserwählt, beim Passah-Opfer am Abend Ehrendienst zu tun oder an der Tafel des Königs aufzuwarten. Das Herz des jungen Menschen pocht laut, denn eine große Vorfreude erfüllt es. Er liebt von ganzer Seele göttliches Fest und Festgepränge, wenn die Feuer lodern, wenn die Lampen glühen, wenn Harfen, Posaunen und Pauken jubeln, wenn die Menschen sich frohlockend berühren und in der Bindung des Herrn binden.

Jirmijah wendet den Blick nach Süden. In einer letzten Blutwoge flammen die Amts- und Wohnpaläste der königlichen Residenz auf, die nur durch eine feste Mauer vom Geviert des Herrn getrennt ist. Wie stark muß die Seele des Königs sein, um diese nahe Nachbarschaft Gottes ständig zu ertragen! Auf dem Zinnengang der Mauer sieht man die Posten der Leibwache mit ihren langen Stoßlanzen langsam auf und ab schreiten. Zwischen dieser Mauer aber und dem Standort des Sinnenden drängt sich die ungeheure Menge des Festabends. Daß doch Jerusalem und des Herrn zusammengeschmolzenes Land so viele Menschen faßt. Nicht in Assur, nicht in Babel, nicht in Ägypten könnte bei den Festen der goldenen und silbernen Nichtse mehr Volk teilnehmen. So denkt in jugendlichem Stolze Jirmijah aus Anathot, der freilich von der großen Welt und ihren Hauptstädten keine eigene Erfahrung hat. Doch ist es nicht seit jeher allbekannt, daß die Baalim der Weltstädte zwar die Macht besitzen, Rausch und Taumel in das Blut der Sterblichen zu gießen, daß aber die Freude des Geistes, frei von Wein und Wollust, einzig ein Geschenk des Gottes Jakobs ist, den, trotz aller Namen, die er trägt, kein Name nennt? Zu Füßen des jungen Priestersohnes vom Lande, unterhalb der umlaufenden Stufen, stößt und keilt sich das Volk der Gottgäste. Es erfüllt den weiten äußeren Vorhof, der die erhöhte Riesenbühne des eigentlichen Heiligtums umklammert. Flackerschein durchzuckt die beginnende Dämmerung. Viele haben, dem Überschwang ihrer Herzen gehorchend, Fackeln, Lichtstöcke, bunte Lampen angezündet, die sie nun im Takte der durcheinanderschallenden Chöre schwingen, noch ehe der erste Stern am Himmel das Festeszeichen winkt. Brechen die Chöre zeitweilig ab, dann wird in dem allgemeinen Summen und Rauschen ein dumpfer vielfältiger Laut vernehmbar, der aus der Tiefe der Erde zu steigen scheint. Das ist das zusammengeballte Blöken der Schafe, das Mäen der Lämmer, die in den unterirdischen Hallen und Ställen des Tempelberges zu Zehntausenden von eigenen Priesterordnungen entgegengenommen werden. Die Opfergaben der Vaterhäuser in Stadt und Land müssen gezählt, verzeichnet, mit Kennmarken versehen sein, damit die Satzung in Reinheit obwalte, kein Opfernder benachteiligt werde und das Opfer selbst makellos auf den Altar komme. Auch die Masse der Ärmeren und Armen hat heute ihre Gaben zum Tempel gebracht. Die Stelle der Jährlinge nimmt hier das zugelassene Geflügel ein. Wer auch solches nicht leisten kann, hilft sich mit dem Gebund einer gottgefälligen Feldfrucht.

Jirmijah sieht dem Treiben zu seinen Füßen noch eine Weile lang versonnen zu. Dann aber wendet er den Kopf unruhig zur Seite. Ist er unbegleitet zum Tempel gekommen? Nein, Baruch, Nerijahs Sohn, der Sechzehnjährige, sein Landsmann, hat auch den heutigen Tag des Wartens mit ihm verbracht, wie jeden Tag. In Anathot nennen sie den Knaben Baruch »Jirmijahs Schatten«. Hat sich sein Schatten wieder einmal von ihm entfernt, um eifrig in einer der Schriftrollen zu lernen, die er von dem älteren geliehen bekam? Da aber hört Jirmijah die keuchende Stimme des Jungen hinter sich. Baruch ist vom Lauf so erregt, daß sich sein Kopftuch gelöst hat und ihm im Nacken flattert. Seine Stimme überschlägt sich: »Mein Meister bereite sich ... Sie kommen, den Namen meines Meisters auszurufen ...«

Baruch hat noch keinen neuen Atem gefaßt, als drei, wie es scheint, hervorragende Gestalten eine der Predigtkanzeln betreten, die sich in Jirmijahs Nähe über den Stufen erheben. Der eine der Männer ist als königlicher Beamter in die himmelblaue Hoffarbe der Davididen gekleidet. Die beiden andern sind ein Heroldspriester und ein Posaunenpriester. Letzterer stößt ohne Umstände in sein langes Instrument, das aus einer Mischung von Gold und Silber gegossen ist. Der Heroldspriester aber ruft mehrere Namen mit dröhnender Deutlichkeit in die Menge hinaus, nach jedem ein längeres Warteschweigen einschaltend. Der letzte Name lautet:

»Jirmejahu aus Anathot, Sohn des Hilkijah aus dem Vaterhause Ebijathars, des Hohenpriesters, aus dem Vaterhause Elis, des Priesters zu Siloh ...«

Der also Angerufene, dessen Name ehrenvoll im Dunkel des Altertums verschwebt, kreuzt die Arme über der Brust und geht mit ruhigem Schritt auf die Kanzel zu. Dort bleibt er gesenkten Hauptes stehen. Er hebt, wie es sich bejahrten und hochgestellten Persönlichkeiten gegenüber geziemt, auch dann noch das Haupt nicht, als der königliche Zeremoniär und die beiden Priester ihn in die Mitte nehmen und durch die sondernde Säulenhalle hindurch in den inneren Vorhof des Tempels führen. Während dieses kurzen Ganges hat er die würdige Belehrung des Hofbeamten entgegenzunehmen:

»Also spricht man zur Herrlichkeit des Königs: Ich bin gewürdigt, das Antlitz meines Königs zu schauen ...«

Im rötlich zuckenden Schein liegt der mächtige Innenhof vor Jirmijahs Augen. Der letzte Bodensatz des Tageslichtes vermischt sich mit dem Schimmer der Lampen und Lichte auf den für das Gottesmahl gedeckten Tischen und mit dem weithin glühenden Brandfleck des Opferaltars. Er sieht diesen nicht zum erstenmal. Und doch erschrickt er auch heute wieder vor seiner unerwarteten Größe. Wie gering nehmen sich neben dem Brandopferaltar die weißen Priester aus, die ihn in zwei- und dreifachen Ketten unaufhörlich umschreiten. Er ist mit dem heiligen Felsen, der kalkig aus der Tiefe Moriahs wächst und seine Grundfeste bildet, in kunstreicher Arbeit zur Einheit verschmolzen. Keine Stufen, sondern ein breiter Laufsteg führt zur Höhe des Altars empor. Das hat seinen guten Grund. Man würde auf den Stufen die nackten Füße und Beine der Priester sehen. Der Herr aber will, daß der Leib seines Priesters gänzlich bedeckt sei. Immer wieder löst sich aus dem umwandelnden Reigen eine Gruppe los, die mit großen Schritten den Laufsteg zum Altar emporsteigt. Sie besteht zumeist aus einem weißbärtigen Opferpriester hoher Ordnung, der von zwei Gehilfen gestützt wird, denn er trägt auf einer großen goldnen Schüssel die Weihgabe, die kein geringes Gewicht hat. Das Opfer selbst muß mit größter Sicherheit und Eile vollzogen werden, denn auf der Höhe des Laufstegs beugt sich der Weihende über ein viele Geviertellen weites, nur mit einem steinernen Rost bedecktes, rotkochendes Feuermeer, das ihn selbst als Opfer zu verschlingen droht. Nur ein Augenblick bleibt ihm, mit einer der bereitstehenden Goldschaufeln die Gabe auf den richtigen Platz zu legen und den gehörigen Segen zu sprechen. So groß ist die Gluthitze, daß die vier Erzhörner, in welche die Ecken des Altars auslaufen, nach den großen Festtagen zu Klumpen geschmolzen sind und erneuert werden müssen. Nach jeder der Opferungen, die einander ununterbrochen folgen, begibt sich die Dreipriestergruppe zum Ehernen Meer, um dort gelabt und erfrischt zu werden. Das Eherne Meer, westlich vom Altar, erreicht diesen beinahe an Breite und Höhe. Ein getriebenes Riesenbecken, eine Handbreit stark, doch mit feinem lilienförmigen Becherrand, lastet es auf dem Rücken von viermal drei überlebensgroßen Stieren, die ihre traurig dumpfen Schnauzen den Himmelsrichtungen zuwenden. Ein Werk Chirams, des herrlichen Künstlers, auf das Jirmijah stolz ist wie jeder junge Mensch, der hinreichend Belehrung in den Altertümern genossen hat. Keines Künstlers aber, sondern des Herrn eigenes Werk ist es, daß eine Quelle im trockenen Karstboden des heiligen Berges gerade unter dem Ehernen Meere entspringt, die durch weise Vorrichtungen in das Becken gepreßt wird. Damit ist nach göttlicher Vorschrift »lebendiges Wasser« zur Stelle, nicht die tote Flüssigkeit der Zisternen, aus der man erst Kaulquappen und Egel entfernen muß, sondern eisiges Wunderwasser, klar pulsendes Blut der Erde, das die erschöpften Seelen der Priester immer wieder neu belebt.

Gegenüber dem Altar hat man in geziemender Entfernung die königliche Tafel aufgeschlagen. Sie besteht aus einem langen Tisch für die Prinzen und den Hof und aus einem erhöhten Tischchen, an dem der König und die Königin Platz nehmen werden. Alle Tische sind mit himmelblauem Linnen bedeckt. Sie tragen Schüsseln, Teller, Becher, Kannen, Leuchter, ausnahmslos von gediegenem Golde. Dieses kostbare Geschirr wird eigens für das Passah vom Tempelschatz der Königstafel überlassen. Herr des Hauses und Wirt des Festes ist Gott. Wie könnte er, den alles Unreine über jede Faßbarkeit hinaus ekelt, ein Gefäß aus menschlichen Häusern in seinem Hause dulden!? Der Tempel muß demnach auch für die Trink- und Speisegeräte der andern Gottesgäste sorgen, deren Zahl diesmal freilich nicht die Tausend überschreitet. Es ist nicht mehr wie vor Jahren, da König Josijah sein erstes Freuden- und Abendmahl des Herrn feierte. Damals hatte er mindestens dreimal zehntausend um sich versammelt, aus allen Vaterhäusern des Landes. Wenn heute der Innere Priesterhof von Tisch und Bänken erfüllt ist, welche die Königstafel umscharen, so saß und sang und aß und trank damals das ganze Volk dem Herrn zu Ehren im inneren und im äußeren Vorhof, so daß der König für die Überzahl der Feiernden noch einen Hof seiner Burg herleihen mußte. Mehr als würdig dieses größten Festes war sein Anlaß gewesen, denn der Herr hatte sich ohne eifriges Suchen finden lassen. Dort in der Vorhalle des Heiligtums, wo Jirmijah im aufspringenden Feuerschein die beiden geheimnisvollen Kupfersäulen Boaz und Jachin mit ihren Granatapfel-Häuptern erahnt, dort hatte sich der Herr diesem Geschlechte von neuem offenbart. Dies aber war also geschehen. Da sich der priesterliche Sinn nur schwer dazu entschließt, notwendige Erneuerungen am Tempel vorzunehmen, so hatte Josijah selbst den Befehl gegeben, alle im Laufe der Jahrhunderte in den heiligen Häusern entstandenen Baufälligkeiten ehestens zu beheben. Gegen den Willen und die wilde Geschwindigkeit des Königs gab es kein besonnenes Wenn und Aber des Althergebrachten. Mit derselben wilden Geschwindigkeit hatte er, der das Wesen des Herrn bitter ernst nahm, einst das Land gesäubert von den Säulen Ascheras, der Himmelskönigin, die Höhen reingefegt vom Baalsdienst, die Täler vom Tophet, dem Greuelofen, und allerorten selbst des Herrn Nebenaltäre zerschmettert. Der Ewige, den die Himmel der Himmel nicht fassen, wohnt in keinem irdischen Hause. Läßt er sich aber zu flüchtigem Aufenthalt nieder, so kann nur ein einziges Haus seine Herberge sein, da er selbst ein Einziger ist. Dieses einzige Haus aber erstrahlt hier oben auf dem Berge Moriah. Des Einzigen Dank blieb nicht aus. Während der Bauarbeiten wurde unter den vermorschten Zederntafeln der Vorhalle eine verborgene Nische aufgedeckt, in der man unter allerlei Moder eine wohlverwahrte und wohlerhaltene Schriftrolle fand. Sie enthielt die neue Offenbarung oder besser die alte Offenbarung, denn nichts Geringeres stand in ihr geschrieben als Gottes höchsteigenes Wort an Mose. Es war das längst verlorengeglaubte Buch der Lehre, die große Sammlung der Satzungen, die sich nur in verfälschter und lückenhafter Überlieferung erhalten hatten. Der Hohepriester Hilkijah aus dem Geschlechte Zaddok, der auch heute als Uralter seines Amtes waltet, war der begnadete Finder. Als Schaffan, der Schriftmeister in Jehuda, den er sogleich entbot, zu ihm trat, da zitterte die Rolle in den fassungslosen Händen des alten Mannes. Binnen dreien Tagen entzifferte, erkannte, entschied der gelehrte Schaffan, Azaljahs Sohn, die Wahrheit: Gott hatte diesem Geschlechte die verlorene Lehre wiedergeschenkt.

Alle Welt weiß, daß bei der ersten Verlesung der Rolle im Palaste der leidenschaftliche Josijah sich zu Boden warf und seine Kleider zerriß, so grausam übermannte ihn die Erkenntnis der Sünden, Verfehlungen, Übertretungen, deren er, seine Väter, Vorväter mitsamt dem ganzen Volke sich schuldig gemacht hatten. Dann aber, als die Reue linder wurde, dann jauchzte und tanzte der König im Gemache umher – denn rasch wechseln die Empfindungen der Davidsöhne –, war doch ein neuer Bund nötig und er ausersehen, diesen neuen Bund mit Gott an der Schwursäule im Tempel zu stiften. Die erste Anordnung Josijahs betraf die Einhaltung des Passah, das gemeinsame Liebesmahl mit dem Herrn, das man heute zum zehnten Male in Reinheit wieder begeht. Jirmijah billigt es sehr in seinem hochfreudigen Herzen. Gibt es eine größere Gottestat als die Befreiung aus Mizraim, dem Lande der Knechtschaft? Und gibt es einen schöneren Festesabend als den vierzehnten im Frühlingsmond Nissan, wenn die ersten Feldfrüchte reifen und die milden Himmel mit huldvoller Nachsicht die Erde umarmen?

Zweifelsgeister leben so manche in der Welt, Jirmijah weiß es. Sie zwinkern und blinzeln, wenn die Rede auf die wiedergefundene Lehre kommt. Hat Schaffan, der Schriftmeister, sich nicht hinter Mose versteckt, um die lässige Lebensart der neuen Zeit durch eine schwierigere und bittere zu ersetzen? Nichts erzürnt den Mann aus Anathot mehr als solche freche Überklugheit. Er hat sich in langen Nächten das Buch eingeprägt, dessen Abschriften von Hand zu Hand wandern. Nicht daß er Härten und Erschwerungen des Lebens herbeisehnt, seiner Art nach meidet er solche, wo er nur kann, – aber er weiß, daß Gottes Wort Gottes Wort ist und daß es keinem Menschen gelingt, dieses Wort nachzuahmen. Nur allzugut ist es ihm bekannt, daß der Herr eine Stimme hat, eine wirkliche, ertönende Stimme, in die er nach Belieben sein Wort kleidet. Es gibt sogar hundert Möglichkeiten, sich vor dieser Stimme zu verbergen, ihrer nicht zu achten, sie zu überlärmen, und Jirmijah kennt diese Möglichkeiten gar genau ...

Er starrt am Opferaltar vorbei in die schwacherhellte Vorhalle des Tempels, während er sich diesen gefährlichsten Einsichten seines Lebens nähern will. Da wird er in der Betrachtung unterbrochen und muß mit anderen Jünglingen, die zu den verschiedensten Ehrendiensten heute berufen sind, vor der Bühne der königlichen Tafel in einer Reihe Aufstellung nehmen. Er kommt neben einen wohlgekleideten jungen Mann zu stehen, der vielleicht um einige Jahre älter, sicher aber um einen Kopf höher ist als er selbst. Es ist ein schöner Kopf mit sorgfältig gekräuseltem Haar und Bart. Auf Jirmijah wirkt er sofort anziehend. Der junge Mensch bemerkt, daß ihn sein Nachbar betrachtet; er wendet ihm mit halbgeschlossenen Augen ein Antlitz zu, das ein unbeirrbares Wohlgefallen an sich selbst verrät:

»Stehe ich neben Jirmijah, Hilkijahs Sohn, aus Anathot? ... So hat man mir gesagt ...«

Jirmijah, der sich trotz seines Ehrendienstes (es gilt ja dem Vaterhaus mehr als ihm selbst) als ein Gleichgültiger unter Gleichgültigen fühlt, lächelt verlegen, da er von einem Unbekannten beim Namen genannt wird.

»Dieser bin ich«, sagt er.

»Und ich bin Chananjah, des Aschur Sohn, aus der Stadt Gibeon ... Ich merke dir an, daß dieser Name für dich keine Bedeutung hat ... Es ist wahr, mein Vater ist kein Priester und unsre Vorfahren werden nicht ausgerufen ... Dafür gehen seit alters aus meiner Vaterstadt Gibeon Künder hervor ... Das gleicht aus ... Mögest du mir freundlich sein ...«

Chananjah begleitet diesen etwas plumpen Scherz mit beifälligem Lachen, dem sich Jirmijah nicht entziehen kann. Etwas scheint den Mann aus Gibeon anzustacheln, seinem Nachbarn unerfragte Offenheit zu zeigen. Er erzählt sogar, daß sein Vater, der reichste Mann der Stadt, sich die Ehrung seines Sohnes an diesem Abend so manche Bemühung habe kosten lassen. Mit diesem Geständnis setzt sich Chananjah selbst herab, aber es scheint, daß er es nicht ohne Absicht tut. Dann wieder erklärt er eitel und dunkel, daß ihm der Sinn weder nach Priestertum noch nach Königsdienst stehe, sondern ganz anderswo hin. Darüber aber müsse er schweigen. Hingegen hat Chananjah über die Obliegenheiten des heutigen Ehrenamtes sehr genaue Erkundigungen eingezogen. Jirmijah und er hätten beide als Mundschenk zu walten und dem König jeder einen halben Becher Weines zu reichen, wenn er darnach verlange:

»Siehe die beiden Tonkrüge hier ... den einen verwaltest du, den anderen ich ... Wer von uns wird dem König den lichten und wer den dunklen Wein einschenken?«

In der fortlaufenden Darbringung des Opfers scheint eine Unterbrechung eingetreten zu sein. Die Priesterketten ziehen sich vom Altar zurück. Doch sie machen nur dem Zuge des Hohenpriesters Platz, der sich von der Ostseite her in die Mitte des Vorhofs bewegt. Hilkijah – er trägt denselben Namen wie Jirmijahs Vater – ist schon ein höchst gebrechlicher Mann, der sich in den gewichtigen Gewändern des hohenpriesterlichen Amtes nur langsam und schwankend fortbewegt. Das Schild mit den zwölf Edelsteinen der Stämme Israels klappert auf seiner eingefallenen Brust und der hohe Hut, der die vier Lettern des Gottesnamens trägt, ist ihm tief in die greisenschmale Stirn gesunken. Nur einmal im Jahr noch wird Hilkijah, der Hochberühmte, der gottgesegnete Wiederfinder der Lehre, aus seinem Hause wie aus einer Totengruft gezogen, damit er als Erzpriester das Passahopfer des Königs mit eigener Hand darbringe. In einem großen goldenen Kessel wird ihm dieses Opfer vorangetragen. Er selbst schwenkt in der zitternden Hand, die von Priestern gestützt wird, ein zierliches Räuchergefäß.

Jirmijahs kurzsichtig verkniffene Augen hängen an dem hochamtlichen Schreiten des Uralten. Er bemerkt es kaum, daß ihn sein Nachbar Chananjah mehrmals erregt anstößt. Die Blicke der Tausende haben sich plötzlich der königlichen Tafelbühne zugewandt. Aufspringende Erzsignale kommen immer näher. Jetzt knallen sie wie Peitschenhiebe über den Platz. Der erste Stern erglänzt in diesem Augenblicke rein am Firmament, das noch immer vom Lichte des Untergangs trunken ist. Unversehens hat Josijah, Amons Sohn, die Stufen der Tafelbühne erstiegen. Noch immer, obgleich er schon lange Jahre über Stadt und Land gebietet, ist sein Schritt ein Sturmschritt. Sein Hof, der zum Teil aus sehr alten Männern besteht, hat es schon längst aufgegeben, dem geschwinden König dicht auf dem Fuße zu folgen. Auch jetzt nimmt er mit einem Löwensprung den Hochsitz, den er wie eine Rednerkanzel besteigt. Das himmelblaue Mantelkleid umweht sein Ragen. Über dem Kopftuch trägt er den »kleinen Kronreif«, denn in Gottes Haus die Davidskrone zu tragen, wäre ein sträflicher Verstoß gegen die Demut der Kreatur. Doch mehr als der Kronreif funkelt des Königs frisches, von einem kurzen Bart umrahmtes Antlitz. Von Lebensfülle funkelt es, von Körperbehagen, Machtgefühl und dem Bewußtsein, des Allmächtigen Zufriedenheit rechtens erworben zu haben. Die Jünglinge des Ehrendienstes, die Hofbeamten, die zugeordneten Priester und was sonst noch zur Aufwartung bereitsteht, haben sich zu Boden geworfen. Alle murmeln die geziemende Formel halblaut durcheinander: »Ich bin gewürdigt, das Antlitz meines Königs zu schauen.« Nur Jirmijah hat über dem Anblick des königlichen Wirbelwindes das Gebührende vergessen und ist aufrecht geblieben. Erst Chananjah aus Gibeon muß ihn am Gewandsaum niederziehen.

Stille herrscht auf dem weiten Hof. Die Gottesgäste an den rings aufgeschlagenen Tischen – jeder einzelne ein Glied der vornehmsten Vaterhäuser des Landes – haben sich erhoben. Sie harren auf ein Wort des Königs. Josijah aber spricht nicht nur ein Wort, sondern zwei, und es sind zwei wahre Losungsworte, die aus seinem Munde über den Platz schallen:

»Gottes Freude!!«

Es klingt wie ein herrischer Kriegsbefehl an die Feiernden, alle Lust und Fröhlichkeit, die sich die Seele im Drangsal des Lebens bewahrt hat, eifrig zusammenzuraffen und sie an diesem Abend als das Opfer des Opfers darzubringen. Denn aus Freude hat im Anbeginn der Herr Himmel und Erde geschaffen. Sein Hauch, der über den Wassern wehte, das Licht, zu dem er sprach »es werde« und es ward, sie sind die geschaffenen Zeichen von Gottes Freude. Des Königs blitzendes Gesicht scheint zu sagen: Freude ist Gottes Kraft. Er gibt sie uns, damit wir sie ihm wiedergeben am Passah der Befreiung und Erlösung aus Knechtschaft. Jirmijah hat Tränen in den Augen. Über den Vorhof aber donnert der tausendstimmige Ruf: »Gottes Freude!«

Zugleich füllt sich die Vorhalle des Heiligen zwischen den Säulen Boaz und Jachin mit den Kindern Asaphs. Es sind die Sänger und Spielleute, zweihundertachtundachtzig an Zahl, wie sie durch die Regel König Davids und seiner Musikmeister Asaph und Heman und Jedithun festgelegt ist für alle Zeit. In drei Chören mit vierundzwanzig Unterordnungen gegliedert nehmen sie ihre Plätze ein. Der untere Chor auf den Stufen der Vorhalle umfaßt die tiefen, rauhen Stimmen, die zu Kriegsgesängen und wilden Gottespreisungen taugen. Der mittlere Chor besteht aus den Spielleuten mit ihren reichgeformten Harfen, Psaltern, Giggith-Lauten, mit Flöten, Schalmeien, Lärmtrompeten und langrohrigen Posaunen, nicht zu vergessen die mächtigen Kesselpauken, die bei den trunkenen Steigerungen des Lobgesanges das Zeitmaß donnernd voranhetzen. Die Blüte der Stimmen aber drängt sich im »höheren Chor« zusammen. Zu dieser Gemeinschaft werden die Sänger schon in früher Kindheit ausgesondert, der schwierigsten Schulung, den peinlichsten Prüfungen unterworfen und auch dann nur in seltenen Fällen eingereiht. Hier gibt es nur wirkliche Ton- und Sangesmeister, die all die hundertfachen Arten, Maße, Weisen, Stufen, Schritte, Zierate, Anfänge und Schlußfälle der Kunst, wie sie Asaph ersonnen hat, auf das genaueste kennen, einhalten, ausüben und sogar imstande sind – wenn die Eingebung des Herrn und das Urteil der Gestrengen es zulassen – zu dem altheiligen Besitzstand an Liedern ein neues hinzuzufügen. Doch ein sehr altes Lied ist es jetzt, ein heiliges Lied, von David gedichtet, das mit der ganzen Übermacht des geordneten Klanges den ungeordneten Lärm der Gottesgäste niederwirft.

Schon während der ersten Strophen des Grußpsalms hat sich der Hof um den König versammelt und an der Tafel niedergelassen. Der wissende Chananjah kennt alle Namen und verrät sie dem unwissenden Jirmijah. Dort, der sehr alte Mann, der den Sitz zwischen den beiden Königssöhnen einnimmt, das ist Schaffan in Person, der große Schriftmeister und Lehrer des Volkes. Höchste Ehrfurcht wird ihm gezollt. Obgleich er keinem priesterlichen oder königlichen Amte vorsteht, so übertrifft doch sein Platz an Würde den des Staatskanzlers, den des obersten Befehlshabers der Leibwache, und selbst der erste »Hüter der Schwelle«, der den Tempeldienst verwaltet, muß sich mit einem geringeren Sitz begnügen. Schaffan aber scheint sich der Ehre seines langen ruhmgekrönten Lebens nicht recht erfreuen zu dürfen. Sein eingeschrumpftes Gesichtchen mit den roten wimperlosen Augen brütet trübe vor sich hin, als mache sich der Schriftmeister heimlich Vorwürfe, durch Erkennung und Entzifferung des wiedergefundenen Gesetzes eine zweifelhafte Zukunft eingeleitet zu haben. Denn es ist schlimmer, von einer Satzung abzufallen, deren man kundig ist, als sie in Unwissenheit zu übertreten. Schaffans Sohn Ahikam, der Geheimschreiber des Königs, hat sich an der Tafel nicht niedergelassen. Die Augen dieses hochgewachsenen, etwas steifen Menschen wandern aufmerksam zwischen den beiden Übermächten seines Lebens hin und her, zwischen dem großen Vater und dem großen König. Man sieht ihm an, daß er aufopferungsvoll bereit ist, diese eigenwilligen Übermächte in Einklang zu bringen.

Josijah aber kümmert sich um sein Gefolge nicht. Er hat Hamutal an seine Seite gezogen, die Frau, die er zur Königin gemacht hat. Sie ist nicht die Mutter seines ältesten Sohnes Eljakim, der, auf dem ihm gebührenden Sitz höhnisch hingelagert, sich Mühe gibt, allen Anwesenden einschließlich seines Vaters die deutlichste Mißbilligung kundzutun. Der Kronprinz hat für diese Haltung seine Gründe, und Chananjah kennt diese Gründe. Der Mutter des ältesten Sohnes gebührt der Rang der Königin, und nur sie als einziges Weib hat Zutritt in den inneren Hof. Josijah aber setzt sich über dieses Herkommen hinweg. Er liebt Hamutal und teilt einzig mit ihr sein Lager seit vielen Jahren. Welche andre Frau dürfte Königin sein? Hamutal hat dem Gatten zwei Söhne geboren. Doch Joachas, der Siebzehnjährige, scheint leider nur langsam mannhaft und scharfsinnig werden zu wollen. Schaffan, der den Unterricht des Prinzen überwacht, beklagt sich bitter darüber, daß die helle, gute Seele des Joachas eine dunkle Vernunft besitze, während der helle Verstand Eljakims an eine dunkle Seele gebunden sei. Die Wesenheiten der Prinzen entschleiern sich durch ihr Gehaben. Beide sprechen kein Wort. Joachas beugt sich mit einem kindisch verlorenen Lächeln über den Tisch. Seine Finger spielen und modeln ruhelos an einem unsichtbaren Gegenstand. Eljakim sitzt gelangweilt zurückgelehnt. Mitunter reißt er aus dem Blumenkranz, den er nach fremder Sitte um die Stirn trägt, eine Blüte ab, zerzupft sie, reibt die Blätter zwischen den Händen, um dann mit geschlossenen Lidern den Duft einzusaugen.

Josijah und Hamutal aber haben nur Augen für ihr jüngstes Kind, den kleinen Mathanjah, von dem sie sich auch nicht für eine einzige Stunde trennen. Dies ist der Grund, warum der fünfjährige Mathanjah anstatt seines Kinderschlafes das Gottesfest genießen darf. Und er genießt es, das merkt man seiner Jubelstimme an, deren durchdringendem Kreischen kein königlicher und kein elterlicher Verweis Einhalt gebietet. Das Kind spielt und balgt sich in dem freien Raum unterhalb der Tafelbühne mit einem gleichaltrigen Spielgefährten, der Ebedmelech gerufen wird, ein aus Äthiopien nach Jerusalem verschlagener Mohrenknabe und ein wunderlich anmutiger Tänzer ist. Jeder Schritt des kleinen Kuschiten wird zum Tanzschritt. Und wenn der wilde Davidsohn ihn gerade nicht mit irgendeinem Spielansinnen bedrängt, so dreht und dreht sich Ebedmelech selbstversunken in der ihm eingefleischten Tanzanbetung irgendeiner schwarzen Gottheit mitten im Vorhof des Herrn.

Trotz des siebzehnjährigen Joachas ist Hamutal eine schöne Frau mit jugendlichen Gliedern und gelassen runden Bewegungen. Aus ihren großen Kuhaugen strahlt der sinnige Geist der Eintracht und Schlichtung. Man sieht es der Königin an, daß sie die Schönheit ihres Körpers kennt und deren Erhaltung Zeit und verständige Mühe opfert. Sie trägt die kunstreiche Haartracht der Ägypterinnen, die Stirne völlig frei. Ihr Untergewand ist weiß, ihr Obergewand nicht, wie es die Hoffarbe will, himmelblau, sondern weinrot. Zu Ehren des Herrn hat sie den großen Schmuck angelegt, staunenswerte Ohrgehänge, Halsketten, mehrere übereinander, Armspangen, Reifen, Ringe, goldne Schlangen um die Fußgelenke. Ihre Finger- und Zehennägel sind mit goldenem Lack überzogen. Wie liebt es Josijah doch, Hamutal reich geschmückt zu sehen. Seine rötliche Hand ruht auf ihrer lässig mattweißen. Sie nickt lächelnd zu den leisen Worten, die er ihr anvertraut. Dabei suchen ihre Augen immer wieder den tollenden Mathanjah und eifern die beiden Wartesklaven an, in der Obsorge nicht müde zu werden.

Längst hat das Ostermahl begonnen. In Reihen eilen die auftragenden Leviten und Priester unterster Ordnung mit Schüsseln und Krügen zwischen den Tischen der Speisenden umher. Mit peinlichster Sorgfalt und Einhaltung des Gebotenen hat die Priesterschaft, den einzelnen Ämtern gemäß, das große Freudenmahl zugerichtet, sie hat geschlachtet, entblutet, zerlegt, die menschliche Speise geschieden von dem Anteil des Herrn und der Hebe seiner Diener. Doch nicht genug damit, in der umfassenden Regelung der Dinge, die den Scheitel des Himmels mit der Mitte der Erde verknüpft, durfte nichts vergessen und unbedacht bleiben. Auch die geopferten Erstlinge des Feldes, Gemüse, Früchte, Gewürze, die wohlschmeckenden Zutaten des Mahles, mußten auf ihre Zulässigkeit beschaut und geprüft werden. Steht nicht die ganze Schöpfung des Herrn unter der Scheidung des Guten vom Bösen, des Reinen vom Unreinen, des Verbotenen vom Erlaubten? Durch diese Scheidung gewinnt der hin und her taumelnde Mensch Halt und Richtung. Mehrere Tempelämter sind eingesetzt, über diese Scheidung, die das ganze All im Größten und Kleinsten betrifft, mit heiligem Skrupel zu wachen. Wild wuchert die Schöpfung im gesegneten Nissanmond. Doch nicht jede Pflanze, nicht jede Frucht ist gleich vor dem Herrn, so wie durch ein unbegreifliches Vor-Urteil nicht jeder Mensch vor ihm gleich ist. Raute, Fenchel, Bergkoriander, Wiesensenf und was sonst an Genießbarem frei wächst, unterscheidet sich in seiner Gottbezogenheit von allen gezüchteten Gemüsen. Keine Frühgurke, kein Kürbis gleicht dem andern in seinem Opferwert, und jede einzelne Olive, so winzig sie auch ist, muß vorerst auf ihre Würdigkeit geprüft werden. Denn Adonai Elohim ist der ausschließende Herr des Lebendigen, der Gott der Jugendfrische seines Alls. Das geringste Gebrechen, die leiseste Fäule, der nichtigste Wurm im Fruchtfleisch gilt ihm als Bote des Todes. Und obgleich er selbst den Tod als höchste Macht über seine Welt gesetzt hat, offenbart er ihn als das schlechthin Unreine, Verunreinigende und zu Verwerfende.

Man sieht den von Gast zu Gast eilenden Dienstpriestern die Erregung der Stunde und die Mühe der Zurüstungen an, die sie geleistet haben. Wäre ihre Zahl nicht so groß, die Einteilung nicht so genau, so mancher Jüngere und Ungeschickte verlöre den Kopf.

Jirmijah steht neben Chananjah hinter dem Rücken des Königs. Er kann seine kurzsichtigen Augen über das verschwimmende Treiben des großen Freudenmahles schweifen lassen, denn bisher wurde seiner Aufwartung noch nicht bedurft. Er und sein Nachbar halten jeder einen Goldbecher in der linken und den entsiegelten Tonkrug in der rechten Hand. Es ist ein eigens gekelterter Königstrank. Chananjahs Krug enthält einen goldklaren, Jirmijahs Krug einen blutroten Wein.

Vor dem König liegt ein Stoß ungesäuerter Gerstenfladen. Jetzt nimmt er das oberste Brot und bricht es in vier Stücke. Das erste reicht er Hamutal, das zweite Schaffan, das dritte dem Befehlshaber seiner Leibwache, der Maassjah heißt. Das letzte Stücklein des Brotes läßt er dem Kinde Mathanjah überbringen, das es sofort seinem braunen Spielgenossen, dem tanzfreudigen Ebedmelech, zwischen die Zähne schiebt. Josijah selbst hat eine sehr hastige Art zu essen. Weiß er, daß eine uralte Überlieferung empfiehlt, an diesem Abend rasch der Speise zu genießen? Denn in Eile aßen die Kinder Israels, ehe sie unter des Herrn wundertätiger Führung aufbrachen, das Schilfmeer zu durchschreiten. Nein, des Königs Hastigkeit rührt nicht von solcher Erinnerung her. Alles an ihm ist Ungeduld, vielleicht Tatendrang, vielleicht heimliche Unruhe. Rasch wechseln die Empfindungen der Davidsöhne. Auch Josijahs Gottfreude ist einer plötzlichen Fahrigkeit gewichen. Eine ganze Weile schon pocht er mit seinen Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Dann ruft er zu Schaffan hinunter:

»Ist alles geschehen, was die Lehre gebietet? ... Nichts sei zwischen dem Herrn und mir ... Worauf wartet man ... Man lese doch ...«

Ahikam, der Geheimschreiber, scheint diesen Befehl schon lange erwartet zu haben, denn er reicht die vorbereitete Rolle sogleich seinem Vater. Der Lehrer des Volkes entfaltet sie bedachtsam, ohne sich der Ungeduld des Königs zu unterwerfen, und beginnt mit leiser und einschläfernder Stimme:

»Beobachte den Monat der Ährenreife, damit du opferst das Passah dem Herrn, deinem Gott, denn im Monate der Ährenreife hat dich herausgeführt der Herr, dein Gott, aus Ägyptenland, nachts ...«

»Nicht das ...« Der König unterbricht Schaffan heftig ... »Das brauche ich nicht ... Wissen aber will ich, ob alles befolgt und gehalten wird in der Stadt nach des Herrn Weisung? ... Ißt man bittere Kräuter? ... Wurden die Pfosten und Oberschwellen mit der Ysopstaude bestrichen? ...«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wendet sich Josijah plötzlich um und weist, obgleich schon mehrere Becher vor ihm stehen, auf Jirmijahs Becher hin. Dieser füllt ihn, wie ihm bedeutet wurde, zur Hälfte mit dem dunkelroten Wein und reicht ihn dem König dar. Josijah blickt dem Priestersohn aus Anathot eine Weile lang von fern in das Gesicht. Dann trinkt er den kredenzten Wein. Gleich darauf wird er wieder ungeduldig:

»Was gibt es? ... Möge man doch lesen ... Nicht Schaffan ... Schaffans Stimme ist müde ... Ein andrer lese ... Die Satzung vom Kriege will ich hören ... Dieser hier lese ... Wer ist es? ...«

Der Zeremonienmeister verkündet Jirmijahs Namen und Herkunft. Der steht plötzlich, hervorgehoben aus dem ganzen Gefolge, neben dem alten Schriftmeister und hält die Griffe der beiden Stäbe in der Hand, auf welche das Buch der wiedergefundenen Lehre aufgerollt ist. Hätte man ihm gestern gesagt, er werde seine Stimme im Angesichte des Königs erheben müssen, er wäre vermutlich dem Ehrendienste ferngeblieben. Jirmijah ist von scheuer und menschenfliehender Art. Er liebt es nicht, zu leuchten und sich hören zu lassen. Jetzt aber, da des Königs Befehl so unerwartet ihn trifft, jetzt erfüllt ihn nicht die geringste Schüchternheit, als müsse es so sein und habe seinen Sinn, daß es so ist. Schaffans dürrer Zeigefinger bezeichnet ihm die Stelle. Er hebt die Rolle nahe ans Gesicht. Staunend hört er seine eigene Stimme, die mit den gemessen wandernden Zeilen Gottes Wort dem Könige verkündet. Er bemerkt irgendeine fremde Zumischung oder Schwebung in seiner Stimme, der er selbst mit geneigtem Haupte lauscht:

»Wenn du zum Kriege ausziehst gegen deinen Feind, und du siehst Roß und Wagen und zahlreicher Volk als du selbst, dann fürchte dich nicht ...«

»Dann fürchte dich nicht ...« wiederholt der König beifällig, als freue er sich, daß Gottes Wort mit seinem eigenen Herzen so erwünscht übereinstimme. Ruhig fährt Jirmijah in der Lesung fort. Von Zeile zu Zeile dünkt ihn die fremde Zumischung in seiner Stimme stärker zu werden:

– »Wer ein neues Haus gebaut und es noch nicht eingeweiht, der gehe und kehre zurück in sein Haus, daß er nicht sterbe im Felde und ein andrer weiht es ein.

– Und wer einen Weinberg gepflanzt und seiner Frucht noch nicht genossen, der kehre zurück in sein Haus, daß er nicht sterbe im Felde und ein andrer Mann genießt sie.

– Und wer einer Frau sich verlobt und hat sie nicht heimgeführt, der kehre zurück in sein Haus, daß er nicht sterbe im Felde und ein andrer Mann freit sie.

– Dann aber sollen die Vögte zum Heere noch also sprechen: Wer furchtsam und zaghaften Herzens ist, der gehe und kehre zurück in sein Haus, damit nicht feige werde das Herz seiner Brüder gleich seinem Herzen ... Und dann erst, wenn die Vögte diese Rede gehalten zum Heer, erst dann sollen die Führer die Scharen mustern und an die Spitze treten.«

Der König hat sich weit vorgebeugt und murmelt, Jirmijah gespannt anstarrend, die Sätze der Lehre mit, die für einen König und Feldherrn eine schier unerträgliche Last bedeuten müssen. Was bewegt sein schönes Gesicht, das jetzt nicht mehr funkelt, sondern wie von geheimsten Erwägungen verwölkt ist? Warum hat er die Lesung gerade dieses Teiles gefordert? Er scheint der Satzungen noch immer nicht satt zu sein, die mild für das Volk, streng für den Herrscher klingen:

»Lies weiter ... du aus Anathot ... Wie heißest du? ... Das mit der belagerten Stadt will ich hören ... Nichts sei zwischen dem Herrn und mir ...«

Jirmijah senkt die Augen wieder auf die Rolle. Tiefes Schweigen. Mancher wundert sich über die unabweisliche Macht, die des jungen Menschen Stimme so rasch gewonnen hat:

»Wenn du dich einer Stadt näherst, sie zu belagern, so biete ihr vorerst den Frieden an ...«

»Und belagerst du sie«, ruft der König laut und voll Freude über sein gutes Gedächtnis, »und greifst du sie an, so vernichte ihre Fruchtbäume nicht und lege die Axt nicht an sie ... So heißt es ...«

Josijah macht ein kurzes Zeichen, daß die Lesung beendet sei. Dann wendet er sich, nachsinnenden Auges, an Jirmijah:

»Du hast gut gelesen ... Du aus Anathot ... Stark und schön wird deine Stimme, wenn sie Gottes Wort spricht ... Ich möchte sie wieder hören ...«

Dieses große Lob des Königs erregt, wie es so üblich ist, das gefällige Mit-Lob der Hofleute und Fürsten an der Tafel. Selbst Schaffan nickt zufrieden, und Ahikam, sein ernster Sohn, lächelt erleichtert, als habe sich eine drohende Verwicklung glücklich gelöst. Nur einer ist gelb vor Wut und kann nicht an sich halten: Eljakim. Der älteste Königssohn wirft die Rosenknospe, die er eben zerrupfen wollte, mit einer Bewegung des Ekels von sich. Sein mageres Gesicht, aus dem durch den sprossenden Bart ein wulstiger Mund hervorsticht, verzerrt sich. Ehe der König noch das allgemeine Gespräch freigegeben hat, fährt er in die Höhe und ruft:

»Die Herrlichkeit des Königs verzeihe seinem Knechte dieses Wort ... Doch gar nicht schön finde ich die Stimme des Mannes aus Anathot ... Und nie, nie wieder möchte ich sie hören ...«

Die ganze Runde erstarrt über die Frechheit des ältesten Prinzen, der es gewagt hat, dem Lobspruch des Königs sein eigenes Mißurteil entgegenzusetzen. Für Schaffans und Ahikams Ohren ist es klar, daß sich hinter dem dreisten Ausbruch mehr verbirgt als einfacher Widerspruch. Soll man es zu denken wagen, daß der künftige König, indem er den Vorleser tadelt, das Vorgelesene, Gottes Lehre, treffen will? Niemand rührt sich. Selbst die beiden Kinder spüren, daß etwas höchst Gefährliches vorgefallen ist. Mathanjah unterbricht sein Spiel, Ebedmelech seinen Tanz. Furchtsam suchen verdeckte Blicke das Antlitz Josijahs, das sich dunkel verfärbt hat. Sie sehen, wie die Faust des Königs jenen Becher, den ihm Jirmijah gereicht hat, immer fester umkrampft hält. Im nächsten Augenblick wird er ihn gegen den Sohn schleudern, ungeachtet der Entweihung des Gottesmahles. Da legt sich eine mattweiße fleischige Frauenhand auf Josijahs bräunliche Faust, die sich langsam wieder entspannt und den Becher losläßt. Um der reinen Freude des Passah willen, dessen Erneuerung sein Werk ist, ringt der König sich einige heisere Silben ab:

»Mein ältester Sohn hat Freiheit, sein Wort zu sagen ...«

Zum Glück brechen die Kinder Asaphs in ein neues Chorlied aus, das mit reichem Paukendonner genährt wird. Alle Tafelrunden des Vorhofs fallen ein. Niemand könnte mehr seine eigene Stimme hören. Jirmijah aber, der plötzlich zum Mittler der Gotteslehre und zum Grund eines Königsstreites geworden ist, steht ruhig da, in sich selbst verloren, unbeteiligt. Der König winkt ihn zu sich. Er fängt einen sonderbar saugenden Blick Chananjahs auf, den er nicht vergißt. Josijah hat eine Goldspange von seinem Arm gelöst, die er dem Priestersohn hinreicht:

»Nimm ... du, aus Anathot ...« sagt er rauh und sonst kein Wort mehr.

   

Mit seinem Ehrenamt an der königlichen Tafel war Jirmijahs Dienst an diesem Abend noch nicht beendet. Das Lob des Königs, der Haßausbruch des ältesten Prinzen hatten dem jungen Menschen in den Augen der Großen eine gewisse Wichtigkeit verliehen. So kam es, daß wahrscheinlich auf Schaffans persönlichen Antrag ihm noch eine zweite Ehre, »die Ehre der Zeugenschaft«, zuteil wurde. Da aber diese Zeugenschaft von zwei Männern vom Lande ausgeübt werden mußte, so fiel die Wahl zum zweiten Zeugen auf Jirmijahs Nachbarn, Chananjah, den Sohn des reichen Mannes, der, nur weil er in der Nähe stand, von dieser unerwarteten Auszeichnung mitbetroffen wurde.

Folgendermaßen aber war es mit der Zeugenschaft bestellt. Nach den großen Festen, insbesondere nach dem langgedehnten Passah-Schmaus, konnten die Tore des Tempels ziemlich spät erst geschlossen werden, zumeist knapp vor der zweiten Nachtwache, wenn das Sternenheer der Jahreszeit die Mitte des Himmels schon überschritten hatte. Bevor aber tiefe Ruhe eintrat und die schweigsamen Priesterwachen ihre Posten bezogen, mußte jede Spur des Opfermahles getilgt sein. Nichts Menschliches, nicht die geringste Unordnung, nicht der winzigste Makel durfte die Bereitschaft des Tempels trüben, seinen Herrn zu empfangen. Denn jetzt nahten die gefährlichsten Stunden des Weltalls, die Stunden der natürlichen Ohnmacht, die Zeit des Schlafes, da der Opferdienst und das Opfergebet unterbrochen war, und die flehend emporgestreckte Kinderhand des Volkes den Schöpfer nicht an seine Vaterschaft verpflichtend gemahnte. Jetzt beteten nur Einzelne, Unglückliche, Geschlagene in ihren Kammern. Aber diese Stoßgebete waren verzweifelte Irrlichter, die, mochten sie auch den wahren Namen anrufen, ebensogut Mardukh und Ptah und Tammuz und Kamosch und Milkom und Aschera hätten meinen können. Nur wenig konnte durch solche Notgebete, die einzig auf sich selbst gerichtet sind, abgewendet werden. Übertraf in Adonais Natur das Erbarmen auch tausendmal den Zorn, so war und blieb er doch ein unausrechenbarer Gott. Seine Schöpfung, in unzähligen Ordnungen durchgebildet und aufrecht erhalten, von Sonn' und Sternen, über Hermons Schneegipfel herab bis zu jedem Grashalm der Steppe, sie war kein dauerndes Vermächtnis an den Menschen, auf das er hätte geruhsam pochen können, sie war nur auf Zeit geborgt, eine Leihgabe, abberufbar in jeder Stunde. Wie der redliche Hausvater allzeit bereit ist, vom Tode überrascht zu werden, und demgemäß sein Haus stets bestellt hat, so mußte die Schöpfung und Menschheit allzeit bereit sein, vom Gerichte überrascht zu werden. Welche Stunden aber hätten günstiger für diese überraschende letzte Kündigung sein können als die Stunden des Tiefschlafs und des unterbrochenen Opfers, da kein menschlicher Arm den göttlichen flehend zurückhält? Sorgfältig mußte in diesen Stunden das Haus bestellt und geordnet sein. Des Ewigen Sinn erfüllt sich durch Ordnung, und einzig durch Ordnung wird der Mensch seiner Ebenbildlichkeit gerecht.

Zum Zwecke dieser Ordnung war die behördliche Einrichtung der Zeugenschaft getroffen, an der jetzt Jirmijah und Chananjah, als die Vertreter des flachen Landes, teilnahmen. Sie versammelten sich zu der hochmögenden Körperschaft, die aus insgesamt zwölf Männern bestand, in dem nunmehr menschenleeren Vorhof vor dem Brandopferaltar. Dieser Körperschaft gehörte der Sagan, der rangälteste Gehilfe des Hohenpriesters, mit fünf Amtsbrüdern an, der erste Hüter der Schwelle, drei Abgesandte des Königs und die beiden Zeugen. Aufgabe dieser zwölf Männer war es, einen Rundgang durch die wichtigsten Räume des Heiligtums zu tun und festzustellen, ob nirgends die gottgesetzte Ordnung verletzt sei, und ob kein Frevler oder Lästerer es gewagt habe, das Bild, das Figürchen, das Geheimzeichen eines Abgottes, sei es in menschlicher oder tierischer Gestalt, sei es als Sonnenrad, als Mondscheibe, als Sternenkuchen, in das Haus des All-Einzigen zu paschen und an verborgener Stätte frech aufzustellen. Zur Urkunde der fleckenlos vorgefundenen Reinheit hatten die Zwölf ihre Namen in eine Wachstafel einzuritzen. Der Rundgang dieser Körperschaft erstreckte sich nur auf die Hauptgebäude des eigentlichen Heiligtums, denn alle Räumlichkeiten des gesamten Tempels auch nur flüchtig zu durchschreiten, das hätte nicht eine Nachtstunde, sondern eine ganze Nacht erfordert. Das heilige Gebäude bestand aus drei Teilen, dem seinerseits dreiteiligen Kern- und Mittelbau sowie den beiden angelehnten Seitenflügeln, die sich zu der Höhe von drei Stockwerken erhoben. Jedes dieser Stockwerke enthielt je dreiunddreißig Kammern, würfelförmige Gemächer, deren aus Oleasterholz kunstreich geschnitzte Türen genau in der Mittelachse lagen, so daß man eine weite Raumflucht vor Augen hatte. Hier begann der Gang der Besichtigung. Raschen Fußes, der Sagan voraus, durchschritten die zwölf Männer Kammer nach Kammer. In jeder stand ein diensthabender Levite und erstattete Meldung über Art und Vollzahl der hier aufbewahrten Gerätschaften des Tempelschatzes. Die Mauern dieser Baulichkeit waren mehrere Ellen dick, so daß man in sie wandschrankartige Hohlräume leicht hatte einlassen können, in welchen die goldene Pracht übereinandergestapelt stand. In unabsehbarer Menge häuften sich hier die Schaufeln, Heizzangen, Feuerschürer, die Platten, Schüsseln, Kessel, die Spreng-, Spül- und Räuchergefäße, alles und jedes vom schwersten Golde, während die für menschlichen Gebrauch bestimmten Kannen, Krüge, Becher, Teller, Bestecke, zum Teil auch aus Silber bestanden. Unedles Erz aber oder gar gebrannter Ton und Steingut gelangte im Tempel nicht zur Verwendung. Träumerisch-schweigsam ging Jirmijah neben seinem staunenden Mitzeugen aus Gibeon als letzter durch die goldüberladenen Räume. Die Anhäufung des gewaltigen Schatzes, von dem hier nur ein kleiner, gerade im Gebrauch befindlicher Teil ausgestellt war, erregte in seinem Herzen keinerlei Stolz oder Bewunderung. Sein Sinn war einzig und allein mit erschaudernder Ehrfurcht auf den Augenblick gerichtet, da er vor dem letzten, innersten ausgesonderten Raum stehen würde, wo der Herr, der in der Welt nicht wohnt, seine einzige Wohnstatt in der Welt hat. Kein Mann des Volkes, nicht einmal der König hatte Zutritt zu diesem geheimnisvollsten aller irdischen Räume. Selbst der Hohepriester Hilkijah durfte nur einmal im Jahre mit all seinem Mute, bebend, diese Schwelle überschreiten und den Ort betreten, den die Finsternis vor dem ersten Schöpfungstage erfüllt. Mitteninne dieser Finsternis erhob sich auf ihren Tragstangen die Lade Gottes mit den beiden auf ihr knienden Cherubim, deren riesenhaft gespreitete Schwingen von einer Wand zur anderen reichten. In der Lade aber ruhten die beiden rauhen kantigen Steintafeln, die Mose aus dem Fels des Sinai gebrochen hatte. Wer ihnen allzu nahe kam, der starb durch ihre Kraft. Denn sie waren die einzige Welt-Berührung des Ewig-Außerweltlichen, die einzige Verkörperung des Körperlosen in der größten Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott: dem Wort.

Jirmijah hatte keine Augen für die Schätze in den unzähligen Kammern der Flügelgebäude. Er beachtete nicht die Priestergewänder, die in langen Reihen hingen, nicht die Leibröcke aus doppeltem Byssusgewebe, aus einem Stück verfertigt, ohne Naht, nicht die schönen, wie Schlangenhaut dünnen, mit purpurnen und hyazinthnen Blumen bestickten Weihebänder, nicht die Hochhüte, Hauben, Stirnbinden, golddurchwirkt und reichgeziert. Er beachtete nicht die herrlichen Gürtungen, nicht die Säume und Borten mit ihren goldnen Glöckchen und silbernen Granatäpfelchen, die den Schritt des höchsten Gottesdieners dem Volke ankünden sollten. Gleichgültig ging er an den vierfarbigen edelgewebten Schultermänteln vorüber, die Ephod heißen, ohne daß der dunkle Ernst der vielen Geschlechterzeiten zu ihm sprach, die sie überdauert hatten. Wie Traumwirrnis zogen an ihm vorbei all die hundertartig geformten Leuchter, Lampen, Lichtbecher, all die kunstreichen Räucherfässer und -fäßchen, die Gewürzbüchsen und Salbengefäße, die Schnabelkannen mit Opferöl, die Kristallflaschen mit Salböl, die getriebenen, von Frucht- und Pflanzenbildern belebten Fingerschalen und Reinigungsbecken, die juwelengeschmückten Weihgeschenke fremder Könige und Fürstlichkeiten, in jeder Größe, zu jedem Zweck – alles, alles, was da im Fackellichte prächtig aufflammte und gespenstisch wieder verschwand.

Jirmijah schien aus seiner dumpfen Träumerei erst zu erwachen, als die zwölf Männer an den Stufen der Vorhalle sich wieder vereinigten. Alle holten tief Atem, um Kraft für den Eintritt ins Heiligtum zu gewinnen. Der Sagan trat nun in die Mitte der Körperschaft. Er forderte die Männer auf, eine peinliche Gewissenserforschung ihrer eigenen Reinheit vorzunehmen, damit nicht der geringste verheimlichte Flecken die göttliche Wohnstatt kränke. Mit gedämpfter Stimme zählte er die verschiedensten Fälle auf, die den Menschen im Sinne des Herrn verunreinigen und seine Annahung an die ewige Reinheit unerwünscht machen. Er sprach nach der Vorschrift rasch und gedämpft, denn vieles in der Zahl der Unreinheiten mußte mit offenen Worten benannt werden, unter denen die sehr störbare Keuschheit vornehmer Männer litt, – umfaßten diese Fälle doch alles Erdenkliche, von der Verunreinigung durch den Anblick einer Leiche bis zum heimlichen Samenerguß. Nach der Aufzählung wartete der Altpriester eine gemessene Weile, damit jeder Muße genug habe, mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Niemand schloß sich aus. Dann erst gab er das Zeichen zum Aufbruch. Man erstieg langsam die zehn Stufen zur Vorhalle.

Die Fackeln wurden gelöscht. Kein fremdes Feuer durfte ins Innere getragen werden. Die beiden Söhne Aarons hatte ja einst das Schicksal ereilt, weil sie fremdes Feuer in den Bezirk des Herrn getragen hatten. Eine Weile lang herrschte tiefe Dunkelheit über dem Vorhof, aus der sich nur langsam der halbe Mond und eine Handvoll sickernden Sternenlichtes löste. Jachin und Boaz, die beiden Kupfersäulen, warfen lange Schlagschatten. Das Geheimnis ihrer Bedeutung war den Geschlechtern schon längst entschwunden, doch einige Weise und Älteste meinten, daß Boaz die Kraft der gottgeschaffenen Sonne, Jachin die des Mondes in sich sauge und bewahre. Das Früchte- und Lilienwerk ihrer Kapitäle erschimmerte schwach. Aus dem Inneren der Halle aber drang ein Licht, so matt, so eigen, so bedeutend, daß Jirmijah von unstillbarem Herzklopfen befallen wurde. Dieses Herzklopfen verstärkte sich, als man nach einigen Schritten in dem Gemach stand, das den Namen »Das Heilige« trägt. Jenes Licht, das Jirmijah so tief erregte, hatte hier seine Quelle. Auf einem kleinen Räucheraltar lag ein Häuflein Kohlenglut, von der ein rötlicher Schein und eine gleichmäßige Wolke aufstieg. Nicht fern von diesem Altar stand der mannshohe siebenarmige Goldleuchter. Nur drei winzige Öllämpchen brannten auf ihm mit leisem, aber hartnäckigem Strahl. Dieses gemessene Licht erstarb schon in halber Höhe des Raums. Jirmijah konnte kaum das Aufschimmern der goldnen Platten unterscheiden, mit denen die Wände des Heiligen ausgelegt waren, geschweige denn das emporstrebende Schnitzwerk aus Zedernholz wahrnehmen, mit all seinen unendlichen Abwandlungen von Blütenknospen, Rauten, Trauben, Lilien, Koloquinten. Er spürte den Raum nicht nur im Herzen, sondern auch in den Gliedern. Die Füße gingen auf zarten kühlen Zedernbohlen, die sich den Sohlen wohlig anschmiegten. Nirgends war toter Stein zu spüren. Wände, Gebälk, Decke und Türen, nichts war durch Niete und Nagel verbunden, nichts zusammengestemmt und -gehämmert, weder mit Spitzhacke noch mit Meißel und anderem eisernen Werkzeug. Das ganze Gemach, wundersam fugenlos ineinandergewachsen, glich dem Kleide des Hohenpriesters, das ohne Naht ist. Jirmijahs Auge aber hing an dem Vorhang, der den Türrahmen des letzten Geheimnisses füllte und dessen vierfarbiges Gewebe sich ahnen ließ ...

Die sechs Priester hatten sich zu einem kurzen Gebete vereinigt. Dann scharte ihr Vorsteher alle Männer um sich und fragte mit flüsternder Stimme:

»Wer ist der Jüngste hier?«

Der Jüngste war Jirmijah. Der Sagan faßte ihn an der Hand und zog ihn einige Schritte mit sich in den Hintergrund. Dann hob er das mittlere Öllämpchen vom Siebenarm ab und hielt es dem Priestersohn vors Gesicht, das er lange und eindringlich durchforschte.

»Jirmejahu ben Hilkijah aus Anathot«, flüsterte er jetzt kaum mehr hörbar, »du bist als Zeuge des Landes erwählt, einen Blick zu tun. Verhülle dein Haupt! Du mögest es dann nur bis zum unteren Augenrand enthüllen und auch das nur so lange wie ein Lidschlag dauert. Dieser Blick genüge deinem Herzen, zu unterscheiden ...«

Jirmijah wird plötzlich wieder so ruhig wie vorhin bei seiner Verlesung der Lehre. Ahnungslos ist er an diesem Morgen von seiner Heimatstadt zum Tempel gezogen, damit sich eine dreifache Bestimmung an ihm erfülle: vor dem Königshause das Wort Gottes zu künden. Für diese Kündung Lob und Tadel zu ernten. Und schließlich das Größte: als Zeuge der Reinheit und Ordnung den Blick zu dem einzigen Orte erheben zu dürfen, dem Adonai, der Herr, einwohnt, als sei dieser Ort das Herz der Welt. Unvergleichliches Schweigen herrscht. Die zwölf Männer scheinen nicht zu atmen. Nur Chananjah, der seinem Amtsbruder so weit nachstehen muß, räuspert sich einmal. Gehorsam hat Jirmijah sein Haupt verhüllt. Der Altpriester faßt seine Hand und führt ihn vorwärts. Er fühlt einen Türpfosten vor sich, dessen weltaltes Zedernholz noch immer so frisch duftet, als sei es gestern gefällt. Jirmijah weiß: jetzt hat der Sagan sein eigenes Haupt verhüllt wie alle Männer der Zeugenschaft. Jetzt faßt er, sich abwendend, mit beiden Händen den schweren Vorhang und schlägt ihn so weit zurück, daß ein schmaler Spalt entsteht. Gehorsam enthüllt Jirmijah sein Haupt. Genau bis zum unteren Augenrand. Ein herzwürgendes Zögern. Ein angespannter Entschluß. Dann öffnet er die Lider und hat das Allerheiligste des Herrn vor sich. Doch seine Augen sehen nichts als die tiefste aller Finsternisse, eine Finsternis, die der irdischen Nacht nicht gleicht, die Finsternis der Vorschöpfung, ehedenn es Licht ward. Erst am Ende der einem Lidschlag zugemessenen Frist scheint sich dieser Finsternis etwas zu entringen. Sind es die Riesenflügel der golden thronenden Cherubim? Ein unfaßbares Winken und Strömen bewegt sich auf Jirmijah zu, das ihn noch anhaucht, als der Vorhang schon längst wieder geschlossen ist.


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