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Zehntes Kapitel

Kein Zweifel. Es brennt lichterloh. Funkenschwärme auf Funkenschwärme. Eine schwarze Rauchwolke, in der diese Funken ersticken. Dann flammt der Vorhang an dem Fenster auf. Die Rolläden aus Holz werden krachend vom Feuer ergriffen. Schon huscht es, als liefe jemand mit einer Kerze über die Stufen, die Treppe meines Hauses hinab, es züngelt durch das offene Portal.

Ein Dachfenster meines Hauses wird aufgerissen. Eine weibliche Gestalt beugt sich mit ihrem üppigen Oberkörper heraus. Sie öffnet schon den Mund zu einem Schrei, aber der Rauch dringt ihr in die Kehle. Sie hustet und würgt, flehentlich die dicken Arme ausstreckend. Es ist unser Dienstmädchen.

Im gleichen Augenblick, da sich hinter den Fenstern zum erstenmal leibhaftige Flammen zeigen, kommt auch Licht in die Fenster der umliegenden Häuser. Überall werden die Jalousien rasselnd emporgerissen. Hier und dort splittert es wie Glas. Von der nächsten Ecke eilt ein Mann in Arbeiterkleidung heran, der offenbar spät von der Nachtschicht heimgekommen ist. Mit einem einzigen Blick muß er alles erfaßt haben. Mit einem Satz ist er an das Haustor seines Hauses gelangt, das meinem gegenüberliegt. Sein Schlüssel ist zur Hand, erst wird unten das Schloß geöffnet, dann oben der Drücker herumgedreht. Er eilt die Treppen empor. Jetzt wird er seiner Frau zuschreien, sofort das Wichtigste ihrer Habe zu sammeln und mit dem Kinde auf dem Arm schnellstens aus dem Brandbereich zu fliehen. Er selbst denkt nicht wie unser törichtes Dienstmädchen ausschließlich an seine eigene Rettung. Denn sofort springt er wieder die Treppenstufen hinab, läuft zur Feuermeldesäule, schlägt mit dem Griff seines Hausschlüssels die blutrote Glasscheibe ein, dreht den Hebel herum und alarmiert die Feuerwehr. Dann kehrt er, trotz der höchsten Eile, in Ruhe und männlicher Selbstbeherrschung wieder in seine Wohnung zurück und nimmt sein Kind auf den Arm. Aber die Frau zögert noch, will nichts von ihrer Habe vermissen.

Immer neue Menschen stürzen dick vermummt aus den Hauseingängen. Dabei können sie in dem unbeschreiblich schwülen Hitzehauch kaum atmen. In ihren Augen ist kein menschlicher Ausdruck mehr. Sie schreien nicht, sie flüchten nicht. Es ist, als habe sie das Großfeuer so überrascht, daß sie es noch nicht begriffen haben. Immer neue Garben goldfarbener Fünkchen stäuben über ihre Köpfe hin. Sie halten Tücher vor die tränenden Augen, drücken feuchte Lappen wimmernden Säuglingen über die winzigen Gesichter, und doch wagen sie sich, als wären sie gebannt, nicht aus der unmittelbaren Nähe des Brandherdes fort. Auch mein Dienstmädchen scheint unter ihnen zu sein. Sie wollen ihr Leben retten, das Leben ihrer Kinder bewahren, aber es tut ihnen um jeden Rest ihres Eigentums leid, sie können sich nicht so schnell davon trennen. Einige Männer lachen, vielleicht aus Schadenfreude, oder weil sie der Wirklichkeit nicht gewachsen sind. Ob sie selbst in Lebensgefahr sind, darüber sind sie sich noch nicht klar. Ihre Wohnung ist in einem ungefährdeten Viertel. Was bedeutet ihnen dies alles, was sie hier an Jammer sehen? Sie sehen dem Schauspiel zu wie einer Probe.

Dabei weiß niemand, was ich weiß, und niemand entsinnt sich dessen, was mir so schwer aufs Herz fällt, daß nämlich in dem früheren Kohlenkeller meines Hauses, nur durch eine dünne Blechfalltür getrennt, große Mengen von Benzin und Öl lagern. Bloß ein einziger Funke braucht sich hindurchzuzwängen, und alles ist gefährdet in fünfhundert Meter Umkreis. Wozu schleppen die Menschen Karren mit unnützem Gerümpel davon, bewachen sie, häufen sie immer höher? Was sollen ihnen die ausgefransten Teppiche, das angeschlagene vergilbte Geschirr, die durchlöcherten Schuhe, die abgenützten Küchengeräte, die sie mit Bindfaden möglichst fest und sicher verschnüren?

Die Fensterladen im ersten Stockwerk meines Hauses sind alle ausgebrannt, und aus den viereckigen Maueröffnungen steigen die Flammen ruhig, unbewegt gegen den Himmel. Es geht kein Wind. Das ist ein Glück. Jetzt leuchten schon, ein zweites Glück, am Ende der Straße, wo der Brandschimmer sie trifft, die oft benützten, abgeschliffenen honigfarbenen Sprossen der auf und ab wippenden Feuerleitern, die im ersten Motorlöschzuge näherkommen. Noch scheinen in meinem Hause die Öl- und Benzinvorräte nicht vom Feuer ergriffen zu sein. Daß es so wäre, darum flehe ich das Schicksal an, es wäre eine Gnade, ein unverdientes drittes Glück in der Katastrophe. Denn ich bin die Quelle dieses Unheils. Zwischen meinen vier Wänden ist der Brand entstanden, zwischen meinen vier Mauern ist er aber nicht geblieben. Ich habe schuld. Nicht nur feiger Mord. Auch fahrlässige Brandstiftung. Nicht nur mein Schicksal, nicht allein mein Verderben und das der Meinen sind besiegelt, wenn der Brand nicht sofort gelöscht wird.

Ich sehe, über den Rand des Wagens gebeugt, klar gegen die hellen Häusermauern konturiert, die bärtigen, gebräunten Köpfe der Feuerwehrleute. Ohne Aufhören stoßen die Männer in ihre Hörner, es kommt das Feuersignal: C-G-C-! Es klingt wie das Jüngste Gericht, wie der Weckruf für auferstehende Tote. Aber der Löschzug kommt kaum von der Stelle. Die törichten Menschen, die nicht wissen, was ihnen bevorsteht, füllen die Straßen mit ihren Lasten, ihren Karren, ihren schweren Bündeln. Aus den Häusern strömt jetzt unter lautem Gejammer und Geheul, »Hilfe! Feuer!« rufend, eine neue riesige Menschenmenge heran. Mein Haus ist die einzige einstöckige Behausung hier, alle anderen ringsum sind hohe Mietskasernen. Aber ich hätte nie geahnt, daß sie solch eine Unzahl von Menschen bergen können. Das Wehgejammer der Masse übertönt das taktförmige Pochen der gedrosselten Motoren. Kein Mensch mehr hat Platz auf der Straße. Bürgersteige und Fahrbahn sind dicht bedeckt mit einem unentwirrbaren Knäuel von Menschen und Lasten. Nur schrittweise kommt die Feuerwehr vorwärts. Ein Feuerwehrmann, von dem elektrischen Scheinwerfer des Spritzenwagens wie bengalisch beleuchtet, schwingt in höchster Eile die Glocke, die gellend läutet. Aber die Menschen weichen vor den Automobilen nur langsam, widerwillig zurück. Bricht einer zusammen, dann treten sie auf ihm herum. Kann er sich noch, halbzerschlagen, aus dem Munde blutend, retten, dann muß er sich in ein Haustor flüchten, vielleicht in das gleiche, durch das er eben herausgeschlüpft ist, in der eitlen Hoffnung, zu entkommen. Bleibt er liegen, werfen ihn die anderen, gleichgültig, ob er noch lebt oder nicht, an die Bordschwelle. Die Straße gehört keinem einzelnen mehr. Fort mit ihm. Jeder ist sich selbst der Nächste. Manch einer, der infolge gebrochener Rippen kaum noch atmen kann, erhebt sich trotzdem, weil er sich nicht durch den plumpen Fuß eines brutal sich vorwärtsdrängenden Menschen den Oberarm brechen lassen will, den er in seiner Angst bittend und hilfesuchend vom Boden her aufgereckt hat. Mag einer fühlen, was er will, mag einer getan haben, was er will, der »vorherrschende Eindruck bei dieser Szene ist Grauen, angesichts des unmenschlichen Selbsterhaltungstriebs der Mehrzahl«. Mir ist, als hätte ich die gleichen Worte schon einmal gehört oder gelesen? Standen diese Worte im Bericht über den Theaterbrand in Madrid? Wiederholen sich solche Szenen nach dauernden Gesetzen? Liegt dies in dem tiefsten Grunde der menschlichen Seele geschrieben?

Ich weiß, worum es sich handelt. Ich kenne die große Gefahr. Sie dürfen die Löschzüge nicht aufhalten. Ich weiß, wo der nächste Hydrant zu finden sein wird. Hat man nur erst einmal die Schläuche angeschlossen, die Hydrantenschlüssel eingesetzt, ihn wie den Schlüssel meiner alten Uhr umgedreht und reichlich Wasser gegeben, dann wird die größte Gefahr geschwunden sein, da mein Haus isoliert liegt, wenn nur der Wind sich nicht stärker erhebt. Mag auch dieses mein Haus in Staub und Asche aufgehen, wenn nur die anderen gerettet werden, wenn kein Mensch Gesundheit und Leben einbüßt!

Hier ist es, wo es begann. Hier muß es auch enden. Muß! Hier ist der Hydrant in den Bürgersteig eingefügt, durch einen eisernen Deckel verschlossen. Hier die Gartenmauer, hier die Bäume des kleinen Gartens, von denen einer noch von meinem Bruder gepflanzt ist, hier die mit brennbarem Stoff gefüllten Kellerräume, in denen sich auch Schlupfwinkel für viele Ratten befinden, die von dem unfernen Flußlauf hierhergezogen sind. Das Haus brennt lichterloh. Aber die Kellerräume sind schwarz. Es hat glücklicherweise noch nicht in der Tiefe Feuer gefangen. Hinter mir höre ich das Sieden des Wassers in den Kesseln der Dampf spritze. Von weitem hört man trotz des Prasselns des Feuers fernen Gesang, verirrte, rätselhafte Klänge: »Jesus leidet, Christus stirbt.«

Die gegenüberliegenden Häuser sind jetzt sehr still und menschenleer. Sind die Menschen durch Aufgebot von Schutzpolizisten fortgebracht worden, oder hat sie der Selbsterhaltungstrieb zu flüchten bewogen? Wie immer es sei, sie haben alles aufgegeben. Niemand weiß, ob sich in den Räumen der verlassenen Häuser noch Kranke, Unmündige, Gebrechliche, allzu junge, allzu alte Menschen aufhalten.

Es prasseln vor meinem Hause die Pechfackeln der Feuerwehrmänner neben den starken Scheinwerfern der Automobile, als wäre das Feuer noch zu dunkel. Nirgends ein Schatten, nirgends ein Schlupfwinkel, sich zu verbergen. Die Beschläge der Motorspritzen funkeln im Feuerlichte wie aus Gold geschmiedet. Die Zeiger auf dem Manometer schwanken, der Druck steigt, in kurzen Intervallen entweicht heißer Dampf unter Zischen durch die Ventile. Alle sind beschäftigt, und doch geht es nicht weiter. Es ist keine Probe, es ist doch Ernst! Die Leute entrollen systematisch die langen Schlauchspulen, die am Ende der Leiterwagen angebracht sind, je eine hellblutfarbene Rolle neben einer dunkelblutfarbenen. Sie schrauben die Verbindungsflansche aus Bronze genau ineinander, ziehen das Schlauchgewebe, eine rauhfädige, undurchlässige Hanffaser, durch die Finger, sie nehmen sie zwischen die Handflächen, wie um sie zu glätten. Man ölt die Scharniere der mechanischen Leitern, man dreht an den Kurbeln, den verwickelten Getrieben. Aber alles viel zu langsam, viel zu bedächtig. Ich kann mich vor Ungeduld kaum halten. Eisiger Schweiß hüllt mich ein von Kopf bis zu Fuß. Das Feuer sehe ich. Die Glut atme ich. Die Flecke unten an meiner Kleidung leuchten jetzt wie Münzen aus abgegriffenem Metall. Das Feuer steigt immer höher. Es lockt mich. Es stößt mich ab. Wie soll das enden, wenn ich vor dem Feuer die höchste Angst habe und nach demselben Feuer zu gleicher Zeit das wildeste Verlangen trage?

Warum laufen die Feuerwehrmänner ratlos durcheinander? Weshalb sind die mechanischen Leitern erst in einem ganz spitzen niedrigen Winkel aufgerichtet, weshalb geht man nicht sofort energisch an den Hydranten heran? Weshalb denkt man nur daran, das Brandgelände gegen die Einwohner abzusperren, statt zu löschen? Man muß doch alles versuchen! Verzweiflung ist zu leicht, sie darf nicht sein! Man räumt die Wohnungen, statt sie zu schützen. Mein Haus ist abgeschlossen, an meinem Hause ist nichts verloren. Aber vor allem muß man dafür sorgen, daß es nicht weitergeht. Haben schon die Kerzenflammen den Teppich ergriffen, der Teppich wieder die Vorhänge und die Fensterläden, die Fensterverschalung wieder die Möbel, die Möbel die Türen und Treppen und endlich die Türen und Treppen wieder das Gebälk und alles andere ergriffen, was einer fressenden Flamme Nahrung geben kann, – so soll es damit zu Ende sein.

Ich möchte mich zwischen die Männer stürzen, möchte den Offizieren, dem Feuerwehrhauptmann und dessen Stellvertreter, die wichtigsten Fingerzeige geben, an ihrer Stelle befehlen; ich möchte mich mit den Feuerwehrmännern verständigen, ihnen helfen, an ihrer Stelle dienen; aber ich bin nicht für sie da, sie sehen durch mich hindurch wie einstens mein Vater, wie einstens meine Frau. Ahnen sie nicht, um was es geht, sind sie im Traum, haben sie den Schlaf noch nicht abgeschüttelt, bin ich als einziger wach? Unterschätzen sie die Gefahr, oder kennen sie sie zu gut? Sie tuscheln, sie winken einander zu. Endlich hebt einer, von einem zweiten bei dieser leichten Arbeit unterstützt, den Eisendeckel des in den Boden eingelassenen Hydranten ab. Sie lassen sich Zeit, oder erscheint nur mir die Zeit so endlos? Ob seit dem Ausbruch des Feuers eine Minute, ob seit dem Fallen der brennenden Kerzen von meinem Tische oben im Zimmer nach dem Tode meiner armen Frau eine Stunde oder ein Menschenleben vergangen ist, das zählt kein Sekundenzeiger, mißt keine Chronometeruhr. Jetzt wenden sich die zwei Feuerwehrleute um, leichenblaß. Der Deckel des Hydranten aus Gußeisen fällt dröhnend zur Erde. Wie in einer Kettenverbindung geht es flüsternd von Mund zu Mund, daß der Hydrantenschlüssel fehlt.

Unmöglich. Solcher sinnlose Hohn kommt in der Wirklichkeit nicht vor. Es ist absurd, und dem Absurden glaubt man nicht. Den Brandherd gerade noch im letzten Augenblick mit den nötigen Geräten und den besten technischen Errungenschaften erreicht zu haben – und dann den trivialen Schlüssel zum Hydranten nicht finden können! Traum, Traum! Sollte es denn wirklich an so wichtiger Stelle, in so dichtbevölkerten Quartieren weit und breit nur den einen Hydranten geben? Und wenn es nur den einen gibt, denselben, von dem mein Vater so oft gesprochen hat, mit dem er meine Angst beschwichtigt hat ... seine Worte waren die gleichen wie die meiner Frau vor ihrem Tode: »Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht!« Kann man denn das breite Wasserrohr nicht mit einem Feuerwehrbeil aufschlagen, um zum Wasser zu kommen? Es brennt ja lichterloh. Es handelt sich nicht darum, unseren Garten zu begießen, wir wollen ja nicht einen der Automobilsprengwagen, wie sie nachts die leeren Straßen in einer Wolke von Staub und Kehricht durchfahren, mit ein paar Litern Wasser anfüllen, sondern es ist das leibhaftige Feuer! Nein, alles nur Phantasie, Hirngespinst, und nicht einmal logisch gesponnen. Himmel, Himmel, wäre nur mehr Zeit! Ich kann mich vor Angst nicht lassen. Ich weiß es, es ist die höchste Gefahr, es kann sich nur um Minuten handeln, und dabei ist alles da, alle Voraussetzungen zu einer glücklichen Lösung sind gegeben. Wenn Menschenverstand und Wahrscheinlichkeitsrechnung etwas bedeuten, so müßte dies alles noch glücklich enden. So habe ich es mir auch gedacht, als ich die hingebendste, treueste Geliebte heiratete. Wenn Menschenverstand und Wahrscheinlichkeit etwas bedeuten, mußte sie die treueste Frau, die treueste Gefährtin werden.

Alles ist bereit. Die Automobilfeuerspritze hat den höchsten zulässigen Druck, man sieht es an dem rhythmisch vibrierenden Zeiger des Manometers, der an der Manometeruhr den weitesten Stand nach rechts eingenommen hat. Weiter geht es nicht. Aber es ist auch allerhöchste Zeit, jetzt oder nie muß man den Brand bekämpfen, bevor er noch die paar Zentimeter unter die Erde geht und unter der Oberfläche die explosiven Stoffe unwiderstehlich erreicht. Dann bleibt es nicht, diesmal sage ich es voraus, bei meinen bescheidenen vier Mauern. Es werden alle Häuser der Umgebung bis hinab zu dem großen viereckigen Marktplatz daran glauben müssen, die Mietskasernen ebenso wie die Fabrikgebäude, die Bedürfnisanstalt aus Eisenblech nicht minder als die Kirche aus rotem Stein, das Waisenhaus der Heilsarmee in der Alten Jakobstraße genauso wie die Bäume der Parkanlagen in dieser Viermillionenstadt Berlin. Und was soll aus den vielen Menschen werden, die sich, auch das weiß ich, aus den Häusern nicht retten konnten? Und niemand anderer weiß dies alles? Niemand außer mir, dem Schwerblütigen, faßt die Gefahr nach ihrer wirklichen Schwere? Alles bewegt sich lautlos, flüsternd, alles drückt sich wie auf Samtschuhen durcheinander, alles gleitet nur heran wie Schatten an Schatten. Nein, ich bin nicht der einzige, der die Gefahr kennt. Auch mein Vater kennt sie. Er selbst hat schon früher, als er Teile seines Hauses zu so gefährlichen Zwecken vermietete, dafür gesorgt, daß ein zweiter Schlüssel erreichbar sei. Dieser zweite Schlüssel des Hydranten befindet sich bei uns im Hause. Das nannte er Logik. Ratio. Aber es ist Widersinn. Der alte Herr hat diesen Brand ebenso wie alles Unheil in meinem Leben und im Leben meiner Angehörigen vorausgesehen. Und doch hat er, der geistesscharfe Jurist, der gewiegte Geschäftskenner, der Durchschauer und Verächter menschlicher Seelen, keine weisere Vorsorge treffen können? Geistesscharf war auch meine Frau, Geschäfte waren ihr nichts Fremdes. Ob sie alle Menschen durchschaut hat, ob sie alle Menschen verachtet hat, weiß ich nicht. Mich hat sie verachtet, aber durchschaut hat sie mich nicht. Das war ihr und mein Verderben. Aber sie war nur eine Frau, mein Vater aber war das Oberhaupt der Familie. Wie soll das enden? Wir können unmöglich zuerst den Schlüssel aus dem brennenden, unbetretbaren Hause holen, ihn retten, damit dieser Schlüssel uns rette! Ist dies das Schlüsselwort?

Was da zu meinen Füßen schon leckt und schmeichelt, ist das gleiche, was über meinem Haupt sich durch die Ritzen der auseinanderweichenden Schieferplatten des magisch beleuchteten Daches durchzwängt. Mit seiner spitzen Zunge stößt das Feuer durch, verschwindet, um nochmals wiederzukommen mit einer schärferen Liebkosung, der dann nichts mehr widerstehen kann. Es springt hoch, es duckt sich, jetzt wälzt es sich vor. Nach vorwärts und nach rückwärts wälzt sich das Feuer mit wiederholtem Überschlagen. Schauerlich ist es, wie ich dieses sich überschlagende Feuer schnalzen höre. Halb ist es Knall, halb ist es ein Lachen. Ich kenne den Raum unter dem Dachboden. Lange Stunden habe ich als junger Mensch dort mit meinem verstorbenen Bruder verlebt, wir haben gemeinsam verbotene Bücher gelesen, wir haben von den Gerichtssaalberichten aus der Bibliothek meines Vaters die schaurigsten, berüchtigsten Prozesse der Welt verschlungen, ihre rätselhafte Vorgeschichte, ihre formaljuristischen Erkenntnisse, ihre realen Tatsachen und die wahrhaft unerträglichen höllischen Peinigungen, die frühere Zeiten für vergossenes Blut bestimmt haben. Ich mußte oft den Blick wegwenden, aber mein Bruder, um soviel jünger, konnte sich davon nicht trennen. Jetzt geht alles in Flammen auf, die hundert Bände alten Gerichts, die Bretter der Kisten, auf denen wir saßen. Die Fensterscheiben schmelzen jetzt in der Glut, durch die damals das Abendsonnenlicht in mildem Glänze fiel. Wären wir jetzt noch dort, könnte man das Rad der Zeit um diese vierzehn Jahre zurückdrehen! Wäre ich mit einundzwanzig Jahren, wäre er mit fünfzehn Jahren dort gestorben, wären wir nie vom Dachboden zurückgekommen, die Welt hätte nichts an uns verloren. Es hätte kein Feuer gegeben. Das Feuer ist zu stark. Ihm entzieht man sich nicht, es wirkt in die Ferne, es bleibt nicht in den silbernen Kerzenhaltern, nicht bei den zarten Seidenspitzen meiner Frau, nicht auf dem roten Teppich. Ins Unabsehbare breitet es sich gewaltig aus, es will mehr haben, es hat nie genug, wie eine Frau.

Was ist Wasser dagegen? In Wasser versinkt man, geöffneten Auges, geschlossenen Mundes geht man unter. Den Boden unter den Füßen verliert man, so schwebt man ins Vergessen. Ertrinken ist ein guter Tod für gute Menschen. Was sind Wassertränen? Mögen sie immerhin als Tränen, als echte Regungen aus dem wahren Seelengrunde stammen, körperlich quellen sie bloß in geringer Menge aus den inneren Augenwinkeln über. Nur ein durchsichtiges Nichts rinnt kraftlos und kalt zur Erde, und nichts rührt sich auf dieser schnöden Welt. Weinst du aus Schmerz, dann bleibst du nicht ein Mann, wie du mußt, wie die Welt dich sehen will! Verlierst du dich hemmungslos, das ist: echt, so wendet man sich, mit Abscheu wie die Gattin, mit Verachtung wie dein Vater von dir ab. Weinst du aus Wut, so lacht man. Leidest du, freut man sich und geht vorüber. Weinst du aus Verzweiflung, so streicht man dir über den Kopf, leicht und flüchtig, über deine nach rückwärts gekämmten vollen Haare, man raunt dir irgendein banales Trosteswort zu und läßt dich aus Zeitmangel allein. Bist du ein Mann, darfst du nicht leiden. Leidest du aber dennoch, dann schweige. Schweige! Schweige!

Nur Kinder dürfen weinen, nur Kindertränen muß man löschen. Mein Kind geriet schwer ins Weinen, wenn es aber einmal so weit war, konnte man es kaum beruhigen. Es hatte die Gewohnheit, ich sagte es, an vielen ungenießbaren Gegenständen zu kauen, an einem Holzquirl in der Küche, an der Schnalle seines Kleidchens, dessen Säume es emporhob, dabei träumerischen Blicks umherschauend, an den bitteren, duftenden Schalen der frischen, grünen Nüsse, an den dunkelroten Blättern der geliebten Nelken. Ich konnte es nicht erlauben. Ganz sanft nahm ich dem Kind mit der Fingerspitze die gekauten Nelkenblätter aus dem Munde, da es auf keine andere Weise davon lassen wollte. Sanfter konnte kein Vater auf der Welt sein Kind anfassen, und doch flössen die Tränen meines Kindes. Ich vermochte auf keine erdenkliche Art sie zu stillen. Bloß sie konnte es ... Dort, wo das Kleine gestanden hatte, war auf dem Boden eine winzige Lache von seinen Tränen. Meine Frau blickte mich vorwurfsvoll an, aber es war gut gemeint, in kurzer Zeit war alles vergessen, mein Kind lachte wieder, meine Frau spielte ausnahmsweise lebhaft und unbefangen mit ihm, als wäre sie selbst ein Kind. Der Fußboden wurde schnell trocken wie zuvor, alles war unschuldig, als wäre nichts gewesen.

So unschuldig ist das Feuer nie. Im Feuer, im Brande, da hebt sich alles, es rafft sich auf. Es kennt keine Scham, so wie meine Frau keine kannte. Hüllenlos war es ihr am liebsten, im Lichte der Kerzen. Jetzt hat es ihr die letzten Kleider vom Leibe gebrannt. Es leckt die furchtbar süße, die grauenhaft bezaubernde Flamme an dem unseligen Wesen, das es in wollüstiger Ohnmacht hier gefangenhält, das entrinnen möchte und es dennoch im Grunde nicht will. Da lehnt halbaufgerichtet eine solche Gestalt. Aus ihren Händen, den langen, feinen, hat sie die zusammengewundenen Zipfel des Tafeltuches noch nicht gelassen. Aber der Tisch ist zusammengestürzt über ihr, die Äpfel sind im Raum umhergerollt. Die Kerzen flammen und leuchten jetzt viel heller, heißer als sonst, immer weißer. Hier an der Innenseite der schönen, wie ausgemeißelten Knöchel mit den feinen Kuppen, da knistert es erst leise, die Seide der enganliegenden Strümpfe spannt sich zärtlicher und anschmiegender, aber dann reißt sie brutal mit einem Riß von oben nach unten, entblößt das nackte Fleisch, die glatte elfenbeinfarbene Haut mit den leicht gekrümmten, goldig schimmernden Härchen unter den edlen Knien. Dann kleiden die Flammen das ganze Bein bis oben hinauf in eine Flammenhülle. Die hochgestellten, etwas schweren Hüften heben sich, winden sich, verengen sich, als könnten sie es nicht länger ertragen, sie zittern, als locke es das Äußerste in Angst aus ihnen hervor. Aber das Äußerste im Fleisch einer Frau ist etwas anderes als das Äußerste in der Seele eines Mannes. Ihre Glieder schmiegen sich nicht an mich, nur aneinander, sie fühlen nur sich, sind einander nah, eines an das andere gekettet, als wollten sie sich gegen etwas wehren, sie wollen voneinander nicht lassen im Leben und im Tode. Sie flimmern und glühen, die Haut reißt entzwei. Das Blut in der Tiefe siedet und brodelt, es kocht selbst im toten Körper der kühlen, bei aller Sinnlichkeit so kalten Frau. Wozu Seele, wenn es Feuer gibt? Die Hände winken im Feuer, die Glieder verkrampfen sich im Feuerschmerz. Aber um ihren Mund spielt zum letzten Male der zauberhafte, rätselhafte Ausdruck des wollustvollen, unmenschlichen Lächelns, des Grinsens fast, den alle Verbrennenden haben. Aus den Nägeln spritzt es grün und blau, zischend gehen sie auf in den Flammen, sie werden sich mir nie mehr in die Handflächen bohren, ich werde sie nie nachher mit meinen Fingerspitzen zärtlich glättend berühren. Ich wollte ihr im Leben niemals weh tun, auch »zur Probe« nicht, wie sie es manchmal gewollt hat. Wenn sie litt, wollte ich ihr immer helfen, mochte ich sie vorher im Herzensgrunde noch so sehr gehaßt haben. Aber ihrem Ich hilft auf Erden nichts mehr. Es ist mitten in der wütenden, der überwältigenden liebkosenden Glut, die alles in sich schlingt, alles zu sich verwandelt, den roten Teppich, die seidene Hülle, die Schränke an der Wand, das Holz des Tisches, das schön getäfelte Parkett, die Balken, auf denen das Haus steht. Sie, die Frau mit dem dreifachen Namen, ist nicht mehr ein Ich, auch sie ist erinnerungslos, namenlos geworden. Der einst unersetzliche Mensch ist gewesen. Die gute Tochter ihrer Mutter, die böse Tochter ihres Vaters ist gewesen, ihre großen grauen Augen, die schöne, aber doch niedrige Stirn, die echten, aber grauen Zähne, der tiefe keusche Knoten ihres dunkelblonden Haares im Nacken, ihre hellroten, nicht sinnlichen und dennoch unvergeßlichen Lippen, die schmale, leicht geschwungene Nase mit den feinen, wie geschlitzten Nasenlöchern, nichts bleibt, alles geht in Feuer und Flammen auf, erst die äußerste Hülle, das Haar, das in einem einzigen Zischen aufflammt, bis zu dem, was das echteste an ihr ist, den Zähnen, bis zu den schlanken Knochen der Glieder, den feinen, zierlichen, wie aus Elfenbein gemeißelten Knöchelchen ihrer Hände, an denen das Gold der Ringe geschmolzen hängt, als wäre es geschmolzenes, goldbraunes Kerzenwachs und, in dieses eingebettet mit immer glanzvoller strahlenden, fast unerträglich funkelnden Facetten, ihre großen Diamanten und Edelsteine anderer Art, die Geschenke ihres Geliebten. In ihrer Nähe ist es schrecklich, es riecht nach versengtem Fleisch, nach verbranntem Leder, aber von weitem ist sie schön anzusehen. Einem lebenden Sterne gleich. Leuchtend und immer freier in höher aufsteigendem Wirbel. Bewegt um sich selbst, ruhend in sich, Flamme gegen Flamme, echt bis zum Grunde des unverbrennlichen, dauernden, gültigen Wesens ... So schwebt ihr irdisches Teil in den Ozean des Äthers, unvergänglich bis zum letzten Augenblick des Daseins, bis zu den himmlischen, lodernden Sternen.

Das ist ihr Ende.

Nicht zu weinen und zu klagen ist jetzt die Zeit, Sterne leben über uns, ohne uns. Lodernde Leidenschaften haben keinen Ort in Berlin, August 1928. Die Brandmeister sind über den Brand gesetzt als Meister. Was ich getan habe, ich habe es getan. Was ich gelitten habe, ich habe es gelitten. Jetzt sei der Brand gelöscht, bevor er weitergreift. Die Frau hat sich selbst ausgelöscht. Nachher werden wir um sie klagen, wenn alle Menschenleben gerettet sind, wenn wir den Schlüssel des Hydranten gefunden haben. Darauf kommt es an. Unter uns ist Wasser. Ich hörte es in stillen Nächten oft rauschen. Wir müssen es haben, und müßten wir es mit bloßen Händen graben. Den Schlüssel werden wir finden – aber finden wir ihn nicht, dann müssen wir ohne Worte unterzugehen wissen. So furchtbar unsere Lage ist, so tut es doch wohl, wenn man sterben muß, hier, fern von Weib und Kind, als Mann unter Männern zu sterben.


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