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I.
Nekrolog


Deutschland ist um einen Dichter ärmer geworden. Um einen Dichter, an dem die Natur wieder einmal offenbar machen wollte, was ein geborener Poet sei. Um einen Dichter, dessen Schöpfungen sich zu den Werken vieler anderer seiner Zunft verhalten wie lauteres Gold zu irgend einer Legierung oder Metallmischung. Um einen Dichter, der heute noch viel zu wenig gekannt ist, dem aber jedes kommende Jahrzehnt den Kranz des Ruhmes vermehren wird. Ihn, den vorerst fast nur der engere Kreis der Litteraturfreunde nach Gebühr zu schätzen wußte, wird einst unser Volk zu seinen Lieblingen zählen, und immer wieder werden schönheitsdurstige Seelen sich an ihm erlaben wollen. Denn, fürwahr, ein Rosengarten ist seine Dichtung und köstliche Quellen fließen darin. Wilhelm Hertz aber, über den sich in der zweiten Woche des neuen Jahres der Grabhügel geschlossen hat, ist dieser Dichter gewesen.

Daß dem hohen litterarischen Rang, den die Kritik, den das Verständnis für Poesie dem Dahingeschiedenen einzuräumen genötigt ist, die Breite seiner Wirkung auf das Publikum bis heute nicht gleichkommt, kann kaum befremden. Die so bescheidene als vornehme Art seiner Natur, die ihn abhielt, auf dem literarischen Markt sich mit lauter Stimme geltend zu machen, auch die Keuschheit und Sparsamkeit seines Talentes, das nur da, wo das innerste Bedürfnis ihn drängte, in die Saiten griff, erklären es zum einen Teile. Zum andern der Umstand, daß die Gattungen, in denen er dichtete, die Lyrik und das Versepos waren. Die Empfänglichkeit für Lyrik setzt innerliche Menschen voraus, und in unserer hastenden und in praktischer Betätigung jeder Art ihre höchste Befriedigung suchenden Zeit sind diese seltener geworden als jemals. Ein Gedicht – ein gutes freilich, ein sehr gutes – zu lesen oder zu hören, ist noch immer einer der größten geistigen Genüsse und wird es bleiben. Aber die Mittel, mit denen die Poesie als Lyrik wirkt, sind zu fein, als daß bei dem heutigen Stande unserer litterarisch-künstlerischen Kultur ein irgendwie sicheres Wertgefühl für die Erzeugnisse dieser Art in weiten Kreisen lebendig wäre; was bei einem Gedichte die innere Form heißt – und gerade diese macht das vollendete Kunstwerk –, spürt unter tausend Lesern kaum einer, und für die Tonwelt der Sprache ist das Ohr der heutigen Deutschen sehr stumpf geworden. Noch ungünstiger aber als den Lyriker bettet den Epiker, sofern er nicht als Roman- oder Novellendichter tätig ist, die Gegenwart. Für eine Versmasse, wie sie das Epos auszubreiten pflegt, haben wir angeblich keine Zeit, und mit der Erinnerung an des seligen Klopstocks Messias oder an Pyrkers langweilige Tunisias weiß sich diese Aversion auch begründet. Die Erzählungsform des Romans und der Novelle hat das Versepos abgelöst; eine Geschmackswandlung, die man wie eine naturgesetzliche Tatsache hinnehmen muß, scheint hierin vorzuliegen. Dennoch ist jeder zu beklagen, der die Odyssee niemals ganz, der niemals das Nibelungenlied gelesen hat, und daß das Versepos in gewissen Unterarten oder unter gewissen Bedingungen noch in der Gegenwart volles Lebensrecht hat, das haben uns Dichter wie Mörike, wie Wilhelm Hertz und – in dem ihm zukommenden Abstand von ihnen – Viktor Scheffel bewiesen.

Es ist in der Litteraturgeschichte üblich geworden, von einer »Münchner Dichterschule« zu reden; die Begrenzung dieses Begriffes ist aber eine ziemlich unsichere, obwohl in der Regel Geibel, Heyse, Graf Schack, Julius Grosse, Bodenstedt, Lingg und auch Wilhelm Hertz ihr zugezählt werden. Geibel war im Jahre 1852 von König Maximilian II. nach München berufen worden, Heyse 1854; diese beiden vereinigten um sich eine Anzahl gleichstrebender Männer, und in der Gründung der litterarischen Gesellschaft »Das Krokodil« wie in der Herausgabe des Münchner Dichterbuchs vom Jahre 1862 bekundete sich der Zusammenschluß. Am Münchner Dichterbuch aber beteiligten sich außer anderen auch Hans Hopfen, Heinrich Leuthold, Felix Dahn, Melchior Meyr und Carriere, und das »Krokodil«, das etwa 25 Jahre lebte, hat viele Mitglieder gesehen, da außer den bisher genannten Poeten auch Andreas May, Heinrich Reder, Hermann Schmid und Jensen, in späteren Jahren Max Haushofer, Karl Stieler und Ludwig Laistner ihm beitraten, als Gäste auch Scheffel und Adolf Wilbrandt in ihm verkehrten. Der Kultus der schönen Form, die Richtung auf das von aktuellen Tendenzen sich fernhaltende Reinmenschliche und Ideelle, die Pflege der Weltlitteratur im Sinne Goethes, auch die Neubelebung der Dichtung auf dem Boden der Germanistik: das ist es etwa, was als das Besondere der Münchner Dichterschule angegeben wird; man gesteht ihr zu, daß diese Bestrebungen gegenüber der zuvor herrschenden politischen Tendenzpoesie des »jungen Deutschlands« und seiner Unterschätzung der Kunstform geschichtlich berechtigt waren, macht ihr aber zugleich den Vorwurf der Schönseligkeit, des Schwelgens in formaler Technik, des Eklektizismus und der Abwendung vom eigentlich Volksmäßigen und von den großen Problemen des Lebens. Genaue Sachkenntnis weiß freilich, daß bei mehreren der aufgezählten Autoren nur eine äußerliche oder flüchtige Beziehung zu den tonangebenden Dichtern Münchens bestand, und will man gerecht sein, so muß man einräumen, daß auch auf die letzteren jene herkömmliche Charakteristik nur teilweise paßt. Von einer »Schule« läßt sich ja überhaupt nur reden unter Beschränkung auf die Jahre, in denen Geibel beteiligt war; dieser allerdings, der auf die Reinheit der äußeren Form strenge hielt, hat für die Jüngeren eine Art von Lehrmeister abgegeben. Aber Geibel verließ München in den sechziger Jahren, und andere, die neben ihm standen, wie Heyse und Hertz, waren von Anfang an geistig bedeutendere Individualitäten und wuchsen über das Niveau des Münchner Dichterbuchs weit hinaus. Dabei ist es um so unbilliger, alle jene Mängel der Münchner Schule aufzuhalsen, als man zugeben muß, daß die von Geibel in München vertretene Richtung damals auch im übrigen Deutschland sich geltend machte. So befindet sich denn die klassifizierende Litteraturgeschichte gerade bei Hertz in merklicher Verlegenheit. Das tat ganzen vorzügliche Buch von Karl Weitbrecht (»Deutsche Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts«) schließt an Geibel und die Besprechung der Geibelschert Richtung v. Schack, Grosse, Bodenstedt, Heyse an, in einigem Abstand sodann Lingg, Leuthold, Hertz, Hans Hopfen und zuletzt – Gottfried Kinkel und Otto Roquette; befremdlicherweise wird auch Martin Greif, der viel eher Verwandtschaft mit schwäbischen Lyrikern als mit Geibel zeigt und äußere Beziehungen zu Geibel gar nicht hatte, in diesem Zusammenhang mit aufgeführt. Von Lingg heißt es, daß er unter dem älteren Münchner Geschlecht eine Sonderstellung einnehme, und von Hertz, daß er auf den ersten Blick als reiner Münchner Formkünstler erscheine, bei näherem Zusehen aber einen unter die Münchner gegangenen Schwaben erkennen lasse. Anders als Weitbrecht verfährt der geist- und charaktervolle, mitunter aber subjektiv voreingenommene und in Bezug auf die Münchner Dichter merkwürdig unsichere Adolf Bartels (in seiner »Deutschen Dichtung der Gegenwart«, 4. Aufl.). Auch ihm geht Lingg »nicht ganz in den Münchner Schulrahmen«, und aus Hertz, Dahn, Hopfen, Leuthold, Wilbrandt und Jensen konstruiert er zunächst mit seltsamer Chronologie eine Gruppe »Jungmünchen«; im folgenden kommt er auf Hertz in zwei Abteilungen zurück, und zwar zuerst im Abschnitt »Frühdecadence«, sodann bei der »Archäologischen Dichtung«. Die eine Zuweisung ist so unglücklich wie die andere, und Bartels selbst muß gestehen, daß sich Hertz unter den »jüngeren« Münchnern von der Decadence oder »dem Verfall am freiesten erhalten« habe. Man könnte aber für die Sonderstellung, die dieser Dichter in der Tat einnimmt, auch anführen, daß, als in den achtziger Jahren der moderne Naturalismus gegen die ehemaligen Genossen Geibels das Geknatter seiner öfters mit Schmutz geladenen Mitrailleusen eröffnete, Hertz verschont blieb. Stehen nun die Dinge so, so wäre es doch wahrhaftig an der Zeit, einzusehen, daß man mit dem zähen Festhalten an der Fiktion einer Jahrzehnte hindurch dauernden »Münchner Schule« nur zu allerlei Schiefheiten des Urteils gedrängt wird. Besser wäre es wohl, wenn man die Geibelsche Richtung als eine Entwicklungsphase der deutschen Poesie schilderte, vom zeitweiligen Zusammenschluß mehrerer Poeten um Geibel in München spräche, sodann aber die bedeutendsten dieser Dichter nach Gesichtspunkten, die ihrer individuellen Eigenart gerecht würden, gruppierte. Es ist nötig, das von München aus einmal zu wünschen. Denn schon reißt litteraturgeschichtlich der die Verwirrung noch steigernde Mißbrauch ein, für die der »Münchner Schule« zugerechneten Dichter kurzweg den Ausdruck »die Münchner« zu gebrauchen, mit dem Namen »Münchner« und »Münchnertum« aber alles zu bezeichnen, was von 1850 bis 1880 mit der Geibelschen Poesie Verwandtschaft zeigt: Dichter, die eingestandenermaßen »nie nach München gekommen sind«, werden Münchner genannt, bei Wilbrandt wird vom »Münchnertum« gesprochen, das in ihm stecken geblieben sei, und bei Roquette heißt es, er habe Gedichte, die zum Besten der »Lyrik Münchner Art« gehören. Gegenüber dieser mit einem Schlagwort sich gefallenden Willkür muß denn doch erinnert werden, daß die tonangebenden Dichter des Geibelschen Kreises gerade nicht bairischen Stammes, sondern nord- und mitteldeutscher Herkunft waren, und daß die gleichzeitigen einheimischen Talente, Kobell z. B., Franz Trautmann und Ludwig Steub, mit der angeblichen Münchner Richtung nichts zu tun hatten und außerhalb des Geibelschen Kreises blieben. Aber auch die Volksschilderer Maximilian Schmidt und Ganghofer, auch der Lyriker Martin Greif, auch der Novellist Karl Heigel, auch der Verfasser des Staatsromans »In purpurner Finsternis«, M. G. Conrad, haben lange in München gelebt, spielten und spielen in München eine litterarische Rolle und gehören der Mehrzahl nach dem bairischen Stamme an. Sind das nun litterarhistorisch etwa »Nichtmünchner«, weil sie zur Geibelschen Schule ohne Beziehung oder in Gegensatz sind? Man steht, wohin jener Gruppierungseifer führen muß. Im Namen der guten Stadt München aber verwahren wir uns, Ältere und Jüngere, daß alles, was auf Geibelsche Formkunst, Sentimentalität und Rührseligkeit geeicht ist, litterarhistorisch »das Münchnertum« heiße.

Wilhelm Hertz war im Alter von 23 Jahren nach München gekommen; fast gleichzeitig, 1859, gab er zuerst einen Band » Gedichte«, Lyrisches, Balladen und Episches enthaltend, heraus Hamburg bei Hoffmann und Campe. Nahezu alle späteren Dichtungen, auch das Buch »Deutsche Sage im Elsaß« und die Abhandlung »Der Werwolf«, hat Adolf Kröner, beziehungsweise die I. G. Cotta'sche Buchhandlung in Stuttgart verlegt; nur die Übersetzung von »Aucassin und Nicolette« veröffentlichte Hertz zuerst in Wien, und im Einzeldruck bei Straub in München erschien der am 17. Juli 1871 beim Festmahl für bayerische Krieger im »Museum« zu München gesprochene »Gruß an das Heer«.. In den » Gesammelten Dichtungen«, welche im Jahre 1900 erschienen, ist die lyrische Abteilung um ein gutes Drittel vermehrt, einige der älteren Gedichte sind ausgeschieden, an anderen wird die Selbstkritik des Autors bemerkbar, die hier einen verwilderten Schößling der Phantasie zu beschneiden, dort einen Vers mit größerer Anschaulichkeit zu sättigen bemüht war. Die frühesten Gedichte geben den romantischen Empfindungen des jugendlichen Herzens Ausdruck und hiebei zeigt sich im Ton zuweilen ein Anklingen an zeitgenössische Muster, an Mörike z. B. in dem zarten, innigen Gedichte »Der erste Kuß«, an Heines kokette und an Geibels fromme Sentimentalität – das Gedicht »Mein Herz« redet die Sprache der einen, das Gedicht »Die Verlassene« die der anderen. Doch nimmt diese Lyrik bald eine individuellere Färbung an, und zwar ist es ein starkes und heißes erotisches Empfinden, das sie zunächst kennzeichnet. Mit der Unbefangenheit der Antike preisen die Gedichte der Liebe sinnliches Glück und die weibliche Schönheit, und zu einem »derben Drang nach Erdenlust«, zu einem dionysischen Erfassen der Lebensfreude bekennt sich der Dichter. Aber es ist eine Geistwelt, die sich ihm im Genießen auftut: der allbelebenden Schöpfungslust und Segensfülle der Natur wird er im eigenen Sein sich bewußt, am Besitze der Geliebten erwärmt sich das Herz, und in ihrer Schönheit erkennt er, wie das merkwürdige Gedicht »Traum und Wirklichkeit« ausspricht, die Harmonie des Alls, das ewige Licht, von dem er selbst ein Teil, »mitew'ges Licht«, ist, wieder. Unter diesen Gesichtspunkten wollen mehrere in Distichen abgefaßte, ihrer Art nach zu Goethes Römischen Elegien sich gesellende Gedichte genommen sein: »Liebe im Wetter«, »In ihrem Schoße« und »Segen der Nacht«. Des Rühmens wert ist insbesondere das letztere; »Liebe im Wetter«, das etwa aus dem 20. Lebensjahre des Dichters stammt und noch kühner redet, hat Hertz aus der späteren Sammlung ausgeschlossen, einer zarten Rücksicht nachgebend, aber doch wohl auch, weil an ein paar Stellen die Grenze der Schönheitslinie überschritten ist. Mehr dürfte zu bedauern sein, daß das Gedicht »Liebesfrühling« nachmals von seinem Schöpfer verstoßen wurde. Wenn aber in der jugendlichen Lyrik (und auch in den Balladen) von Wilhelm Hertz das Irdisch-Stoffliche nicht immer von der künstlerischen Form ganz aufgezehrt ist, so muß doch sogleich an dieser Stelle gesagt werden, daß für das Schlüpfrige wie für das Frivole bei ihm nirgends Raum ist, und daß der gereiste Dichter wie nur je einer es verstanden hat, seinen erotischen Gemälden so viel Zartheit und künstlerisches Maß als Lebenswärme und Farbe zu geben. Um von seiner Liebeslyrik einen vollen Begriff zu bekommen, beachte man denn auch poetische Erzeugnisse wie das überaus anmutige, im Tone eines fahrenden Schülers der Humanistenzeit gedichtete »Lied der verlassenen Liebe« oder das ein inniges und weiches Empfinden hervorkehrende Gedicht »Mein Engel hüte dein« oder »Heimkehr«, das in trefflicher Knappheit den Zustand eines zur Resignation gezwungenen Herzens malt, beachte insbesondere die Gedichte »Liederstille« und »Daheim«, beide den späteren Mannesjahren unseres Sängers angehörig und beide den Frieden geläuterter und gesicherter Liebe in schlichten Herzenstönen aufs schönste preisend. Unter den Gedichten, in denen die lyrische Stimmung sehr glücklich zum Ausdruck gekommen ist, mögen hier noch »Komm, süßer Schlaf«, »An die Nacht«, »Immer stiller fließt das Leben«, »Unter blühenden Bäumen«, »Bergeinsamkeit« und »Wiedersehen« hervorgehoben sein; aber auch das prächtige, germanische Trinklust und Trinkkraft mit Humor zeichnende »Thors Trunk« darf diese, wenngleich flüchtige, Übersicht nicht vergessen. Autobiographisch im engsten Sinne, bedeutsame Vergegenwärtigungen des der Persönlichkeit das Grundgesetz gebenden Schicksals sind »Glückliche Geburt« und das tiefempfundene »Am Grabe meiner Mutter«; auch die schweren Klänge, die den Manen eines frühe und vorzeitig abgeschiedenen Bruders ertönen, gelten dem eigensten Erleben. Für Politisches und Patriotisches hat Wilhelm Hertz nur selten in die Saiten gegriffen, der »Gruß an das Heer« zählt aber zum Frischesten, was die Kriegsjahre 1870/71 von Poesie gebracht haben.

In der zweiten Hälfte der Gesammelten Gedichte tritt, der von Hertz gebotenen Lyrik wiederum Besonderheit und Eigenart verleihend, ein philosophischer Zug hervor: die Weltanschauung, die sich ihm unter dem Gesamteindruck des Lebens gebildet hat und als Stimmung in seine Seele eingegangen ist, will sich aussprechen. Wie bei Hertz überhaupt nicht so sehr die Jugendjahre, als vielmehr die Zeit der reifsten Männlichkeit und das beginnende Alter – um das Jahr 1880 ist er auch als Epiker auf seinem Höhepunkt! – die vollsten und duftigsten Blüten der Poesie erzeugt haben, so gehören auch diese mit philosophischem Gehalt gefüllten Spätlinge zu seinen besten Schöpfungen: Gedankenschwere paart sich in ihnen mit satter Schönheit, die Sprache ist durchtränkt von dichterischer Anschauung, sie erhebt sich zum Feierlichen, Majestätischen und Lapidaren, die Verse sind Melodieen. Ich rede von den Gedichten »Lautlose Nacht«, »Der Dinurstrom«, »Vision«, »Blick ins All« und »Am Grabe«. Welcher Art aber ist die Weltanschauung, die sich in ihnen kundgibt? Sie hat einen Hang zum Düsteren, und mit dem Ausdruck Resignation wird man ihre Grundstimmung wohl am besten bezeichnen. Der Verzicht auf den Blick in ein Jenseits, der Verzicht auf ein Wiedersehen in einem anderen Leben, der Verzicht auf die Annahme, daß das Ganze der Welt, daß der Weltprozeß vielleicht noch etwas anderes bedeute als den ewigen Wechsel von Entstehen und Vergehen, von Schaffen und Vernichten – diese Entsagungen sind es, welche sich Wilhelm Hertz aus Wahrheitsliebe, aus Bedürfnis nach illusionsloser Erkenntnis auferlegen zu müssen glaubte. Wohl redet einer seiner Sprüche vom »Wesen aller Wesen«, das, dem Verstande unerfaßbar, vom Gemüte geahnt werde, wohl spricht in »Bruder Rausch« einmal der sein Mönchsvolk geistig um drei Haupteslängen überragende Guardian von jenem »Einen, Gleichnislosen«, die Menschheit mit Schönheit, Geist und Liebe tränkenden »Heiligreinen«, den der einsam hohe Bahnen wandelnde Seher ahnen möge; aber diese Hindeutungen auf eine in oder über der Welt waltende Intelligenz wollen nicht aufkommen gegenüber den herben Bekenntnissen, daß alles Einzelleben, wenn seine Uhr abgelaufen sei, in ewige Nacht, ins Nichts zurücksinke, daß nur der Geist, der Menschengeist, in die erbarmungslose und innerlich öde Natur Liebe und Schönheit trage und daß das Denken, wenn es nach dem Sinne der Welt frage, vergeblich sich quäle. Der Monismus, der sich in jenen Gedichten kundgibt, nimmt also mitunter eine materialistische Färbung an; ich muß jedoch bemerken, daß sich Hertz persönlich gegen eine mechanistische Weltauffassung und den platten naturwissenschaftlichen Materialismus eines Büchner, Vogt, Moleschott und anderer wiederholt sehr lebhaft ausgesprochen hat. Es ist auch ein Stück Agnostizismus in seinem Denken; zu einer bestimmten Formulierung seiner philosophischen Ansicht aber ist Hertz überhaupt kaum gelangt. Als philosophischer Versuch ist vielleicht das Gedicht »Blick ins All« insonderheit bemerkenswert: es deutet trotz seiner grellen Ausmalung des zwischen Natur und Geist bestehenden Gegensatzes auf eine hinter ihnen vorhandene ursprüngliche Einheit, wobei freilich das Dunkel derselben ungelichtet bleibt und in einer philosophisch befremdlichen Weise der Gegensatz von Objekt (Welt, Natur) und Subjekt (Geist, erkennender und die Zeit, das Werden und Vergehen, empfindender Geist) mit dem Gegensatze von Raum und Zeit identifiziert wird. Wer von der intellektuellen Höhe, aus der ein Mann wie Hertz steht, einen Begriff hat, wird gegen Überzeugungen dieser Art nicht mit dem Kirchenglauben anrennen wollen; wohl aber ließe sich sagen, daß eine wissenschaftliche Nötigung, im Weltprozeß nichts anderes als ein vom vergänglichen Aufblitzen des Geistigen begleitetes Getriebe physikalischer Kräfte zu sehen, nicht gerade besteht. Hätte Hertz die philosophische Bewegung der Gegenwart Schritt für Schritt verfolgen können, so wäre ihm das Wiedererwachen eines metaphysischen Bedürfnisses, das freilich, indem es sich die erkenntnistheoretischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte zu nutze macht, ungleich skeptischer, ungleich vorsichtiger als im Zeitalter der spekulativen Systeme Fichtes, Schellings und Hegels zu Werk geht, nicht entgangen, wäre schwerlich ohne Einfluß auf ihn geblieben. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär gewordene philosophische Materialismus hat nachgerade abgehaust; unabhängige Denker haben ihn kritisch zersetzt, und mehr und mehr Zustimmung gewinnt das Wort Schopenhauers: »Der Materialismus ist die rechte Barbiergesellen- und Apotheker-Lehrlings-Philosophie.« Erkenntniskritisch erweist sich, daß das Denken bei der Untersuchung der letzten, transzendenten, d. h. jenseits der Erfahrung und Erfahrungsmöglichkeit gelegenen Probleme zu widerspruchsfreien, endgültigen Lösungen nicht gelangen kann, daß aber eben darum auch der Materialismus, sofern er mit dem Welträtsel fertig zu werden meint, nichts weiter als eine Hypothese ist, und zwar die dürftigste und oberflächlichste von allen. Doch um auf unseren Dichter zurückzukommen: die Meinung, daß jener überwiegend düstere Charakter seiner philosophischen Weltansicht ihm das Leben getrübt habe, wäre sehr irrig. Wohl hatte auch er Stunden, in denen er die »uralte Trauer« aller Kreatur über Scheiden und Tod mitempfand und der Sinn oder Endzweck des Lebens ihm zur »Rätselqual« wurde; aber er fand sich für seine Person in den Gedanken der Vergänglichkeit, mit der Vernichtung des Seins verknüpfte sich ihm die wohltuende Vorstellung eines ewigen Ausruhens, und in dem herrlichen Gedichte »Der Dinurstrom« gewinnt er dem mit der Kurzlebigkeit behafteten Lose des Menschen sogar eine tröstende und erhebende Auffassung ab. Und unerschrocken ist er seinen Weg gegangen: er wußte, daß gar mancher sein »profanes Dichten mit prüdem Blick und frommem Seufzer richten« werde, aber »des Strebens freien Mut, des Schaffens Trost« raubte ihm nichts, und daß man das »Frömmeln« lassen möge, wenn man ihn einst in das Grab hinabsenke, bittet sich sein Gedicht »Erdenleben« aus. Er hatte kein Bedürfnis, von einem Jenseits zu träumen, da das Diesseits, wie es sich ihm gestaltet hatte, seine Wünsche befriedigte und eine Veränderung dieses Zustandes für ihn nur einen Verlust bedeuten zu können schien. Ihm war über den Abgründen des Lebens »die Sonne der Liebe« aufgestiegen, und die Liebe, die Ehe mit einer gleichgearteten Frau, war es, die ihn für sich und für sie sagen ließ:

»Ob es auch an Schätzen fehle,
Reich ist nur, wer liebt,
Wem sich eine reine Seele
Voll und treu ergibt.

Gleich den Sel'gen abgeschieden
Ruhn wir holdgesellt;
Fernherauf in unsern Frieden
Tost die Qual der Welt.

Wär' uns noch ein Wunsch geblieben,
Wär's das eine Wort:
Weile, Zeit, wie unser Lieben! –
Doch sie gleitet fort.«

Er war ein vom Schicksal begnadeter Mensch; von seinem »reichen Glück« redet der »Epilog« seiner lyrischen Gedichte, und mit einer Bestimmtheit, wie man sie in solchem Falle bei Männern gereiften Alters höchst selten trifft, hat er mir einmal in einem philosophischen Gespräch auf die Frage, ob er sich glücklich nenne, mit »ja« geantwortet. Einen »stolzen Zecher an des Lebens Tisch« nannte ihn das Gedicht Heyses Münchner »Jugend« 1902, Nr. 4. (Eingeschickt aus Gardone 9. Januar 1902.), und gewiß, er wußte vornehm und behaglich zu genießen, er war, wenn man das Wort im feinsten Sinne nimmt und des Gemütsreichtums und des Gesinnungsadels, der in Wilhelm Hertz war, darüber nicht vergißt, ein Schüler Epikurs. Ein Gärtnerssohn, aber im Hause eines Hofkochs erzogen, lernte er die Freuden der Tafel frühe schätzen, und Bacchus, der frohe und schöne Gott, weihte ihn in seine Mysterien ein. In herzlicher Freundschaft waren ihm, dem von Natur höchst Liebenswürdigen und Geselligen, im persönlichen Verkehr Milden und Rücksichtsvollen, tüchtigste Männer zugetan, ein mäßiges Auskommen hielt die Sorge von ihm fern, der Ehren, die man im heutigen Deutschland von Staats wegen für das geistige Verdienst übrig hat, ist er teilhaftig geworden. Und bis zum Ende seiner Tage ist ihm das Glück treu geblieben; ein sanfter Tod hat ihn hinweggenommen, ohne daß er die Gefahr, in der er schwebte, erkannt, ohne daß er die Bitterkeit des Scheidens gekostet hätte.

So ist denn ein in seltenem Grade harmonisches Leben am 7. Januar zum Abschluß gekommen. Was aber zu dieser Wohlgestimmtheit nicht am wenigsten beitrug, ist der Umstand, daß Wilhelm Hertz keinen Zwiespalt von Neigung und äußerem Beruf zu erfahren hatte und daß die beiden Seiten seiner Begabung und Geistesrichtung, die dichterische und die wissenschaftliche, einander ergänzten. Im Fache der deutschen Literaturgeschichte und Sprache an Hochschulen wirkend, hat Hertz die seinen Studien angemessene und ihm erwünschte amtliche Stellung gefunden und hat als Gelehrter auf dem Gebiete der Germanistik, der Sagenforschung und der Altertumskunde sich literarisch betätigt. Er veröffentlichte die Schriften: »Der Werwolf. Beitrag zur Sagengeschichte« (1862); »Über den ritterlichen Frauendienst« (in Hermann Schmids »Heimgarten«, München 1864, Nr. 689, 701, 721, nach einem Vortrag); »Die Walküren« (im Morgenblatt der Bayerischen Zeitung, München, April 1866, nach einem Vortrag); »Deutsche Sage im Elsaß« (1872); »Die Nibelungensage« (Vortrag. Sammlung gemeinverst. wiss. Vorträge, Heft 282, Berlin 1877); »Die Sage vom Parzival und dem Gral« (»Nord und Süd«, Juli 1881, Sonderausgabe in der »Deutschen Bücherei«, Breslau 1882; überarbeitet in der Nachdichtung des Wolframschen Parzival); »Die Rätsel der Königin von Saba« (Zeitschrift für deutsches Altertum, Bd. XXVII, 1883); »Beowulf, das älteste germanische Epos« (Vortrag, »Nord und Süd«, Mai 1884); »Mythologie der schwäbischen Volkssagen« (Das Königreich Württemberg, eine Beschreibung von Land, Volk und Staat, herausg. v. d. k. statistisch-topograph. Bureau, Stuttg. 1884); »Über den Namen Lorelei« (Sitzungsberichte der K. bayer. Akademie d. Wissenschaften 1886); »Aristoteles in den Alexanderdichtungen des Mittelalters« Abhandlungen der K. bayer. Akademie d. Wissensch. 1870); »Gedächtnisrede auf Konrad Hofmann« München 1892, Verlag der Akademie der Wissensch.); »Die Sage vom Giftmädchen« Abhandlungen der K. bayer. Akad. d. Wissensch. 1893); »Aristoteles bei den Parsen« (Sitzungsberichte der K. bayer. Akad. d. Wissensch. 1898). Nahezu vollendet hinterließ Hertz eine Abhandlung, welche den Titel haben wird: Die Todesarten griechischer Denker und Dichter in der Überlieferung der Alten. Hinzukommen noch einige Bücheranzeigen (Alte französische Volkslieder, übersetzt von Bartsch, Beil. z. Allgem. Ztg., 1881, Nr. 338 und Allg. Ztg. Nr. 339; Schröter, Das Nibelungenlied in der Oktave nachgedichtet, Literaturblatt f. german. und roman. Philologie 1883, Nr. 3; Karl Bartsch, Gesammelte Vorträge und Aufsätze, ebenda 1883, Nr. 7; Joh. Schrott, Gedichte Oswalds von Wolkenstein, übersetzt und ausgewählt, ebenda 1887, Nr. 9) sowie ein paar populäre Aufsätze (Der Maigraf, Gartenlaube 1884, Nr. 22; Die Hexenprobe, eine kulturgeschichtliche Studie, ebenda 1884, Nr. 52; Mörikes Feuerreiter, ebenda 1888, Nr. 12); einzurechnen sind hier aber auch die sehr umfangreichen »Anmerkungen« und Einleitungen zu den von Hertz herausgegebenen Nachdichtungen mittelalterlicher Epen, insbesondere die Anmerkungen zum Parzival und zum Tristan und die drei großen Einleitungen zum »Spielmannsbuch« über »Die Spielleute«, über »Die ältesten französischen Novellen« und über »Die bretonischen Feen«. Ein erstaunlicher Reichtum des gründlichsten Wissens ist in diesen Veröffentlichungen niedergelegt, und gleichen Gewinn schöpfen aus ihnen Mythologie und Etymologie, Litteraturgeschichte und Kulturgeschichte; was ihnen aber einen erhöhten und besonderen Reiz gibt, ist die sprachliche Form, die sie bieten. Nicht etwa einen blühenden, wortreichen und nach Bildern haschenden Stil suche man in ihnen; das wäre die Art des Rhetors, nicht des Poeten, und dem wissenschaftlichen Ernste, dem es um die sachliche Aufhellung, um die Ermittlung des Wahren zu tun ist, widerstrebend. Doch kann ja auch wissenschaftlichen Werken, zumal philosophischen und historischen, die Veranlagung des Dichters und des dichterisch empfindenden Schriftstellers von großem Nutzen sein; denn Keiner hat wie diese das feine und sichere Gefühl für das Wort, für die dem Vorstellungsinhalt vollkommen kongruente Schattierung und Fügung des Ausdrucks, Keiner vermag wie sie durch ungesuchte Anschaulichkeit und Farbigkeit den Gedanken zu beleben, und Keinen auch beherrscht so wie sie der Drang, jegliche schriftliche Mitteilung zu einem in der Form einheitlichen Ganzen zu bilden. Das sind nun Vorzüge, welche jene Schriften von Wilhelm Hertz vor vielen anderen ihrer Gattung auszeichnen, und ihre Wirkung ist, daß seine Anmerkungen, Erläuterungen und Nachweise zu den epischen Dichtungen oft den Eindruck abgerundeter kleiner Kunstwerke machen und neben dem Gelehrten immer auch den geistreichen Mann erkennen lassen. Wie aber in diesem Stücke dem Prosaisten und Forscher der Dichter zu gute gekommen ist, so hat auch wiederum die wissenschaftliche Arbeit den Poeten gefördert, und zwar indem sie vor seiner Phantasie eine Stoffwelt ausbreitete, welche episch neuzugestalten ihn immer und immer wieder anlockte. Unter den sehr spärlichen »Sprüchen«, welche sein der Reflexion abgeneigtes Dichten hervorgebracht hat, bezeichnet einer dieses tiefe Verlangen seines Geistes auf das schönste: »ins Land der Sage« als »in das Morgenrot der Welt« will er blicken. Lebenseindrücke, wird man aussprechen dürfen, haben Wilhelm Hertz zum Lyriker gemacht; der Epiker Hertz aber ist aus den altdeutschen, angelsächsischen, altfranzösischen und altbretonischen Studien des Forschers und Dozenten emporgewachsen.

Und welche frohe, welche unversiegbare Schöpferlust offenbaren uns nun diese Dichtungen! Eine bunte und kaum endende Reihe von Gestalten führen sie vor unser Auge, und nicht besser könnte man in kürzester Zusammenfassung ihre Art und Fülle schildern als mit den Worten, welche Eduard Paulus dem durch den Tod ihm entrissenen Freunde nachgerufen hat:

»Den Strömen, welche zu den Quellen führen
Des deutschen Volkes, hast Du fromm gelauscht,
Aus seinen Sagen, Schwänken, Aventüren
Ist Dir der Dichtung reinster Born gerauscht,
Mit Riesen, Zwergen, Feen und Walküren
Hast Du geheime Zwiesprach ausgetauscht
Und hast gehämmert aus gediegnem Golde
Die Bilder von Ginevra und Isolde« Im »Schwäbischen Merkur«, der diese Verse an Hertz in Nr. 30 vom 20. Januar gebracht hat, steht »Lieder« statt »Bilder«, aber vermutlich durch Druckfehler, da man Lieder nicht wohl »hämmern« kann..

Neben dem lyrischen Subjektivismus, den wir in den »Gedichten« kennen gelernt haben, begegnet uns bei Hertz schon frühe eine auf das Objektive, auf die Schilderung geschichtlicher und sagenhafter Begebenheit gerichtete Phantasietätigkeit. Eine Wendung zum Drama hätte hier erfolgen können, und merkwürdigerweise stammt aus der Jugend-, ja fast noch aus der Knabenzeit des Dichters eine Menge dramatischer Entwürfe und Versuche. Aber Hertz hat diese Gattung der Dichtkunst später gänzlich unangebaut gelassen, und auch das im Jahr 1857 vollendete und bei einer Preisbewerbung eingereichte Drama »Ezzelin« ist niemals veröffentlicht worden. Dagegen suchte jener Trieb nach poetischer Gestaltung geschichtlicher und sagenhafter Vorgänge zunächst in der Dichtung von Balladen und Romanzen Befriedigung. Ausnahmsweise, in der erzählenden Vergegenwärtigung des Todes der alexandrinischen Märtyrerin Hypatia, hat hiebei ein der antiken Welt zugehöriger Stoff Behandlung gefunden, ein paarmal auch versuchte sich Hertz an Stoffen des Morgenlandes; die ungleich stärkere Neigung des Dichters aber ging von Anfang an auf die altdeutsche und altnordische Überlieferung und Sage, und eine Gruppe von Balladen, welche sämtlich aus der Zeit um 1855 herrühren, gibt davon Zeugnis: »Ratbod der Friese« und andere, die, wie »Helgi und Hedin«, in der vierzeiligen Nibelungenstrophe gedichtet sind. In ihnen zuerst drängte sich die Freude am Heldentum, an der Heldentreue und am hochgemuten und kühnen Männerkampf, die ein wesentliches Element der gesamten Hertzischen Dichtung ist und die deutsche Natur ihres Sängers bezeichnet, hervor, in ihnen zuerst auch floß der Wunsch und Drang, Werke der Poesie zu schaffen, mit den wissenschaftlichen Neigungen des jungen Mannes zusammen. Nachhaltiger aber und unter größerem Aufschwung des poetischen Vermögens verknüpften beides die eigentlichen epischen Schöpfungen. Ihre Reihe eröffnet das im Jahre 1859 vollendete epische Gedicht »Lanzelot und Ginevra«; »Hugdietrichs Brautfahrt«, im Jahre 1860 zu Oxford vollendet, und »Das Rolandslied«, die Übersetzung des ältesten französischen Epos, der Chanson de Roland, folgten 1862 und 1861 »Hugdietrichs Brautfahrt« erschien zuerst im Münchner Dichterbuch vom Jahre 1862, sodann im Einzeldruck bei Kröner 1863, in 3. Aufl. (Miniaturausgabe) 1880. Eine Prachtausgabe mit Illustrationen von A. v. Werner erschien 1872.. Im Jahre 1862 gab Hertz eine Übersetzung der auf altbretonischen Liebessagen beruhenden Poetischen Erzählungen oder Lais der ältesten Dichterin französischer Zunge, der Marie de France, heraus, 1865 eine Übersetzung der altfranzösischen Novelle »Aucassin und Nicolette«. »Heinrich von Schwaben. Eine deutsche Kaisersage« wurde 1865 in Rom vollendet und erschien 1867 in erster, 1869 in zweiter Auflage, Tristan und Isolde von Gottfried von Straßburg, neu bearbeitet und nach den altfranzösischen Tristanfragmenten des Trouvere Thomas ergänzt, erschien 1877, in zweiter, durchgesehener Auflage 1894, in dritter 1901. »Bruder Rausch. Ein Klostermärchen«, 1881 gedichtet, erschien in erster und zweiter Auflage 1882, in dritter Auflage 1889, in vierter, mit Zeichnungen von Franz Staffen, 1902. Im »Spielmannsbuch«, einer »Sammlung von Novellen in Versen aus dem 12. und 13. Jahrhundert«, die in erster Auslage 1886, in zweiter, verbesserter und vermehrter, 1900 veröffentlicht wurde, vereinigte Hertz mit den Lais der Marie de France und mit »Aucassin und Nicolette« die Übersetzungen anderer, von den Spielleuten des Mittelalters, dem Volke der fahrenden Sänger, überlieferter altfranzösischer und altenglischer Erzählungen, Legenden und Schwänke; einzelne dieser kleinen Dichtungen hatte Hertz schon zuvor in Zeitschriften (Vom Fels zum Meer 1884, Deutsche Wochenschrift 1884, Münchner bunte Mappe 1884 und 1885, Gartenlaube 1885, Nord und Süd 1885, Deutsche Dichtung 1887 und 1888) veröffentlicht. Zuletzt, 1898, folgte in erster und zweiter Auflage Wolfram von Eschenbachs Parzival, neu bearbeitet. Anschließen möchte man an die epische Reihe noch zwei an den Schluß der »Gesammelten Dichtungen« gestellte Gedichte »Beowulfs Tod« (oder, wie der Titel im Schwäbischen Dichterbuch vom Jahre 1883 lautete, »Beowulfs Kampf mit dem Drachen«), aus dem Angelsächsischen übersetzt, und »Des Königs Eirik Blutaxt Ehrenlied« aus dem Altnordischen.

Eine mehr reproduktive als aus Eigenem schöpfende Phantasie scheint es auf den ersten Anblick zu sein, die in diesen Dichtungen waltet. Denn Nachdichtungen, »Neubearbeitungen« älterer Werke sind sie in der Mehrzahl, einige begnügen sich sogar mit dem Titel Übersetzungen, und wo, wie bei »Lanzelot und Ginevra« und »Heinrich von Schwaben«, eine unmittelbare dichterische Vorlage fehlt, ist doch das stoffliche Gerüst oder die Fabel den romanartigen Erzählungen und der Sage der mittelalterlichen Zeit entnommen. Es wäre indessen töricht, um dieses Sachverhaltes willen unseren Dichter geringer einschätzen zu wollen. Denn Sagenstoffe sind Gemeingut des Volkes, und überdies haben die großen höfischen Epiker des Mittelalters, deren Dichtungen Hertz in eine neue Form goß, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach, selbst Vorlagen gehabt, französische Epen, von denen sie mehr oder weniger abhängig waren. Jeder Kundige weiß aber auch, daß die Möglichkeit einer wörtlichen Übertragung bei den Werken der mittelhochdeutschen Dichter nicht gegeben ist, da sich das Neudeutsche von der Sprache des 12. und 13. Jahrhunderts schon weit entfernt hat und, wenn der Ausdruck gemeinverständlich sein und dabei von uns Heutigen als ein dichterischer empfunden werden soll, nahezu Zeile um Zeile Veränderungen des ursprünglichen Wortbestandes notwendig werden. Hiezu kommt, daß Hertz, soweit es zweckmäßig war, auch eine innere Umbildung seiner Vorlage im Auge zu behalten pflegte; so hat er in den Erzählungen des »Spielmannsbuches« zwar auf eine treue Wiedergabe der Originale eine sich immer wieder erneuernde Sorgfalt gewendet, aus künstlerischer Absicht aber doch hie und da mit schonender Hand in den ursprünglichen Text Eingriffe gemacht. Und mit noch viel größerer Freiheit verfuhr er ja bei seinen »Neubearbeitungen«, über die Grundsätze, die ihn hiebei leiteten, hat er sich selbst in den Vorreden zu Tristan und Isolde und zum Parzival ausgesprochen. Da es ihm vornehmlich galt, »den Gebildeten von heute einen möglichst frischen und reinen Eindruck des (alten) Gedichtes zu gewähren«, so war er mit Recht mehr auf eine »freie, aber pietätvolle Bearbeitung« als auf eine »philologisch treue Übersetzung vom ersten bis zum letzten Wort« bedacht; zu diesem Zwecke mußten vor allem die Originale gekürzt, zumal von zahlreichen weitschweifigen Episoden befreit, aber auch in manchen Abschnitten auf einen kleineren Umfang zusammengezogen werden. Die in den mittelalterlichen Epen häufigen Gedanken- und Wortwiederholungen mußten eingeschränkt, allerlei Einzelheiten des Ausdrucks wie Tropen und dergleichen dem veränderten und geläuterten Geschmack der neueren Zeit angepaßt werden. Sehr treffend bemerkt Hertz, bei Übersetzungen von altdeutschen Dichtungen sei vielfach eine eigentümliche Mischsprache zur Anwendung gekommen, welche aufgehört habe, mittelhochdeutsch zu sein, ohne darum neuhochdeutsch zu werden; diesem Mißstand gegenüber sei es sein Bestreben gewesen, das Gedicht des 13. Jahrhunderts in die Dichtersprache des 19., in seine eigene Sprache zu übersetzen. Endlich mußte auch der Versbau der Originale, wenngleich im wesentlichen festgehalten, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse unseres Ohrs gewisse Modifikationen erleiden. Vergegenwärtigt man sich das Ganze dieser Umbildungen, so ergibt sich, daß die Neubearbeitung keinen geringeren Aufwand von Mühe erfordert haben kann als die ursprüngliche Abfassung, und daß sie aus Schritt und Tritt auf selbständiges dichterisches Empfinden und Schaffen angewiesen war.

Nach der epischen Seite hin liegt die Fülle und die Hauptstärke des Talentes von Wilhelm Hertz, und von ihr aus wird sein Charakterbild in der Litteraturgeschichte gezeichnet werden; wie sich aber beim Lyriker ein Fortschreiten zu immer größerer Beseeltheit und immer klangmächtigerer Formschönheit erkennen ließ, so ist auch die Kunst des Epikers Hertz allmählich gewachsen, und erst aus der zweiten Hälfte seines Lebens, aus der Zeit nach 1870, stammt das technisch Beste und geistig Bedeutendste, was er uns geschenkt hat. Unter den Versepen der früheren Jahre steht » Hugdietrichs Brautfahrt« an poetischem Wert obenan; mit glücklichem Geschmack hat Hertz das ihm als Vorlage dienende trockene und unbeholfene Gedicht des 13. Jahrhunderts im Versbau und inhaltlich umgebildet und so der dem gotisch-lombardischen Sagenkreise zugehörigen Erzählung eine anziehende Form gegeben. Ueber die prosaische Frage nach der Wahrscheinlichkeit der kecken Fabel darf man nicht stolpern; hilft sie sich doch selbst mit ein paar humoristischen Lichtern. Das epische Gedicht » Lanzelot und Ginevra« prangt mit glänzenden, farbigen Schilderungen; aber die der bretonischen Sage nachgedichteten Begebenheiten und Charaktere machen nicht durchaus den Eindruck der inneren Wahrheit. Die üppigschöne Ginevra, die Gemahlin des Königs Artus und die Geliebte Lanzelots, die zu Anfang als ein Weib von heißer Sinnlichkeit und stolzem Mute gezeichnet ist, zeigt des Schwächlichen nachher zu viel, und ihres Feindes Mordred schwarze Bosheit fällt ins Theatralische Vgl. zu »Lanzelot und Ginevra« das Urteil Franz Pfeiffers (Freie Forschung, Wien 1867, S.453): »Wie sehr auch dieser Versuch, die alte bretonische Sage in einer dem Geschmacke unserer Zeit zusagenden Weise zu erneuern, vom Erzählertalent und der dichterischen Begabung des Verfassers zeugte, so war doch die Wahl des Stoffes insofern keine glückliche, als auf dem Gebiete des Artus-Sagenkreises für unsere Dichter keine Lorbeern zu holen sind und selbst das eminenteste Talent sich vergeblich abmühen wird, diesen nebelhaften, schemenartigen Gestalten einer frostigen und matten Einbildungskraft Leben einzuhauchen.« Die Schönheiten der Hertzischen Dichtung wollen hiemit nicht verkannt sein.. Zarte und liebliche Züge hat » Heinrich von Schwaben«, und es ist das Heimatgefühl des Dichters, das diese Erzählung durchwärmt von Wunderbarem müssen wir dabei freilich starke Stücke mit in Kauf nehmen. Den gereiften Meister, der mit vollendeter Sicherheit die Übersetzungs- oder Übertragungskunst handhabt, erweist das » Spielmannsbuch«. Als Ganzes setzt es einiges litterarhistorisches Interesse voraus; doch ist in den kleinen Erzählungen, die es gibt, viel Anmutiges, Zierliches, Schalkhaftes und Naives, und während hier der Mutwille regiert, macht sich dort – es sei an die Legenden »Der Ritter mit dem Fäßlein« und »Der Tänzer unsrer lieben Frau« erinnert – sittlicher Gehalt geltend. Mit drei Werken aber hat Wilhelm Hertz sein gesamtes poetisches Schaffen aufs herrlichste gekrönt: mit dem Tristan, dem Parzival und dem Bruder Rausch. In der Sprachform, in der uns Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach ihre großen Dichtungen überliefert haben, sind diese heute nur für die Wenigsten genießbar; aber auch inhaltlich haftet ihnen manches Unerquickliche an, da es, zumal bei Wolfram, mit der künstlerischen Bewältigung des Stoffes noch mangelhaft bestellt ist und (das gilt von der mittelalterlichen Ritterdichtung überhaupt) das soziale Weltbild, das uns entrollt wird, viel Abgeschmacktes hat. Durch die Neubearbeitungen von Wilhelm Hertz haben beide Epen eine poetische Wiedergeburt erfahren, und mit ihr erst ist dieses vom Genius Deutschlands im 13. Jahrhundert erworbene Nationalgut in den lebendigen Besitz der Gegenwart zurückgegeben worden. Die Bedachtsamkeit und Weisheit des Erneuerers, die hohe dichterische Schönheit seines Werkes, der Wohllaut, die Kraft und die nirgends versagende Zwanglosigkeit und Natürlichkeit seiner Sprache können nicht genug gerühmt werden. Noch um einen Grad schwieriger als bei Tristan war die künstlerische Aufgabe bei dem ungefügeren Parzival, und es bleibt bei ihm – wie es ja ohne eine Zerstörung des Originals gar nicht anders möglich ist – auch in der Neubearbeitung von Hertz für unser modernes Empfinden und Denken ein Rest von Fremdartigem: die Gemütstiefe der Dichtung Wolframs erscheint im hellsten Glanz, aber das zwecklose Aufeinanderlosschlagen der fahrenden Ritter, die Seltsamkeiten und Willkürlichkeiten der Namengebung, auch die wunderliche Mystik und Symbolik der Gralsburg sind Dinge, die wir uns als das Zubehör einer überwundenen Kulturstufe gefallen lassen müssen. Dagegen ist »Tristan und Isolde« eine vollkommene Eroberung; denn das Thema dieser Dichtung ist die allmächtige Liebe, die Liebe zwischen Mann und Weib, die noch zu allen Zeiten und bei allen Völkern im wesentlichen die gleichen Seelenzustände bewirkt hat; es ist eine Menschheitsdichtung, und in der Form, die ihr Hertz gab, liest sie sich fast wie ein moderner Roman. Das Epos Gottfrieds von Straßburg ins Neudeutsche zu übertragen, ist von Mehreren unternommen worden: auf den unvollendeten und eine freie Nachdichtung anstrebenden Versuch Immermanns folgten die Übersetzungen von Hermann Kurz und von Simrock. Nur der ersteren ist dichterisches Vermögen zu gute gekommen, und wer nun heute, ohne nach dem mittelhochdeutschen Original Gottfrieds zu greifen, »Tristan und Isolde« kennen lernen will, hat zwischen der treuen und trefflichen Übersetzung von Hermann Kurz und der kongenialen Neubearbeitung von Wilhelm Hertz die Wahl; überflüssig macht die eine die andere nicht, da Kurz den Text Gottfrieds Zeile um Zeile und also vollständig wiedergibt, bei Hertz aber ein gekürzter, freilich auch dem neueren Kunst- und Sprachgefühl durchgehends angepaßter Text zu finden ist. Mit den wissenschaftlichen Erläuterungen welche Hertz seinem Buche beigefügt hat, können sich die Einleitung und die Anmerkungen von Hermann Kurz nicht messen; darin ist dieser überholt. Meister Gottfried ist bekanntlich vor der Vollendung seines Werkes gestorben, seine Dichtung bricht mitten im 30., »Isolde Weißhand« überschriebenen Gesang ab; Kurz und Hertz haben einen Schluß hinzugedichtet, und zwar Kurz mit frei waltender Phantasie, wenn auch unter Anlehnung an die mittelhochdeutschen Tristanfortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg, Hertz dagegen, indem er zwei dem altfranzösischen Gedichte des Thomas, der Quelle Gottfrieds, entnommene Stücke in freier Bearbeitung beifügte. Daß der Operntext Richard Wagners keinen Ersatz für Meister Gottfrieds Dichtung abgibt, muß gegenüber dem hypertrophischen Musikkultus unserer Zeit ausdrücklich gesagt werden. Mit der Neubearbeitung von Wilhelm Hertz aber ist für die Tristansage in Erfüllung gegangen, was der Germanist Franz Pfeiffer schon im Jahre 1867 für die altdeutsche Dichtung prophezeit hatte. Nicht ohne Mühe und Anstrengung, führte er aus, könne man diese versunkenen Schätze heben, und es gehöre dazu, daß man nicht nur mit einem wirklichen poetischen Talente begabt ist, sondern auch in den alten Schriften, aus denen der Geist der Vorzeit zu uns spricht, lesen gelernt hat. »Wenn aber über kurz oder lang einmal der Rechte kommt, der durch die strenge Schule ernster Forschung gegangen ist und aus dessen Stirne die Gottheit ihren Stempel gedrückt, dem wird sich die Dornhecke wie von selbst öffnen, der wird das verzauberte Königskind durch seine Umarmung zu neuem Leben erwecken, und wir werden dann nicht mehr zu beklagen haben, daß unserer Zeit die nationale Epopöe versagt ist … Wenn ich mich nicht ganz täusche, so ist der, von dem wir in der angedeuteten Weise die Wiedergeburt unserer alten volksmäßigen Heldendichtung erwarten dürfen, schon gekommen.« Hierauf nennt Pfeiffer, auf »Hugdietrichs Brautfahrt« verweisend, den Namen Wilhelm Hertz.

»Tristan und Isolde« ist ein Gemälde der gewaltigsten Leidenschaft, kühner und inniger, das ganze Sein zweier Menschen durchdringender und ausfüllender Liebe, in der Macht des Empfindens der Shakespeareschen Dichtung von Romeo und Julia ebenbürtig. Erotische Schilderungen fehlen weder bei Gottfried von Straßburg noch bei Hertz gehört doch die unbegrenzte, obwohl ehebrecherische, Hingabe der Liebenden zum Bestände dieser Geschichte. Es heißt aber vom Moralischen die allerbornierteste Auffassung haben, wenn man wie der Litterarhistoriker Gödeke erklärt, der »unsittliche« Stoff drücke, je verlockender er behandelt sei, nur um so mehr die ethische Natur des Dichters (Gottfrieds) herab. Ich möchte nicht davon reden, daß der mittelalterliche Dichter entschuldigt ist, da nach seinem Glauben der Minnetrank die Kraft eines mit Naturnotwendigkeit wirkenden Zaubers hat, dem sich zu entziehen das Liebespaar gar nicht im stande ist; ich möchte auch nicht mit Wolfgang Golther Einleitung zu Gottfrieds Tristan in der Kürschnerschen Deutschen National-Litteratur vom Jahre 1888. eine »Alltagsmoral«, die im Leben, und eine Ausnahmsmoral, die in der Dichtung gelte, unterscheiden, so zutreffend es ist, wenn er beifügt, der tragische Ernst adle die Dichtung. In Wahrheit liegen die Dinge vielmehr so, daß Tristan und Isolde – mit oder ohne Minnetrank – nach dem Rechte, das sein sollte, einander gehören, daß eine Liebe von solcher Tiefe, Stärke und Dauer etwas Heiliges ist und die menschliche Satzung, die ihr als feindliche Macht entgegentritt, zu einem Sinnlosen, Brutalen und Frevelhaften wird. Nicht um leichtfertiges Tändeln oder um lüsterne Regungen handelt es sich hier, sondern um ein Gefühl, das Achtung gebietet, das dem Geiste ehrwürdig ist. Demgemäß ist »Tristan und Isolde« ein stammender Protest gegen die Knechtung und Vergewaltigung des Seelenlebens durch Kirche und Staat, gegen die Unlöslichkeit der Ehe; das liegt nicht gerade in der Absicht der Dichtung, wohl aber ist es der letzte Sinn der Fabel, und das endgültige Urteil über die Liebenden spricht mit dem sicheren, schönen Takte des Volksbewußtseins die Sage selbst, indem sie aus dem Grabe von Tristan und Isolde eine Weinrebe und einen Rosenbusch aufwachsen läßt, die sich untrennbar verschlingen: die Natur verwirft durch ein Zeichen die menschliche Satzung. Der Unsittliche aber ist für das ethische Urteil König Marke, der egoistisch und aus sinnlichem Behagen – darüber läßt der Gesang »Scheiden und Meiden« keinen Zweifel – die Aufrechterhaltung einer Ehe ohne gegenseitige Liebe erzwingt und, ein mit Blindheit geschlagener Tor, darüber sich selbst verdirbt und die Andern. Damit will ich selbstverständlich nicht jede Handlung Isoldens in Schutz nehmen, ihr Verhalten gegen die treue Brangäne ist sogar einmal geradezu schlecht; aber auch diesen Zug macht die elementare Leidenschaft, von der sie ergriffen ist, psychologisch erklärlich. Ich führe zu Gunsten Gottfrieds von Straßburg schließlich das Urteil eines Buches an, das in einigen Teilen zu Widerspruch Ursache gibt, als Ganzes aber eine höchst achtbare und wahrhaft nationale Leistung zu nennen ist. Adolf Bartels bemerkt: Gottfrieds »Auffassung von der Liebe ist nicht niedrig, ist im Gegenteil, da er sie als Mittelpunkt der Welt setzt, groß und entspricht sehr wohl unserer deutschen Auffassung, da wir stets, viel mehr als die Romanen, das Recht der Leidenschaft vertreten haben. Gervinus, obgleich auch er ein moralischer Doktrinär ist, trifft hier das Richtige, indem er ›Tristan und Isolde‹ einfach an die Seite des ›Werther‹ setzt. Ich will nicht leugnen, daß die große Dichtung an Frivolität hie und da streift und partienweise Abscheu erwecken kann, aber mit dem Abscheu verbindet sich doch auch stets das Grauen vor der unheimlichen Macht der Leidenschaft, und das wirkt auf den richtigen Leser wieder sittlich« Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Litteratur. Erster Band: Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1901. Ich empfehle insbesondere den Abschnitt: »Johann Wolfgang Goethe«. Der zweite Band ist im Erscheinen begriffen..

Noch ein Werk bleibt für unsere Betrachtung übrig: die dichterisch selbständigste epische Schöpfung, welche Wilhelm Hertz hervorgebracht hat, die geistvollste und diejenige, in der sein Schaffen den Gipfelpunkt erreichte. Es ist »Bruder Rausch. Ein Klostermärchen«. Ein wundersames Werk, dessen größte Leistung darin liegt, daß es die Art des Klostermärchens wahrt, uns in die mittelalterliche Zeit, in welche die Begebenheiten verlegt sind, versetzt und gleichwohl das Gefäß von Anschauungen und Ideen bildet, die nur der moderne Geist und die hellblickende Gegenwart erzeugen konnten. Es gibt ein paar Bücher der Weltlitteratur, die zugleich für den naiv genießenden, ununterrichteten und für den mit höchster Geistesbildung ausgestatteten Leser ein Labsal sind und bleiben: Don Quixote von Cervantes und Swift-Gullivers Reise nach Lilliput mögen als Beispiele genannt sein. Die naive Aufnahme ergötzt sich an ihrem Erzählungsinhalt und ihrer Erzählungsform; der reife Kunstverstand findet sich auch von dieser Seite her befriedigt, was ihm aber die größere Bewunderung abnötigt, ist, daß die Erzählung, ohne aus der Art des Kunstwerks zu fallen, symbolisch ist, daß sie einen geheimen, tiefen, als Welt- und Lebensweisheit zu schätzenden Sinn hat. In die Klasse dieser Bücher, deren Zustandekommen immer ein höchst seltener Glücksfall ist, gehört »Bruder Rausch«.

Die zweite der Abhandlungen, welche in der vorliegenden Gedenkschrift vereinigt sind, soll dieses Urteil begründen, soll einer eindringlichen Betrachtung des »Bruder Rausch« gewidmet sein. Hier aber, am Schlusse des Nekrologs, habe ich den Litteraturfreund noch mit dem äußeren Lebensgange des Dichters bekannt zu machen, indem ich in knappen Zügen und ohne Wiederaufzählung der Werke das Tatsächliche verzeichne.

Karl Heinrich Wilhelm Hertz wurde geboren am 24. September 1835 in Stuttgart als der Sohn des Handels- und Landschaftsgärtners Wilhelm Hertz und der Ehefrau desselben, Karoline, einer geborenen Pfizenmayer aus Winzerhausen. Beide Eltern gehörten der protestantischen Konfession an und waren schwäbischer Herkunft: der Vater des Landschaftsgärtners Hertz, gleichfalls Wilhelm genannt, war königlicher Hofbediensteter zu Stuttgart gewesen, der Vater der Mutter war der aus Kirchberg (Bei Marbach) gebürtige königlich württembergische Revierförster Pfizenmayer. Daß der Großvater Hertz Rätsel in Versen verfaßte und der Vater Hertz ein mit Zeichnungen ausgestattetes, im Jahre 1840 bei Hoffmann in Stuttgart verlegtes Buch »Der praktische Landschaftsgärtner. Eine Anleitung zur Anlegung oder Verschönerung von Gärten« schrieb, verdient bemerkt zu werden; letzterer Umstand erinnert an Kaspar Schiller, den Vater des Dichters Vgl. meine Biographie Schillers I, S. 30-32.. Karoline Hertz starb, 21 Jahre alt, am Kindbettfieber; der Knabe, dessen Geburt ihr das Leben kostete, kam sogleich nach dem Tode seiner Mutter in das Haus des Hofkochs Rühl, mit dem seine Großmutter, eine geborene Schwab, die Witwe des Hofbediensteten Hertz, in zweiter Ehe verheiratet war. Wilhelm besuchte vom Herbst 1843 an die Realanstalt (die jetzige Friedrich-Eugens-Realschule) zu Stuttgart, und zwar durchlief er die Klassen I-VI, rückte auch noch in die siebte Klasse vor, verließ aber im Januar 1850 diese Anstalt, um im Februar als Landwirtschaftspraktikant auf dem Berkheimer Hof nächst der Solitude einzutreten und sich sodann, vom Herbst 1850 bis zum April 1851, auf der polytechnischen Schule (der jetzigen Technischen Hochschule) zu Stuttgart zum theoretischen Studium der Landwirtschaft vorzubereiten. Nun aber gewannen die humanistischen Neigungen des Jünglings die Oberhand; Wilhelm Hertz entschloß sich, das Stuttgarter Gymnasium (Eberhard-Ludwigs-Gymnasium) zu besuchen und zu absolvieren; er trat zu Ostern 1851 als Hospes in die sechste Klasse dieser Anstalt ein und durchlief die oberen Klassen bis Ostern 1855. Nach bestandener Maturitätsprüfung bezog er die Universität Tübingen. Sein Vater war schon im März 1841 gestorben. Er hatte sich zum zweiten Male verheiratet, und aus dieser Ehe stammen eine Halbschwester und zwei Halbbrüder des Dichters, von denen uns der eine, Hermann, in den Gedichten Wilhelms begegnet ist.

In Tübingen hörte Wilhelm Hertz während eines über 7 Semester sich erstreckenden Studiums außer einigen andern Kollegien bei Reiff Geschichte der neueren und der griechischen Philosophie, Metaphysik, Praktische Philosophie und Psychologie, bei Zech Populäre Astronomie, bei Köstlin Geschichte der philosophischen Moral, Ästhetik und über Goethes Faust, bei Friedrich Vischer über Shakespeares Dramen, bei Teuffel Geschichte der griechischen Lyrik, bei Rudolf Roth Grammatik des Sanskrit, Zend und Neupersisch, bei Adalbert v. Keller deutsche Litteraturgeschichte, deutsche Grammatik, Paläographische Übungen, über Sämunds Edda, Erklärung des Ulfilas, über das Nibelungenlied, über Cid, über Don Quixote und Erklärung des Romans des sept sages, bei Wilhelm Ludwig Holland deutsche Mythologie und über Boccaccios Decamerone, bei Moritz Rapp vergleichende Grammatik, über Shakespeares Macbeth, über Calderon und Camoens und Serbische Sprache, bei Max Duncker Geschichte der europäischen Staaten. Durch Holland wurde er bei Uhland eingeführt, und, von diesem ermutigt, entschied er sich für das Fach der Germanistik. Zum Abschluß des Universitätsstudiums promovierte er im August 1858 mit einer Dissertation über »Die epischen Dichtungen der Engländer im Mittelalter« als Doktor der Philosophie.

Ein Aufenthalt in München vom November 1858 bis zum März 1859 folgte zunächst. Auf die süddeutsche Hauptstadt hatte sich schon das Augenmerk des Tübinger Studenten gelenkt, als er im Jahr 1857 für die von König Maximilian II. ausgeschriebene dramatische Preisbewerbung das Manuskript seines Dramas »Ezzelin« einschickte; der Preis war Heyses Sabinerinnen zu teil geworden, eine lobende Anerkennung der Preisrichter aber hatte »Ezzelin« gefunden, und nun drängte es Hertz, mit den um Geibel gescharten Poeten persönlich bekannt zu werden. Der Münchener Hans Hopfen, der sich zuvor bei einem Bundesfest des Tübinger Korps der »Franken« mit Hertz befreundet hatte, empfing den Neuangekommenen. Eine Einberufung zum württembergischen Militärdienst beendete diesen Aufenthalt; der junge Dichter kehrte nach Stuttgart zurück und wurde zu Anfang des Mai 1859 zum Leutnant im 6. Infanterie-Regiment ernannt. In diesen Tagen erlebte er schreckliche Geschicke, denn sein Stiefbruder Hermann, an dem er mit Innigkeit hing, suchte in Untertürkheim den Tod und starb am 11. Mai nach schwerem Ringen. Vier Monate darnach aus dem Militärdienst beurlaubt, verweilte Wilhelm Hertz vom Januar bis zum Mai 1860 wiederum in München. Die zweite Hälfte des Jahres 1860 füllte eine zu germanistischen und romanistischen Studien unternommene Reise nach England aus; sie führte Hertz nach London, Oxford, Edinburgh, Glasgow, an die schottische Nordküste und bis zu den westlichsten Inseln, nach York, Kenilworth und Stratford am Avon; den Rückweg nahm er im November über Rouen und Paris, zu Ende Dezember 1860 war er wieder in Stuttgart. Im Februar 1861 zu nunmehr ständigem Aufenthalt nach München übergesiedelt, habilitierte er sich im Juni 1862 mit der Abhandlung »Der Werwolf« bei der philosophischen Fakultät der Universität als Privatdozent. Seine Vorlesungen hatten zu Gegenständen das Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide, deutsche Grammatik, Parzival, Beowulf, Tristan und Isolde und Gudrun. Im Sommer 1865 nahm er einen längeren Urlaub für eine Studienreise durch Südfrankreich nach Italien, nach Neapel und Rom. Im August 1869 wurde er an der Technischen Hochschule zu München zum außerordentlichen Professor »der allgemeinen und deutschen Litteraturgeschichte« ernannt, im März 1878 zum ordentlichen Professor »für deutsche Sprache, sowie für allgemeine und deutsche Litteraturgeschichte«. Die Vorlesungen, die er an der Technischen Hochschule zu halten pflegte, erstreckten sich hauptsächlich aus ältere deutsche Literaturgeschichte, deutsche Sprache und mittelhochdeutsche Interpretationsübungen. Im Jahre 1885 wurde er zum außerordentlichen Mitglied der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt, im Jahr 1890 zum ordentlichen. Im Jahr 1878 erhielt er die königlich württembergische große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft und das Ritterkreuz des königlich bayerischen Verdienstordens vom heiligen Michael 1. Klasse. Im November 1892 wurde ihm das Ritterkreuz des königlich bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst verliehen, Kapitelmitglied des nämlichen Ordens wurde er im Jahr 1898. Das Komturkreuz 2. Klasse des württembergischen Friedrichsordens erhielt er 1896, den mit dem persönlichen Adel verknüpften Verdienstorden der bayerischen Krone zu Neujahr 1898. Von sonstigen Auszeichnungen und Ehrenämtern möge noch erwähnt sein, daß er Ausschußmitglied des Stuttgarter Litterarischen Vereins zur Herausgabe älterer Drucke und Handschriften und Ehrenmitglied des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg war, auch (feit 1895) als Vorstandsmitglied der Zweigstiftung München in der Deutschen Schillerstiftung mitwirkte.

Die Gefährtin für das Leben, die sich Wilhelm Hertz erwählte, war Kitty (Katharina) Cubasch aus Odessa, die Tochter eines aus dem wendischen Gebiete Sachsens stammenden deutschen Kaufmanns; er lernte sie im Hause der Frau Professor Rosalie Braun, der Witwe des Archäologen Julius Braun, zu München kennen und verheiratete sich mit ihr im Dezember 1873.

Gemälde von Lenbach und von Theodor Pixis haben die Züge des Dichters der Nachwelt aufbewahrt. Hertz war von etwas mehr als mittlerer Größe, von kräftigem Körperbau, gedrungener Gestalt; leichtgelockte, dunkelblonde Haare bedeckten das Haupt, ein Bart von hellerer Farbe umrahmte die Oberlippe, um den Mund spielten die Geister des Humors, glitt wohl auch ein sarkastisches Lächeln. Aber sinnend und treu blickten die blauen Augen unter der wohlgebauten Stirne hervor.

Über Störungen der Gesundheit hatte Wilhelm Hertz selten zu klagen; nur eine zur Schonung im litterarischen Arbeiten zwingende Schwächung der Sehkraft machte ihm wiederholt Sorge. Im Herbst 1901 aber, während er in Ammerland am Starnberger See verweilte, kündigte sich eine Magenerkrankung an, über deren tückische Natur der Lebensfreudige, fast noch jugendlich Rüstige sich täuschte. In den Wintermonaten nahm dieses Leiden zu, doch erst nach Weihnachten sah sich Hertz ans Bett gefesselt. Die letzten Tage verbrachte er in Halbschlummer; am Abend des 7. Januar 1902 verschied er. Die Beerdigung fand am 10. Januar auf dem Schwabinger Friedhof zu München statt in Anwesenheit einer großen Menschenmenge und unter Beteiligung vieler Zelebritäten der Wissenschaft, Litteratur und Kunst. Von den Stuttgarter Jugendfreunden waren Adolf Kröner und als Vertreter des durch Krankheit verhinderten Gustav v. Siegle dessen Schwiegersohn Freiherr v. Gemmingen gekommen. Am Grabe sprachen außer dem Geistlichen der k. bayerische Staatsminister Dr. Emil Freiherr v. Riedel, namens der Technischen Hochschule Direktor Professor Dr. Walther v. Dyck und Professor Dr. Siegmund Günther, namens der k. bayerischen Akademie der Wissenschaften Universitätsprofessor Dr. Ernst Kuhn, als Vertreter der litterarischen Gesellschaft »Orion« Dramaturg Ludwig Stark und namens der Schillerstiftung der Verfasser dieser Schrift; auch studentische Deputationen waren in großer Anzahl erschienen. Die Sonne schien mild, und ein Berg von Blumenkränzen bedeckte das frische Grab des Vielgeliebten.


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