Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Ich habe Sehnsucht, mich zu sammeln. Klar zu sein, muß schon das Leben lohnen.

Ich hebe das Blatt auf, das der alte Mann verloren hat. Vielleicht hat es ihm der Morgenwind aus der Hand geweht. Es ist ein Fehldruck, das Plakat ist doppelt bedruckt, einmal laufen die Zeilen von links nach rechts, das andere Mal darüber von rechts nach links. Kein Wort des Textes ist deutlich zu lesen, am wenigsten mein Name.

Ich finde auf dem Erdboden einen sonderbaren Gegenstand. Früher fand ich nie etwas, freilich sah ich selten zu Boden, ich blickte gerade voraus. Jetzt ist es anders. Auf meine Liegestätte wehte mir vorhin der Wind von dem Platze, wo es bei Tage Obst gibt und Blumen, das Zeitungsblatt zu mit der Notiz über das verlorene Kind. Hier aber, wo tagsüber die Schlächterläden stehen, finde ich einen scharfgeschliffenen Bleistift. Warum nenne ich ihn scharf »geschliffen«? Bei Schreibstiften spricht man doch nur von Spitzen. Scheue ich das Wort Spitzen?

Es reizt mich, ich kann es nicht leugnen. Ein so großer Bogen Papier wie das verdruckte Plakat hätte auf der leeren Rückseite Platz für eine ganze Lebensgeschichte, besonders angesichts meiner sehr kleinen, dabei aber doch deutlichen Handschrift. Aber was könnte man schreiben, wenn man nicht mit dem Namen beginnen dürfte? Mit dem Namen muß die Schrift beginnen. Ihn lernt das Kind in der Schule zuerst, übt ihn zu Hause unter den Augen der halb lachenden, halb ungeduldigen Mutter, und ihn schreibt der sterbende Greis auf seinem letzten Lager, während die weinenden Augen seiner Kinder seinem Namenszuge auf dem Testamentsblatte folgen. Nur ich soll nicht mit dem Namen beginnen und enden dürfen? Aber vielleicht bin ich ungerecht. Vielleicht soll ich gerade durch meine Namenlosigkeit den Folgen eines schweren Verbrechens entgehen? Entgehen? Entfliehen! Vielleicht rettet mich gerade meine Erinnerungslosigkeit vor einer schnöden Vergangenheit.

Seitdem ich erwacht bin, seitdem ich zum erstenmal fragte: »Wirklichkeit oder Traum?« können nur wenige Minuten verflossen sein. Die Bogenlampen, die wie immer nach Mitternacht in doppelt großer Distanz brannten, sind plötzlich alle erloschen. Es ist sehr düster, und doch wird es allmählich Tag.

Es strömen viele Menschen aus den umliegenden Straßen zusammen. Es kommen Automobile, die im Fond statt der Sitze einen blechbeschlagenen Kasten für blutiges Fleisch tragen, dann Karren, von guten Pferden gezogen, bis oben beladen mit Obst und Gemüse. Manche schaffen Blumentöpfe und viele lose Blumen herbei, welche von Frauen aus blasrohrartigen Messinggeräten mit frischem Wasser besprengt werden. Es ist still. Die Menschen hört man kaum sprechen. Noch stehen die Sterne. Es ist ein wolkenloser Tag. Es wird heiß werden, so kühl auch der Tag begonnen hat. Markthelfer und arme Hausierer schleppen ihre Lasten auf dem Rücken, oder sie haben Hunde eingespannt und unterstützen die treuen Tiere beim Zuge. Ich liebte Tiere immer sehr. Mein Vater verabscheute sie. Meine Mutter kaufte uns Kindern einmal einen kleinen stachelhaarigen Hund. Mein Vater setzte das Tier aus, und als es winselnd vor Hunger wiederkehrte, schenkte er es einem bettelarmen Nachbarn, der kaum sich selbst ernähren konnte. Aber dann sah er öfters nach dem Tier und fütterte es, da er dies für seine Pflicht hielt. Manchmal begleitete ich ihn. Vor mir wich der Hund scheu aus, oder er kläffte mich wütend und feige von rückwärts an, meinen Vater liebte er und freute sich, wenn er kam. Später kaufte der Vater meinem Bruder ein anderes Tier, einen Scotch-Terrier, der ein elendes Ende nahm, dessen ich mich aber nicht mehr genau entsinne. Es muß lange schon her sein. Ich wollte auch meinem Kinde die Tierliebe angewöhnen. Ich wollte ihm ein paar Kanarienvögel zu seinem dritten Geburtstag schenken. Doch meine Frau kam mir zuvor. Sie waren schon am Vorabend des Festtages da. War es bei ihr allzu große Liebe zu dem Kind und konnte sie dessen frohlockendes Gezwitscher nicht erwarten, oder sollte ich die Freude nicht haben, mein Kind so zu beschenken, wie ich wollte? Ich werde doch nicht eifersüchtig sein auf die Liebe meines Kindes? Und doch, niemals hatte ich von dem Kind genug, niemals war das Kind so offen zu mir, wie ich es gerne wollte. Auch hatte es Gewohnheiten, die ich nicht gerne sah. Das Kind ahmte alles nach, was es einmal erblickt hatte. So hatte es einmal gesehen, wie sich seine Mutter vor dem Fortgehen puderte, und es hatte in der Küche hinter dem Rücken der Köchin eine Handvoll Mehl genommen, um es in die Tasche seines Schürzchens zu schütten und sich dann vor dem Spiegel mit dem Kindertaschentuch das Gesicht dick zu pudern. Ich tat, als merke ich es nicht, und streifte ihm mit der Hand den Mehlstaub ab. Ich erzählte ihm dann ein Märchen von der großen Seestadt Amsterdam, und dann erzählte ich ihm etwas von mir selbst, da ich mich aussprechen mußte. Aber ich sprach dies jetzt nicht deutsch, sondern englisch, eine Sprache, die das Kind niemals von mir oder meiner Gattin gehört hat. Dennoch schien das Kind etwas zu begreifen, es wurde zutraulicher und vertraute mir sogar die Heilung einer zerbrochenen Puppe an. Das ist das letzte, was ich weiß. Das ist das einzige, was mir jetzt mein Gedächtnis von meinem letzten Zusammensein mit meiner kleinen Tochter wiedergibt. Mir kommt es vor, als sei es schon lange her. Ich wähle jetzt die Straße, die etwas ansteigt, einen kleinen Hügel empor, wo tiefgrüne Anlagen sich befinden. Alles strömt an mir vorbei, dem Markte zu. Dort hat sich im Handumdrehen eine Anzahl von Zelten und Buden erhoben, kaum richtig erkennbar in der Dämmerung. Hier oben, in dem mehr aus Gebüschen denn aus großen Bäumen bestehenden Park, mögen am Morgen Kinder spielen, sich hinter den Sträuchern jagen und verstecken. Mittags werden in der klaren Sonne alte, arbeitsunfähige Leute auf den Bänken verweilen, werden die dürren Hände in ihrem Schoß, abgearbeitet wie sie sind, ohne Gedanken betrachten. Spät abends werden Liebesleute und junge Brautpaare die Köpfe aneinander lehnen, sich keusch und rein Zärtlichkeiten zuflüstern, als wären sie schon ganz und auf immer vereinigt. So gibt es doch Frieden zwischen einem Mann und einer Frau und für beide eine reine Freude?

Jetzt blühen nur noch die späten Akazien. Sie duften mit ungewöhnlicher Stärke. Dies ist die reinste Bestimmung, die es auf einer Welt gibt, die nicht ohne Bedürfnisse niederer Art, nicht ohne Blut, nicht ohne schmutziges Öl sein kann. Meine Kleider sind befleckt, ich sagte es. Nun möchte ich sie mit einigen von diesen abgefallenen Blüten reinigen. Aber die cremefarbene Akazienblüte wird schmutzig und nichtig, meine Kleidung aber doch nicht rein. Meine Mutter rieb oft die Tapeten des verrußten Herrenzimmers mit Brotkrumen ab. Mein Vater durfte es nicht sehen, denn ihm war Brot heilig.

Jetzt höre ich heilige Musik von fernher klingen, vielleicht aus der Gegend der Alten Jakobstraße, des Waisenhauses. Ist es eine Probe der Musik, wie sie die Musikanten der Heilsarmee vollführen, die oft spät abends oder sonst zu den sonderbarsten Tageszeiten die Stadt durchziehen? Ihre Paukenschläge und Gesangsakkorde wollen nicht verstummen. Diese Soldaten Christi unterscheiden nicht zwischen Werktag und Feiertag. Sie wollen wecken, wer schläft. Sie wollen aufrufen zur reinsten Bestimmung. Sie wollen lieben und dennoch rein bleiben. Sie wollen den Menschen, Mann und Frau, lieben und dennoch frei bleiben von Blut, von Schmutz und jeder Schuld. Meiner Frau erschienen sie stets lächerlich, sie hielt mir meine Hand fest, wenn ich ihnen etwas schenken wollte, sie verdächtigte die Mädchen der Heilsarmee schlechter Gedanken. Mir erschienen sie als Menschen, die mit ihren unvollkommenen Mitteln das Beste auf Erden anstreben. Sie schmücken sich nicht, sie sind nicht schön, und was sie tun, tun sie nicht um unsertwillen. Nicht uns nehmen sie wichtig, sondern sie tun alles um Christi willen. Aber sie tun es. Von dem zusammengebettelten Gelde erhalten sie Waisenhäuser, Trinkerheilanstalten, Obdachlosenasyle und andere Zufluchtsstätten für verlassene, von der Welt aufgegebene Seelen. Sie haben Frieden in sich. Einen solchen Frieden wie in dem abgearbeiteten, schlechtgepflegten Gesicht einer alten, häßlich gewordenen Heilssoldatin, die nie jung gewesen ist, einen solchen Frieden wie in diesen farblosen Augen unter dem geschmacklosen, schwarzen Strohhut mit seinem goldbedruckten Bande habe ich nur in dem Anblick der Sterne gefunden, wenn ich diese nach meiner Tagesarbeit an einem wolkenlosen Abend von meiner weinumrankten Veranda aus betrachtete. Auch dies haßte meine Gattin. Einmal hatte sie absichtlich die Linsen meines Teleskops auseinandergeschraubt und falsch zusammengesetzt. Sie wollte, ich solle mich nur mit ihr beschäftigen. Das war in der ersten Zeit unserer Ehe. Durch das Teleskop zu sehen, etwa die Jupitermonde zu betrachten, dazu brachte ich sie nie. Sie flüsterte, ihr mit Schwanenpelz besetztes, rosenholzfarbenes Schlafkleid an ihrem zarten Halse enger zusammenraffend, sie habe Angst ...

Keine Erinnerung an Angst – ich will nicht diese Erinnerungen, sei es Angst vor Sternen, sei es Angst vor Menschen ... Denn so sonderbar es klingt, auch vor mir hatte sie Angst, sie, die Zwanzigjährige, sagte einmal: »Wenn ich vor dir sterbe, fürchte ich um mein Kind.«

Die Musik der Heilsarmee tönt weiter. Ich sagte es, sie haben den Frieden in sich. Uns wollen sie ihn geben. Aber sie suchen noch, sie haben noch nicht das richtige Wort, den passenden Schlüssel. Deshalb können sie nicht das tiefste Getriebe unserer Welt fassen, es von Grund aus ändern und zum Guten wenden, zum Besseren. Ihr Glaube versetzt nicht die Berge, und doch sind sie der festen Überzeugung, daß sie im Evangelium Christi, in seinem unbezweifelten Worte, in der tatkräftigen Annahme seiner Lehren und in dem Vermögen, sie zu befolgen, den einzigen Wegweiser zum Glück für sich und für alle besitzen. Sie sind besorgt um jeden, der an ihnen vorübergeht, sie erinnern ihn an das Wort Jesu: »Wie der Vater mich geliebt hat, so habe ich euch geliebt!« Ich kenne den Spruch. Wenn je ein Wort Gottes an die Menschen, so muß dieses alle glücklich machen, die es hören. Denn hier bekennt Jesus, daß er glücklich gewesen sei, daß er in Eintracht und Frieden mit seinem Vater, das ist dem Kosmos, gelebt und gewirkt habe und gestorben sei. Ich erkenne den Spruch wieder. Ich weiß, er stand in dem fast endlosen Wandelgange geschrieben, im Waisenhause in der Alten Jakobstraße, von roten Notlichtern war er nachts erhellt. Kinder sind ihnen das Liebste. Auch mir war mein Kind mehr als meine Frau. Spielzeug, Süßigkeiten, vor allem Kleidungsstücke, Schuhe, Nahrungsmittel, Konserven, alles, was solch ein hilf- und kraftloses winziges Wesen braucht, sammeln sie, sie packen zu Weihnachten Zehntausende von Geschenkkörben, um sie ihnen zu bescheren. Sie wundern sich nicht über diese Welt. Ohne Erstaunen nahmen sie heute das ausgesetzte Kind bei sich auf. Sie sind sich klar über alles. Verbrechen, Morde, schauerliche Naturgewalten, Eisenbahnkatastrophen, furchtbare Brände, das alles ist für sie nur ein Grund, noch mehr Liebe und Freude zu entfalten.

Freilich sind viele häßliche und unscheinbare Menschen unter ihnen. Keine Frau in der Heilsarmee wird meiner schönen Gattin ähnlich sehen. Aber ihr Wesen ist ein anderes. Der menschliche Jammer langweilt sie nie. Sie wollen immer am Werk für andere sein. Sie entbehren, in militärischer Zucht dem Range nach geordnet, wie alte Feldsoldaten kaum je den Schlaf. Selbst die gröbste Arbeit bereitet ihnen Freude. Arbeit in den Heimen, Gesang und Musik auf den Straßen, das ist ihr Gebet. Sie wollen nicht müde werden, denn sie wollen überraschen durch besondere Güte, die nicht fragt, nichts will, nichts fordert.

Die Musik ertönt immer noch von weither. Vielleicht stehen die Musiker zum Üben im Innenhofe des Waisenhauses. Aber wozu üben? Wozu eine Probe? Zu oft haben sie sich bewährt, sie haben niemals und nirgends versagt.

Die Musik hat viele, langgezogene tiefe Töne, so tief, daß sie fast unhörbar werden. Es ist immer noch nicht ganz hell geworden. Die letzten Sterne glimmern. Die Bäume im Parke werfen keinen Schatten. Die Zelte und Buden unten auf dem Markte heben sich kaum voneinander ab. Liegt ein Schleier vor dem Himmel? Kann es Rauch vor meinen Augen sein? Nein, der Tag ist doch eher klar und kalt als schwül und verhangen ... Man kann der Musik nicht folgen. Sie setzt aus, sie fängt sich wieder, spinnt sich ein ... harfenartig erklingt wie aus nächster Nähe ein Akkord, und dann wieder wird alles totenstill. Bloß die Bäume rauschen. Eine kleine Quelle oder Fontäne muß in der Nähe rieseln. Es dämmert in mir. Mir ist, als könnte ich, nur auf wenige Minuten erwacht, aus einem Schlaf in den andern, aus einem Traumgespinst in ein anderes gelangen ... ich werde müder und müder. Aber mein Herz beginnt zu schlagen in unbeschreiblichem Entzücken. Wenn alles nur Schlaf und Traum ist, auch der Steckbrief ist dann ein Traumgebilde, die Flecken bestehen in Wirklichkeit nicht – dann ist kein Blut geflossen.

In einem ungeheueren brennenden Gefühl von Wollust breitet sich mein Entzücken bis an den äußersten Rand meiner Seele aus, so stark, wie ich es nur als Kind empfunden habe, in den ersten Jahren meines Lebens. So glücksfähig wie in der ersten Jugend wird man nie wieder. Ich schließe die Augen vor dem zarten westlichen Winde. Alles in mir ist freudiges Gefühl. Ich atme tief und tiefer, ich höre es und versinke nach und nach ... Ich bin ohne Erinnerung. Der Augenblick hier auf der Bank, an deren geschweifte Lehne ich mich ganz eng geschmiegt habe, hier unter den niedrigen, dichtbelaubten Bäumen, von denen die hellen Akaziendolden herabhängen, hat etwas Wartendes, noch nicht Aufgegangenes. Er ist ein Beginn. Es ist still. Es muß ganz früh am Morgen sein. Die Vögel schütteln sich schlaftrunken in den Zweigen. Man spürt noch den feuchten Tau in der Luft. Unten auf dem Markte halten Wagen knarrend an, ein Pferd pocht mit dem Huf zweimal auf die Erde, ein Hund bellt, ein Auto huscht vorbei, von einem anderen gefolgt. Ein Motorrad knattert los und verstummt dann plötzlich. In einem weit entfernten Gebüsch der Parkanlage gurren Vögel, wie es Tauben tun, die sich im Regen unter einem Gesimsvorsprung aneinander schmiegen und miteinander schwätzen.

Ich blicke auf. Der letzte Stern der Nacht ist noch mit tiefblauem Licht getränkt. Er ist nicht goldfarben, wie die Sterne zu Mitternacht, auch nicht silbrig, wie die Gestirne im Winter, sondern er ist blau, wie die Glocke des Fingerhutes oder wie das Inkarnat des Alpenenzians im Hochsommer auf den unter der Schneegrenze gelegenen Bergwiesen, wenn der Tau schwindet. Einst habe ich mit meiner Gattin eine ganze Nacht unter freiem Himmel auf einer Bergwiese in den südlichen Alpen verbracht. Aber die Sterne erschienen mir damals anders, als ich sie von unserem Lager im kurzen duftenden Grase aus betrachtete, die schmale, schöne, warme Hand meiner Frau in der meinen. Dieser Stern, der jetzt über mir steht, ich weiß, welcher er ist, wo er auf der Sternkarte steht, aber ich nenne ihn nicht, dieser Stern zwischen den Kronen der Bäume scheint langsam in dem leeren, lichter werdenden Himmel nach innen zu wandern.

Ist mir das Wissen von mir selbst versagt, der Name, die Erinnerung – zum Segen? zum Fluch? –, so wurde mir jetzt von der ganzen anderen, der reineren Welt ein Schein, ein leichter Abglanz, eine feurige Ahnung mit dem Inkarnat von Blumen, mit der aussetzenden Begleitung von Tönen, die fast unhörbar sind. Der Stern, die reine Enzianzacke zieht in die Tiefe des Himmels; so verbirgt er sich.

Es ist Sommer jetzt, schon gegen den Herbst. Es schwimmen spinngewebeartige Fäden in der Luft umher, legen sich mir auf mein Haupthaar, fangen sich mir in den Innenflächen meiner Hände. Aber ich schlafe nicht. Mir ist Schlaf leider nicht vergönnt. Es muß mich sehr Schweres drücken. Georgine, das Kind, namenlos und hilflos aufgefunden, gleich mir durch eine übermächtige Gewalt aus ihrem gewohnten Dasein gerissen, Georgine kann schlafen, wenn auch nicht mehr im eigenen Bettchen. Aber jetzt liegt sie dort allein. Ihre Nachbarin hat sie verlassen, ist mit ihren dünnen Beinchen vorsichtig über die Schlafende hinübergeklettert. Sie und die anderen Waisenkinder sind im Gänsemarsch in den Waschraum getrottet. Die Hilfsschwester sitzt müde auf einem niederen Stühlchen, sie breitet gerade die Arme aus, in die solch ein tolpatschiges Kindchen, wie magnetisch angezogen, hineinstürzt. Die Kinder jagen und purzeln durcheinander, melden sich zum Kämmen, beugen die Köpfchen beim Zähneputzen und Gurgeln folgsam nach hinten, andere senken ihr Köpfchen und wenden sich um, damit ihnen die Schwester (die häßliche mit den schönen Zähnen) das Haar kämme. Sie halten eifrig die seidenen Schleifchen in der Hand, damit man ihnen das struppige Haar damit binde. Ältere Kinder aus benachbarten Schlafsälen sind wie an jedem Morgen erschienen, um die Hilfsschwester zu unterstützen. Sie helfen auch beim Waschen mit. Einem ganz kleinen Mädchen ist Seife in die Augen gekommen. Es schreit laut, während ihm ein etwa achtjähriges Kind heftig mit einem Handtuch die Augen auswischen will, nachdem es das Handtuch unter die Wasserleitung gehalten hat. Das Wasser spritzt umher, die Kleinen kreischen. Die Schwester gebietet Schweigen, damit die kleine Georgine nicht aus dem ersten Schlummer gestört werde. Aber die Waisenkinder können sich vor Übermut nicht lassen. Eines wirft einen Schwamm nach einem andern, größeren, ein drittes steckt einem vierten ein Stückchen Seife zwischen den Hals und den Kragen des Nachthemdes, ein fünftes kugelt auf dem nassen Boden des Waschraumes umher, weil es auf dem schlüpfrigen Estrich das Gleichgewicht verloren hat. So toben sie sich aus, und doch ist es nicht die Fröhlichkeit eines Kindes zu Hause bei Vater und Mutter. Plötzlich hört man mitten durch den Trubel in einem benachbarten Krankensaale ein Kind mit Husten beginnen und mit Würgen enden. Die Kinder hier hören es, aber sie schenken diesen kläglichen Tönen keine Aufmerksamkeit. Das Tageslicht bricht durch die Fenster des Waschraumes hinein. In diesem Licht sehen viele Kinder blaß oder erdfarben aus. Die Schwester mahnt zur Eile. Die Kinder bekleiden sich nun flink mit ihren dunkelblauen, uniformartig geschnittenen Kittelchen. Die Größeren helfen dabei geschickt den Kleineren, und eines von den Kleinsten verbirgt ängstlich einen dunklen Schmutzfleck vor den Augen der ernsten Schwester. Es deckt seine Händchen darüber, und gerade dadurch macht es die Schwester darauf aufmerksam.

Meine Kleider sind nicht rein. Ich möchte diese Stelle, nämlich den unteren Rand meines Beinkleides, mit der Hand bedecken. Diese Flecken fühlen sich schauerlich hart an, als wären sie gestocktes, verhärtetes Blut, Blut und Staub zugleich. Aber es ist doch nur Öl. Ich schlafe nicht. Ich träume nicht. Alles ist, wie es ist. Nicht rein. Lange wird es dauern, bis meine Kleider sauber werden. Ob man sie nicht lieber verbrennt?

Tat ich es aus Liebe? Dann ist Liebe nicht rein. Es war ein schmutziger Ort, an dem ich heute morgens erwachte. Habe ich mich dort verunreinigt, oder kam ich hin, weil ich schmutzig war? Hätte man mich doch lieber in der kalten Kirche aufgebahrt! Es ist bitter, im Schmutze auf die Welt zu kommen.

Und doch! Wieder ein »Und doch!« und nicht zum letzten Male: niemals erwachte reiner und in zarterer Seligkeit das Bild eines nach dem Innenraum des Himmels ziehenden, tief blauenden Sternes in dem Inneren eines Menschen ...


 << zurück weiter >>