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Elftes Kapitel

Wären die Feuerwehrleute doch nur gefaßter! Aber sie treten aus der Reihe, sie schieben die Schuld ihrer Tatenlosigkeit auf andere, die älteren auf die jüngeren, die Väter auf die Söhne. Sie rennen sinnlos umher, sehen sich nach allen Seiten um, ja, sie nehmen ihre Metallhelme ab und blicken mitten im Funkenregen nach oben in den sternenklaren Himmel, in das mit Fixsternen und Planeten übersäte Firmament, als ob da Hoffnung kommen könne, ein Wunder. Der Wind saust. Auf ein Wunder rechnen sie, und keiner rechnet damit, daß von uns allen, wie wir uns da um mein brennendes Wohnhaus und den kleinen Garten geschart haben, auch nur eine einzige Menschenseele lebend heimkommt, wenn nicht jeder von uns das Äußerste aus sich herausholt und die letzten Kräfte seines Charakters und seiner männlichen Natur bewährt! Denn sonst muß hier an der Quelle des Unglücks alle Hilfe vergebens sein, und sie, die Retter, müssen rettungslos untergehen, schuldige und unschuldige, starke und schwache, wollende und müssende zugleich. Kann das sein?

Das Feuer flammt. Ich fühle nichts. Habe ich schon so viel gelitten, daß ich völlig unempfindlich geworden bin gegen jeden Schmerz? Mein Kopf ist klar. Mein Bewußtsein nicht getrübt. Deutlich höre ich den Schrei der andern, ihr dumpfes Rumoren in den Kellergewölben der umliegenden Häuser, wohin sie sich geflüchtet haben. Dort halten sie sich verborgen, weil sie das Schrecklichste fürchten. Was aber kann noch kommen? Sind die Benzin- und Ölvorräte bis jetzt nicht entzündet worden, dann werden sie vielleicht den ganzen Brand überdauern. Das Gejammer der Menschen widerhallt hohl in der Tiefe. Es klingt wie helleres Geschrei von Kindern und dazwischen die dunklere Stimme älterer Personen, die begütigend einwirken wollen. Eine besonders schöne, wohlklingende Stimme ist darunter. Wenn diese sich erhebt, wird es unter den Kindern sofort wieder still.

Ich trete zurück. Ich schließe die Augen, aber das Feuer ist schon zu nah, man sieht es auch bei geschlossenen Augen. Man entzieht sich ihm nicht. Aber mich schont es. Nicht aus Milde. Nicht, weil ich zu gut für diese schnöde Welt bin. Sondern einzig und allein deshalb, weil ich ein Nichts bin, weil ich mit Recht unverkennbar klein bin, namenlos, nichtig und schmutzig zugleich, schmutzig und schuldig zugleich. Das Öl der Bedürfnisanstalt, wenn es Öl war, wird in diesem Leben nicht mehr von mir weichen, und dieser Schmutz war noch der sauberste von allem. Das Blut an den unteren Säumen meiner Kleider wird in diesem Leben nicht mehr von mir weichen, denn das war meine Schuld und vielleicht nicht die größte. So tief muß ich in den furchtbaren Schmutz und Schlammgrund eines niederträchtigen, für die Allgemeinheit wertlosen Lebens versunken gewesen sein, daß ich selbst in diesem Brande nicht verbrennen kann. Aber ist in den Sünden, den Verfehlungen und Verirrungen, die ich berichtet habe, so viel Schmutz gewesen? Was ich bis jetzt geschildert habe, konnte jedem begegnen. Es war mehr Unheil, mehr unverdiente Schickung, mehr ungewolltes Verderben als Absicht und bewußte Niedertracht. So habe ich nur einen Teil meiner Schuld berichtet? Mord, Brandstiftung, unauslöschlicher Haß mitten in unauslöschlicher Liebe – und noch nicht genug? Liegt noch Schrecklicheres in dem tieferen Grunde meiner Seele? Was mag früher in dem menschenscheuen, dem bloß nach Arbeit gierigen Manne, dem guten Sohne, Bruder, Gatten und Vater vorgegangen sein? Manche Grabinschrift trägt, in unvergänglichen Stein mit unvergänglichen Feuerlettern gegraben, ähnliche rühmende Worte über einen bösen oder im besten Falle nur mittelmäßigen Mann, der gewesen ist. Ist es ebenso bei mir? Meine Leidenschaften wurden durch die Arbeit nur betäubt, nicht veredelt. Ich habe unter Schwierigkeiten in meinem Berufe etwas geschaffen, aber im letzten Grunde habe ich mich nie bewährt. Einmal wurde ich, ein einziges Mal nur, auf eine wirklich schwere Probe gestellt, und in ihr muß ich versagt haben. Muß ich versagt haben? ... Und dabei wissen, der Brand geht weiter? Mitten in den Flammen stehen, unberührten eisigen Bewußtseins darinstehen und sehen, wie die Flammen einen kleinen Apfelbaum, den Lieblingsbaum meines Bruders einst und meiner kleinen Tochter jetzt, erfassen. Mein Bruder hatte ihn als dreizehnjähriger Knabe gepflanzt. Mein Vater hatte nicht glauben wollen, daß der Baum in dem schlechten Boden, mitten im Häusermeer Berlins bei wenig Sonne gedeihen würde. Aber er, mein geistesgestörter Bruder, die Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit in Person gegen sich und andere, hatte so viel Liebe und Sorgfalt für das kleine Reis. Es ist mir unvergeßlich, wie er das dürftige zarte Ding von einer Baumschule brachte, in einer Seidenpapierhülle verpackt; wie er sich leuchtenden Auges mit den erdbehafteten Fäserchen und Würzelchen beschäftigte, wie er sie in die hohle Hand nahm, als wären es die Härchen an der Schläfe einer schönen Frau oder am Köpfchen eines kleinen Kindes. Frau und Kind hat er nie gehabt. Schon im nächsten Jahre sahen wir es neue Zweige ansetzen. Hatte es erst einer dürren Rute geglichen, so wurde es einem richtigen Bäumchen erst viel später ähnlich. Irgend etwas daran erinnerte mich an meine spätere Frau, aber ich weiß heute nicht mehr was. Es war ein kindlicher, magerer, aber sehr gerader und gesunder Stamm. Noch als mein Bruder im Irrenhaus lag und alles Interesse an der Außenwelt verloren hatte, fragte er mich, was unser Baum mache? Sonst kannte er das Wort »uns« nicht. Sein Besitztrieb war unbezähmbar. Diesen Baum aber, den er liebte, teilte er mit mir. Im nächsten Jahre begann er zu blühen, hellweiß mit aprikosenfarbenem Schimmer an den Ansatzstellen der hauchartig feinen Blütenblätter am Grunde des Kelches. Im Frühling konnte diese Pflanze einen über alles Beschreiben zarten und keuschen Duft aushauchen. Früchte trug sie noch nicht.

Früchte wird sie niemals tragen. Eine Flamme hat sich des Stämmchens bemächtigt. Sie ist mit einem Satz dem Baum auf die glatte Rinde gesprungen, sie ist sofort eins mit diesem Stück Rinde geworden, behende läuft sie so empor. Es knallt in dem zarten Gewächs. Es sprengt die Rinde auseinander, es macht die Blätter augenblicklich verdorren, die Säfte kochen bis in die Wurzeln hinab. Die Blätter flammen alle mit einem Male auf, und jetzt scheidet niemand mehr, was Apfelbaum war und was jetzt Feuer ist. Das Ganze windet sich und stöhnt. Aus den Enden der Zweigchen sprühen knisternde Funkenbüschel; wie Blütendolden aneinandergeordnet steigen sie empor, so erheben sie sich über den brennenden Leichnam des Obstbäumchens und treten, von unten her zauberhaft beleuchtet, den Weg nach oben zu den ewigen, friedensvollen Sternen an.

Hinter mir vernehme ich in dem jetzt lautlosen Hauchen der Flamme das Knistern eines rauhen Stoffes. Ich wende mich um und sehe, daß auch die Feuerwehrleute, die stärksten lebenden Helden, in dieser Minute um ihr eigenes Leben zittern. Denn wie sonst wäre es zu erklären, was sie tun? Einer der Feuerwehrmänner führt jetzt den dicken Ärmel seiner blauen Uniform an seine braunen Hundeaugen, um die in großer Menge herabfließenden Tränen aufzufangen. Vergebens, daß er sich selbst beherrschen will, daß er mit einem starren Blick ins Feuer die Zähne zusammenbeißt, daß er sich Vernunft und Mut zuspricht, vergebens, daß ihn ein älterer Kamerad zu größerer Männlichkeit und Selbstzucht auffordert. Er ist ein Mensch, kein Fisch. Er hat Herz, aber für diese Nacht nicht Herz genug. Er hat Angst. Er weint. Ist alles so hoffnungslos? So sinnlos auch für ihn? Bloß eine tragikomische Gefahr, bloß eine gefahrvolle Probe, aber keine sinnvolle? Da ahne ich, daß es vielleicht nach dieser Nacht auch für mich keinen Sinn, kein Jenseits geben wird, mich über die Folgen meiner Tat zu trösten. Ich war schlecht. Andere wollen nicht besser sein. Oder wenn sie es wollen, können sie es nicht. Nichts ist so ewig, daß man sich daran halten könnte in aller Vergänglichkeit. Es ist nicht genug daran, daß ich selbst im Schmutzgrund eines verlorenen Lebens schuldbewußt und verzweifelt dastehe, ich muß auch sehen, daß die anderen, die besseren, tatenlos sind im Unglück, daß sie keine Stärke des Glaubens besitzen, daß sie nur an sich denken, dabei aber an sich zweifeln und daß sie dabei verzweifeln müssen. Keiner will mir ein Beispiel sein.

Die Menschen in den Kellergewölben sind verstummt. Warum sind die vielen Feuerwehrleute nicht dabei, die unvernünftige Masse an der Hand, und wenn es sein muß, mit Gewalt aus dem gefährdeten Gebiet in andere Teile der Stadt fortzubringen? Sollte es so schwer für den Feuerwehrhauptmann sein, sich zu einem Kommando aufzuraffen? Nichts rührt sich. Alles ist, als stünde es schon seit Ewigkeiten so da, eingemauert in die Welt, der Brand meines Hauses, die Vernichtung der Bäume, die tatenlosen Feuerwachen, die nutzlosen Motorspritzen, die immer aufgeregter arbeiten und doch nichts fördern, die verängstigten Menschen in den Gewölben, die sich aus Furcht vor der Gefahr gefährden – und niemand, der als Mann darüber stünde.

Die Ratten in den Kellern und Mauerklüften sind vernünftiger. Sie ahnen die Gefahr. Bis jetzt haben sie sich in dem Eingang in den Keller aufgehalten, aber länger können sie nicht bleiben. Sie strecken halb angsterfüllt, halb frech ihre spitzen Köpfe unter den blinkenden, von Feuerfunken vergoldeten Winkeln des Gemäuers heraus. Wo es immer noch kühl war, dort beginnt das Gemäuer sich zu erhitzen und abzusplittern, denn das Feuer geht von oben nach unten. Die kleinen, schmutzig-braunen Tiere schütteln die heißen Mörtelstückchen ab, die ihnen auf die nackten großen Ohren fallen. Mit glitzernden Augen lugen sie aufmerksam um sich. Nirgends treffen sie glücklichere, als sie selbst es sind, die ihnen das Beispiel einer Rettung, eines Ausweges geben könnten. Unruhig scharren sie mit den krallenbesetzten Pfoten, als wollten sie versuchen, sich einzugraben. Die nackten langen Schwänze gehen wütend hin und her. Die Ratten pfeifen und warten auf Antwort. Nur das Feuer faucht.

Unselig ist diese schauervolle Nacht. Aber in dieser Unseligkeit ist ein unvergessener Anblick, wenn sich ein solches Tier jetzt auf den Weg macht, ein Weibchen, das ein piepsendes Junges quer im Maul trägt. Im zähen Asphalt des Bürgersteiges hinkend, den langen dünnen Schwanz wie eine Schnur hinter sich herschleppend, will es sich und sein Junges entschlossen aus der Feuerzone retten. Vergebens. Das arme Wesen bleibt mit seinem Kinde gleich zu Anfang liegen. Das Junge ist ihm aus dem aufgerissenen Maule herausgeglitten, oder es hat sich losgerissen. Schon ist es wie ein Apfel in starkem Herdfeuer unter zischendem Geräusch verbrannt, die Mutter sieht es noch. Die Mutter muß nicht nur den Schmerz, ihr Kind verloren zu sehen, erleiden, sondern dieselben Schmerzen auch an sich durchmachen, sie dem Kind nachfühlen. Ich kann sie nur ahnen. Das Tier zieht ohnmächtig die Lefzen an, wie zum Hohn kräuseln sich die Barthaare der Ratte, und das Feuer gleitet ihr wie mit Fingerspitzen über den Rücken. Aber die Ratte verteidigt ihr Leben. Sie hat eine zähe Natur. Sie fletscht das weiße Gebiß, die spitzen scharfen Eckzähne werden sichtbar. Das Tier faßt seine ganze Kraft zusammen, es reißt die Füßchen unter Aufgebot aller Kräfte aus dem trägen, klebrigen Asphaltgrund, aber nur noch einen Augenblick – schon ist alles zu Ende. Mir ist es ein kleiner Trost, daß das Tier, vom ersten Versuch seiner Rettung angefangen, kaum eine halbe Minute zu leiden gehabt hat. Wo es gewesen ist, befindet sich jetzt nur ein zischendes, loderndes Stückchen Feuer. Bald spannt sich an Stelle seines Körpers ein zierliches Gerippe aus, das zuerst noch mit schwärzlichen Haut- und Fleischresten umgeben ist. Im nächsten Augenblick sind es aber nur blendendhelle, feuerdurchglühte, wie gemeißelte Knöchelchen. Die einzelnen Teile, der Brustkorb, die Wirbelsäule, die Gliedmaßen und der Kopf sind durch hauchartige, zarte, rosa schimmernde Membranen verbunden. Die Stammesgenossen der Ratte haben sich wieder geflüchtet, zurück in ihren dunklen Untergang, diese aber erhebt sich auf ihrer durchscheinenden Flughaut im aufsteigenden Hitzewind. Fliegend durchmißt das federleichte Skelett die Luft, und der Wind trägt es weiter und höher, ferne vom Brandherd hin.

Die Feuermeister schweigen. Was ist ihnen das Dasein eines Bäumchens? Was das Leben einer Ratte? Sie sind zu sehr von den eigenen Sorgen benommen, als daß sie die Verwandlung eines schmutzigen, selbst an Aas sich nährenden, gegen seinesgleichen unbarmherzigen Kellertieres zu einem sternenwärts flatternden Schmetterling erfassen könnten.

Ich habe Gleichnisse, Symbole und Allegorien stets sehr gehaßt. Wäre das Evangelium Christi in klaren Worten abgefaßt wie die Gesetzesvorschriften, statt in noch so herrlichen Gleichnissen und in noch so bilderreicher, symbolischer Sprache, dann hätte die ganze europäische Welt längst den Frieden, es wäre niemals zu dem Weltkriege zwischen den Mächten und Gewalten gekommen. Ich bin ein Mensch der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wollte ich niemals verleugnen. Wahrheit ist uns nicht immer gegeben, aber man darf sich niemals wissentlich den Tatsachen entziehen. Was sollen einem, der nach Gerechtigkeit sich sehnt, der den Gang der Sterne, der das Getriebe dieser ökonomischen Welt, der den Sinn seines schrecklichen Schicksals, der das Innerste seiner ihm stets verhüllten Seele erforschen wollte, was sollen ihm brennende Visionen, was sollen ihm bilderreiche Geheimnisse?

Das Feuer zu meinen Füßen windet sich hin und her. Es wirft sich von einer Seite zu der anderen, wie eine leidenschaftliche Geliebte. Sie ruht nicht, und sie rastet nicht.

Ferne hört man Glocken schlagen, Hörner tönen.

Alles ist klar. Kaum erträgt es das aufgerissene Auge. Nichts ist mitleidig verhüllt, nichts gedämpft durch einen Nebel, durch eine Wolke, die Abendrot spielt. Rot, rot, aber nicht Morgenrot. Wie soll man das Unabwendbare ertragen, wie soll ich es ertragen, tatenlos, ratlos, sinnlos wie ich bin?

Mich zieht das Feuer immer mehr an sich heran. Ist es das, was ich liebte? Es murmelt und raunt. Es rafft und schwillt. »Ohne Schmerz!« verspricht es, aber das tut jeder Verführer. Es ist nur eine Verlockung, eine Versuchung. Zauberhaft soll der Tod in den Flammen sein. Meine Lippen, meine weichen, weiten Lippen werden lächeln oder sogar grinsen. Mein Leben ist verloren. »Mir dieses verlorene Leben zu nehmen«, habe ich heute gesagt, »und in denjenigen Himmel von Klarheit aufzusteigen, der mir ersehnenswert scheint, daran kann mich niemand auf Erden hindern.« Wenn es so sein soll, ist jetzt der Augenblick gekommen. Meine Gattin ist verbrannt. Jetzt kann ich mich mit ihr vereinen. Ich bin dann nicht mehr. Wenn ich überhaupt eines Gefühls der Liebe fähig bin, was soll dann das Ich? Wer nie die Sehnsucht nach Selbstvernichtung, nach dem vollständigen Aufgehen in dem geliebten Menschen gekannt hat, der kennt die Liebe nicht. Jetzt ist das Selbst vernichtet, das Ich ist aufgelöst, namenlos streift es in der furchtbarsten Katastrophe des letzten Jahres umher und wartet nur auf ein nicht ganz erbärmliches Ende.

Die Feuerwehrleute haben sich um einen alten, grauhaarigen, bärtigen Mann geschart. Er ähnelt meinem Vater, wie der Körper einem Körper, eine Erscheinung einer Erscheinung.

Feuerwehrhelm reiht sich an Helm. Im Hintergrunde schnaufen die stark angeheizten Dampf spritzen. Hochsteigende Wolken entweichen den Überdruckventilen.

Alle warten gespannt auf einen Befehl. Vor oder zurück. Aber keiner kommt. Es darauf ankommen lassen, der Selbstvernichtung keinen Widerstand entgegensetzen oder das Äußerste dagegen waren, – niemand will entscheiden, und doch wissen alle, Offiziere wie Mannschaften, was zu tun ist. Warum können sie es nicht? Unterirdisch rollt und dröhnt es jetzt. Immer schwerer ist die Luft zu atmen.

Mein Vater, der alte Mann mit seinem ewigen verachtungsvollen Lächeln um die dünnen Alterslippen und dem überlegenen Verstandesblick in seinen leuchtend blauen Augen, wird ohnmächtig. Das unterirdische Rollen und Dröhnen hat sich verstärkt, als führe ein Untergrundbahnzug rasend unter uns dahin. Mein Vater ist nicht mehr bei sich. Immer hat er den guten Glauben an sich gehabt, er ist ruhig über anderen zu Gericht gesessen, hat mit meiner Frau über die tragikomischen Züge der Menschen einträchtig gespottet, hat über die maßlosen Sprünge der menschlichen Seele nur gelacht. Mich hat er nie ernst genommen. Seinem eigenen Verstände und der menschlichen Willenskraft hat er alles zugetraut. Alles, und dies doch nicht? Sein eben noch hochgerötetes Gesicht ist erdfarben geworden, sein markantes Kinn ist ihm auf die breite seidene Krawatte niedergesunken. Er möchte sich mit den zitternden knochigen Händen an etwas Festes klammern und halten, aber wo es finden? Er möchte sich auf den Boden niedersinken lassen, aber auch hier wird er nicht bleiben können. Überall ist Glut. Jetzt ist er nicht mehr derselbe Mann, wie ich ihn mein ganzes Leben kannte, angefangen von meinen ersten Kindertagen bis zu dem heutigen Morgen, als er durch mich hindurchblickte, mich verneinte, als er ungerührt den Steckbrief seines einzigen Sohnes in der Öffentlichkeit anschlug. Er muß von den Feuerwehrleuten, die sich ihm nur ungern nähern, unter den Achseln und unter den Kniegelenken angefaßt werden, so tragen ihn zwei Leute aus dem Gefahrkreis, und als hätte dies nur noch gefehlt, haben die Mannschaften jetzt die Fassung ganz verloren. Sie tun, als wäre es ihr erster Brand. In Wirklichkeit wird es ihr letzter sein. Sie suchen den Schlüssel nicht mehr. Sie stehen nur in soldatischer Haltung da und bewachen die Flammen, aber sie wissen, daß sie diese Flammen niemals in Ketten werden legen können.

Jetzt hat sich das unterirdische Rollen und Dröhnen noch verstärkt, es klirrt wie ein Trommelwirbel. Die Leute horchen hin, sie verständigen sich, sie haben verstanden. Schon beginnt ihre Flucht, die Automobile mit den Motorspritzen und den mechanischen Drehleitern wollen wenden, aber bei ihrer Länge ist es schwer, um so schneller rasen sie dann los. In das Rattern der Motoren klingt ein ohrenbetäubendes Zischen, das immer wütender wird, bis man es kaum mehr ertragen kann; dann ertönt ein dumpfer, unbeschreiblich dröhnender Knall, die Erde bebt, als müßte sie auseinanderbersten. Eine haushohe Stichflamme schießt empor, wie aus goldfarbenem Licht gepreßt. Wolken von schwarzem Qualm wogen über dem Brandherd, Metallteile durchschwirren sausend die heiße Luft. Jetzt erst beginnt das Feuer seinen richtigen Gang. Die Öl- und Benzinvorräte sind in Flammen. Was nun? Das riesige Flammenmeer hebt und senkt sich in Wellen; durch den starken Wind weitergetrieben, droht es in jene Gegend Berlins hinüber, wo ich heute morgen erwacht bin. Nur eine Minute kann es dauern, und es wird die Häuser rings um den viereckigen Platz erfaßt haben. Die Kirche, aus Quadersteinen und dunkelroten Ziegeln erbaut, wird zu zittern beginnen. In den Dachsparren wird sich das Feuer zuerst fangen. Lichter blitzen dann hinter den bunten Kirchenfenstern auf, die das Leben und Leiden, den Untergang und die Auferstehung Christi in Glasmalerei zeigen, die Bänke im Kirchenschiff werden in der dörrenden Hitze krachen und sich auseinanderspalten, auch die schwarze Tafel mit den Zahlen der Bibelverse wird auseinandergesprengt, und durch die letzte Ziffer, das letzte Wort geht ein gewaltiger Riß. Oben auf der Empore hat die große, mit so vielen Opfern neu angeschaffte Orgel nicht mehr ihre hundert aufrechten, ebenmäßig geordneten Orgelpfeifen aus Zinn, sondern nebeneinander herabrinnende Bäche feuerflüssigen Metalls, sie tropfen hinunter wie Tropfen geschmolzenen Kerzenwachses, und mit diesem Augenblick steht das ganze Kirchenschiff in Flammen. Der Turm ist bis hinauf zu der immer noch weitergehenden Uhr von Feuer umrankt wie die Balken einer Veranda von Reben. Eine Quader des Unterbaus ist auf die andere gelötet mit weißglühendem, feuerflüssigem Metall. Aber dieses starke Haus Gottes bebt nur in seiner Feuerumarmung, die Mauern haben wenig zu tragen, es wankt nicht, es stürzt nicht. Es birgt jetzt nichts Lebendes in seinem Innern. Aber das Waisenhaus? Die Stätte, wo Hunderte von schuldlosen, ohnehin vom Schicksal schwer geprüften Kindern ein Asyl gefunden haben? Bis jetzt hat mir mein Schicksal (und Schicksal muß es sein, kein Zufall), bis jetzt hat mir das mitleidige Schicksal den Anblick von Menschen erspart, die im Feuer starben. Es sind bloß Bäume und Ratten zugrunde gegangen. Ich kann es ja nicht fassen, daß ich es sein soll, dem die Welt dieses unausdenkbare, schon jetzt unausdenkbar schreckliche Unglück verdankt. Es wäre ja mehr als Größenwahn, es wäre ja mehr als Verfolgungswahn, es wäre frevlerische Gottesvermessenheit, wenn ich wirklich glauben könnte, glauben müßte, ich sei die Ursache dieser Katastrophe. Gott kann so etwas tun, der Mensch nicht. Es kann ja nicht sein, und doch muß es so sein. Von dem ersten Augenblick meiner Rückerinnerung, von dem ersten Tage meiner Begegnung mit meiner Frau, ja, von dem ersten Tage meines Lebens, soweit ich mich dessen entsinnen kann, bis zu diesem Augenblick, wo ich in Angst erstarre, in Angst davor, das von mir verursachte Feuer würde vor dem Portal des Waisenhauses nicht haltmachen – von á bis ? spannt sich eine unzerrissene und unzerreißbare, logisch geschlossene Kette von Tatsachen. Alles hat sich vollzogen, voll, Zug um Zug, mit diesem Endziel. Es kann ja nicht sein. Die meisten Kinder, nein, alle hat man sicherlich gerettet bei dem ersten Tönen der Feuerglocke, die auf dem Löschautomobil durch die Alte Jakobstraße jagte. Aber es jagen viele Feuerwehrzüge durch solch eine Straße mitten im Zentrum Berlins. Nicht bei jedem Alarm der nahegelegenen Feuerwache kann man das große Waisenhaus räumen. Und wohin mit den vielen Kindern? Nein, es gibt noch soviel andere Asyle der Stadt Berlin, und wäre es das Asyl für Obdachlose, wo man die Kinder für diese eine Nacht unterzubringen hätte, oder ein anderes Heim der Heilsarmee, einerlei – es ist den Menschenfreunden dort im Waisenhause, der klugen und energischen Frau Oberst, der eigentlichen Leiterin, nicht zuzutrauen, daß sie die ihr anvertrauten Kinder nicht beim Signal: Großfeuer! so weit als möglich aus dem Bereich einer offenkundigen Gefahr gebracht hätte. Und doch, ist nicht alles möglich unter den Sternen? Es wäre ein unverzeihbares Verbrechen von ihr, wenn diese Frau, auf die Güte der Vorsehung bauend, auf die unausschöpfliche Milde ihres Erlösers rechnend, auch nur eine Sekunde zugewartet hätte. Man muß die Kinder, die jüngeren von den älteren betreut, in dem langen Korridor, der zum Hauptausgang führt, sammeln. Man muß sofort einige Lastautomobile oder einige Autobusse der Berliner Verkehrsverwaltung anfordern. Man muß die Kinder scharf im Auge behalten, da sich zu leicht eines oder das andere verlieren könnte, mutwillig und neugierig in das gefährdete Gebiet hineinschlüpfen könnte. Ein Kind weiß ja nicht, was Feuer ist. Es spielt damit, es glaubt, das Feuer werde auch mit ihm spielen. Man muß die jüngsten Kinder zuerst retten. Hat man nur wenige Lastautomobile zur Verfügung, so müssen die ganz Kleinen zuerst heran. Für diese müssen Schwestern mitkommen, diese braucht man aber wiederum, um die älteren Kinder in ihrer Widerspenstigkeit und jetzt besonders schweren Lenkbarkeit zusammenzuhalten. Und was dann, wenn die Zentrale der Verkehrsverwaltung nachts nicht erreichbar ist, oder wenn die Leitung der Feuerwache den Brand meines Hauses unterschätzt, ihn als mittleres Feuer betrachtet, als ein kleines Objekt, bei dem der Brand bald sich selbst verzehren wird? Was soll nun werden, wenn dieser Brand sich als das größte Feuer erweist, das diese Gegend seit Jahr und Tag heimgesucht hat, und was soll werden, wenn ein Lastauto infolge technischer Mängel, einer Panne nicht rechtzeitig zurückkommt? Schließlich kann man die Kinder belehren, man kann sie zu Fuß, in Reihen soldatisch geordnet, wegbringen, man kann sie durch Strenge zwingen, nicht in ihr eigenes Verderben zu rennen, auch bei jungen Menschen, bei gesunden Kindern zeigt sich der Selbsterhaltungstrieb, und dieser Trieb muß und wird sie retten. Aber – und das ist das Fürchterliche –, was soll mit den kranken, den besonders gebrechlichen, den mit Keuchhusten angesteckten, den hochfiebernden geschehen, zu denen auch das Kind Georgine Amsterdam 35 gehört, das man heute morgen eingeliefert hat und das sich bis jetzt nicht von seinem Schrecken erholt hat? Was wird aus ihnen?

Die Schwester Oberst, die sich in ihrem sechzigjährigen schweren Leben einen Teil unverwüstlichen Humors und einen Rest unzerstörbaren positiven Lebensglaubens erhalten hat, will die Gesundheit der anderen Kinder nicht durch dies Zusammenbringen mit den kranken, separierten Sorgenkindern gefährden. Im Grunde rechnet sie auf die Harmlosigkeit des Brandes. Sie hat beim Polizeirevier nachgefragt, und es wurde nur ein Einfamilienhaus, isoliert in einem Garten stehend, als brennend gemeldet. In der Ruhe ihres guten Gewissens läßt sie also die kranken Kinder in die Kellerräume bringen, die ich heute morgen nicht betreten habe. Diese dienen sonst als Sammelstätten geretteter Seelen und als Beträume für christliche junge Männer. Bei dem Transport der zarten, gebrechlichen, vor Schreck verstummten Geschöpfe hilft alles mit, was frei ist. Jetzt sind alle unten untergebracht, und man hat sie – es sind fünfzehn – der häßlichen Hilfsschwester mit der schönen Stimme anvertraut. Zuerst liegen die Kinder noch wie benommen, in ihre Decken eingehüllt, auf den Gebetbänken, die man zu Betten behelfsmäßig hergerichtet hat. Die Oberschwester ist mit dem Lastauto fortgefahren, um die darauf untergebrachten Kinder des ersten Jahrgangs möglichst sicher unterzubringen. Die anderen gesunden Jahrgänge begeben sich in geordnetem Zuge unter Aufsicht des Waisenhausdirektors, des Hausverwalters, der Diener und der noch verfügbaren Schwestern zu der nächstgelegenen Gemeindeschule. Man wird dort den Portier wecken, die Schule aufsperren lassen und den Kindern die leeren Klassenräume für den Rest dieser Nacht zuweisen.

Die Frau Oberst will mit dem Auto im Verlauf weniger Minuten zurückkommen, um dann diese kranken und schwachen Kinder mit besonderer Sorgfalt in dem Lastauto zu betten und sie dann in ein Kinderkrankenhaus der Stadt Berlin zu transportieren. Aber sie kommt nicht. Die Hilfsschwester weiß nicht, warum. Sie sieht auf ihre alte Armbanduhr aus Nickel. Es sind erst vier Minuten über die besprochene Zeit verflossen. Sie geht von einem Kinde zum andern, sie beginnt eine Geschichte zu erzählen. Sie kommt aber über das erste Wort nicht hinaus. Die Kleinen werfen, über Hitze klagend, ihre Bettlaken fort, richten sich eigenmächtig auf, halten sich mit den bläulichroten Händchen an der durchgehenden Lehne der Bank oder vorn an den Betpulten fest. Dabei spürt die Schwester noch nichts von Hitze. Die Schwester lacht die Kinder mit ihrem häßlichen, gutmütigen Gesicht an. Sie summt ein Liedchen. Sie vertraut sich völlig der Vorschrift ihrer Vorgesetzten an, sie glaubt nicht an eine Gefahr. Die Kinder klagen jetzt über Durst, über Kratzen und Schmerzen im Hals. Sie redet ihnen gut zu, nimmt aber doch ihr Taschentuch, um einen Dunstumschlag für ein fieberndes Kind daraus zu machen. Das Taschentuch ist noch ungebraucht. Nur aus Baumwolle, aber gut gewaschen, frei von Keimen. Sie geht in den Vorraum und hält es unter den Hahn der Wasserleitung. Aber es kommt kein Wasser. Hat man das Wasser abgesperrt? Braucht man das Wasser anderswo? Sie versteht es nicht. Aber um ihr Verstehen hat es sich noch nie gehandelt. Sie hat zu gehorchen und zuverlässig zu sein. Das ist sie. Aber was nützen Gehorsam und Zuverlässigkeit in diesem Augenblick, als zu ihrem Erschrecken der Uhrzeiger ihr sagt, die Frau Oberst sei im Verzuge, irgend etwas sei nicht, wie es sein müßte. Sie ist sofort von oben bis unten in kalten Schweiß gebadet. Aber sie beherrscht sich. Sie ist totenblaß, kneift sich aber wie im Scherz die Wangen, damit diese etwas Farbe bekommen. Die Kinder sollen die Gefahr nicht ahnen. Sie betet ohne Unterlaß, es zittern ihre lautlosen Lippen, sie ruft still die Hilfe ihres Erlösers herbei. Man hört das Feuer im Hause, es knistert, es raunt, dann schnalzt es, es pufft, es leckt von außen auf eine Sekunde hinein, an den unter der Decke gelegenen, quergestellten, aus dickem geripptem Glas bestehenden Fenstern zeigt sich ein flüchtiger Feuerreflex, verursacht von einem brennenden Holzscheit, das von oben in den Lichthof hinabgestürzt ist, auf den die Fenster dieses Saales gehen. Die Kinder atmen. Eines will husten, unterdrückt aber den Reiz. Die Frau Oberst kommt nicht. Es wird schwüler und heißer. Ein Automobil scheint an dem Eingange des Waisenhauses ratternd zu halten. Aber niemand erscheint. Das Knattern erweist sich als das Geräusch der Holzverschalung der Zentralheizung im Korridor des Hochparterres, die Feuer gefangen hat.

Die Schwester hat die ihr anvertrauten fünfzehn Kinder zu beschützen, selbst unter Gefahr des eigenen Lebens. Das ist ihre Aufgabe. Dazu ist sie entschlossen. Aber was tun? Soll sie gegen den ausdrücklichen Befehl der Oberin handeln, soll sie unverzüglich zwei oder drei Kinder auf den Arm nehmen, diese über die Treppenstufen in den langen Korridor bringen, wo es schon nicht mehr geheuer ist? Aber selbst wenn das noch gelingt, wo soll sie sie dann niederlegen – und wenn sie selbst wüßte, wo sie sie niederzulegen hat, kann man die anderen zwölf oder dreizehn hier ohne weiteres zurücklassen? Das ist widersinnig. Es ist auch gegen den Befehl. So soll sie gehorsam ausharren, wie man es ihr wiederholt befohlen hat? Es scheint das Richtige. Aber wie lange? Es sind jetzt siebzehn Minuten über die Zeit. Kein Feuerwehrmann. Sie weiß nicht warum. Aber ich weiß es. Man hat mit einem Mittelfeuer gerechnet, nicht mit einem ungeheuren Brand. Und dann hat man alle Kräfte auf den Brandherd konzentriert, und bevor die Aufmerksamkeit auf das Waisenhaus gelenkt worden ist, sind mehr als zehn Minuten verflossen. Und wenn man auch jetzt weiß, nach diesen zehn Minuten, daß das Waisenhaus von oben bis unten in Flammen steht, so hat man doch gesehen, wie das Lastauto mit einem Teil der Kinder abgefahren ist und wie der Rest der Waisenkinder unter guter Aufsicht geordnet zu Fuß das Haus verlassen hat. Man hat vielleicht auch die oberen Räume durch Feuerwehrleute mit Gasmasken und Sauerstoffapparaten durchforschen lassen und oben keine lebende Seele mehr gefunden. Aber die Frau Oberst weiß doch, daß noch nicht alle gerettet sind. Warum erscheint sie nicht? Nie hat sich ein Mensch so nach einem anderen gesehnt wie die totenblasse Hilfsschwester nach der Frau Oberst. Denn wer nimmt ihr die Verantwortung ab? Es sind doch Menschenleben, unersetzliche! Hat die Frau Oberst in der Verwirrung das Wichtigste vergessen? So Wichtiges vergißt sich nicht! Oder lebt sie nicht mehr? Was wird aus uns?

Die Kinder haben jetzt alle Durst. Weil ein einziges Kind kläglich nach Wasser gerufen hat, wollen sie jetzt alle Wasser haben. Aber aus dem Wasserleitungshahn kommt kein Tropfen, nur zischende trockene Luft. Die Hitze steigt mit jedem Augenblick. Draußen sieht man die Flamme nicht mehr. Es ist tiefe Nacht. Es ist finster. Hier unten brennt noch wie in alten Zeiten das elektrische Licht. Alte Zeiten nennt die Hilfsschwester den gestrigen Abend, wo sie und die Frau Oberst und das andere weibliche Pflegepersonal des Hauses eine interne Abendandacht abgehalten haben. Ein Heilandbild aus Papier, an der Wand ohne Glas und Rahmen mit vier Nägeln befestigt, rollt sich krachend zusammen. Ein anderes hinter Glas bleibt, wie es war. Der Heiland lächelt auf dem Kreuz. Um sein dornengekröntes Haupt zieht sich ein Halbkreis fünfzackiger Sterne. Die unseligen Kinder schreien jetzt alle wirr durcheinander. Sie reißen sich aus ihren Umhüllungen los, krabbeln in unbegreiflicher Hast mit ihren vom Schweiß feuchten, von Ausschlägen bedeckten Gliederchen aus ihren Lagerstätten heraus. Es stürzen drei Kinder von verschiedenen Seiten alle auf einmal der Schwester mit dem Rufe »Mutti! Mutti!« in die Arme.

Jetzt erlischt das elektrische Licht. Dafür leuchten zuckende Feuerzungen von außen an den verglasten Kellerluken. Niemand kommt. Die Kinder reißen die Augen auf, sie stehen starr da. Sie sind aus Schreck über das Verlöschen des elektrischen Lichtes und über das erste Erscheinen der Flammen alle mäuschenstill geworden.

Die Schwester will unter allen Umständen einige Kinder retten. Aber jetzt sind selbst die schwächsten, die heute morgen kaum die Ärmchen heben konnten, damit das Thermometer untergeschoben würde, entsetzt aus den bettchenartigen Lagern aufgesprungen. Sie haben ihre Kräfte wieder, sie haben die Gefahr erkannt. Sie sind nicht zu halten. Vergebens verspricht ihnen die Schwester, im Augenblick an die Wahrhaftigkeit ihrer Versprechungen glaubend, »das Blaue vom Himmel«, ein neues seidenes Kittelchen, ein Bändchen ins Haar, Blumen, große Puppen, einen noch größeren Bären, eine Schaukel, Schokolade in Silberpapier, Bonbons mit feiner Füllung; die Kinder hören sie gar nicht an, sie haben alle zusammen nur den einzigen Wunsch, die Schwester solle sie sofort wegnehmen, jetzt gleich. Mit aufgerissenen Mündchen schreien sie. Eins preßt sich verzweifelt die Händchen in das fiebergerötete Gesicht, streicht sich die hellen, feinen, aschblonden Haare zurück bis in den Nacken und murmelt mit seinem tiefen, heiseren, süßen Stimmchen der Schwester etwas ins Ohr, welches Ohr es jetzt zwischen die Fingerchen genommen hat, als müsse es etwas haben, woran es sich festhalten könne in seiner Angst. Es weiß nicht mehr, wo es ist, vielleicht glaubt das Kind noch immer, daheim zu sein, es denkt sich, es sei seine Mutter mit dem kleinen, lichten Knoten im Nacken, der es in den Haaren kraulen darf, der es alle kleinen Sünden abbittet und an deren Ohrmuschel es sich festhält, weil es das Nächste ist ... Die Schwester erhebt ihre schöne, weiche, volle Stimme, sie verspricht den Kindern, sie wolle »schneller wie ein Husch« wieder zurückkommen, sie wolle erst diese drei Kinder (es sind zufällig drei blonde Kinderköpfe in ihrer Nähe, die sie mit ihrer zitternden, eiskalten Hand bezeichnet, sie hat keines von den Kindern besonders ausgewählt, jetzt sind alle gleich), zuerst wolle sie diese ins Freie bringen und dann von draußen den anderen etwas Schönes zum Trinken mitbringen, ein süßes Himbeerwasser, kalte Milch. Aber die Kinder wollen sie nicht verstehen, sie klammern sich ihr mit aller Kraft an die Säume des langen Rockes, halten ihr, wobei sie den Kopf und das Hälschen fest anlegen, mit beiden Armen die Knöchel der Füße fest, andere kriechen auf dem Boden umher, andere wollen ihr von rückwärts um den Hals springen und sind dazu auf die Bänke geklettert, wie sie es vielleicht früher einmal bei ihrem Vater getan haben, wenn sie ihn durch eine besondere Überraschung bei seiner Rückkehr von der Arbeit erfreuen wollten. Tränen fließen ihnen allen, der Schwester wie den Kindern, aus den Augen, im Feuerlichte goldig erglänzend. Aber sie trocknen sofort in der furchtbaren Hitze. Und dennoch keine Ohnmacht. Keines der schwerkranken Kinder mit dem purpurroten Pustelausschlag, keines der bis dahin, bis zu dieser Stunde fast andauernd hustenden Keuchhustenkinder zeigt eine Schwäche, sie kämpfen alle um ihr Leben wie Erwachsene, wie Gesunde. Aber alles ist vergebens. Sie verzerren die Gesichter in ihrer Todesangst und weil die Hitze das zarte Fleisch schon zusammenzieht. Die Schwester will nichts mehr sehen. Mit ihrem Tode hat sie sich abgefunden, mit diesem Anblick nicht. Sie wendet ihr Angesicht ab, aber die Kinder wimmeln überall umher. Sie verzweifelt. Sie schlägt den Rock über den Kopf, sie beginnt sinnlos zu schreien. Auf dieses Schreien der Hilfsschwester verstummen noch einmal die Kinder alle. Im dunklen Kellergewölbe des Waisenhauses in der Alten Jakobstraße, das durch die von außen hereinzuckenden Flammen huschend erhellt ist, in der kaum mehr erträglichen Hitze des brennenden Waisenhauses werden die fünfzehn Kinder still, als sie die große Schwester kreischen hören. Da aber beherrscht sie sich. Sie sagt sich nein. Sie nimmt den Rock wieder herab, sieht sich besonnen um, sie ordnet ihre Kleidung. Sie sieht, was sie sieht, sie erkennt sich und die Welt um sich. Sie faßt ihren Entschluß, und dabei bleibt es.

Es stäubt von der Decke in zahllosen Funken. Dicke Schwaden von heller schimmerndem Rauch wogen durch den Eingang in den düsteren Kellerraum. Schweigend sehen die Hilfsschwester und die Kinder, was sie nicht begreifen. Sie atmen laut, aber sie schreien nicht. Die Schwester bekreuzigt sich. Sie breitet die Arme aus. Sie hält sich gerade. Sie legt ein Kind auf sein Lager zurück und deckt es zu, sie will nach einem zweiten fassen, da braust in einem einzigen Guß der Feuerschwall über sie herab. Krachend schlägt die Feuersglut vom Dachboden durch die brechenden Eisentraversen der vier Stockwerke bis in den Kellerraum. Die fünfzehn Kinder und die Hilfsschwester Ruth haben nicht mehr Zeit zu einem einzigen Schrei. Sie ersticken und verbrennen.


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