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II.
Kritische Studie über »Bruder Rausch. Ein Klostermärchen«


Es war im April 1881. Auf dem Tische dampfte der Teekessel und eine große, altdeutsch verzierte Hängelampe goß ihr Licht durch das Zimmer, ohne den Wänden, an denen hochgereihte Bücherscharen standen, ein behagliches Halbdunkel zu nehmen. Um den Tisch aber saß eine Tafelrunde weiser Männer, Kenner des Schönen und Wahren; denn in das Haus eines Dichters und Gelehrten war ich getreten und suchte mir eben, ein Lernender unter Meistern, den übrig gebliebenen Stuhl.

Der Leser verlangt, daß ich die Herren ihm vorstelle. Es sind Namen, die ihm zum größeren Teil wohlbekannt sind. Paul Heyse saß zu oberst am Tische; neben ihm Hermann Lingg und zur anderen Seite Moritz Carriere. Eine ältere Münchner Dichtergeneration war durch Andreas May vertreten, eine jüngere durch Karl Stieler, Ludwig Schneegans und Ludwig Laistner. Robert Vischer ›der Kunsthistoriker, Robert Freih. von Hornstein, der Komponist, und Dr. Oswald Schmidt schlossen den Zirkel. Wilhelm Hertzwar der Hausherr.

Unsere Tafelrunde war auf Betrieb Paul Heyses gestiftet worden. Sie sollte eine Art Ersatz für das Münchner »Krokodil« sein, das zu Geibels Zeiten glänzende Tage gehabt hatte. Zwar fristete in München noch immer dieser durch seine Litteraturliebe berühmt gewordene Saurier das Leben. Aber böse Leute, gewiß mit Unrecht, hatten längst das Gerede aufgebracht, daß das gealterte Krokodil an munterer Unterhaltung bei nächtlichspät gefülltem Kruge mehr Gefallen finde, als an Förderung der schönen Künste. So erweckten wir also unter Paul Heyses Auspizien ein neues Krokodil, einen litterarischen Zirkel, in welchem dichterische Erzeugnisse vorgelesen und geprüft werden sollten. Jeden Sonntag kamen wir zusammen; das Haus wechselte durch die Reihe der Mitglieder nach dem Alphabet. Die Anwesenheit von Damen war strenge ausgeschlossen. Das regelmäßige Getränk, das zur Labung dienen sollte, war Tee (weshalb man uns spöttisch das »Teekrokodil« nannte); einige jüngere Mitglieder hätten allerdings goldenen Wein oder braunes Bier lieber gesehen, aber nur tückischerweise verschaffte zuweilen diese Konterbande sich Einlaß. Wie man sieht, waren weder sämtliche Münchner Dichter im Zirkel, noch waren alle, welche teilnahmen, Dichter; aber der Wunsch, die litterarische Sozietät in München zu heben, führte die Genannten zusammen, und zur Herausgabe eines zweiten »Münchner Dichterbuches«, das im Hintergründe der Absichten stand, sollten alle, wenn nicht mitsingen, doch wenigstens mitraten.

Diesmal also waren wir im Hause eines Mannes, dem die Muse nicht »kalt staunenden Besuch«, nein, dem sie mehr als einmal in die Tiefen ihrer Seele zu sehen vergönnt hatte. Da die Regel bestand, daß derjenige, welcher Wirt war, zum Vortrag irgend eine Novität bereit zu halten hatte, und da man überdies wußte, daß Hertz aus seiner noch nicht vollendeten epischen Dichtung » Bruder Rausch« ein paar Gesänge zum besten geben wolle, so war die Erwartung ungewöhnlich erregt.

Der Vortrag begann mit dem ersten »Abenteuer« und schloß mit dem fünften. Als Wilhelm Hertz bei den Worten angelangt war, mit denen der Guardian Irminold den seltsamen Gast des Klosters in die weite Welt entläßt, hielt er inne; die folgenden Gesänge, gab er an, seien noch nicht völlig im reinen. Dies war das Zeichen einer allgemeinen Bewegung; denn wer mußte sich nicht fortgerissen fühlen von diesem Goldstrom der Poesie, wen drängte es nicht, dem Dichter herzlich die Hand zu reichen aus innerster Bewegung und zum Ausdrucke freudigen Dankes! Suchte doch jeder nun in Worte zu fassen, was während des Hörens in der stillen Sprache der Seele als Widerklang ihm bewußt geworden war, und wie schwer schien es, ein würdiges Wort zu sprechen, da solche Musik der Rede noch allen im Ohr lag! Und zwar wirkte zu letzterem Eindruck nicht nur der Zauber der Poesie selbst, sondern auch die Art mit, wie der Dichter sein Werk vor trug. Vor lesen kann ich nicht sagen; denn Hertz las nicht, er sprach frei die ganze Reihe der Verse. Ich habe viel vorlesen hören, von anderen Dichtern, von einem Buch weg oder aus Manuskripten. Ruhte dabei oft nur scheinbar das Auge des Lesenden, der sein eigenes ihm wohlvertrautes Poem sprach, auf den Zeilen, so nahm doch jeder Hörer diese Fiktion für erlaubt und natürlich. Denn den Weltläufigsten rührt ein Hauch der Befangenheit an, wenn seine eigene Dichtung über die Lippen ihm geht; immer erzittert, leiser oder stärker, das Zentrum im Ich, das nun, seine Natur verleugnend, nach außen sich kehren soll und die Nacktheit seiner Gestalt den tastenden Seelen der Andern preisgibt. Da ist es leichter Behelf, ist ein letzter Schleier und Vorhang und Schutz der Ruhe des Selbst, wenn die Hand vor die Pforten der Seele, die Augen, das beschriebene Papier hält, auf daß zuweilen der Blick des Zuhörers an dieser Scheidewand abgleite. Anders ist es beim Redner, der zur Stütze für das Gedächtnis eine schriftliche Aufzeichnung gebraucht; denn alles Rhetorische ist seiner Natur nach von gröberer Konstitution, ist ein bewußtes Hinübergreifen nach dem Andern, praktisch zweckvoll und begleitet von agitatorischer Mimik. Doch in einem Falle wird auch der Dichter sich frei fühlen, frei machen von aller Vorlage: wenn ihm während des Vortrags die Stimmung der Inspiration, aus der sich sein Werk erzeugte, zurückkehrt. Diese Stimmung ist von einem intensiven Nachempfinden zu unterscheiden; nicht um dieses allein, um ein produktiv regsames Wiederaufquellen vielmehr der gärenden Masse, aus der zuerst die Gestalten sich formten, ist es zu tun. Alsdann ist die Subjektivität so energisch tätig, daß alle äußere Welt tot, nicht vorhanden, in zeitloser Ferne liegt. Und diese Stimmung schien unsern Dichter ergriffen zu haben. Es war, in den besten Momenten, zumal während des dritten Gesanges, in welchem die Dichtung zu ihrem ersten Höhepunkt anschwillt, ein Herausschöpfen der Worte nicht aus der Kammer des Gedächtnisses, sondern aus dem Grunde des Bewußtseins. Eine solche energische Aktion schlägt alles kleine Ungeschick der körperlichen Haltung und Bewegung nieder, das uns so leicht verlegen oder gezwungen macht, wenn wir während einer Selbstenthüllung unseres Ichs die Gegenwart eines Andern, eines Fremden empfinden. Freilich konnte diese Steigerung seelischer Tätigkeit nicht durchweg gleichmäßig bleiben, wie ja auch niemand mit Einem Stoße der Produktion eine Reihe von tausend Versen fertig erzeugt. Das Gedächtnis war also mittätig, indem es die wiedererregte Phantasie des Dichters in den Bahnen des ursprünglich gewählten poetischen Ausdrucks erhielt; denn es waren wirklich gegen tausend Verszeilen, welche gesprochen wurden, und obgleich der Dichter als der Schöpfer seines Werkes der mechanischen Mühe eines förmlichen Memorierens überhoben ist, so ist doch die Fähigkeit, ein so ausgedehntes Gebilde in allen seinen Linien sich augenblicklich gegenwärtig zu halten, eine besondere Gabe. Ich werde mich kaum einer Indiskretion schuldig machen, wenn ich erwähne, daß uns Hertz damals gestand, er dichte alle seine Sachen unterwegs, auf Gängen im Freien; erst wenn er nach Hause gekommen sei, beginne das Aufschreiben. Wenn aber bei dieser Gewohnheit die Gedächtniskraft, deren Zeugen wir waren, erklärlicher schien, so war doch der herrschende Eindruck während des Vortrags der einer waltenden Inspiration. Und diese zentrale Beseelung wirkte naturgemäß höchst günstig aus die sprachliche, tonliche Seite des Vortrags. Ausgestoßen war alles Deklamatorische; Tonhöhe und Klangfarbe der Worte, Melodie der Rede, Rhythmik und Tempo des Verses standen unter der Macht von Gesetzen, welche dem Sprechenden nicht mehr bewußt waren. Absichtslos füllte sich jeglicher Versteil, jegliches Wort mit der pulsierenden Woge des Herzens, mit dem Licht und der Farbe des ihm eigentümlichen Phantasiebildes. Und so fühlten wir alle das Wehen wahrhaftigen Lebens. Es war eine apollinische Stunde.

Etwa ein Jahr nach dieser Zusammenkunft löste unser Zirkel sich auf. Das Münchner Dichterbuch erschien zu Weihnachten 1881; es brachte von »Bruder Rausch« die drei ersten Gesänge. Im nächstfolgenden Herbst veröffentlichte Wilhelm Hertz zum erstenmal die vollständige Dichtung.


Indem ich nunmehr einen kritischen Beitrag zur Würdigung des Gedichtes zu geben versuche, möchte ich von der Frage nach der dichterischen Erfindung den Ausgang nehmen. Auf diesem Wege soll der Leser zugleich mit dem stofflichen Inhalt der epischen Erzählung bekannt werden; denn ich habe es immer für wünschenswert gehalten, daß die kritische Erörterung sich nicht auf das Raisonnement beschränke, sondern daß sie referierend den Inhalt des poetischen Werkes in irgend einer Weise in ihre Ausführung aufnehme.

Das dichterische Sujet des »Bruder Rausch« ruht auf einer alten Volksage, und diese selbst trägt in ihrer Fassung einzelne Züge deutscher Mythe. Oskar Schade vergleicht in einer monographischen Untersuchung Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst, Jahrg. 1856. die überlieferten Bearbeitungen; er kennt fünf Drucke in deutscher Sprache. Der älteste ist niederdeutsch, gehört dem Ende des 15. Jahrhunderts an und geht nach Gödeke, Grundriß z. Gesch. d. d. Dichtung, 2. Aufl. I, 460) auf ein dänisches Original zurück; die zwei vorhandenen Exemplare befinden sich in Berlin und in Kopenhagen. Als den ältesten hochdeutschen Text führt Schade die Rauschdichtung vom Jahre 1515 an, welche zu Straßburg bei Mathis Hüpfuff gedruckt ist; die Münchner Hof- und Staatsbibliothek besitzt jedoch eine Bearbeitung vom Jahre 1508, gedruckt zu Straßburg durch Martin Flach mit dem Titel: » DIs biechlin saget vô Bruder Rauschç vnd was er wunders getribç hat in einem Closter dar in er VII jar sein zeit vertribç vn? gedienet hat in eines kochs gestalt« Der Straßburger Druck von 1508 hat eine Schwabacher Schrift, » büchlin« bei Gödeke I, 302 ist unrichtig.. Sie hat hinter dem Titelblatt nicht mehr als 17 Seiten Text in Kleinquart bei ziemlich großer, fetter Schrift. Zwei Nürnberger Drucke und eine Magdeburger Ausgabe gehören der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an. Die hochdeutschen Drucke sind nur in je einem Exemplare vorhanden. Ich habe die Straßburger Ausgabe vom Jahre 1508 mit dem ersten Nürnberger und dem niederdeutschen Drucke, deren Texte Oskar Schade mitteilt, verglichen; sie verrät in den Wortformen die unmittelbare Vorlage des niederdeutschen Originals, ist auch mit der Straßburger Ausgabe vom Jahre 1515 nicht völlig übereinstimmend. Neben diesen deutschen Gedichten existieren noch eine dänische poetische Bearbeitung aus dem 16., eine schwedische Ausgabe in Versen aus dem 17. Jahrhundert und überdies prosaische Aufzeichnungen der in Dänemark umlaufenden Volkssage, sowie das prosaische englische Volksbuch » The History of Frier Rush«. Der Name »Rausch«, niederdeutsch »Rusche«, bedeutet nach Oskar Schade einen Poltergeist; das hochdeutsche »rauschen«, das niederdeutsche »Rus«, Lärm, sind gleichen Wortgeschlechtes. Als den Ort der Begebenheiten, die Heimat der Sage, nennen die Straßburger Texte das ehemalige Kloster Esron aus der Insel Seeland. Das Gedicht von Bruder Rausch war im 16. Jahrhundert eines der gelesensten Volksbücher; es hat sich verloren und ist vergessen worden, bis die Aufmerksamkeit der Gelehrten seine Spur wieder fand; jetzt hat es Wilhelm Hertz dem deutschen Volke zurückgegeben.

So viel zur litterarhistorischen Orientierung. Indem nun der älteren Gestalt der Rauschsage die moderne Dichtung gegenübergestellt werden soll, ist zuvor zu bemerken, daß die Verschiedenheiten, welche die älteren Drucke untereinander haben, hier höchstens nebenher in Betracht kommen können; denn sie sind an sich vergleichsweise gering, und aufgezeigt sind sie zumeist durch die Arbeit Schades. Die Veränderungen, welche die Rauschsage in den Händen des Münchner Dichters erfahren hat, sind so bedeutsam, daß dieser Entwicklungsstufe gegenüber die poetische wie die prosaische Fassung älterer Zeit als ein einheitliches Produkt erscheinen muß. Was Wilhelm Hertz überliefert fand, hat ihm nur die Anregung, man kann kaum sagen, den Rohstoff gegeben; denn etwa die Hälfte feiner zehn Gesänge ist aus völlig frei schaffender Phantasie hervorgegangen, ist dem Stoffe nach eigene Erfindung, und auch das Übrige ist in jeder Zeile so ganz sein geistiges Eigentum, daß nicht etwa von einer Überarbeitung eines älteren litterarischen Werkes, sondern nur von einer durchgreifenden Umdichtung der Sage, von einer Neudichtung gesprochen werden kann. Bei diesem Verhältnis wird die Kritik der Frage begegnen, ob das moderne Gedicht, das doch als »Klostermärchen« sich gibt und für die Vorstellung die Rechte der Sage in Anspruch nimmt, nicht Elemente hereingetragen hat, welche diesen alten Untergrund und damit die Einheitlichkeit des Phantasiebildes zerstören, ob auch aus einer bis in die tiefsten Schichten veränderten Fassung Geist und Stimmung der Sage uns noch entgegenwehen. Die Antwort auf diese Frage wird um so vorsichtiger abzuwägen sein, da wir einem Dichter gegenüberstehen, welcher wissenschaftliche Kenntnis des deutschen Altertums mit poetisch-intuitiver Erfassung desselben in einem Grade verbindet, wie keiner seit Ludwig Uhland.

Ich gebe zuerst den Inhalt der Rauschsage in ihrer älteren poetischen Gestalt, und zwar vorläufig bis zur Erzählung derjenigen Begebenheit, welche den Ereignissen des vierten von Hertz gedichteten Gesanges entspricht; denn bis hieher gehen neue und ältere Fassung verhältnismäßig am meisten parallel. In einem Kloster, das vor einem Walde liegt, leben die jungen Mönche in Üppigkeit und lüsternen Wünschen. Der Teufel erfährt es und beschließt, sie ganz zu verderben, In Gestalt eines schönen Jünglings geht er vor das Kloster und begegnet dem Abte. Dieser, von Neugier erfaßt, heißt den schönen Jüngling willkommen und fragt ihn nach Stand und Begehr. Er sei ein armer Küchenknecht, erwidert der Fremde; er werde schwere Dienste willig und verschwiegen ausrichten, wenn man ihm Aufnahme gewähre. Der Abt schickt ihn in die Klosterküche. Des andern Tags läßt er den Jüngling in seine Zelle rufen und nachdem er erfahren hat, daß er Rausch heiße und aus fremdem Lande komme, spricht er den Wunsch aus, daß Rausch ihm ein Weib zuführen möge. Rausch erklärt, dies sei ihm wohl möglich; worauf der Abt an eine Frau im Dorfe ihm Botschaft gibt. Des Abends bringt sie Rausch in die Zelle des Abtes; am andern Morgen führt er sie wieder heim. Die Mönche merken, was vorgeht; mit freundlichen Worten erbitten sie von Rausch gleiche Gefälligkeit für sie selbst, und dieser stellt eines jeden Wünsche zufrieden. Eines. Abends versäumt Rausch die Schüsseln zu waschen, weshalb der Küchenmeister, ergrimmt, ihn züchtigt; Rausch aber packt den Alten und wirft ihn in den Kessel über dem Feuer. Die Mönche glauben, der Koch sei durch einen Zufall verunglückt, und Rausch erhält die erledigte Stelle:

»Also ward rausch bald ein klosterkoch
er liess den münchen keinen gebroch
Meister rausch kocht die speise gùt
des wùrden die münch gar wolgemùt
Des freytäges pflag der selbige rausch
zu kochen gar ein gût fleischmuss
Also verdrib er sein leben offenbare
in dem kloster wol bey siben jare.«

Zum Dank für seine Dienste macht man ihn zum Ordensbruder. Einmal treffen ihn die Mönche, während er eichene Knüttel schnitzt und sie vor seiner Zelle aufhängt; verwundert über sein Treiben fragen sie, was er damit wolle. Man dürfe nicht müßig sein, antwortet er ihnen mit Scherzreden, die Knüttel könnten noch jedem zu statten kommen. Bald nachher erhebt sich eines Weibes wegen unter den Mönchen ein Streit, welcher das Kloster in zwei Parteien teilt; beide Parteien, die des Abtes wie die des Priors, kommen heimlich zu Rausch und holen sich eichene Knüttel. In der folgenden Nacht während der Mette entlädt sich der Groll: der Abt, sobald er des Priors ansichtig wird, läßt Singen und Beten und schlägt nach dem feindlichen Haufen. Eine allgemeine Prügelei, deren Verwirrung um so größer ist, als Rausch die Lichter auslöscht und eine Bank unter die Streitenden wirft, erdröhnt in der Kirche. Nachdem der Hiebe genug gefallen find, bringt Rausch unter seiner Kutte ein Licht hervor und schilt auf die Mönche; die Jammernden prüfen ihre Wunden und geben Frieden.

Dies ist der Inhalt der ersten 228 Verszeilen des älteren Straßburger Druckes. Wie man sieht, eine nicht sonderlich merkwürdige Geschichte; in den Motiven grob, ist sie in der Ausführung schlicht, aber dürftig und nüchtern, da fast nur die Prügelszene einiges Leben und schalkhaften Geist aufweist; in Summa eine Schilderung mönchischer Sittenlosigkeit und Roheit, unter persönlicher Einführung des Teufels als des schadenfrohen Verführers, der trivial-bequemen Denkweise gemäß, in der sich die Geistlichkeit des Mittelalters mit Sündern und Sünde auseinandersetzte.

Wenden wir uns nunmehr zu Wilhelm Hertz und seinen Gesängen! Der Einführung eines seltsamen Gastes gilt auch hier der Anfang der Dichtung, das erste »Abenteuer«. Aber wie unvergleichlich reizender und stimmungsvoller ist dieses Gemälde! Stimmung haben wir mit den ersten Versen, Landschaft, Situation, Stimmung des Klosterlebens. Das Treiben der Mönche wird geschildert, das Wie und Wo wird sogleich sichtbar, anschaulich, Wort und Ton reizen die Phantasie und halten sie in einer bestimmten Richtung: das ist die zeichnende Hand und Macht des Poeten! Die Mönche sind nicht verdorbene Gesellen, nur arme Tröpfe, dumpf, beschränkt, in Banden der Not und des Gehorsams, entsagungsfroh in Erwartung himmlischen Lohnes. Während die älteren Bearbeiter zu einer Individualisierung der Mönche gar keinen Ansatz machen, treten bei Hertz einzelne Figuren unterschieden sogleich aus der Menge hervor: Irminold, der Guardian, und Bruder Benz, der Alte. An einen gemächlichen Gang des letzteren, an sein Schläfchen im Klostergarten knüpft der Dichter den Beginn der Begebenheiten: ein scharfer Luftzug weckt den Alten auf und wird Ursache, daß man nachspürt, eine Felsenspalte wird gefunden, heidnisches Gemäuer, ein Keller aus der Römerzeit ausgegraben; dort unten gähnt und streckt sich Bruder Rausch, erweckt aus siebenhundertjährigem Schlafe. Bereits jetzt mischen sich in die Erzählung kleine humoristische Züge; zunächst wird dieser Ton nur flüchtig angeschlagen, allmählich schwillt und hebt er sich zu einem reichen, den ganzen Bau der Dichtung durchbrausenden Akkord. Wieder tritt Irminold vor den Übrigen hervor, ein anderer als die Herde; ein freierer Mensch; denn jene sind, als im Kellergrund das erste Pusten vernehmbar wurde, entsetzt geflohen. Ihn aber wandelt, als er die Reihen der Weinkrüge sieht, Erinnern an goldene Tage der Jugend an, und mit freundlichen Worten heißt er den Geist, der hier sein Wesen getrieben habe, willkommen. Der Abend sinkt, der Guardian wendet sich zum Kloster zurück, und jetzt sieht er zuerst, und wir mit ihm, die Gestalt des Fremdlings, der fortan die Dichtung beherrscht:

»Doch als er kam vor seine Zelle,
Da saß ein Männlein auf der Schwelle,
Glattwangig, zart und wohlgestalt,
Von einem roten Hemd umwallt.
Ein rotes Hütchen in den Locken.«

Es ist Rausch. Vom Stamm der guten Holden, der lichten Elben ist der Kleine, und in freier Luft hat er einst gelebt, »den Frauen lieb, den Helden wert«, bis schwarze Kuttenmänner gekommen sind, lateinische Gebete murmelnd, bis die alten Götter des Volkes beschimpft und vertrieben wurden. Da zogen die Seinigen fernweg über Meer; er aber verkroch sich in die Mauerspalte und trank im Groll die Weinkrüge leer, welche aus Römerzeit im Keller gelagert waren. Das mußte er büßen mit schwerer Schlaftrunkenheit, bis ein freundlicher Zufall ihn nunmehr erweckte. Der Guardian fragt nach seinem Namen; der Kleine antwortet:

»Da wo es sprudelt, rauscht und braust,
Hab‹ ich am liebsten einst gehaust
Und ritt als Fant auf Wind und Wolke:
Drum hieß ich Rausch bei meinem Volke.«

Der Dichter spielt mit dem Namen: er deutet den ursprünglichen Sinn desselben an; aber in Übereinstimmung mit dem Volksbewußtsein, das diese Deutung längst verloren hat, bringt der Guardian das Wort in Beziehung zur Trunkenheit, zur Macht und Wirkung des Weines, welche der Elb so gründlich erfahren mußte. Rausch bittet um Aufnahme; als ein Gast wolle er die Brüder gastlich bedienen, den Guardian als seinen Herrn verehren. Irminold ist bedenklich; das Kloster, meint er, werde wohl nicht die rechte Stätte für ihn sein. Aber ein trauliches Wort des Kleinen:

»Wir sind so gern, wo Menschen sind«

und eine in dem Guardian selbst aufsteigende Regung schalkhaften Geistes bringen Gewähr: Rausch erhält Aufnahme, und das Amt in Küche und Keller wird ihm übertragen.

Bevor ich den Gang der Begebenheiten weiter verfolge, möchte ich auf einen bereits jetzt sichtlichen elementaren Unterschied aufmerksam machen. In sämtlichen älteren Bearbeitungen erscheint Rausch als der Teufel des christlichen Vorstellungskreises, bei Hertz ist er ein Angehöriger der germanischen Götterwelt und Mythe. Damit ist Rausch von Anfang an veredelt. Und nicht nur seine Wesensart, sondern auch seine Erscheinung ist bei Hertz eine andere. Die älteren Erzähler wissen von der Gestalt und dem Aussehen des Fremdlings nichts zu sagen, als daß er in der Verkleidung eines schönen Jünglings gekommen sei; bei Hertz ist die Zeichnung so gehalten, daß wir den Eindruck einer den Menschen verwandten und doch zarteren, ihrer Natur doch überlegenen Körperlichkeit empfangen, und diese von der Erdenschwere entbundene, lichtfrohe Organisation kündigt sich auch durch ein phantastisch-freies Kostüm als ein Wesen der holden Märchenwelt an. Der feine Körperbau, die geistartige Leichtigkeit der Bewegung, das rote Hemd, das rote Hütchen, die goldenen Locken: das sind integrierende und übereinstimmende Züge des Bildes, das der Dichter unserer Phantasie vorschreibt. Nun aber ist diese Vertauschung von Charakter und Gestalt nichts weniger als willkürlich-moderne Zugabe unseres Poeten. Vielmehr finden sich in den älteren Bearbeitungen vereinzelte Motive, welche darauf hinweisen, daß der die Klostersage dichtende Volksgeist sich des uralten Grundes, dem aller Spuk christlicher Teufel und Dämonen entstammt, noch dunkel erinnerte. Diese Motive lassen durch die Teufelsmaske auf einen Kobold hindurchblicken, in dessen Gebaren Reminiszenzen an germanisch-heidnische, mit dem Reich der Elben verknüpfte Vorstellungen erhalten find; und der Übergang von der germanischen zur christlichen Religion vollzog sich ja in der Weise, daß der Glaube an die alten Götter nicht als solcher aufgehoben wurde, sondern daß die alten Götter in der Vorstellung sanken, daß sie zu bösen, teuflischen, erniedrigten Wesen herabgewürdigt wurden. Indem nun Hertz den christlichen Teufelscharakter beseitigt, greift er, ein bewußt denkender Schöpfer seines Gedichtes, zurück in jene Diesen, aus welchen die Dichter des 16. Jahrhunderts unbewußt letzte spärliche Nahrung sogen. Nicht modernisiert, sondern seinem ursprünglichen Wesen ist Rausch durch die Umwandlung in einen Elb zurückgegeben, und die Phantasie des neueren Dichters hat den vom Schutt mittelalterlich-geistlicher Vorstellungen überdeckten Zusammenhang mit germanischer Mythe wiederhergestellt.

Ort und Zeit der Begebenheiten erfahren mit der Art der Einführung des Helden nähere und eigentümliche Bestimmung. Hertz verlegt das Kloster in das Land am Rhein, und zwar deuten Einzelheiten darauf hin, daß er an mittelrheinisches Land, etwa die Gegend zwischen Mainz und Bonn, gedacht hat. Dort fließt der schiffetragende Strom zwischen lachenden Geländen an Burgen vorüber, dort ist ein buntes und weltfrohes Volksleben an den Stromufern; dort genießen die 11 000 Jungfrauen, mit deren Reliquiengebein die frommen Brüder böse Geister zu schrecken hoffen, besondere Verehrung, und zur Seite liegt auch der Westerwald, dessen Rausch in einem der späteren Abenteuer mit den an einen volkstümlichen Spruch anklingenden Versen gedenkt:

»Nun bin ich doch so alt, so alt,
Viel älter als der Westerwald.«

Ich weiß nicht, was dem Dichter zu dieser Verlegung den ersten Anstoß gegeben hat; aber blieb die Sage an der nordischen Insel hasten, so war schon das Motiv der Einführung Rauschens, die Auffindung des Römerkellers mit seinen Weinkrügen, nicht möglich. Und dieses Motiv, ein Einfall unseres Poeten, ist wahrhaft glücklich; denn indem den Elb die Strafe schwerer Schlaftrunkenheit getroffen hat gemäß der Ordnung, welcher er zu gehorchen hat, und doch auch in einer Art von natürlicher Wirkung, kommen wir mit ihm auf das ungezwungenste über die Jahrhunderte hinweg, welche zwischen dem Untergehen der heidnischen Religion und dem Wiedererwachen ihres Nachzüglers liegen. Auf ehemalige Römeranwesenheit in der Nähe des Klosters wird mehrfach angespielt: das Gebein, das von den Brüdern als eine Reliquie der 11 000 Jungfrauen verehrt wird, gehörte einer welschen Tänzerin an und lag am Römerkreuzweg in der Erde. Man denkt an die Legionen von Trier oder Mainz und ihr lockeres Treiben. Aber nicht einer Laune seiner Phantasie zu lieb, auch nicht lediglich um der Lösung einer technischen Schwierigkeit willen, scheint der Dichter unsere Phantasie auf rheinische Gegenden gelenkt zu haben, sondern im Zusammenhang mit seinen psychologischen Absichten brauchte er eine andere Szenerie als die der ursprünglichen Sage. Zwar »abseits vom Rhein«, im Walde gelegen und ärmlichsten Haushalts denkt er sich das Kloster; aber doch in einer heiteren, mit Anmut und Wärme die. Menschenherzen lockenden Natur, doch nicht so fern von Reichtum und Lust der Welt, von Sang und Klang, von freierer Regung des Geistes, daß nicht mit unmerklicher Bewegung der Lust ein Hauch von dort herüber zu ziehen vermöchte. Zu dem Reichtum an Farbe, mit welchem die Dichtung sich schmücken will, stimmte die weltabgeschiedene, von kälterer Sonne bestrahlte, von grauer Meerflut umspülte Insel schlecht) aber mehr als ein Jahrtausend deutscher Geschichte hindurch war immer der Rhein die Pulsader eines glänzenden und beweglich-leichteren Lebens. Indem der Dichter die Lokalität in das westliche Deutschland verlegt, rückt er die Lebenskontraste, durch welche er seine Brüder führt, auch örtlich einander näher; und so erleichtert er sich die Führung der Fabel und macht die Wandlung seelischer Zustände eher glaublich.

Zeitlich läßt uns die Angabe der Schlafdauer des Elben einen annähernden Schluß aus das Jahrhundert machen, in dessen Rahmen der Dichter die Vorgänge gedacht wissen will; da nämlich Rausch »wohl über siebenhundert« Jahre im Römerkeller trunken gelegen ist, so werden wir im Zusammenhalt mit der geschichtlichen Tatsache, daß der Sieg des Christentums in Westdeutschland in die Zeit zwischen 500 bis 700 nach Christus fällt, etwa auf das 15. Jahrhundert geführt. Der Natur des Märchens getreu hat der Dichter eine genauere Bestimmung vermieden; dennoch ist ein Zeitkolorit gewahrt, und wie die Schilderung kultureller Zustände im ganzen und großen der Periode des ausgehenden Mittelalters gemäß ist, so nimmt auch die mit vorsichtiger Wahl bemessene Färbung des Wortschatzes auf die Einheitlichkeit historischer Empfindung Bedacht. Indem ich, der Inhaltsangabe vorgreifend, die humanistische Geistesfreiheit, in welcher der Guardian gehalten ist, hier erwähne, ist zu Gunsten der Dichtung sogleich zu sagen, daß der Grad von Helle, den Wilhelm Hertz dem Guardian gegeben hat, den stofflichen Bedingungen nicht widerspricht: Mystik wie Humanismus und reformatorische Ansätze gehören der genannten Periode an, und nachdenkliche, die überlieferten Vorstellungen subjektiv sich zurechtlegende Naturen gab es in der Laienwelt wie in der Stille der Klöster. Man denke an Cäsarius, den Mönch von Heisterbach; ja, einen Freigeist in sehr modernem Sinne hatte bereits das 13. Jahrhundert aus dem Throne: Friedrich den Zweiten, den hohenstaufischen Kaiser.

Doch ich nehme den Gang der Erzählung wieder aus; ein leidiges Geschäft freilich, da sich hier die Prosa gegenüber der poetischen Form überall im Nachteil weiß und da der Klang dieser Verse das Ohr so bestrickt, daß es schwer fällt, ihnen zu entsagen. Die Inhaltsangabe gibt im besten Falle Stimmungsreflexe; wie aber im Leser des poetischen Werkes die Stimmungen selbst erweckt werden und wechseln, das erklärt ganz nur die Dichtung selbst, indem sie Wort um Wort, Bild um Bild, Motiv um Motiv dafür einsetzt. Und je schwerer es scheinen will, in nacherzählende Prosa den Inhalt der Dichtung zu fassen, um so mehr dokumentiert sich diese als etwas in sich Fertiges, Einziges, Unzerstörbares, als ein Kunstwerk und ein organisches Gebild, das mit der Reflexion nicht einzuholen ist, das in allen seinen Teilen und mit den kleinsten Gliedern auf sich selber zurückweist.

Das zweite »Abenteuer« und mit ihm das dritte, beide in innerstem Zusammenhang stehend, sind ein von Menschenkenntnis und Kunst außerordentlich fein gestimmtes Gemälde. Der Prozeß einer Seelenerregung, welche alle Stadien vom Piano bis zum Fortissimo durchläuft, wird uns vorgeführt; und zugleich ergibt sich ein Freiwerden der Phantasie, wobei tausend rieselnde Silberquellen sich endlich vereinigen zu einem schwellenden, seine schimmernde Hochflut majestätisch ausgießenden Strom. Hier ist alles Erfindung und Eigentum des Münchener Dichters. Rausch ist im Kloster, und das veränderte Leben, das mit seinem Eintreten anhebt, wird geschildert. Nehmen wir ihn vorläufig, da eine volle Beleuchtung seines Wesens verspürt werden muß, als Schalksgeist. Ihn reizt und ergötzt es, die Armseligkeit und Einförmigkeit der Ordensregel zu durchbrechen, die Mönche sachte in das Behagen an einem weichlichen Leben gleiten zu lassen. Die ersten Angriffe erfolgen mit Hilfe des Gaumens; sehr natürlich, da das Amt, welches Rausch bekleidet, dafür die nächste Gelegenheit gibt, und da gut essen und trinken, Erleichterung des Fastengebotes zwar bereits Erschütterung der Ordensregel ist, aber doch noch als läßliche Sünde genommen wird. Wir kennen die Schilderung der älteren Dichter, deren Erfindung wie Kühnheit mit dem Anrichten von »Fleischmus« die Grenze erreicht. Aber bei Hertz ist volle Tafel:

»Weinsuppen in der Frühe
Und Aal in Safranbrühe,
Und Mittags in der Krebse Kranz,
Da lag der fette Biberschwanz,
Forellenkrapfen, Blamenschier
Und Feigenmus in Malvasier.
Und Abends Turmpasteten
Von Salmen und Lampreten:
›Ach‹, riefen sie, ›du selges Kind,
Du machst das Fasten sanft und lind!‹«

Und nicht minder hoch geht es an andern Tagen her. Es ist eine raffinierte Entfaltung von Kochkunst und kulinarischen Genüssen, ein nimmer verlegenes Tischlein deck dich, ein schmackhaftes Meisterstück tafelfreudiger Poesie, eine geistreiche Verherrlichung guter Gaben der Mutter Erde. Und so reichlich und ausgesucht die Leckereien sind, mit denen Rausch die Männer der strengen Ordensregel sinnlicher stimmt, mit denen er ihr Blut reizt, wie echt deutsch und altdeutsch ist diese Speisekarte! Und wie behaglich-humoristisch und schalkhaft werden Sättigung und Siesta geschildert, wie lebt hier alles von dichterischer Bildfreude, von Schauen und Zeichnen der Erscheinung:

»An Bäumen bei des Baches Rand,
Da waren Tücher ausgespannt,
Worin an schwülen Nachmittagen
Die ältern Brüder schlummernd lagen.
Wenn sich die jüngern frisch und kühn
Auf Schaukeln schwangen durch das Grün.
Sie schwebten hoch im Bogen,
Daß ihre Kutten flogen

Wenn die Aufführung der Tafelgenüsse die Zunge des Lesers in eine angenehme Nervenschwingung zu versetzen vermag, so ist gleichzeitig die Charakteristik der Mönche und ihres Gebarens eine geistige Delikatesse. In letzterer Richtung liegen Kabinettsstücke psychologischer Malerei, kleine Bildchen heiteren Humors und überlegen-nachsichtiger Weltbetrachtung, freilich durchzuckt zuweilen von fernem Wetterleuchten satirischer Stimmung. Es sollte mich wundern, wenn die eine oder andere Stelle nicht Gemeingut, geflügeltes Wort würde, eine kleine aber handlich gearbeitete und scharf zugespitzte Waffe wider das Pfaffengezücht. Die ganze Dichtung ist in eminentem Sinne ein Bekenntnis freien und wahrheitsuchenden Geistes. Wir müssen zurückgehen auf Partien des ersten Gesanges, müssen die Brüder in ihrem vormaligen dumpfen Dahinleben aufsuchen, um die eingetretene Verwandlung zu würdigen. Voll Demut sind sie dem Guardian untertan:

»Er war ihr Stolze denn er allein
War schriftgelehrt und sprach Latein.
Sie zählten zu den Geistesarmen,
Die Christus segnet voll Erbarmen.
Denn ihnen schuf kein Rätsel Qual;
Sie dachten täglich siebenmal
In Reu und Leid des Sündenfalles;
Sie wußten nichts und glaubten alles

Und diesen höchst vereinfachten Bedürfnissen entspricht denn auch leibliche und geistige Nahrung:

»Sie aßen Bohnen unverdrossen
Und andres, was dem Halm entsprossen.
Der alten Väter heilge Kost.
Für sie vergor kein edler Most.
Sie kannten keine andre Süße
Als Hymnen und Mariengrüße.
Von irdischer? Arbeit Schweiß und Pein
Blieb ihnen Leib und Seele rein.
Ihr einzig Tagwerk war Gesang;
Sie sangen halbe Nächte lang
Mit so zerknirschten Jammerlauten,
daß sich die Engel dran erbauten.«

Nun also kommt Rausch und eröffnet den Reigen seiner Künste. Ein kleines Mißtrauen gegen ihn wird bald überwunden; und Rausch ist ja sehr vorsichtig im Kreszendo. Aber Appetit und Verständnis wachsen:

»Die armen Mönche saßen
Verzaubert still und aßen.
Sie lösten sich den Kuttenstrick
Und sprachen mit gerührtem Blick:
Der Kleine wird uns recht zum Frommen;
Der muß von guten Eltern kommen.«

Und verwandelt wird unter den Händen des dienenden Gastes auch der Hausrat. Die rohe Schmucklosigkeit des Lebens verschwindet: feines Linnen und glänzende Gesäße und weiche Polster, das alles schleppt Rausch unermüdlich und schmeichelnd herbei. Und er weiß es zu lenken, daß die Blicke der Brüder über die Klostermauern hinweg sich stehlen, daß gesellig-verliebtes Treiben der Menschen ihnen zu Gesicht kommt; geheime Sehnsucht beschleicht ihre Herzen. Jetzt sinkt der Tag, und das Mondlicht gibt die Traumgeister frei: da sitzt der immer Gefällige vor ihnen und spielt auf der Geige Melodien, spielt mit ihren Herzen und ihrer Phantasie, singt ihnen Lieder von Liebes- und Hochzeitslust, von Göttern und Helden,

»Vom Todeskuß der Wasserfraun,
Vom Elbentanz auf Waldesaun,
Der einst den schönen Jungen
Mit holdem Bann umschlungen,
Als er durchritt den Rosenhag
Die Nacht vor seinem Hochzeittag:
Da rührt ihn mit der weißen Hand
Die Königin vom Elbenland
Und tanzt mit ihm am Wiesenhang
Bei leisem Sang und Flötenklang.
Er kehrte heim nach kurzen Stunden:
Da waren hundert Jahr entschwunden
Und längst sein armes Lieb indessen
In Gram gestorben und vergessen.
Die Weise klang so schaurig,
So süß und doch so traurig,
Wie uralt ewge Liebesklage
Um diese flüchtgen Erdentage.«

Eine so durchgreifende Umstimmung des Lebens lockert die Klosterzucht; feister werden die Mönche, freier wird ihr Gebaren; eitel und weltlich geschmückt schwärmen sie durch die Auen, lustwandelnd, hochmütiger gegen das Bauernvolk, dessen mitleidige Gaben ihnen ehedem des Lebens Notdurft gewährt hatten. Aus dem Kirchengesang weicht der zaghaft-fromme Ton, aus den Gedanken die Kindeseinfalt, das entsagende Pflichtgefühl. Entzündet ist das Blut, erhitzt die Phantasie; kühner hebt sich der Wille, ein Ball schwüler Luft liegt über dem Kloster, gespannte Sinnlichkeit lechzt nach Befreiung, erregter Lebenstrieb nach Genuß und Tat. Man fühlt, was kommen muß: noch fehlt das Weib, dessen Gegenwart hier den Gipfel der Lust bedeuten wird, da jede Schwingung der Seele darauf gestimmt ist; noch fehlt die Liebe, die freilich nach den Voraussetzungen des Gedichtes nicht anders erscheinen wird als ein erotischer Sturm, als ein Überwallen sinnlicher Lebenslust.

Doch bevor diese Katastrophe eintritt, bringt der Dichter zuerst ein kurzes Ritardando. Ein Versuch von Widerstand gegen die drohende Gefahr erhebt sich, den Alten schlägt das Gewissen und mit Verdruß überrechnen sie die Zeit langer Kasteiung, die Aussicht nahen himmlischen Lohnes, der nun so leichten Kaufes verscherzt werden soll. Bruder Benz und Hunibald streiten gegen die Jüngeren; aber diese gewinnen die Oberhand. Und im Disput verraten beide Parteien ihre geheimsten Gedanken, und die ganze Jämmerlichkeit ihrer sophistisch-selbstgefälligen und nur auf äußerliches Gebot, auf gemeinen Nutzen gestellten Moral wird offenbar. Freches Begehren bei den Jungen, lüsternes Flehen um Versuchung bei den Alten: hier wie dort ist der Fall noch vor Beginn des Kampfes entschieden.

Jetzt, nachdem der Dichter durch ein hemmendes Motiv unsere Erwartung verwirrt, beunruhigt und damit nur höher gesteigert hat, nachdem der Wogengang der Begebenheiten einen Moment gestaut war, bringt das dritte »Abenteuer« das Fazit aller bisherigen Vorbereitung. Ein Fest der Weltlust, ein Rausch von Sinnenseligkeit macht aus dem Kloster die Stätte eines Bacchanals. Dieser Gesang ist von berückender Schönheit, ein glühender Erguß von Empfindung und ein Kunstwerk der Sprache, geprägt mit dem Stempel der Klassizität. Hier kostet sich jedes Wort wie die Süßigkeit einer von der Sonne durchkochten Beere, die schwellend an überreif abhängender Traube sich drängt. Und wie wußte die Seele des Dichters den Stoff zu adeln! Dort, in der alten Sage, gemeines Geschehen und plumpes Greisen nach Genuß; hier ein Aufzehren des Befangend-Heißen in einer Welt von Geist und Schönheit, Austilgung aller Roheit durch die Macht der Poesie, verwegene Situation und brennende Bilder, aber gedämpft durch die Keuschheit der Worte! Das erste Mittel für diese Idealisierung der Begebenheiten ist die dichterische Erfindung eines Festgelages; erhöhte Stimmung der Menschen ist damit sogleich motiviert. Und zwar knüpft sich dieses Fest an die uralt-heidnische Sonnwendfeier, an einen Tag, an welchem noch heute in christlich-deutschen Landen die Erinnerung an den Dienst der alten Götter wieder erwacht und in allerlei Spuk, Mummereien, in natursymbolischen Gebräuchen des Volkes sich äußert. Wie durch eine Übermacht der Natur, die heute selbst einen Höhen- und Wendepunkt feiert, scheint das Gedankengespinst der Menschen, die christliche Askese, außer Kraft gesetzt; und mit dem geheimen Leben und Weben der Natur mischen sich, gleichem Urgrund entstammend, die Träume der Menschen. Und nicht für sich allein stehen die Menschen; sondern der Mitteilnahme aller Geschöpfe, der Vogel- und der Tierwelt überhaupt, der Miterregung der bräutlich geschmückten Erde, der Mitfeier der Geister der Luft und des Himmels werden sie sich bewußt. In dieser Hereinziehung des gesamten Naturlebens liegt das zweite und stärkste jener dichterischen Mittel: unschuldig wird für eine Stunde der Genuß, denn aufgehoben ist die Isoliertheit des Menschen, des einzigen Geschöpfes, das den Gegensatz von Geist und Sinnlichkeit in sich erfahren muß, aufgehoben ist dieser Bruch selbst, und wiederhergestellt ist für einen Augenblick die Idylle, der paradiesische Zustand. Endlich das dritte Mittel: Um die erregte orgiastische Stimmung ihrem Höhepunkt entgegenzuführen, nimmt der Dichter die sinnberauschendste der Künste, die Musik, in Anspruch; das heißt, er knüpft die Stadien der Erregung und Selbstbefreiung der Mönche an den Inhalt und Laut einer Weise, welche Rausch ihnen vorspielt, und er erzählt und malt uns, den Lesern, da er ja die musikalischen Töne selbst nicht geben kann, in der Sprache ihre Gewalt und Wirkung.

Rausch hat am Sonnwendabend im Klostergarten die Tafel gerichtet und zwölf zarte Bürschlein im Kleide fahrender Scholaren den Mönchen zur Gesellschaft mitgebracht. Die Unterhaltung geht anfangs schüchtern; doch Wein und Scherze machen die Schüler lebendig:

»Sie schauten seitwärts ihren Mann
Mit raschen Schelmenblicken an
Und stimmten in die Neckerein
Mit silberhellem Kichern ein.«

An Rausch ergeht die Bitte um ein Lied und Spiel; und wieder, wie so oft in vorausgegangenen Tagen, fängt er an zu geigen,

»Doch heut mit nie gehörtem Klang,
Der fein durch alle Sinne drang.

Anhebt sie leis' und leise,
Die heilige Elbenweise.
Sie bebt hinaus durch Berg und Flur:
Den Hochzeitreigen der Natur.
Ein süßer Schreck durchzuckt die Nacht.
Was schläft und atmet, das erwacht.
Die Vöglein in des Nestes Ruh,
Sie schütteln sich und hören zu;
Die Hindin auf der Heide
Blickt auf von ihrer Weide.
Der Wolf, von Beutegier entbrannt,
Vergißt sein Wild und steht gebannt.
Der Eichwald stillt sein Rauschen,
Und alle Wesen lauschen.

Und wie die Weise mählich schwillt.
Haucht weiche Sehnsucht durchs Gefild.
Die jungen Mönche schaun empor.
Als öffne sich des Himmels Tor,
Von Schauern überronnen.
Von Wehmut und von Wonnen
Das Herz im Tiefsten aufgewühlt.
Das sich noch nie so kühn gefühlt.
Verheißend lockt in alle Weiten
Die Welt mit tausend Herrlichkeiten;
Nach Wunderfernen stürmt ihr Sinn.
Die Alten träumen vor sich hin,
Als sähen sie Gestalten schweben
Aus einem frühern Erdenleben.
So fremd und doch so wohlbekannt
Entschleiert sich ihr Jugendland.
Da liegt es rings im Maienschein:
Wie ging sich's da so hold zu zwein!
Sie faßt ein schmerzliches Gelüst
Nach Lippen, die sie einst geküßt,
Nach blütenhellen Wangen,
Die längst in Staub vergangen.

Da wächst der Klang mit Zaubermacht,
Wie Sturmgesang der Frühlingsnacht.
O, schaut nicht vorwärts, nicht zurück!
So nahe grüßt euch Lieb und Glück.
Die Welt ist euer, schaut euch um!
Ein festlich prangend Heiligtum.
Des Mondes Silber tränkt die Matten
Und rieselt durch der Zweige Schatten,
Und alle Blumen öffnen sacht
Des Blätterschoßes zarte Pracht,
Und süße Wohlgerüche schwellen
Der Lüfte sanft erregte Wellen.
Gleich Wölkchen steigt der Bienen Zug;
Sie schwärmen auf im Hochzeitflug.
Von Faltern wimmelt Busch und Au;
Die Adler kreisen hoch im Blau.
Waldvöglein heben goldnen Schall,
Die Lerche mit der Nachtigall.
Der Spielhahn schleift, der Täuber girrt;
Das gluckst und schmettert, zirpt und schwirrt,
Und fernher aus den Föhren
Erdröhnt des Hirsches Röhren.

Mit allberauschender Gewalt
Ergreift die Weise jung und alt
Und reißt sie fort im Siegerschritt:
Sie springen auf und singen mit.
Die Schüler zwängt ihr Brustgewand:
Sie werfens ab mit wilder Hand, –
Und schwanweiß taucht aus schwarzer Hülle
Magdlicher Glieder schlanke Fülle,
Und wen noch Traumesweh umwunden,
Fühlt im Entzücken sich gesunden,
Der Erde liebstes Lenzgebild,
Das Lieb und Luft entgegenschwillt.
Lichtäugig Leben jugendwarm
Schmiegt sehnend sich in ihren Arm.«

Und glühender werden die Blicke und wilder die Lust, und das Spiel des Fiedlers geht über in eine wirbelnde Tanzweise: um die Flammen des Sonnwendfeuers springen die Paare; das neckt sich und kost und hascht und verliert sich, bis das Spiel verklingt und die Flamme verlischt und in dunklen Lauben Liebende in Traum und Schlummer versinken.

Nachdem die Dichtung auf diesem Höhepunkte angelangt ist, scheint es kaum möglich, sie weiterzuführen, ohne daß ihre eigene Energie und das Interesse des Lesers abfällt. Aber der Meister des Werkes löst dennoch diese Aufgabe. Und zwar durch einen kräftig-gesunden Kontrast, indem er die Saiten enthusiastischer Empfindung völlig ausspannt und an die Stelle weicher Gefühle und schmeichelnder Schönheit den Witz, die Satire, die Derbheit setzt; ein drastisch-plötzlicher Übergang vom Genuß zur Verneinung, vom Erhabenen zum Komischen. Nur für eine Stunde war das Leben verwandelt in paradiesisches Entzücken, nur für eine Stunde schien erlaubt, was gefällt; am nächsten Morgen sind Zauber und Trunkenheit verschwunden, und mit dem grauen, unendlich nüchternen Regentag, der am Himmel aufsteigt, erwacht in den Brüdern das Bewußtsein nacktester Wirklichkeit, und Reue, Verdruß, Erkenntnis ungeheurer Verwegenheit und frevlen Selbstvergessens schleichen sich heran, nagen und bohren an den Gewissen. Und nun ist es ein köstlicher psychologischer Griff des Dichters, daß der eine am andern die Strafe vollzieht, die jeder sich selbst zuwenden sollte,- und nicht lustiger und zweckmäßiger konnte das Motiv der alten Erzähler, die Prügelszene, verwendet werden, als hier, wo der Unmut über die eigene Sünde nach dem Mitsünder schlägt, und, da die Hiebe von allen auf alle fallen, sein tüchtig Teil jeder davonträgt. Jetzt also, im vierten Gesang aus innerer Notwendigkeit an der Stelle, während Vorwürfe und giftige Reden ringsum aufschießen und heuchlerische Beschönigung mit zerknirschtem Miserere in Streit liegt, schnitzt der Schalksknecht Rausch die handfesten Stöcke, und jetzt, in der Nacht, im Klostergang, da die Brüder von der Mette kommen, bricht der Kampf los »mit Schnauben, Quieken und Gestampf«, die allgemeine Prügelei, lustig zu lesen und mit dem innern Auge höchst ergötzlich zu schauen, kraftvoll, wohlorganisiert und reich an bewegten Bildern. Als aber diese homerische Szene ihrem Ablauf zueilt, gewahren die Brüder den Verführer, der auf einem Säulenknauf sitzt und mit Fackelschein die zerschlagenen Recken beleuchtet. Da kommt ihnen die Mutmaßung, daß sie in die Klauen des bösen Feindes, des Teufels, geraten seien, und um sich seiner Macht zu erwehren, schleppen sie polternd und schimpfend herbei, was das Kloster an heiligen Mitteln der Beschwörung besitzt. Doch Rausch spottet ihrer Mühen, und unwillig ruft er, als sie das Kruzifix ihm entgegenhalten, die grollend-stolzen Worte zu ihnen nieder:

»Ich kenn' den todeswunden Mann,
Der uns das Leben abgewann.
Für euch ließ sich der Reine morden;
Doch besser seid ihr nicht geworden.
Einst diente als getreuer Held
Der Mann den lichten Herrn der Welt
Und sah im Stolz erfüllter Pflicht
Frei in der Götter Angesicht,
Stand für sich ein in Tat und Wort: –
Ihr winselt Gnade fort und fort.
Das waren Männer unterm Helme:
Doch ihr seid weinerliche Schelme,
Glüht nach der Erde Lustgewimmel
Und seufzt verdrehten Blicks gen Himmel,
Im Heucheln groß nach Knechtesbrauch,
Und faule Knechte seid ihr auch:
Es reut noch euren heilgen Christ,
Daß er für euch gestorben ist!«

Der Elb steht nicht in der Pflicht des christlichen Gottes; so weicht er vor dem Zeichen des Erlösers nicht zurück. Ratlos und wortlos zagen die Mönche; da schellt es an der Klosterpforte: der Guardian ist von einer Reise zurückgekehrt. Jammernd, ihre Sünden bekennend nahen sie ihm. Er verweist sie mit befehlendem Wort zum Gebet und winkt Rausch, in seine Zelle ihm zu folgen.

In dem nun anhebenden fünften Gesang tritt der Guardian in den Vordergrund. Ich habe bereits bemerkt, daß dieser bei Wilhelm Hertz eine Sonderstellung behauptet. Während in der alten Dichtung der Hirt mit der Herde sündigt, hält Hertz den Guardian von den Verirrungen der Brüder abseits und frei; wir erfahren nichts von einer Wirkung, welche der einreißende Niedergang der Klosterzucht auf ihn gehabt hätte, und während in der Sonnwendnacht die Natur als freigewordene Sinnlichkeit über die Brüder siegt, weilt er ferne vom Kloster. Dafür, daß er in solcher Rolle glaubwürdig erscheine, werden von Beginn der Dichtung an vorbereitende Linien gezogen. Ihn hat nicht Furcht und Grauen angefochten, als er den unheimlichen Keller betritt, als der rätselhafte Fremde vor seiner Schwelle erscheint; und das Reich, dem dieser zugehört, ist ihm kein fremdes. Irminold hat die Welt gesehen, an Höfen der Großen gelebt, ritterliche Art in sich ausgenommen; er hat sich aber auch genährt an der Weisheit der Bücher, er kennt die Schätze der heidnischen Litteratur, die Geschichte der Zeiten und die Gedanken, Mit welchen die armen Menschen über das Rätsel des Seins sich Rechenschaft zu geben versucht haben. Er trägt in tiefer Brust das Bedürfnis nach philosophischer Spekulation, nach heller, von Bildern befreiter Erkenntnis der Wahrheit. Dieser vornehme, überlegene Geist durchschaut in den Herzen seiner Untergebenen die geheimsten Falten; er betrachtet ihr Treiben ironisch und verschließt die eigene bessere Erkenntnis klug in sich selbst. Aber indem er die Vorteile seiner Stellung behauptet und den Irrtum der Blinden unterstützt, erscheint er sich doch nicht in einer unlauteren Rolle; denn er lebt des Glaubens, daß die reine Wahrheit von seinen Mönchen nicht erfaßt werden könne um der Beschränktheit ihres Denkens willen und daß die halbverstandene ihrem Seelenheil schädlich sei bei der groben Verfassung ihres sittlichen Bewußtseins, das ohne das Gemälde von Himmel und Hölle jeden Haltpunkt verliere. Er hält eine Volksreligion für notwendig; für sich selbst aber und die, welche ihm gleichen, verehrt er ein höheres Gesetz. Mag solche Doppelzüngigkeit dem ethischen Rigorismus anstößig sein: in der Aufgabe der Rauschdichtung lag es nicht, nach dieser Richtung hin einen stärkeren Konflikt zu zeichnen, auf diese Charakterfrage Gewicht zu legen. Wohl aber weiß es der Dichter zu fügen, daß unsere Sympathie dem Guardian gewahrt bleibt. Denn auch ihm, dem doch freier Blickenden, ist die letzte Wahrheit verhüllt, und Trauer um das Unzureichende menschlichen Sinnens wirft über seine stolze Seele einen Schatten. Er hat einen Anhauch von der Melancholie edler Geister, und am schmerzlichen Ringen der Menschheit um Erkenntnis des Göttlichen trägt auch er seinen Teil. Er läßt die Brüder im Dunkeln tappen, in der Befangenheit religiösen Wahns; aber er behält auch die Bitterkeit der Vernunft für sich selbst; den Kampf der Erdenkinder kämpft er wie jene, nur mit veränderter Szene, auf erhabenerem Feld. So regt sich in uns die Spur des Mitleids für ihn und heißt ihn verteidigen.

Die Sonderstellung des Guardians ist für den Münchener Dichter das künstlerische Mittel, um innerhalb der Führung der Sage die schwerwiegendsten religionsphilosophischen Ideen und das Urteil der Vernunft über die mythische Vorstellung auszusprechen. In diesem Gesang erreicht die Dichtung eine geistige Tiefe, die an den ersten Teil des Goetheschen Faust erinnert; und zwar ist eine derartige Parallele berechtigt nicht nur um der Fülle und Erhabenheit der ausgesprochenen Ideen willen, sondern auch mit Rücksicht auf die poetische Bewältigung spekulativen Gehalts und mit Rücksicht auf den Vers, die Sprache, welche, hier wie dort aus dem Genius des deutschen Volkes empfangen, in edelster Simplizität und urkräftigen Lautes einhertönt. Und mit dem Hochgefühl und der einzig Hellen Luft, welche die Wahrheit ihren Adepten gewährt, verfolgen wir die kühnen Stöße, den blitzenden Schwertschlag unseres Ritters vom Geist gegen die Unehrlichkeit des Pfaffentums, gegen die Kniffe, mit denen von alters her die pfäffische Sippschaft das Volk belügt und betrügt.

Die Sache macht sich ganz natürlich. Und das ist, von der ästhetischen Seite genommen, das Rühmlichste für diese Partie des Gedichtes. Denn notwendig, nachdem Rausch die Mönche zu einer so laut schreienden Verletzung ihrer Pflicht gebracht hat, muß der Guardian des Klosters Einhalt tun; und notwendig erfolgt jetzt, da im Disput ein freidenkender Mensch und ein Angehöriger der Mythe, der Götterwelt sich gegenüberstehen, ein bis zu philosophischen Gedanken sich erhebendes Gespräch. Es ist aber wohl zu beachten, daß Hertz über die Grenzer: seines Sujets hiebei nicht hinausschreitet, daß er die märchenhafte Unterlage seiner Dichtung nicht aufhebt: der Guardian verhält sich gegen den Elb nicht so, als ob er den Glauben an Wesen jenseits und über der Menschenwelt negieren wollte, er läßt Rausch vielmehr gelten in seiner Person und Existenz wie in seiner historischen Sphäre; er bestreitet nur den Anspruch des Elben auf fortdauernde religiöse Verehrung und bringt die Welt, deren Geschöpf und Genosse Rausch ist, mit anderen Mythenkreisen in kritische Parallele. Und er erhebt sich zur Ahnung des geheimnisvollen Gottes, den zu begreifen die von Menschenhirn erdachten Religionsformen bildliche Ausdrucksweisen, wechselnde Versuche sind.

Das Gespräch beginnt, indem sich Rausch über die Behandlung, welche ihm von den Mönchen widerfahren ist, bitter beklagt. Der Guardian erwidert, er habe zuvor gesagt, daß der Elb hier nicht am rechten Orte sei. Er selbst würde ihn gerne um sich leiden, er vermöge ohne Glaubenskrücken zu gehen; aber mit dem Klostervolk könne ein heidnisches Wesen nicht zusammen hausen. Auf die schmerzliche Klage des Elben, daß er also aus dem Angesicht seines lieben Herrn verbannt sein solle, gibt ihm der Guardian den Rat, er möge der Kirche, deren Sieg längst entschieden sei, sich fügen, möge christlichen Stand und christliches Kleid annehmen; als Teufel werde er innerhalb der Kirche Duldung finden. Diese Vorstellung flößt Rausch heftigen Unmut ein; der Guardian zuckt die Achseln und spricht:

»Ein andres wird dir kaum gelingen:
Zum Engel wirst du's schwerlich bringen.
Die sind so spröd altjungfernhaft:
Du blühst in deiner Sünden Saft.«

Da bäumt der Stolz des Elben sich auf: solche Rede gezieme sich nicht gegen ihn, der göttlichem Geschlechte entstamme. Der Guardian hält ihm die Frage entgegen, ob er dabei gewesen sei, als die Welt aus dem Chaos entstand, ob er des Lebens Sinn und tiefsten Grund ihm künden könne.

»Lang schwieg gebeugt der kleine Mann
Und trutzt ihn halben Blickes an:
›Ein grausam Wort! Was tat ich dir?
Wie unhold sprichst du doch zu mir!
Als ich der Nacht erstanden.
War alles schon vorhanden.
Du magst der Urwelt Riesen fragen:
Sie reden auch nach Hörensagen.
Aus Ewigkeiten rauscht es her,
Ein grundlos uferloses Meer.
Nimm alle Götter zu Geleitern:
In Nacht und Wahnsinn wirst du scheitern.
Oft erbt sich halbvergeßner Sang
Von Mund zu Mund, wer sagt wie lang?
Ein Rätsellied, das man noch singt.
Weil es so schön zur Harfe klingt.
Doch niemand weiß, wer's einst ersann,
Und niemand lebt, der's lösen kann:
So ist die Welt. Wie mancher Laut
Tönt deinem Herzen so vertraut!
Meinst ihre Worte zu verstehn.
Bis jäh die Sinne dir vergehn.
Die dich mit Sehnsucht überquillt
Und läßt sie ewig ungestillt;
Bald kühn wie junges Werben,
Bald trostlos bis zum Sterben.
Es ist ein wundersam Gedicht:
Doch seine Deutung findst du nicht.‹«

Tiefste Bewegung ergreift den Guardian; nun also, ruft er aus, was ist unsere Weisheit anderes als Wahn, was lehrt alles Bemühen, das Grenzenlose zu erfassen, uns anderes als Verzicht!

»Gleich Völkerzügen, die sich drängen,
In Kampf und Wanderfahrt sich mengen,
So durch des Himmels Ode ziehn
Der Götter reisge Dynastien
Und streiten sich um Raum und Rang
Vom Aufgang bis zum Niedergang.
Doch wie der Strom vorübertreibt.
Sie gehn, – das Weltgeheimnis bleibt.
Und bist du selbst ein Kind der Zeit,
Gleich uns ein Spiel von Lust und Leid,
So laß dir mit uns allen
Den Wechsel auch gefallen!


Ja, wenn es ernst wär' mit dem Einen,
Dem Gleichnislosen, Heiligreinen,
Der uns zu feigen Höhen lenkt,
Mit Schönheit, Geist und Liebe tränkt!
Wie, wenn des Tages Auge strahlt,
Die Farben, die der Morgen malt.
In ihrem bunten Spiel erblinden.
So müßtet ihr ins Blaue schwinden.
Doch ihn mag wohl der Seher ahnen,
Der einsam wandelt hohe Bahnen:
Das Volk, das in der Erde gräbt,
Am derben Trug der Sinne klebt,
Die Schuldbeladnen, Mühsalreichen,
Sie wollen Götter ihresgleichen.
Der Weltkraft innerliches Walten
Muß menschlich greifbar sich gestalten.
Den Trieb verbannt kein Predigtwort,
Kein Taufguß aus dem Herzen fort.
Die Kirche kommt ihm sanft entgegen
Und nützt ihn weise, sich zum Segen.
Glaub mir! Hast du dich eingewöhnt.
Auch du wirst bald mit ihr versöhnt.«

Aber Rausch sträubt sich gegen die Zumutung, daß er den Teufel spielen solle, welcher »der Knecht der Glaubenswut, der Bestie mit dem Heilgenschein« sei; das ist ihm zu niedrig. Der Guardian sucht ihm falschen Stolz auszureden: der Teufel gelte als ein Herr von hohem Adel; Götter und Titanen stammten ja doch alle aus gleichem Hause, was heute Freund heiße, sei morgen Feind:

»So schlimm sie aufeinander wettern.
Sie sind im Grund die nächsten Vettern.«

Und nun folgt eine beißende Satire auf kirchliche Moraltheologie und geistliche Praxis:

»Nein, schilt mir nicht die Herrn der Nacht!
Groß ist ihr Heer und ihre Macht.
Was oft der lieben Gotteshuld
Mit ihrer himmlischen Geduld
In Jahren nicht gelingen mag.
Vollbringen sie an einem Tag.
Sieh unser gläubges Herdentier,
Schwach von Vernunft und stark von Gier
Und stets verlockt, abseits zu werden
Auf dieses Lebens grünen Heiden!
Wie sammelten wir armen Hirten
All die Zerstreuten und Verirrten,
Wär' nicht der schwarze Zottelhund,
Der grimme Wächter, mit im Bund.
Schweift uns ein Wildling überzwerch,
Er scheucht ihn in der Kirche Pferch.
Von Teufelsangst und ihrer Butze
Lebt unsre ganze heilge Muße.
Doch er, so findig vielgewandt.
Ist uns auch sonst noch gern zur Hand.
Denn er ist, ganz wie du, gesellig,
Macht als Verführer sich gefällig,
Erhöht die Ehre, wenn wir siegen.
Entschuldigt uns, wenn wir erliegen.
Denn wo wir straucheln in der Welt,
Da hat er uns ein Bein gestellt.
Wenn wir in Evas Apfel bissen,
Ihm schiebt man alles ins Gewissen.
Drum sieh, wo unsereins gedeiht
Da ist der Teufel auch nicht weit.
Wir haben uns in allen Landen
Von jeher wunderbar verstanden
« Bei Hertz sind die hier und im Vorausgehenden zitierten Verszeilen nicht gesperrt gedruckt, ich möchte sie für meinen Zweck aber hervorheben..

Rausch äußert seinen Widerwillen gegen die vertrackte Teufelsmaske, die zu der Rolle gehöre. Das sei fürs Bauernvolk, beruhigt ihn Irminold; in feineren Kreisen trage auch der Teufel ein gefälligeres Habit. Dem Leser regt sich eine Erinnerung an Mephistopheles. In Zwiespalt, fährt der Guardian fort, lebe ja er selbst, ein Verehrer der Natur und der heiteren Weisheit der Alten, nun aber ein Sklave der Ordensregel, gezwungen, mit armen Schächern den Rosenkranz zu drehen. So wolle es der Eigensinn der Zeit; und darum möge auch Rausch ein Auge zudrücken und sich fügen.

Aber diesen erfaßt Wehmut, denn die Erinnerung an den traulichen Verkehr, den er und seinesgleichen einst mit dem Volke gehabt, an die nimmermüden Wohltaten, die sie, »die guten Holden«, dem Volke erwiesen haben, kehrt ihm zurück. Daß das vergessen, verweht sein solle wie dürre Blätter des Herbstes, ist ihm nicht möglich zu glauben. So zieh hinaus in die Welt, ruft der Guardian ihm zu, und lerne sie kennen! Doch wenn du erfahren hast, daß du ein Wesen ohne Heimat geworden bist, ohne Recht und ohne Liebe, so denke unserer, bei denen dir Zuflucht winkt! – In diesem Augenblick rötet die Sonne den aufsteigenden Tag: Rausch schwenkt sein Hütlein und entschwindet ins Land.

Bis zum Schlusse des fünften Abenteuers ist die Reihe der Begebenheiten, welche die Dichtung erzählt, eine ununterbrochene und aus innerer Notwendigkeit sich fortsetzende Linie. Die Folge der Ereignisse und die Führung der Stimmung haben trotz der epischen Form einen hochdramatischen Charakter; Exposition, Schürzung der Knotens und Katastrophe lassen sich unterscheiden, und zwar so, daß der Exposition das erste »Abenteuer«, der Schürzung des Knotens das zweite entspricht, während sich die Katastrophe in zwei Stößen, in zwei Gesängen entlädt: der erste orgiastisch, im Element des Gefühls, der zweite satirisch, der realistische Rückschlag des nüchternen Verstandes. Der fünfte Gesang ist eine Art von Sühne, vollzogen durch die ausgleichende Vernunft; das Nichtzusammengehörige scheidet sich wieder, der Pakt, den der Guardian im ersten »Abenteuer« mit dem fremdartigen Gaste geschlossen hat, wird gelöst.

Diese innere Kontinuität und dramatische Geschlossenheit kommt der Dichtung außerordentlich zu statten; sie erhält den Leser in einer ununterbrochenen, an Intensität immer wachsenden Spannung, und, bereichert und befriedigt in der Totalität des Geistes, wird er aus der Spannung entlassen, wenn der Verlauf der Handlung zu seinem natürlichen Ende absinkt. Der Ausbau der Erzählung ist meisterlich, und es liegt hierin ein ausschließliches Verdienst des Münchener Poeten.

Indem nun aber mit dem sechsten »Abenteuer« eine zweite Reihe von Begebenheiten anhebt, eine neue Linie, welche vom sechsten bis in den zehnten Gesang sich erstreckt, zerfällt die Dichtung, ohne daß sie diese Gliederung äußerlich bezeichnet, in zwei Hauptteile. Eine Fortsetzung ist allerdings unerläßlich; denn weder kann das Schicksal des elbischen Geistes, der nun einmal in das Weltleben wieder eingetreten ist, mit seiner Entfernung aus dem Kloster für abgeschlossen gelten, noch sind die tieferen Absichten des Dichters, welche der fünfte Gesang zuerst gegen die Oberfläche hebt, bereits völlig am Tage. Ob nun der zweite Hauptteil in dichterischem Prozeß mit dem ersten so zusammenwächst, daß die gesamte Dichtung sich als ein einheitliches Ganzes behauptet, wird zu fragen sein; zunächst liegt in den Worten, mit welchen der Guardian von Rausch Abschied nimmt, eine Hindeutung, daß jene zweite Linie rückläufig werden könnte, daß das Ende der Dichtung mit ihrem Anfang sich wieder verknüpft, indem Rausch von seiner Wanderschaft zum Kloster zurückkehren wird.

Hier ist der Ort, nach dem Ausgang der Sage bei den älteren Bearbeitern uns wieder umzusehen. Die deutschen Gedichte des 16. Jahrhunderts erzählen ihn in folgender Weise. Der Vorfall der Prügelei unter den Mönchen bleibt ohne weitere Wirkung. Eines Tages ist Rausch ausgegangen und hat vergessen, für die Küche zu sorgen; indem er nach Hause eilt, um sein Versehen gutzumachen, gewahrt er auf der Weide eine Kuh; er tötet sie, nimmt das hintere Teil, bereitet es auf der Stelle zu und setzt es den Mönchen vor. Der Eigentümer der Kuh, ein Bauer und Untertan des Klosters, findet nach langem Suchen das übriggelassene Stück; und da er dabei im Wald in die Irre geraten ist, entschließt er sich, in einem hohlen Baume zu übernachten. Da begibt sich ein seltsamer Auftritt. Eine Schar von Teufeln kommt auf den Baum geflogen, mit ihnen ihr Herr und Meister Luzifer, welchem sie Rechenschaft geben. Einer nach dem andern rühmt seine Schandtaten; endlich erscheint auch Rausch und erzählt dem Luzifer, er werde die Mönche bald so weit gebracht haben, daß sie Mörderhand gegeneinander erheben. Danach fliegen die Teufel unter lautem Geräusche wieder von dannen. Entsetzt eilt der Bauer zum Kloster und erzählt dem Abt sein Erlebnis. Dieser läßt sogleich Messe lesen, und als Rausch sich sperrt, in der Kirche zu bleiben, und dem erhobenen Sakrament aus dem Weg geht, greift ihn der Abt und beschwört ihn, daß er in Gestalt eines Pferdes vor der Pforte stehen muß. Von Zorn und Scham überwältigt, begehrt der entlarvte Verführer, daß man ihn ziehen lasse, und gegen das Versprechen, daß er dem Kloster keinen Schaden mehr zufüge und das Land verlasse, gibt ihn der Abt schließlich frei.

Rausch begibt sich nunmehr nach England und fährt in die Tochter des Königs. Vergebens bemühen sich die berühmtesten Meister aus Paris, sie zu erlösen; zuletzt schreit der Teufel aus ihr, nur der Abt eines Klosters, dem er einst Gehorsam gelobt habe, könne ihn austreiben. Der König schickt einen Boten nach Dänemark und läßt den Abt holen; auf die Beschwörung desselben fährt der Teufel aus und stellt sich in Gestalt eines Pferdes neben die Königstochter. Zum Lohn für seine Dienste erbittet sich der Abt eine Last Blei, um sein Kloster damit zu decken; Rausch nimmt die gewaltige Last auf, trägt sie über Meer und ist im Fluge wieder zurück. Nun befiehlt der Abt, daß er ihn selber zum Kloster heimbringe. Rausch gehorcht, worauf der Abt ihm gebietet, in einen hohlen Berg zu fahren und dort zu wohnen bis zum jüngsten Tage. Mit einer Mahnung an die Mönche, sich vor dem Verführer zu hüten, schließen die Straßburger Drucke.

Die ursprüngliche Volkssage, wie sie in Dänemark vor der Reformation umging, erzählte in ähnlicher Weise die Tötung der Kuh, die Versammlung der Teufel im Walde und die Verwandlung des Verführers in ein rotes Pferd. Mit der Entlarvung ist Rausch der Hölle zurückgegeben, die Sage selbst ist zu Ende. Die Verwandlung des Teufels in ein Pferd steht im Zusammenhang mit mythischen Vorstellungen, und Oskar Schade sieht in diesem Zuge einen Erweis, daß ein feindseliger Wasserelb, ein böser Wassergeist, der in deutschen und nordischen Sagen in Gestalt eines Pferdes erscheint, der Rauschsage zu Grunde liegt. Das Abenteuer in England, die Erzählung von der besessenen Königstochter u. s. w., ist späterer Zusatz. Nicht nur die deutschen Gedichte des 16. Jahrhunderts haben ihn ausgenommen, sondern auch das prosaische englische Volksbuch, letzteres mit einer Modifikation, indem an die Stelle des Königs ein Edelmann tritt. Das englische Volksbuch erzählt die Abenteuer, welche Bruder Rausch nach seiner Vertreibung aus dem Kloster erlebt, am ausführlichsten, aber untermischt mit unechten, skurrilpossenhaften, dem Till Eulenspiegel entlehnten Zügen.

Wilhelm Hertz hat sowohl die Tötung der Kuh mit allem, was sich daran knüpft, als auch das Abenteuer in England ausgestoßen; ihm, dem modernen Dichter, und seiner ironisch-hellen Behandlung des Sagenstoffes konnten Geschichten, welche in einem abgeschmackten, spezifisch geistlich gefärbten Aberglauben befangen sind, nicht dienen. Hertz sah sich also bezüglich des weiteren Ganges des Gedichtes wie bezüglich der Motivierung der schließlichen Rückkehr Rauschens in das Kloster auf seine eigene Phantasie verwiesen. Nur eines der späteren »Abenteuer« erinnert noch an die alte Vorlage, und zwar der sechste Gesang, in welchem der Scherz erzählt wird, den sich Rausch mit der Förstersfrau und dem Pfaffen Zephyrin erlaubt, indem er in Abwesenheit der Mutter der beiden Kind in das Haus des Pfaffen trägt und in der Wohnung des Försters an Kindesstatt sich selbst in das Bett legt. Indessen beschränkt sich die Anlehnung an die ältere Erzählung hier lediglich darauf, daß im englischen Volksbuch Bruder Rausch auf seiner Wanderschaft zu einem Landwirt gelangt, dessen Frau mit dem Pfarrer Liebschaft pflegt; alles übrige ist Eigentum des Münchener Dichters. Ästhetisch betrachtet, ist diese Zugabe vortrefflich; denn die Aufnahme des Wechselbalgmotives paßt zu der Natur der Sage, zu der Natur des Elben, der hier die Seite des neckischen Kobolds herauskehrt, und ein Abenteuer, welches den Charakter des heiteren Scherzes trägt, wirkt an dieser Stelle wohltätig, ausgleichend, entlastend von den schweren und starken Erregungen, in die uns die vorausgehenden Gesänge versetzten. Nicht besser, nicht anmutiger als durch den Anschlag dieser leichteren Töne konnte der Übergang vom ersten zum zweiten Hauptteil vollzogen werden.

Sehr anziehend, lieblich und gemütvoll ist auch das folgende »Abenteuer«, das siebente. Es führt uns in das Bauernleben; Rausch wird ungesehen Zeuge der Not eines liebenden ländlichen Paares, und, um ihm zu helfen, bringt er Zauberkünste in Anwendung, wie sie vor alters Hausgeister und Heinzelmännchen den Erdenkindern freundlich geboten haben. Auch diese Erzählung ist dem Sujet völlig angemessen; wir lernen Art und Treiben der »guten Holden« des Volksglaubens näher kennen; und um zu prüfen, ob die Erinnerung an dieses menschenfreundliche Gebaren der kleinen Geister, ob »all der trauliche Verein, die Treue« vergessen sein sollen, zog ja Rausch in die weite Welt. Die poetische Behandlung ist so gehalten, daß wir uns überall aus volksmäßigem Boden fühlen, volksmäßige Anschauungen uns die innere Wahrheit der Dinge verbürgen. Der Meister der Germanistik und Sagenkunde versteht es, da und dort Besonderheiten des Volksglaubens in den Bericht zu verweben, welche, wenn sie auch dem Leser nicht immer vertraut sind, doch den Eindruck des Altertümlichen, der echten Überlieferung machen. Dahin gehört unter anderem im sechsten Gesang die Erwähnung des Brauens von Bier in Eierschalen; ein uralter Gebrauch, wenn es galt, Wechselbälge zu entlarven.

Eine Zeitlang genießt Rausch die Gastfreundschaft des durch ihn glücklich gewordenen Paares, und von Herzen fühlt er sich wohl. Aber Gewohnheit macht die Menschen bald gleichgültig, und ihre Lust an rohem Spaß bereitet seinem Aufenthalt ein jähes Ende. Der Bauernknecht durchsägt heimlich den Ast, auf dem Rausch am Abend zu sitzen pflegt; so stürzt der Ärmste herab zum Gelächter des Volkes. Mit dem einfach-tiefen Wort:

»Wie hart, Frau Erde, bist du doch!
O Menschenundank, härter noch!«

hebt er sich in Schmerzen des Leibes und der Seele von dannen.

Das achte und neunte Abenteuer möchte ich für die kritische Betrachtung zusammenfassen. Des Bauernlebens überdrüssig, ist Rausch in eine Stadt gekommen hohe Türme, Tore und Brücken, feierlich wandelnde Ratsherren und die Schwärme lustiger Studenten erblickt sein Auge. Sein erster Gang führt ihn zu einem Doktor der hohen Schule, einem weisen Manne, der als sonderlich vertraut mit Göttern und Geistern gerühmt wird. Aber der Elb hat Geschlecht und Herkunft dem Doktor kaum genannt, als ihm dieser mit grimmigen Reden die Türe weist: das ganze Göttervolk sei Ammenspuk, Lügenwerk der Phantasten, von ihm für alle Zeiten abgetan, kritisch vernichtet. Und gar ein Wesen, wie Rausch zu sein sich einbilde, das sei nicht einmal Original; aus Ägypten stammten die deutschen Poltergeister, nachgepfuschte Plagiate und verschlechterte Vorstellungsformen aus dem Kreise der Typhonmythe. Verblüfft findet sich Rausch im Hausgang wieder; im Hinabgehen von der Wendeltreppe gerät er in einen Erkersaal, zu einem Gelage zechender Studenten. Der eine der wilden Kumpane glaubt in Rausch ein neuangekommenes Füchslein zu sehen, ein völlig Trunkener apostrophiert ihn, als er den Namen Rausch hört, als seinen alten, unzertrennlichen, wiedergekehrten Freund; am Tische hin und her geschoben, umtobt von Gebrüll und Renommisterei, muß Rausch schließlich die Fuchstaufe, »die Deposition«, über sich ergehen lassen nach allen Regeln toll-abgeschmackten studentischen Comments. Gezwickt und geschunden bricht er durchs Fenster aus, um eiligen Fußes die Stadt zu räumen.

Es ist also ein Stück mittelalterlich-deutschen Universitätslebens, welches diese Abenteuer entrollen. Ihre Absicht kann nicht zweifelhaft sein: Rausch soll Erfahrungen machen, bei denen ihm das Leben unter Menschen städtischer Kultur vergällt, verleidet wird. Dabei freut sich der Dichter an dem Werte der Bilder an sich, ihren geistreich-satirischen Pointen und derben Schildereien. Im letzten, zehnten Gesang finden wir Rausch wieder auf freiem Feld.

Während nun der erste Hauptteil des Gedichtes eine in sich geschlossene Handlung repräsentiert und innerhalb Einer Lokalität sich abspielt, entbehren die Abenteuer des zweiten Hauptteils diesen Zusammenhang; der Ort wechselt beständig, und jedes Abenteuer gibt ein Einzelerlebnis ab. Vielleicht gerade unter dem Eindruck dieses Gegensatzes ist gegen das ganze Gedicht der Vorwurf der Zerstücktheit erhoben worden. Aber mit demselben Rechte könnte man dem Epos, das die Abenteuer des Odysseus erzählt, diesen Vorwurf machen. Gegen den Plan des Dichters, seinen Helden, nachdem dieser aus dem Kloster geschieden ist, auf der Wanderschaft zu zeigen, läßt sich nichts einwenden; und dafür brauchte er doch Ortswechsel, brauchte einzelne Stationen und verschiedenerlei Lebenskreise. Ein inneres Band aller Erlebnisse besteht, insofern der Dichter seinen Helden und mit ihm uns selbst überzeugen will, daß der Existenz des Elben in der Welt, wie sie geworden ist, jeglicher Boden fehlt, daß dem Rate des Guardians zu folgen für Rausch das Beste wäre. An sich ist also eine Reihe von Abenteuern, von denen äußerlich jedes des Zusammenhanges mit dem vorhergehenden entbehrt, vollkommen berechtigt. Eine andere Frage aber ist, ob auch die zuletzt geschilderten Abenteuer dem Geiste des Sujets gemäß sind, ob nicht bei ihrer Art und Haltung jenes wesentliche Band und führende Motiv geschwächt wird. Und nach dieser Seite hin scheint mir ein Vorwurf an der Stelle zu sein. Nur zögernd gegenüber einer so großen poetischen Kraft, nur nach langem Erwägen und indem ich immer wieder auf die beim Lesen empfangenen Eindrücke zurückkomme, möchte ich die Meinung aussprechen, daß der achte und neunte Gesang nicht als vollkommen organische, ebenbürtige, gefügige Glieder in der Kette der übrigen stehen und daß mit ihnen die Dichtung etwas absinkt.

Mit gutem Grunde wird Rausch vom Land in die Stadt geführt, von der Bauernwelt in die Kulturwelt. Und es ist ein höchst geistreicher Einfall des Dichters, daß dieses zarte, luftige Wesen der Mythe und Volksphantasie mit einem Repräsentanten des nüchternen Verstandes, des gelehrten Dünkels, des wortfertigen Rationalismus zusammentrifft. Bis hieher ist alles wohl eingeleitet. Wenn aber der weise Doktor nun auseinandersetzt, daß Ägypten die Heimat germanischer Mythen sei, daß Typhon dem Geiste, für den Rausch sich ausgebe, zu Grunde liege, so befinden wir uns plötzlich im Gebiete modern-wissenschaftlicher Polemik und vor einer mythologischen Spezialfrage. Dergleichen scheint mir gerade dieses Produkt, welches das gelehrte Wissen des Dichters mit so feiner Kunst hinter der Szene hält, nicht zu vertragen. Es kommt hinzu, daß sich die Satire gegen ein Mißverstehen zu schützen hat. Bekanntlich war es der Archäologe Julius Braun, der die Hypothese, daß alle Religion und Mythenbildung in Ägypten ihren Ursprung habe, aufgestellt hatte. Sie war ein Irrtum des geistreichen Mannes und sollte in dem Gebaren und in den Reden des von Rausch besuchten Doktors persistiert werden. Aber nur für diesen einen Zug sollte Julius Braun, der mit Hertz befreundet war, das Modell abgeben. Indessen wird der Doktor in der Dichtung zu einer Figur des groben Gelehrtendünkels; dazu will die Persönlichkeit Brauns nicht mehr passen, und der nicht genauer eingeweihte Leser, der doch die Anspielung merkt, fragt sich, wie weit der Angriff berechtigt ist. Dies alles verwirrt und beeinträchtigt das poetische Genießen.

Was aber das neunte »Abenteuer« betrifft, so sind ja die Schilderungen an sich von unbestreitbarer Trefflichkeit, und ein Geschmack an dieser drastischen Zeichnung mittelalterlichen Studentenlebens fehlt mir so wenig wie einem. Aber der Zusammenhang mit der dichterischen Fabel ist doch ein zu lockerer; einem rohen Zufall sich preisgegeben zu sehen, von einer Gesellschaft halbwilder, halbtrunkener Menschen in possenhafter Weise mißhandelt zu werden, das kann doch für die Erfahrungen, welche Rausch in der Menschenwelt machen soll, nicht hoch ins Gewicht fallen. Hier liegt pure Episode vor; man fühlt, daß der Dichter einem subjektiven Behagen, launigen Reminiszenzen nachgab, als er diese Schilderungen ausmalte. Auch bin ich bedenklich, ob unsere Phantasie den elbischen Geist inmitten dieser realistisch-historisch gezeichneten Gesellschaft sich ohne Bruch vorzustellen vermag; sehen müssen wir ihn ja immer, mit unseren inneren Augen und in einer sagenmäßigen Gestalt. So viel Körperlichkeit ihm der Dichter gibt, so ließ er ihm bisher doch immer eine gewisse phantastische Freiheit der Erscheinung und Macht über irdische, die wirklichen Menschen beengende Schranken. Für einen Wechselbalg konnte man ihn nehmen, in eine Wiege konnte »der Kleine« sich legen, als ein Heinzelmann den Bauern erscheinen; aber daß er als studentischer Fuchs, wenn auch wider Willen und vor getrübten Augen mitspielen soll, das scheint sich in die Voraussetzungen nicht mehr völlig zu fügen, dabei zerfließt uns die Sicherheit des Phantasiebildes, der Umrisse.

Dem Dichter Abänderungsvorschläge zu machen, wäre mir nicht zugestanden; ich will nur sagen, was mir als etwa möglicher Ersatz der kritisch bestrittenen Partien gerade einfällt, was ich vielleicht formen würde, wenn ich die Aufgabe des Dichters hätte. Wie wäre es, wenn Rausch, als zwerghafter Famulus etwa, in die Dienste des Doktors träte? Wenn er bei ihm einige Zeit bliebe und allerlei Spuk und Spott den übermütigen Leugner der Geister in Verwirrung brächte? Denn in der Natur eines Haus- und Poltergeistes müßte Rausch insgeheim agieren und dem platten Rationalismus ein Bein um das andere stellen. Wie der achte und neunte Gesang jetzt vorliegen, ist der Stoff wenig ergiebig, beide Gesänge brechen auch rasch ab; nähme man aber jenes Motiv auf, welches Feld wäre für Satire, für komische Situationen, für eine reichere Exposition gegeben! Das ließe sich ausspinnen zu einem größeren Gesang; die Figur des »Proktophantasmisten«, von Goethe in der Walpurgisnacht nur nebenher skizziert, käme zur vollen Durchbildung. Der Doktor (der als ein Mann des Mittelalters von Julius Braunscher Ägyptologie nichts wüßte) würde dem Unwesen aus den Grund spüren, würde, immer genarrt, doch endlich Sieger bleiben, das heißt mit grober Gewalt den verdächtigen Gast, der in sein wissenschaftliches System nicht passen will, aus dem Hause treiben, studentische Fäuste könnten dabei helfen – genug, ich will das nicht weiter ausführen, aber es scheint mir fast, als ob sich zum Vorteil des Gedichtes etwas daraus machen ließe.

Ich eile zum Schlusse. Ein leuchtendes Geschenk der Poesie ist wieder der zehnte Gesang. Rausch ist auf freiem Felde, in trüber Nacht, ziellos schweifend, im Tiefsten niedergeschlagen. Da bemerkt er im Ackerpfad ein irrlichtartiges Wesen flackernd und über Schollen hüpfend, ein Feuermännlein; er schaut ihm ins Gesicht und erkennt Mummhart, seinen alten Vetter und Genossen. Unwirsch will Rausch ihm die seltsamen Sprünge verweisen; aber dieser, schwerbetroffen, seufzt auf und klagt, ihm sei keine Wahl geblieben als unter dem Namen einer armen Seele, in Gestalt eines Feuermanns das bedrängte Leben zu fristen. Rausch wird kleinlaut; er erzählt das Angebot des Guardians; das auszuschlagen, sei eine Tollheit, meint der andere:

»Was ziemt uns Kleinen dies Gewimmer?
Ging's doch den großen Herrn noch schlimmer.
Wie Opferrauch im Wind verweht,
Schwand ihnen Macht und Majestät.
Willst du's erproben, komm mit mir!
Die alten Götter zeig' ich dir.
Am Kreuzweg im verfemten Grunde,
Da ziehn sie heim von nächtger Runde.«

Und nun führt der Dichter die Wilde Jagd an unseren Augen vorüber:

»›Hier harre still! Sie nahen schon.
Hörst du der Eule Jammerton?
Spürst du, wie alles, was da lebt,
In dumpfen Ängsten bangt und bebt?
Das Waldweib stöhnt im Hagedorn;
Windkatzen laufen durch das Korn.
Die Wolkenwölfe ziehn in Rotten
Mit ihren grauen Wetterzotten.
Der ganze Wald erknarrt und kracht:
Sieh hin, da kommt's! Es flammt die Nacht!‹ –
Und durch die Lüfte braust im Flug
Ein greulicher Gespensterzug,
Ein Galgenvolk, zu Haufen
Dem Rabenstein entlaufen:
Gehenkte Diebe mit dem Strick
Um das gebrochene Genick,
Geköpfte, ein gedrängter Schwarm,
Zu Roß, ihr glotzend Haupt im Arm,
Geräderte, durchs Rad geschlungen,
Zerschellt, mit ausgereckten Zungen,
Schnapphähne mit zerschlitzten Lippen,
Den Pfahl des Schinders in den Rippen
Ein Mordgesindel ohne Zahl,
In Leichenstarre, fahl und kahl,
Von Krähen jämmerlich zerhackt.
In blutgen Fetzen schmählich nackt,
Verwest, verwittert und verzaust,
Mit Nattern in der Knochenfaust.
Und Weiber kommen mitgefahren
In wüstem, buhlendem Gebaren,
Sturmhexen, die auf Besen sitzen,
Mit dürrem Leib und schlaffen Zitzen.
So jagt mit rasendem Geschrei
Das wilde Totenheer vorbei.

›Sieh‹, raunte Mummhart, ›dieses war
Dereinst Walhallas Heldenschar.
Und denkst du noch der Wolkenfraun?
Wie war es herrlich anzuschaun,
Wenn sie, den Helm im Goldgelock,
Mit Speer und Schild und Waffenrock,
In siegreich königlichen Sitten
Zum Walfeld durch die Lüfte ritten!
Erkennst du sie, den Stolz der Lieder,
In diesem Hexentrosse wieder?
Und kennst du den vergrämten Mann,
Der dort im Fuchshut trabt voran?
Der Alte auf dem magern Schimmel,
Dereinst der höchste Herr im Himmel,
Durchirrt er nun, entthront, verdammt,
Sein treulos Volk. Was ihn umflammt
Das ist der Hölle Feuerschein:
Beim Satan zieht er aus und ein.
Er, den vor Ehrfurcht ganz verzagt
Wir einst kaum anzuschaun gewagt.
Der Gott der Helden und der Dichter,
Der führt nun dieses Schandgelichter!‹« –

Ein bewundernswertes Gedicht! Grandiose Anschauung, Worte aus den Urquellen der Poesie zuströmend, Erhabenstes und Grauenhaftes gemischt zu erschütterndem Eindruck! Von solcher Art war die Phantasiekraft, aus der die Germanen selbst ihre Mythe geschaffen haben.

So hat denn Rausch das Schicksal der Götter gesehen, er ist überwunden. Kein Wort kommt über seine Lippen. Am Morgen aber erscheint in der Zelle des Guardians ein kleiner roter Teufel. Es ist Rausch. Er hat sich dem Kreise der christlichen Vorstellung anbequemt.

Begrüßt von den Mönchen, freundlich gehalten vom Guardian, wird Teufel Rausch dem Kloster zum ergiebigsten Segen. Er reizt die Brüder durch Versuchung zum Glaubenskampf, wenn sie in Trägheit und Lässigkeit fallen wollen; er läßt sich exorzisieren und fährt in den Berg zur innigsten Erbauung der Frommen; er kehrt wieder, wenns an der Zeit ist, wenn die geistliche Zucht eines frischen Stachels bedarf. Der Ruhm dieses Wunders geht durch die Lande, und Fülle der Reichtümer strömt dem Kloster zu. Und weltversöhnt lebt er selbst, Freund Rausch, in Ansehen, in bester Laune, ein Optimist, der sich die Menschen nach der Regel zurechtgelegt hat:

»Wenn sie erst wenig uns behagen.
Wer tiefer blickt, lernt sie ertragen.
Ich nahm die Sache viel zu krumm:
Sie scheinen schlecht und sind nur dumm!«

Jetzt, nachdem wir uns den Inhalt und den künstlerischen Wert sämtlicher Gesänge vergegenwärtigt haben, wird es gelten, den intellektuellen Gehalt der Dichtung zu formulieren. Und hier ergibt sich, daß ein großer historischer Prozeß im Schicksal einer Person veranschaulicht ist. Was Bruder Rausch erlebt, ist ein Spiegelbild der Geschichte religiöser Vorstellungen, des Sinkens und der Entartung einer mythischen Welt, der Unterwerfung eines alten Glaubens unter die Herrschaft eines neuen. Immer wiederholt sich der gleiche Verlauf: eine neuaufkommende Religion besiegelt ihre Herrschaft über den bisherigen Glauben, indem sie seine Götter in ihren eigenen Vorstellungs- und Mythenkreis aufnimmt, aber herabgewürdigt, verwandelt in böse Geister, Dämonen, ungeschlachte Riesen, Spukgestalten, Hexen und Teufel. Wollte die neue Herrscherin mit Verstandesargumenten den Nachweis führen, daß die gestürzten Götter der Existenz entbehrten, so wäre die äußerste Konsequenz keine andere als die, daß die Glaubwürdigkeit der siegreichen Götter selbst in Frage käme. Denn die Annahme transzendentaler Wesen muß logischermaßen die einen wie die anderen gelten lassen; sind beide doch nur der Zeit und dem Ideal nach verschieden, dem Wesen nach aber gleichartig, das eine wie das andere Mal geboren aus der Sehnsucht der Menschheit, den letzten Grund der Dinge, das Wesen des Alls, die ewigen Mächte der Natur zu begreifen, an das Unvergängliche das vergängliche Leben zu knüpfen und die Abhängigkeit des Einzelnen von dem Ganzen in Ehrfurcht zu bekennen. Und hier wie dort ist es die mythendichtende Volksphantasie, welche Naturvorgänge beseelt, Bewegungen des subjektiven Bewußtseins objektiviert, Eindrücke des Äußeren und Inneren in Gestalten veranschaulicht. Im Gefühl dieser Wesensgleichheit aller Mythenschöpfung setzt sich die siegreich vordringende Religion mit der besiegten schließlich in Frieden auseinander, und die alten Götter werden ihr dienstbar, indem sie die Rolle der Verführer zum Irrtum und Bösen übernehmen. Ja, innerhalb einer einzigen Religion kommt der Prozeß der Herabwürdigung älterer Mythe zum Ausdruck, und der Fortschritt von roheren, im Bann des Naturkultus befindlichen Vorstellungen zu menschlich freieren und edleren wird zu einem Bild: die Göttergestalten anfänglicher Mythe leben in der Erinnerung als eine entthronte Dynastie, auf Kronos folgt Zeus, und wider die Titanen kämpfen die olympischen Götter. Im Zusammenstoß zweier Religionen aber wird Wodan zum Heerführer der Wilden Jagd, und Freyja, die heidnische Göttin der Liebe und Schönheit, als Frau Venus zur Personifikation der Wollust.

Und ein derart religionsgeschichtlicher, ideal-allgemeiner Vorgang wird hier in der Dichtung »Bruder Rausch«, wie sie Hertz geschaffen hat, angeschaut in einem Bild, in einem konkreten Einzelereignis. Das Gedicht ist theogonisch-parodistisch. Aber es bleibt hiebei nicht etwa ein abstraktes Gedankenelement gesondert für sich und hinter dem Stoffe; sondern der gesamte geistige oder Ideengehalt ist in sinnliche Erscheinung, in Vorgang und Erzählung umgesetzt. In dieser reinen Umschmelzung, dieser Transparenz liegt der hochsymbolische und der echt künstlerische Charakter des Gedichtes. Ein gewaltiges historisches Gesetz spiegelt sich in den Ereignissen; aber die Ereignisse sind in ihnen selbst motiviert, erklären sich aus sich selber, in ihrer unmittelbaren Bedeutung jedem verständlich, und das Gedicht gewährt gleich dem Volksmärchen, an welchem jung und alt sich erfreut, dem simpelsten Leser Genuß wie dem anspruchsvoll hochgebildeten Geiste.

Fragt man aber, worin der einheitliche Charakter des Helden der Dichtung bestehe, soweit dieser handelnd sich betätigt, so glaube ich, daß man eine Personifikation der Sinnlichkeit in Rausch zu suchen hat. Von ihr gilt das Wort Hamlets: An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu. Das Denken, die menschlichen Verhältnisse, die Beziehungen der Dinge. Der Unnatur und Unwahrheit der Askese tritt, in Rausch personifiziert, die Sinnlichkeit entgegen, in der Form der Naivetät, als Frohsinn und Lebensfreude, als Lust an der Schönheit, als Liebesdrang, eine elementare, vollberechtigte Macht. Sie siegt. Nun ist der Mensch ein Bürger zweier Welten, einer sinnlichen und einer geistigen, und in der Harmonie beider liegt die Ausgabe des einzelnen Lebens und des Lebens der Menschheit, das Gesetz der Vernunft und das Ziel der Kultur. Die Brüder, denen Rausch dient, stehen auf der Stufe eines vermittlungslos groben Kontrastes beider Welten; und so wirkt in ihnen die Sinnlichkeit als eine einseitige, geistfeindliche Macht, und indem sie ihrem Locken sich hingeben, sinken sie in träges Erschlaffen, in Schwelgerei, in rohen Genuß, verfallen der Sünde, dem Bösen.

Es bleibt mir nur übrig, am Ausgang meiner Untersuchung aus die außerordentliche Meisterschaft, welche Wilhelm Hertz in der Behandlung des Verses bewährt hat, hinzuweisen. Es ist deutsches Versmaß, eine durchlaufende Folge von Reimpaaren, wobei jede Zeile eine Anzahl von Hebungen hat. Scheinbar einfachen und einförmigen Gesetzes, entfaltet dieses Versmaß, wie es von Hertz gebraucht wird, die lebendigste Mannigfaltigkeit. Ein äußerlicher Wechsel liegt schon in dem Umstand, daß die letzte Silbe bald die Hebung anhält, bald in die Senkung fällt, sowie daß männliche und weibliche Reime einander ablösen. Aber dieser Wechsel ist nicht willkürlich und zufällig, sondern er steht unter inneren poetischen Bedingungen, er wird zu einem auf die poetische Empfindung und Anschauung künstlerisch wirkenden Mittel. Auch das Gewicht der Hebungen ist veränderlich. Zur Musik der Sprache, welche den Versen des Münchener Dichters im höchsten Maße eigen ist, gesellt sich so eine rhythmische Malerei, die von Art und Inhalt der Vorstellung ihre Modifikationen empfängt. Einige der mitgeteilten Proben werden auch dem, dessen Ohr weniger empfänglich ist, einen Begriff von der Sache gegeben haben.

Wir fassen unser Urteil zusammen. Tiefsinn also wohnt in dem Werke, das doch, dem Leser gefällig, mit jedem Reize des Schönen sich geschmückt hat. Denn die helle Lebensfreude atmet es, Grazie umstießt es, ein Strom von Wohllaut ist seine Sprache und aus allen Ecken und Enden quillt Schalkhaftigkeit und goldener Humor. Wer mit ihm vertraut geworden ist, Muß es lieben, und niemals wird man in Deutschland dieser Dichtung vergessen: einen unsterblichen Namen verbürgt sie ihrem Schöpfer.



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