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Hodin

1

Am siebenundzwanzigsten April, am Tage des denkwürdigen Brandes der großen Stadt, abends sechs Uhr wurde die Zelle des Mörders Hodin geöffnet. Hodin hielt seine kranke Hand vor seinen Mund und schien in ihren Anblick versunken. Er saß in einer dunklen Ecke auf dem Fußboden, war in einen kurzen, gelblichgrauen Zwilchkittel gekleidet, hatte die unter diesem Kleidungsstück nackten sechseckigen Knie bis an den Kopf gehoben, die inneren Knorren der ewig zitternden mageren Oberschenkel hielt er angepreßt an die in Muskelwülsten bebenden breiten Schläfen.

Wie er da hockte, auf den emporgekrampften Füßen und dem schon gefühllosen Kreuzbein die ganze Last seines riesigen Körpers auszugleichen bestrebt, kreiste sein schwerer Schädel, haarlos, in gelbem Glanze wie ein geschliffener Stein.

Hodin strengte seine ganze gesammelte Kraft an, um sich in dieser unnatürlichen, trotzdem schon seit mehr als einer Nacht und einem Tage gehaltenen Stellung zu bewahren. Dieses Streben, abseits aller Reue, fern aller Vernunft, dieses Ziel ohne Bedeutung und Sinn, dieser Wille ohne Vorstellung, sei es des begangenen Uebels, sei es der ihm gewissen Strafe, dies verschloß ihn vor allen Gedanken, vor jeder Wirkung der Welt.

Sein turmartig aufgebauter Schädel war kahl bis in den breit gefalteten weißlichen Nacken. Aber von den Wangen, von den dick bemuskelten, tierhaften Kiefern, die wie bei einem träumenden Hunde in stetig währender Bewegung knirschten, ja selbst unmittelbar unter den von innen her verschlossenen und abgedunkelten Augen rann ihm in aschenfarbenem Strom ein ungeheurer Bart, in dicke Zoddeln verknotet, an den Wurzeln von schwärzerem, an den Enden von lichterem Grau.

Es ist erwiesen, daß Hodin seit seiner Jugend nie von einem Rasiermesser oder einer Schere seinen Bart berühren ließ. In einer Zeit, da, besonders in den größeren Städten, der Träger eines Bartes auffallen mußte, schleppte also dieser Mörder ein Erkennungszeichen mit sich, das ihm aller Wahrscheinlichkeit nach schon bei seiner ersten Bluttat zum Verderben hätte werden müssen, hätte dieser mit außerordentlicher Kühnheit und ebenso mit ungeheurem Einfluß auf Menschen begabte Mann sich nicht allen Nachforschungen mit unglaublichem Geschick zu entziehen gewußt. Dazu kommt, daß Hodin seine Taten, von denen nur ein kleiner Teil aufgeklärt werden konnte, nicht aus den Beweggründen beging, die im allgemeinen die Verbrecher anspornen. Daß er des ferneren verlassener, als es sonst Individuen in dieser verkehrsreichen Zeit zu sein gewohnt sind, jahrelang geradezu in vollster Einsamkeit hauste, jahrelang wieder nur mit ganz wenigen, aber mit diesen durch die engsten Beziehungen, für die man nur keinen rechten Namen weiß, verbunden lebte. Daß er also ohne Mitwirker, Mitwisser, Mitleider, ohne Gefährten aus seiner Gesellschaftssphäre, ohne Helfer, Hehler und Handlanger seine Pläne ausführte und sich dabei, sei es aus Aberglauben, sei es um der höheren Sicherheit willen, am liebsten seiner nackten Hand bediente, der die Furchtbarkeit noch in ihrem jetzigen, geschwächten und verstümmelten Zustand anzumerken war.

Trotz diesem Barte nun, einem eindeutigen Erkennungszeichen, hatte Hodin nach den Gerichtsakten fünf Mordtaten begangen. Seit seiner Jugend hatte nie einer dies Gesicht nackt gesehen, auch das Opfer nicht vor seinem Tod.

Bei der letzten, das heißt bei der nur geplanten und begonnenen, nicht aber vollzogenen Tat, die Hodin in belebter Gegend, in früherer Abendstunde ins Werk zu setzen suchte, war er ergriffen worden. Auch hier hätte der bis dorthin immer vom Glück wunderbar Begünstigte noch Zeit zur Flucht gehabt. Aber seine Hände, die sich um den Hals seines Opfers spannten, konnten sich nicht befreien, nicht lösen, nicht entwirren. Dieses Opfer, ein älterer, menschenfremd hausender Privatmann, war auf wunderbare Weise dem sicheren Verderben, welches ein früheres Opfer Hodins augenblicklich nach dem tödlichen Gurgelgriff ereilt hatte, dadurch entgangen, daß er sich durch einfaches Verstecken rettete. Während der andere der würgenden Hand durch Aufbäumen, durch atemraubendes Hilferufen oder durch törichte Fluchtversuche und aussichtsloses Stampfen mit den Beinen, auf denen der riesige Mörder dann nur um so unerschütterlicher wuchtete, zu entkommen suchte, hatte der Privatmann seinen schmalen und fischartig glatten Kopf nur so tief als möglich in den offenen Halskragen versenkt, wobei der Kopf unter dem aschenfarbenen Gesträhn von Hodins Bart fast verschwand. Denn der Privatmann mußte irgendwie begriffen haben, dieser wie jeder andere Mörder, der von tierischem Mordinstinkt mehr als von menschlicher Logik geleitet würde, hätte nur den einen möglichen Griff, und mißlänge dieser durch einen nicht vorauszusehenden Zufall, dann sei alles hilflos an ihm und nicht mehr tierisch sicher, sondern nur tierisch blind.

In diesem Bestreben preßte das Opfer sein hakenförmiges, bartloses, unsauberes Kinn, ohne einen Ton von sich zu lassen und ohne ein Atom, einen Hauch des in diesen Sekunden so sehr kostbaren Atems preiszugeben, hinab an sein Brustbein. Dem Mörder blieb in Händen bloß der ebenfalls recht unsaubere, struppig bewachsene, aber von Schweiß triefende und schlüpfrige Scheitel des Opfers, umrahmt von einem mürben, an den Rändern vergilbten Halskragen, der nach dem vor zwanzig Jahren modern gewesenen Modell Gigi geschnitten war; alles war umrauscht und umwallt von dem riesenhaften Bart Hodins.

Diesen Kragen würgte Hodin, indem er, selbst laut keuchend und tief Atem einholend, dessen Enden übereinanderschlug und in einen Knoten verknüpfte, während das Haupt des Opfers mit dem schlüpfrigen Scheitel immer tiefer in den Schlitz des Hemdes versank und ihm so vollends entglitt.

Jetzt drang aus dem breiten, wie geschliffenen Munde des Opfers unter dem feuchten Hemde Lachen und kicherndes Schreien in langen Zügen hervor, aller noch immer drohenden Gefahr ungeachtet. Zum ersten Male verlor der herkulisch gebaute, völlig gefühllose, von Gott wie vom Satan zum Morde bestimmte Verbrecher alle Kraft zum Entscheidenden.

War es schon ein Wunder, daß ein Mann wie Hodin, wenn auch unter Aufbietung aller seiner körperlichen wie geistigen Kräfte, seit seiner Jugend bloß seinem Mordtrieb leben konnte, in einer Gesellschaft, die anderen, viel ungefährlicheren Menschen bald die Grenzen ihrer übeltäterischen Natur zu setzen weiß, so war es ein um so größeres, daß Hodin in diesem Augenblick nicht durch Ueberwältigung, auch nicht durch die Pläne und Kräfte der Polizei, weniger noch durch die auch im Entmenschtesten waltende Fähigkeit zur Reue auf seinem Wege aufgehalten wurde, sondern bloß durch die schlotternde Unkraft eines alten Mannes, eines blutlosen Kornwucherers (wie seine Opfer alle, war auch dieser eine schwarze Seele und ein Mörder, wenngleich ohne Tat), da Hodin wurde völlig aus seiner bis dahin unbeirrbaren Stern- oder Dämonenbahn gerissen durch den geteilten, aber durchaus unwiderstehlichen grünen Blick dieses glatten, grauhaarigen, schielenden Privatmannes, den dieser zwischen den Schlitzen seines emporgebauschten Hemdes und auch durch die Oeffnungen der durch jahrelangen Gebrauch ausgeweiteten Knopflöcher der Hemdbrust herausschießen ließ.

Es ist auf vernunftgemäße Weise nicht zu erklären, wie sich in diesem furchtbaren Augenblicke die seither nur von wenigen Lebenden wieder erreichte physische und, wenn es erlaubt ist zu sagen, metaphysische Kraft Hodins in die eigenen, furchtbaren Hände zurückergoß, um sich derart mit einer Schlinge seiner eigenen Kraft selbst zu fesseln.

Denn es geschah gegen seinen Willen. Hodins linke Hand umkrampfte die rechte mit der letzten Gewalt. Beide Hände, gestrafft wie Schiffstaue, die man in nassem Zustand miteinander verknotet, waren nicht zu lösen, blieben unfähig, die unversperrte Tür zu öffnen, ja hatten nicht einmal die Fähigkeit, sich von dem schlaffen Fetzen schmutziger, verknäulter Leinwand zu lösen, der in den Maschen dieser Hände gefangen blieb.

Schon kamen Polizisten, mehr durch das schreiende, schallende Gelächter des Opfers angelockt als durch den Gedanken an eine verbrecherische Handlung.

Hodin, der letzte Nachkomme eines tapferen, adeligen Geschlechtes, der harte, gewaltige Mann, stöhnte nur dumpf und in langgezogenen, fast schluchzenden Lauten, als ihm, unter fortdauerndem, nun schon irrsinnig heulendem Gelächter des Privatmannes (er hieß Rano) die Handschellen angelegt wurden, laut schrie er aber, als dann daheim, das heißt in der Zelle, die Hände voneinander gelöst werden sollten. Es geschah dies erst nach zwei Tagen. Natürlich hatte man ihm noch abends, sofort nach der Einlieferung, die sich nicht ohne das wüsteste Geschrei und Toben der eilends zusammengeströmten Menge vollzogen hatte, die Handschellen abgelöst, da der Verbrecher keine Zeichen tätlichen Widerstandes erkennen ließ. Aber als er, ohne ein Wort zu reden, auch ohne die Notdurft zu verrichten, ohne eine Bitte noch Beschwerde, auch ohne Speise und Trank die ersten zwei Tage im Kerker verbracht hatte, verlegte man die Ursache dieser fast totenähnlichen Haltung, dieses äußersten körperlichen und seelischen Krampfzustandes in die immer noch miteinander verbundenen, wie verlöteten, glutheiß anzufühlenden Hände und versuchte sie mit allen einfachen Mitteln, durch kalte Umschläge, durch sanftes Ziehen und Zerren auseinanderzubringen, ohne Erfolg. Der Gefängnisarzt, ein kleiner, blonder, rosiger Herr, war um das Leben des in den Tageszeitungen bereits ausführlich geschilderten Verbrechers sehr besorgt, doch dachte er nicht daran, wie dies kürzlich bei dem Brandstifter S. versucht worden war, seinem Trotz durch künstliche Speisung beizukommen und auf diese Weise das widerwillig gefristete Leben ihm zu verlängern. Denn S., ein Mensch von bekannter Roheit, hatte dem Arzte bei diesem Bemühen Gesicht und Hals mit den halbgekauten Speiseteilen verunreinigt und die Kleidung in nicht mehr gutzumachender Weise boshaft beschädigt.

Der Arzt ließ es daher in diesem Falle damit bewenden, daß er mit erst vorsichtigem, dann aber mannhaftem und rücksichtslosem Zuge die Hände Hodins, nicht anders, als wäre es zähes, schwer zerreißbares Holz, über seine eigenen Knie spannte, wobei der Druck von untenher der Kraft von beiden Seiten zu Hilfe kam. Er ließ Hodin schreien, soviel er wollte. Er tat, was er pflichtgemäß tun mußte. So mochte es als kleiner Schaden angesehen werden, wenn der kleine Finger Hodins, und zwar mit demselben Geräusche wie ein knackendes Stücklein Holz, unweit der Wurzel gebrochen wurde. Aufatmend und sich mit einem blaßgelben seinen Taschentuche die Stirn trocknend, bemerkte der Arzt, nun sei der Anfang gemacht und der erste Widerstand gebrochen; ginge Gewalt schon vor Recht, um wieviel mehr ginge dann Gewalt vor Unrecht! Und er wünsche nichts mehr, als daß der Gerichtsrat F., der Leiter der Untersuchung, es nun mit der Seele des Hodin ebenso mache, dann werde die Behörde bald alles so haben, wie es sein müsse. Dies traf aber nicht zu.

2

Es zeigte sich während der Voruntersuchungen, daß auf dem ausgetretenen Wege der Verhöre und durch die Mittel, die einem Untersuchungsrichter allgemein zur Verfügung stehen, nichts aus dem Angeklagten herauszubekommen war. Es gab zwar einige Fälle von Mord, die dem zuletzt versuchten Verbrechen ähnlich sahen und bei denen als Täter nur Hodin hätte in Betracht kommen können, aber der letzte zwingende Beweis aller Verdachtsmomente wollte sich ohne ein wenn auch noch so eingeschränktes Bekenntnis des Angeklagten nicht erzwingen lassen.

Nun hatte man in der Wohnung Hodins, in einem kleinen, engen, fast korridorartigen Zimmer im ärmsten Teil der großen Stadt, das aber trotz dieser Enge von einer Menge zahmer und halbzahmer Tiere, Vögel, Mäuse, selbst Ratten und Meerschweinchen bewohnt war, in diesem übelriechenden Raume hatte man, nur lose in ein Bündel benutzter Wäsche eingewickelt, wohl ein paar Blätter, in Hefte gebunden, entdeckt und beschlagnahmt, aber die Schriftzeichen waren auch von den Schreibsachverständigen nicht zu entziffern, und ein Teil der Prüfer hielt sie überhaupt nicht für Schrift, sondern bezeichnete sie als Sgraffito, eine Kette aneinandergereihter Schnörkel und einzelner willkürlich hingemalter Züge, wie sie sowohl geistig hervorragende Menschen in den Zeiten der Ermüdung als auch Geisteskranke mitten in ihren Träumereien und Gesichten hinzukritzeln pflegen.

Aus diesem Grunde an der geistigen Gesundheit Hodins zweifelnd, legte man das Bündel auch dem Gefängnisarzt vor, der sich mit ähnlichen Dingen schon früher abgegeben hatte. Doch konnte auch dieser noch nicht die Entscheidung zwischen einer sinnvollen, wenn auch vorläufig noch unleserlichen Privat-Stenographie und dem sinnlosen Gekritzel der blinden Hand eines seelisch Kranken endgültig treffen.

Als letztes Mittel wandte der Arzt nun etwas Eigenartiges an. Man hatte ihm vor Jahren gesagt, die Gedanken und daher auch die Leiden der Menschen, mit denen er rede, ließen sich am ehesten dadurch aufklären, und dadurch ließe sich auch oft Lüge von Wahrheit scheiden, daß man im Augenblick des Gespräches und womöglich auch nachher das Mienenspiel des Betreffenden nachahme, in der Kleidung, in der Haltung, in der Wahl der Speisen und im übrigen sich so ähnlich wie nur möglich mache dem, auf dessen Spuren man jage.

Diese Methode auf die Prüfung von Schriften übertragen heißt, sie vorerst mechanisch mit allen Mitteln nachahmen und, auf die Gefahr hin, etwas ganz Sinnloses zu kopieren, die vielen Seiten voller Striche und spiraliger Formen nachziehen, bis endlich aus der Wiederkehr einzelner Zeichen und aus dem gleichzeitigen, unbewußten Aufdämmern eines Sinnes der Beginn einer Lösung zu finden ist. Dies versuchte der Arzt durch viele Tage, war aber über das erste Stadium der einfachen Nachahmung noch nicht hinaus und hatte kaum zehn Schriftzeichen gefunden, die sich bis ins letzte ähnlich sahen. Aber da der Arzt über eine außerordentliche Willenskraft verfügte, war er vorerst nicht müde zu machen.

Man forschte nun nach der Vergangenheit Hodins und konnte über seine Kindheit und Jugend verschiedenes sicherstellen. Es ging aus den Protokollen hervor, daß der Vater Hodins als ein steinalter Mann noch jetzt lebte, und zwar war er, zehn Jahre nach seiner Verheiratung mit einem schlecht beleumdeten Mädchen, in eine Irrenanstalt gekommen, hatte diese, offenbar in einem Zustand verhältnismäßiger Besserung, einige Jahre später verlassen, hatte seinen einzigen Sohn gezeugt und war seinen Geschäften im Berufe nachgegangen, um endlich doch wieder in der Irrenanstalt untergebracht zu werden, wobei die belastende Aussage seiner Frau Angela, die sich vor ihm fürchtete, eine große Bedeutung hatte. Diese Frau, die Mutter Hodins, ging zu dieser Zeit, von der Familie ohne jede Unterhaltssumme zurückgelassen, einem nicht näher zu bezeichnenden Gewerbe nach, jedenfalls lebte sie nicht von ihrer Hände Arbeit, und sie war, als ihr Sohn Hodin etwa fünfundzwanzig Jahre alt war, an Kehlkopflähmung gestorben.

Bis zu diesem Punkte konnte man Hodins Leben gut verfolgen; er war schon in der Schule gekennzeichnet als Mensch von hervorragenden Geistesgaben, aber verschlossen, jähzornig und außerordentlich rachsüchtig. Er beherrschte sich nicht in seinen Leidenschaften, nur bezwang er deren Aeußerungen mit aller Kraft. Er hatte die übliche höhere Schulbildung, war Student der Rechte gewesen, als solcher ausgezeichnet durch besonderes Talent, Scharfsinn und großen Fleiß; trotzdem hatte er das Studium wegen mißlicher Vermögensverhältnisse aufgegeben und war nach (oder kurz vor) dem Tode seiner Mutter, ohne den Verkauf der nicht ganz wertlosen Wohnungseinrichtung abzuwarten, nach Paris gereist, hatte dort Handel mit Edelsteinen getrieben und verschiedene ähnliche Geschäfte eingeleitet, die aber wahrscheinlich nicht mehr zum Abschluß kamen.

Von da ab verwischte sich auch die Spur, da man aus der Pariser Zeit, der später eine amerikanische und eine österreichische gefolgt sein sollten, keine rechten Aufschlüsse mehr erlangen konnte.

Man war endlich so weit, mit dem stärksten Belastungszeugen, dem Korn- und Samenhändler P., die nötigen Verhöre anzustellen, als sich an Hodin sonderbare Zerstörungsgelüste zeigten, wie man sie früher kaum jemals an einem gesunden, geistesklaren Inhaftierten beobachtet hatte. So kam es dazu, daß zum Beispiel Hodin seinen gebrochenen Finger, der nach abgelaufener Schwellung wie ein leerer Wurstzipfel anzusehen war (dieser prägnante, wenn auch derbe Vergleich stammt von dem Arzte), zu verschlingen versuchte.

Schon staken die niedrigen, trotz dem hohen Alter vollzähligen Zähne Hodins an dem mittleren Gliede des Fingers, und es rannen – ein grauenhafter Anblick bei der totenartigen Starre des gewaltigen Menschen – Blutstropfen in perlender Reihe über die Wellen des grauen Bartes herab auf die bloßen Füße, die der Gefangene, Fußsohle an Fußsohle gefaltet, wie ein orientalischer Büßer vor sich hielt: alles eingeklammert, wie in Erz geschmiedet durch den furchtbaren, nach abwärts gesenkten, von Trauer und etwas kaum Ausdrückbarem strotzenden Blick, den dieser Mensch stunden-, ja tagelang aussandte, ohne ein einziges Zwinkern der wie dunkle Ruten vorstehenden Wimpern. – Schon bohrte sich die schartenlose Schneide seiner weißen, kalkfarbenen Zähne in das eigene, anscheinend gänzlich unempfindliche Fleisch, als der Gefangenenwärter, von unbegreiflichem Mitleid ergriffen und echte Tränen in den etwas grellen, blauen Säuferaugen, diesem mordgierigen Rachen (Mord mußte es sein, und sei es selbst Mord an sich) sein Opfer entriß. Er rettete, wenn nicht den Mann, so doch dessen Glied, diesen Finger, der sich sicherlich mehr als einmal um die krachende Kehle eines Unschuldigen (und wäre es auch ein Schuldiger gewesen, zu richten steht uns nie zu) gespannt hatte.

Nicht genug daran, nahm der Wärter unter tausend sanften, unbeschreiblichen Liebkosungen, wie man sie sonst nur unschuldigen Kindern erweist, den Hodin in seine Obhut, bedeckte das unförmige Fingerglied mit Küssen, hüllte es in einen Verband, den er vorher mit warmem Oel getränkt, als lohne sich dies bei einem Individuum, das kein Mensch war und dessen körperlicher Bestand (sofern Recht Recht blieb) in Kürze enden sollte, nachdem der seelische Bestand an sich schon längst sehr zweifelhaft geworden war.

Denn dieser Hodin ähnelte zu dieser Zeit seines Daseins in seiner tierischen Starre nur zu sehr den Schlangen und Fröschen, wenn sie im strengen Winter anfrieren, bewegungslos und zerbrechlich werden, ohne doch ganz zugrunde zu gehen.

Der Arzt, der diesen Fall ohne Aufhören umspähte und gerade an diesem Morgen einige wichtig scheinende Lösungsversuche an den Papieren Hodins unternommen hatte, war fast noch schneller als der Wärter zur Stelle. Vor allem trachtete er die Haltung und die undurchdringlich in ihrer Ruhe eingepanzerte Gewalt der Mienen, der Blicke und der Seele Hodins in seinem eigenen Gesicht und in seiner Seele wachzurufen, versäumte aber dabei auch seine Pflicht als Gefängnisdoktor nicht und ordnete, um solchen Selbstbeschädigungen zuvorzukommen, sofort eine Schutzhülle aus Gips an.

Er glaubte den Augenblick günstig, da Hodin durch dieses Attentat gegen sich selbst doch eine reuige Abkehr von seiner bisherigen Verstocktheit verhieß, andererseits wünschte er den Angeklagten den Richtern (ein Irrtum; es kam für diesen Fall nur ein Geschworenengericht unter der Leitung eines Berufsrichters in Frage), er wünschte Hodin der irdischen Gerechtigkeit gesund und wohlbehalten vorzuführen, womöglich auch in einem Zustand offensichtlicher Klarheit und moralischer Verantwortlichkeit.

Als die nötigen Geräte und Hilfsmittel gebracht waren, löste sich der Arzt, wenngleich unter einem sichtlichen Widerstande, aus der Haltung äußerster Starre los, die er dem Hodin nachgeahmt, und legte in Eile, um wieder bald zu seiner eigentlichen Arbeit, der Entzifferung von Hodins fleischlicher Seele, wie er es nannte, zurückkehren zu können, ein weißes, gipsgetränktes Tuch um die nun, wie es schien, durchaus leblose Hand des Inhaftierten. Er konnte es sich aber jetzt, offenbar ganz wieder in seine eigene Persönlichkeit zurückgekehrt und zu allerhand Scherzen gelaunt, nicht versagen, dem nahe dabeistehenden, schwer und feucht keuchenden Wärter (er hieß Schest) den Mund sowie die etwas weiten, groben, mit längeren Grannen besetzten Nasenlöcher mit den Ueberresten des Gipsbreies vollzuschmieren.

Dies war nun das Bild. In der kahlen, schmutzigbraunen Zelle ... es ist ein Vorurteil, sich die Zellen der armen Sünder (und dieser war einer, wenn auch zurzeit noch nicht vollends überführt) grau vorzustellen. Die meisten sind, ich bitte, dies mir als altem Gefängnisfachmann zu glauben, braun, in den neueren, besonders in Amerika, rein weiß und mit Oelfarbe gestrichen, wonach sie auch immer riechen, in einem alten Verlies der Provinz Thüringen sah man sogar ein blaues Gemach für diesen Zweck. Ein Zimmer, durch sonderbaren Zufall beim Bauen in schiefgestellte Wände eingezwängt und daher von schräg vieleckigem Umriß und, wie bemerkt, blau, von sehr schmutzigem, angealtertem, angerauchtem Blau, obzwar noch nie ein Gefangener in besagter Zelle alt geworden war, weniger noch daselbst geraucht hatte und obgleich die Träume, Visionen und Gewissenskonflikte der Verbrecher doch nie und nimmer die Farbe eines Wandanstrichs zu verdunkeln oder zu trüben vermögen.

Hier das Bild. In der dunklen Ecke der mattbraunen Zelle sitzt auf dem Fußboden, auf den nackten, fleischfarbenen Fliesen der Mörder Hodin. Das ist er, wie bewiesen wird. Die Knie bis an den turmartig gebauten Kopf gehoben, die unteren Knorren der ewig zitternden mageren Oberschenkel (nie sah ich einen Mörder satt und fett werden von seinem Gewerbe) gepreßt an die in Muskelwülsten bebenden breiten Schläfen. Fußsohle an Fußsohle, Ferse an Ferse. Eine unnatürliche, nur im Krampf festzuhaltende Stellung. Kreisend das gelb geschliffene kahle Haupt mit dem wehenden, grau und schwarz gezwirnten Riesenbarte, auf dem noch, wie um die Schnauze eines Raubtieres, kleine Bröckel von Blut kleben. Ist es doch, als könne dieses menschliche Ungeheuer ohne Blut nicht bestehen und als nähre sich sein ruheloser Blick in einer Art von Glück an dem perlengleich schimmernden Glanze der kleinen dunklen Kuppen, die das Blut im Verdorren bildet.

Neben diesem Hodin erscheint, ganz gebückt, wie eine liebevolle Mutter vorgebeugt, den grellen, blauen Blick in einer stehenden Hülle von Tränen (auch solche gibt es, nicht allein strömende), das kleine, kaum sichtbare Kinn (das Zeichen mangelnder Entwicklung des Willens) über den gewaltigen Mann und Mörder gehoben, der Wärter, so mit dem Gefangenen verschmolzen, als wollte er, Schest, den riesigen Unmenschen Hodin in einer Falte seines Bauches bergen, wärmen und schützen.

Auch Schest tropft von Feuchtigkeit, da er, von allem anderen abgesehen, ein weißes Läppchen mit reichlichem Oel in seiner damenhaften, völlig hilflosen Hand hält.

Der Arzt, das bin ich, eine kurz geschnittene Gestalt mit den ruhigsten Händen, die alles anzufassen vermögen, ohne doch schmutzig zu werden. So zeigen sie in diesem Augenblick keine Spur der weißen Gipsmasse.

Dafür aber ist die Hand des Riesen durch die steinerne Hülle, die in der Kühle des finsteren Raumes zu dampfen scheint, fast ins Unmeßbare angewachsen. Sie leuchtet wie Phosphor, und wenn von diesem plumpsten aller Gebilde sowie von den Nüstern des Wärters, der sich lange damit abplagt, Gipskörnlein zu Boden fallen, knistern sie wie Seide, praßeln sie wie Funken, silbern, eiskalt und hell.

Die Aufzeichnungen über diesen Abend tragen das Datum des 2. März. Es war also lange vor der Verhandlung, an die man in diesem Augenblick nicht mehr recht glaubte, da die Schriften Hodins noch als unentzifferbar galten, alle Verdachtsmomente durch das totenähnliche Schweigen und die maskenartige Starre des Hodin aufgehoben wurden und auch das einzige, wirklich erwiesene Verbrechen, geplant an dem Getreide- und Samenkaufmann P., ebensogut die unsinnige Tat eines Irren als der Versuch eines scheußlichen Beginnens sein konnte. Und in dieser Stunde schien alles für die erste Möglichkeit zu sprechen; alles mußte der menschlich sympathischen, wenn auch unlogischen Haltung des humanen Wärters Schest recht geben und mir, dem weit über seine Pflichtbefugnis hinaus spionierenden und das böse Tier in Hodin (und mag sein, auch in sich selbst) witternden Arzte unrecht. Und doch offenbarte sich dies alles als falsch.

3

Der Arzt, den die Aufregung des Tages nicht schlafen ließ, kehrte, ohne seine Wohnung aufzusuchen, nach einem kurzen Rundgang durch das ordnungsgemäß geführte Gefangenenhospital wieder zu Hodins Zelle zurück. Er war sehr erstaunt, schon aus weiter Entfernung, während er den engen Korridor zwischen den dunklen, schieferfarbenen Eisentüren entlang ging, aus Hodins Zelle Licht schimmern zu sehen. Es war dies eine Unbotmäßigkeit, die aus vielen Gründen, nicht zuletzt der Sparsamkeit wegen und ganz besonders spät nachts verboten war, bis auf die Laterne der wachhaltenden Gendarmen, die ihre Rundgänge alle halben Stunden mit der Regelmäßigkeit ihrer Kontrolluhr zu wiederholen hatten.

Der Arzt, draußen im Korridor in der Dunkelheit unerkannt, sah, wie der Wärter, der seine Mütze auf das Brett gelegt hatte, das den Kübel in der Zelle überdeckt, bloßhäuptig und waffenlos neben dem Hodin kniete. Dieser hatte das Kreisen seines Kopfes eingestellt, was aber dem Fürchterlichen seiner Erscheinung nichts von seinem Schrecken nahm. Die Zellentür war unbegreiflicherweise offen. Der Wärter flößte aus einem Löffel dem Gefangenen einen Brei ein, der noch sehr warm sein mußte, da kleine Dampfwölkchen von ihm aufstiegen. Wir zählten zwar schon Anfang März, ich sagte es, aber das Jahr war ungewöhnlich kalt, und im Gefängnisgarten lag noch Schnee, besonders an der Schattenseite. Die Heizung der Zellen war bereits eingestellt, und es mußte nachts empfindlich kühl sein.

Es war ein sonderbares Schauspiel, wie der Wärter die dicken Bartsträhnen vom Munde des Hodin mit seiner mädchenhaften, lichten Hand hinweghob und dabei mit gespitzten Lippen auf die zu heiße Breispeise, offenbar Reis, zu blasen nicht aufhörte, selbst dann, als der Arzt sich durch Anruf Aufmerksamkeit erzwang. – Eingetreten, sah der Arzt, daß die Zelle frisch gewaschen war und daß sich in der fast blendenden Sauberkeit der Fliesen der Mörder spiegelte, dessen ungeheure Größe, durch das Spiegelbild verdoppelt, auch einem kaltblütigen Menschen Angst einflößen konnte. Selbst der Arzt, den weder Tod noch Krankheit noch Verbrechen schrecken konnten, sondern der alles in sein eisiges Urteil einbettete, alles mit unbeirrbarem Verstande zu würdigen gewohnt war, konnte sich diesem Eindruck nicht entziehen. Mit der Bemerkung, er habe bloß einmal nach dem Patienten (zum erstenmal nannte er Hodin so) sehen wollen, und nach einem leichten Hinfühlen nach dem Gipsverbande, dieser steinernen Hand, die ein Teil von Hodins Körper geworden war, so unzerreißbar war sie mit ihm verwachsen, und nach einem schnellen Rundblick über die Zelle entfernte er sich, horchte aber noch draußen auf das leise geflüsterte Sprechen des Schest, dem, leider nur ganz unverständlich und mehr einem Gemisch von Stöhnen und Lachen als richtigen Worten ähnlich klingend, auch eine Antwort Hodins zuteil wurde; dabei blieb nur ein zu ahnender, aber dann auch nie zu vergessender Tonfall Hodins als das Eigenartigste haften. Denn er war unbeschreiblich einschmeichelnd und unbeschreiblich abstoßend zugleich.

Der Wärter berichtet von dem Papagei und der Drossel sowie von Hodins Ratten und Mäusen. Die letzteren hatte man, ihrer angeblichen Gezähmtheit ungeachtet, sofort nach dem Sprengen der Eingangstür noch in Hodins Stube vertilgt, die anderen Tiere aber schienen derzeit in Schests Obhut oder sonst bei bekannten Leuten untergebracht. Es war bei der Durchsuchung des Zimmers aufgefallen, daß eine schwarze, dicklederne Brieftasche, mit einigen Banknoten und etwas Silbermünze gefüllt, in dem Holzkasten vorgefunden war, der auf dem Schranke stand, und es war über der Brieftasche eine Menge von Vogelfutter aufgehäuft gelegen, das die Ratte – es lebte nur eine einzige im Raum – angefressen und besudelt hatte, dabei auch nicht die Tasche und das Papiergeld schonend. Da man bei den meisten Verbrechen vor allem mit den Beweggründen: Geld oder Fleischeslust, auch Hunger oder Liebe genannt, zu rechnen hat, war hier die offenbare Geringschätzung des Geldes schwer erklärbar, das ein Verbrecher doch nicht ohne weiteren Schutz in einer alten Futterkiste aufbewahrt. Jetzt auf dem Heimwege überlegte der Arzt diese Tatsache, die dadurch nicht aufgeklärt wurde, daß der Getreide- und Samenhändler P. am selben Tage einen großen und gerade den wichtigsten Teil seiner Belastungsaussage zurückgenommen hatte, mit der allerdings bezeichnenden Bemerkung, daß ein Mörder (Hodin) sicher ungefährlich sei, vor dem man sich nur in den Schutz des eigenen Hemdes zu verkriechen brauche und den man durch Gelächter zu lähmen imstande sei. Die Geldgeschäfte dieses Ehrenmannes P. waren, da er keine Bücher zu führen vorgab, auch kaum ohne sein Zutun zu überblicken. Das wichtigste Faktum aber, ein in diesen Zeilen bisher nicht berührtes Delikt, das Verschwinden eines Edelsteinhändlers, der offenbar mit der Mutter Hodins in unerlaubtem Einverständnis gelebt, war nach der Verjährung schwerlich heute noch zu völliger Klärung zu bringen. Denn was diese Prozesse oft so erschwert, ist der Umstand, daß die Opfer von Kapitalverbrechen sehr häufig selbst schrullenhafte, ungesellige Menschen sind, von sonderbaren Gewohnheiten angekränkelte, der menschlichen Gemeinschaft längst entfremdete Individuen.

Der Arzt begibt sich nach Hause in seine Privatwohnung zurück; ohne Frau und Kind richtig zu begrüßen, schließt er sich in seiner Arbeitsstube ein und betrachtet zu wiederholten Malen die Schriftstücke des Hodin, wobei er erkennen muß, daß die ihm noch vormittags als klar und einleuchtend erschienenen Konstruktionen zur Entzifferung der Schnörkel jetzt alle versagen.

Er blickt ermüdet auf, sieht die elektrische Tischlampe auf der glatten Tischplatte gespiegelt, erinnert sich im gleichen Augenblick Hodins, wie er in der frischgereinigten Zelle sitzt und sich in den feuchten Fliesen spiegelt; er nimmt hierbei die Haltung Hodins an, bemüht sich, den Kopf nach der Art Hodins kreisen zu lassen, und versucht zu allem auch noch den Tonfall der Worte Hodins, den er unvergeßbar, aber leider auch unnachahmbar im Ohre hat, nachzubilden. Er hält die Schriftseite gegen das Licht, sieht aber die einzelnen Zeilen auf beiden Seiten in gleicher Höhe gemalt und alle Schnörkel nur doppelt überzeichnet. Schon will er, nun übereinstimmend mit allen, die bis dahin die Sache verfolgt haben, die Schriften als sinnloses Gekritzel, den Mann als sonderbaren Geisteskranken, die Gerüchte von seinen anderen mörderischen Taten eben als einfache Gerüchte beiseite schieben und bei der Behörde für die schnelle Niederschlagung des mit so großem Getöse begonnenen Prozesses eintreten, als er das Spiegelbild eines Schriftschnörkels nicht allein von rechts nach links gespiegelt, sondern auch, wie Hodin in Person vor einer Stunde, von oben nach unten gespiegelt anzusehen gezwungen ist und in dieser Sekunde nicht dieses Zeichen allein, sondern die ganze Zeile blitzartig entziffert; es ist nichts als die übliche Stenographie, nur in Spiegelschrift und auf den Kopf gestellt; die alten Zeichen, in allen Schulen und Kursen gelehrt, Gemeingut nicht nur der besonders Gebildeten, sondern aller Handelsbeflissenen, Journalisten und höheren Stände. Wer mir die Schwierigkeiten dieser Entzifferung nicht glaubt, versuche die Zeichen der üblichen Stenographie in doppelter Spiegelung aufzuzeichnen, von rechts nach links und von oben nach unten. Aber ich hätte die Erklärung, so scheint mir jetzt, früher und methodisch finden müssen, nicht durch Zufall. Ich begreife in dem Augenblicke ebensowenig, wie ich das alles nicht sehen konnte, was ich jetzt sehe, so wie ich die ganzen Zeiträume vorher nicht begriffen habe, wie alle diese Zeichen und Seiten und Hefte voll dieser Schrift überhaupt zustande gekommen sind.

Hat er, der Arzt, vorhin sich Vorwürfe gemacht, daß er die Freiheit des Häftlings, seine Ruhe zur Nacht in Unruhe gebracht, daß er ihm das einzige, was er hat, seine Person, noch dadurch beeinträchtigt habe, daß er sie nachahmt und abbildet, so ist er jetzt wieder von dem alten, verstandesmäßig unbegreiflichen, nur seelisch nachzufühlenden Haß gegen Hodin erfüllt.

Denn er kennt eine Norm des Menschengeschlechtes.

Gezwungen, mit Kranken umzugehen, liebt er die Gesunden.

Gezwungen, mit Verbrechern sich abzugeben, liebt er die Vernünftigen.

Gezwungen, unter Gefangenen herumzuspazieren, liebt er das Freisein.

Das Gute, das Junge, das Heitere, das Schöne sind seine Elemente.

Anständige Sitte, gute Haltung, Sport und freundliche Geselligkeit sind seine Ziele.

Das Vaterland und der verantwortungsvolle Dienst für dasselbe sind sein Lebenszweck.

Was kann es ihm bedeuten, dieser Horde Unheilbarer zu helfen, diesem Rudel Irrsinniger beizustehen gegen die Schärfe der Gesetze?

Und doch fühlt er sich nicht wohl, er, der Arzt des Gefängnisses, wenn ein Verbrecherhaupt fällt, wenn ein Verbrecherleben verdorrt.

4

Es werden nun in fortlaufender Folge drei oder vier Aufzeichnungen Hodins vorgelegt, die als Beweismaterial dienen und wenigstens zum Teil die Genauigkeit rechtfertigen, die man zur exakten Darstellung dieser Begebenheit angewandt hat. Die eigentliche Bedeutung und zugleich der einzige Umstand, der diesen fürchterlichen Bericht mildert, wenn er auch nicht das Schauerliche und für das ganze Menschengeschlecht Beschämende daran aufheben kann, würde freilich erst gegen Ende dieses Berichtes durchleuchten können, und es ist nicht sicher, ob wir das erreichen.

Die Aufzeichnungen selbst haben einen so großen Umfang und einen zum Teil so unmenschlichen Inhalt, daß sie in ihrer Gesamtheit nicht wiederzugeben sind. Es muß offenbar der äußerst menschenscheue Mörder (der die Menschen ebenso fürchtete, wie sie ihn gefürchtet hätten, vorausgesetzt, sie hätten ihn gekannt), es muß dieser Mann Hodin alles, was ihn Tag für Tag beschäftigte und wofür er, der Natur der Sache gemäß, bei keinem Menschen, und wäre er ihm noch so zugetan gewesen, Verständnis und ruhiges Anhören erwarten konnte, in dieses Bündel Papier hereingeschrien und geheult haben. Diese Ausdrücke geheult und geschrien wird man verstehen, wenn man das erste Es bleibt vorläufig das einzige. Schriftstück, in den Akten Hodins mit 348 v/22 bezeichnet, gelesen hat, das nun ohne Zusatz und Auslassung folgt. Der Name Tobias Albaran ist, das ergibt sich aber ohne weiteres von selbst, nur ein angenommener, einen Anhaltspunkt für das wirkliche Bestehen eines Trägers dieses Namens wird man den Akten nicht entnehmen können. Der Name des Helden oder Mittelpunktes aller dieser Aufzeichnungen wechselt übrigens im weiteren Verlaufe, wie man noch sehen wird. Nun ohne weiteren Aufenthalt das Schriftstück.

348 v/22 geschrieben von der Hand Hodins.

Ich habe gestern abend in Paris, das nach dem Fortgang der lieben Person mir sehr einsam geworden ist, die Bekanntschaft eines, wie es scheint, harmlosen Irren gemacht, der, was ich anfangs nicht fassen konnte, die Fähigkeit besitzt, zu überzeugen, also: Gedachtes wirklich zu machen. Wer nicht die eigens ausgebildete und immer wieder bewährte Kraft hat, zu zweifeln, zu zweifeln immer und überall, und wer sich auch durch den klarsten Augenschein nicht an diesem seinem Zweifel wankend machen lassen will, dieser Mensch des unbeirrbar scharfen und kühlen Menschenverstandes wird gut tun, den Besuch bei Tobias Albaran, so nennt sich dieser sonderbare Heilige und dieser angeblich so sehr von allen Lieben verlassene junge Mensch, zu unterlassen; und es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß sich die Behörden über kurz oder lang mit dem Tun und Lassen dieses Menschen befassen werden, der vorgibt – vorläufig ohne es beweisen zu können –, daß er die Menschen zu erlösen in die Welt gekommen sei und, wenn es anders nicht ginge, so dadurch, daß er sie von sich selbst erlöse.

Darin will er dem Vorbild des Heilands folgen, darin will er den Hauptteil von dessen wunderbarer Wirksamkeit sehen, daß Christus die Welt von Christus selbst erlöste, indem er seine Ermordung und Kreuzigung vorspiegelte, um ungestört, also im tiefsten Sinne durch eigene Hand, Selbstmord (nicht des Leibes allein) begehen zu können. Daß dieser Heiland Vater und Mutter verleugnete. Daß er des ferneren seine Brüder, die sich seiner rühmten, nicht zu kennen vorgab. Des ferneren, daß er, ohne selbst Kinder zu hinterlassen, ja sogar ohne eine Frau oder ein Mädchen zu berühren, dahinging. Das deutet seine äußerst menschenfeindliche Gesinnung an und beweist sie. Sein Tod setzt das Siegel darunter. Dieser Gedanke, sich von der Welt dadurch zu scheiden, daß man ihr Brot nicht ißt – die Hochzeit von Kana ist der schwerste Widerspruch in den Evangelien –, daß man ihren Wein nicht trinkt, ja, daß man sein eigenes, fortrinnendes Blut als den Wein der Welt, seine eigenen, schmerzhaften Tränen als das Salz der Erde erklärt und daß man schließlich die unselige Erde durch ein furchtbares Ende bis in ihre Grundfesten erschüttert und, mit eisigem Lächeln, edelsteinerne Tränen in den Augen, aus dieser Welt austritt, um sie in der furchtbaren, unbeschreiblich schauerlichen Verfassung zurückzulassen, die jeder kennt, der das Liebste gemordet hat und nun, teils mit dem wahnsinnigsten Gefühl der Freude, teils mit dem unnennbaren Gefühl des auf ewig, durch alle Himmels- und Höllenräume nicht mehr Aufzuweckenden, nie, nie mehr Gutzumachenden, die erkaltenden Füße oder die einsinkende Kehle des Ermordeten betastet.

Was hilft es, daß wir uns in Klarheit baden wollen, daß wir mit Zweifeln der Vernunft ausziehen, wenn wir dann doch nicht mit Frieden des Herzens wiederkehren? Wir sprechen Recht, und auf dem Richtertische steht der Gekreuzigte. Wir sind krank, und kann uns der weißgekleidete Arzt nicht mehr helfen, versucht es der in schwarzes Tuch gepanzerte Geistliche und droht noch mit dem seelischen Tode, wenn er dem fleischlichen nicht beikommen kann. Manch einer will nicht glauben, oft verkriecht sich einer in die Einsamkeit und sagt, er kann es nicht. Kann einer einsamer sein als ich? Ich habe so viele Tage kein Wort gesprochen, mich aus meinem Selbst nicht entfernt, da muß es geschehen, was jeder nur belächeln, niemand aber begreifen wird und was ich aussprechen muß, oder ich ersticke daran, von einer Hand und einer mir sehr gut bekannten Hand an der Kehle gepackt ... aber das ist es nicht allein. Ich beginne beim Anfang. Ich bin in Paris, das ich von früher kenne. Ich wohne im Hotel »Zu den zwei Kapuzinern« in der Rue d'Alembert. Ich muß gestehen, ich, ich selbst, denn ich bin dieser Tobias Albaran, aber man erkennt mich nicht und wird mich nicht erkennen, solange ich mich selbst besitze und beherrsche, ich muß gestehen, daß ich in der letzten Zeit – in Wirklichkeit sind es aber schon zehn Jahre oder mehr – mich in einem Zustand ständiger Gereiztheit befinde. Solange ich unter Fremden bin, weiß ich mich gut zu halten. Kehre ich aber abends nach Hause zurück, unverrichteter oder halb verrichteter Dinge, mit unvollendeten Plänen, die meine ganze Zukunft bedeuten, dann wendet sich meine ganze Wut gegen mich selbst. An mir zeigt sich meiner Mutter Tücke, an mir rächt sich meines Vaters Irren, seine Schwäche und sein Gram. So reißt mich mein eigen Blut in Stücke, und obwohl ich eine Handlungsweise wie die folgende bei klarem Verstande als unsinnig ablehnen, ja sogar bespötteln würde – konnte ich es nur, könnte ich es nur! –, ziehe ich vergebens vor dem grünlich schielenden Spiegel zwischen den Fenstern des Zimmers stehend, mit Gewalt meine Mundwinkel nach unten und außen, entblöße wie zum Lachen meine kalkweißen Zähne, alles wird daraus, nur ein Lächeln nicht! Lächeln muß eine Kunst sein, sollte man sie nicht lernen können? Lockt nichts dazu, nicht einmal das Spiel der Kinder unten im gepflasterten Hofe des Hotels? Wie sie ein semmelfarbiges Griffonhündchen durch die Luft einander zuwerfen mit solcher Geschwindigkeit, daß das Tier vergißt zu heulen und bloß, ebenso wie die Kinder im Novemberabend, eine kleine Wolke frierenden Atemdunstes vor der Nase schweben hat, während die Mutter, am Herde beschäftigt und von den Flammen rot angehaucht, den Kindern mit unschuldsvoller Heiterkeit ein Kosewort zuruft, das die Freude der Kinder unermeßlich erhöht und die Eile des Fluges beschleunigt, mit der der Griffon die dämmerige Abendluft durcheilt. Habe ich nie eine Mutter gehabt? Müßte man nicht Kinder lieben, aber nur dann, wenn aus ihnen nicht wieder Menschen würden? Dieses Exempel gibt, gelöst, nur ein neues auf. Die Kinder werden eben in die Küche geführt, wo sie sich, mit dem Rücken den Kacheln zugewendet und mit den nach hinten gelegten Händen die erste, feinste Wärme auffangend, in Reih und Glied stellen und darauf warten, bis ihnen die Mutter (trotz der Jugend ihrer Kinder doch schon eine ältere Person) gebratene Kastanien in ihrer gehöhlten, rußfarbenen Hand hinreicht, welche die Kinder ohne Streit als etwas Altgewohntes unter sich verteilen und dabei dem Hunde, der noch ganz erschöpft von seiner Luftreise zu ihren Füßen lehnt, die Schalen hinwerfen.

Der Hund läuft, seiner Nettigkeit ungeachtet, jeder Schale nach, auch zum zehnten Male, und die Kinder werden ebensowenig müde, den Hund in dieser Weise zu necken und zu verhöhnen. Ja zum Schluß schleudern sie ihm bloß mit der Hand mimisch Brocken weit hin, denen das Tier, immer wieder genarrt, hitzig keuchend und bellend folgt und dabei die Kälte des offenen Hofes im Novemberwind nicht scheut. Es ist hier zu Hause, es ist Kind unter Kindern und weiß es wohl.

Wie tief ein Mensch meiner Art sich in ein solches Schauspiel versenken kann, wie sehr er danach hungert, sich selbst zu entgehen, seine eigene Mutter zu vergessen, das wird erst der verstehen, der meine Handlungsweise begriffen hat, wie ich sie jetzt nennen will oder muß.

Diese Handlungsweise besteht darin, daß sich Tobias Albaran mit seinen langen Nägeln erst die eine Hand und dann die andere zerkratzt. Vergebens sage ich mir, daß solch ein Beginnen unmöglich den Schaden, den eine dieser Hände angerichtet hat, wieder gutmachen kann. Ja ich bin mir durchaus klar darüber, daß eine solche Handlung (komme ich nie von dem Worte los?) den Verdacht der Polizei und aller vernünftigen Menschen auf mich lenken muß. Ich habe mir deshalb ein einfaches Gegenmittel gesichert. Ich ziehe Handschuhe an. Ich besitze ein einziges, allerdings sehr kostbares Paar Handschuhe: die schwersten, die man hier selbst im Louvrekaufhause nicht finden wird, sondern nur in einem Geschäft für Ausrüstungen zur Reise, zum Nordpol (der Seele?) oder in andere arktische Länder. Sie sind aus dickem Hundeleder, haben mattgraue Farbe, sind mit weiß- und schwarzgeflecktem Kaninchenfell gefüttert. Ich erwähne dies ausdrücklich, denn man muß es wissen, wenn man das folgende begreifen soll. Aber man wird das Kleine ebensowenig begreifen wie das Große.

Begreift man es, daß der hohe, heilige Herr und Heiland gesagt hat: »Ich bin keiner Mutter Sohn!«

Begreift man es, daß ein Sohn nur aus dem Fleisch seiner Mutter, nicht aber aus ihrer unreinen Seele hervorgeht, daß er sein armseliges Leben, und sei es unter den schwersten Opfern und Mühen, rein erhalten will und es doch nicht kann, wenn ihn diese Mutter, unrein, ich sage es, wie sie ist, immer verfolgt und ihn mit dem ganzen Unrat ihres lasterhaften Lebens vergiftet? Ist einer noch ein Sohn, wenn er seine Mutter, nur durch eine Tür von sich getrennt, in den Armen eines bekannten Lümmels vor Wollust stöhnen hört, ein so furchtbar durch Bein und Mark dringender Laut, daß dagegen das Stöhnen eines Erwürgten eitel Musik ist? Ja weiter: ist einer ein Sohn, wenn er seinen Vater, aller Kräfte beraubt, aller Menschenrechte entkleidet, ohne eigenen Willen, allen irrsinnig gewordenen Irrenwärtern zur billigen Beute, allen unwissenden Gerichten zum dummen Spott, allen ungerechten Gerichten zum Spiel ihrer Willkür und Bestechlichkeit, wenn er seinen Vater durch die Schuld dieser Mutter und durch die Hände dieser Gattin wahnsinnig gemacht wiedersieht? Oder muß er sich ihn – ein noch fürchterlicheres Schreckbild – noch bei gesunden Sinnen und mit jedem Tage mehr an der Gerechtigkeit der Welt und an der Liebe seines Sohnes verzweifelnd, als einzig Klaren unter den Trüben, als einzig Gesunden unter den geistig Verpesteten vorstellen? Ist einer Sohn, dem seine Mutter dieses mit Worten nie zu Beschreibende nicht erspart? Hätte sie, wie Hamlets Mutter, in ihren wilden Trieben den Gatten bloß zugunsten eines Stärkeren, darum aber auch nicht Beneidenswerteren, preisgegeben! Warum mußte sie, das Beispiel von Hamlets hündischer Mutter nur zu hündisch befolgend, sich an mich klammern, mich umschmeicheln, warum mußte sie ihr übel dunstendes Lager neben meiner Wand aufschlagen? Wie durfte es sein, daß sie, nachts mit dem Geliebten aus der Oper heimkehrend, noch an meine Tür pocht? Ich war nicht immer, der ich jetzt bin. Ich tat, was ich konnte. Aber das ertrage ein anderer, daß seine Mutter, selbst jetzt, selbst hier, mit Gewalt aus der Nähe des niedrigsten aller Männer losgerissen, dennoch, im Traume befangen, laut vor sich flüstert – was flüstert? die Worte schießen ihr wie Fische aus dem wollüstig lächelnden Munde: »Toll! Toller! Fizzy! Ja! Noch! Toll!«

Und doch entschuldigt das alles nicht. Wer darf töten, wer darf sühnen, wer darf lösen, wer darf richten? Es gibt um eben diese eben noch wollüstig geschweiften Lippen der Frau ein Lächeln am nächsten Morgen, etwas so Mütterliches, etwas so geheimnisvoll Zartes, etwas so rein, unbefleckt Erwachendes, daß man an allem verzweifeln könnte. Ich entgehe dieser Frau nicht. Diese unendlich große Weltstadt Paris ist nicht groß genug, um mich in ihr verschwinden zu lassen. Sie wird mich immer finden. Sie hat heimlich (aber meinem Auge entgeht nichts) ihrem Schein- und Scheidegatten F. geschrieben, er solle kommen. Fürchtet sie mich? Riecht sie schärfer als die Tiere, sieht sie klarer als die Kinder? Niemand liebt mich, nur sie, und das ist unser aller Verderben. Sie werden mich in ihre Mitte nehmen, mich mit ihrer Scheinliebe einhüllen und locken, und während mein armer Vater, nun wirklich irrsinnig geworden, seinen Namen mit einer Stange seines eigenen Kotes (alle scharfen Griffel haben sie ihm genommen) an die Zellenwand zeichnet, werden die zwei anderen mich mit zwei Handschuhen anfassen, bis ich Recht und Unrecht, Haß und Liebe, Macht und Ohnmacht, Gut und Böse vergessen habe und, als dritter bei ihnen, mich selbst verloren habe. Aber sie, die weder Mutter noch Gattin ist, wird auch diesem F. nicht treu bleiben, wie sie keinem treu geblieben ist, außer mir. Sie wird ihre unzerstörbar schönen Augen mehr noch als bisher auf der Straße nach jungen Männern auswerfen; ihre schon jetzt sehr zweifelhafte Gesundheit – der Geruch nach Medizin ist unerträglich und ebenso das ewige Geräusch des Waschens bei einem Menschen, der nur sauber, aber nie rein werden kann – wird bald einer völligen Fäulnis weichen. An jedem Tag sagt man sich, das Aeußerste sei erreicht. Aber es ist nicht so. Es muß etwas geschehen. Weiß man das Ergebnis im voraus, um so besser. Dann bleibt nur die Tat. Bleibt nur die Tat, dann muß sie schnell, schmerzlos, straflos geschehen.

Was hilft es, sich zum tausendsten Male vorzuplärren, die Hand, die sich gegen die eigene Mutter erhob, müsse verdorren. Der Mann, und sei er selbst so heilig, heilig wie Er, müsse verleugnet werden, weil er seine Mutter verleugnet hat. Der Reinste aller Reinen, Er, müsse trotzdem des schmutzigsten Endes sicher gewärtig sein, wenn er seine Reinheit über das Leben und Tun, die Empfängnis und das Gebären seiner Mutter gestellt habe.

Vergebens, daß sich Albaran ins Ohr flüstert, mit dem gleichen wollüstigen Ausdruck, wie ihn die andere Person besitzt, er wolle, da ihm die Wollust des Zeugens versagt ist, die Wollust des Mordens kennen, bis zum letzten und sei es tödlichen Rausch: alles, was er gegen die erbarmenswerte Alte gesagt, sei nur kindisch Gerede, er habe niemand auf der Erde als diese eine Person, die ihm alles andere, Geliebte, Bruder und Vater und Freund, Braut, Frau ersetze, eben weil sie da sei, immer neben ihm und über ihm, selbst in ihren niedrigsten Momenten.

Liebt einer den Menschen, verrucht wie der ist, von Anbeginn, so muß er ihn töten oder das Beste in sich selbst.

Ich habe die Kraft zur Tat, solche Hände wie ich hat einer nicht ohne Grund, und todeswürdig ist jeder von uns, vom ersten Tage. Das Unglaublichste ist in diesem Fall auch das Sicherste. Kein Gericht der bewohnten Erde wird eine Tat ohne Beweggrund strafen können; er, Albaran, ist sicher, im schlimmsten Falle, wenn man ihn in einer Falle fängt, als mütterlicherseits und väterlicherseits erblich belasteter Mann nur Wand an Wand mit seinem Vater ins Irrenhaus gesperrt zu werden, wo er die Wände, und zwar als reiner Mann nicht mit Kot, sondern mit schweren Tropfen des eigenen Blutes beschreiben wird.

Die Handschuhe, von denen der Schreiber dieses (nicht mit Blut, nicht mit Kot schreibt er, ist in Freiheit und wartet auf noch einen, der bald kommen soll und bei dem es leichter gehen wird), die Handschuhe, von denen der Schreiber dieses spricht, sind undurchlässig gegen jede Art von Flüssigkeit. Man hat es versucht, wie man alles versuchen muß. Man tauchte sie in heißes Wasser, ließ sie eine halbe Stunde darin, sie blieben innen trocken. Man tropfte Aether auf, eine Flüssigkeit von berauschendem Geruch, die alles mit äußerster Leichtigkeit durchdringt, selbst dann blieb die Innenseite dieses Handschuhes völlig trocken; und griff man fest hinein, so fühlte diese Innenseite, es ist ein sonderbarer Vergleich, ich weiß es, sich wie der warme Leib einer frischgeschlachteten Taube an.

Jeder Mörder ist einer Mutter Sohn. Von wem hat er sein Blut, wenn nicht aus dem Herzen seiner Mutter? Bin ich einer bösen Mutter Sohn, dann sei sie eines Mörders Mutter. Wir enden alle durch Selbstmord. Der Heiligste nicht anders als der Niedrigste. Aber bis zum letzten Augenblick muß man die Ruhe bewahren, muß die Kraft behalten bis zum letzten Tag. Niemand sehe mein Gesicht, niemand wisse die Züge um meinen Mund, denn ich muß unter Menschen leben.

Was ich da schreibe, ist nur mein Gesicht, nicht mein Gedächtnis. Aber will mich jemand richten, richte er mich nach meinem geheimen Gesicht, nicht nach meinem offenbar gewordenen Gedächtnis. Mord wird nicht gerächt. Liebe nicht belohnt. Es gibt kein Recht, nur Ruhe nach der Tat oder Ruhelosigkeit. Ich will ruhen. Es darf niemand sagen, ich hätte den bösen Blick. Ruchlosigkeit liegt nicht in meinen Augen. Denn Tiere würden dies am ersten fühlen und vor mir zurückweichen. Aber sie drängen sich an mich, selbst die scheuesten, wie die Ratten, die man ihrer Klugheit, Tapferkeit und Häßlichkeit wegen haßt. Es würden, hätte ich den bösen Blick, die Kinder sich vor mir fürchten. Aber sie freuen sich an mir, rufen mich, winken mir aus den Fenstern ihrer Behausungen zu, laufen aus den Ecken der Höfe, wo sie untereinander gespielt haben, zusammen, nur um mit mir ein Stück Wegs zu gehen, mich um Süßigkeiten anzubetteln, die ich ihnen gerne schenke, oder um auch mir die Reste ihrer Leckerbissen anzubieten, die ich nicht zurückweise, um sie nicht zu verletzen. Ich habe nie ein Tier gequält, nie ein Kind geschlagen. Nie einen Menschen in böser Absicht angegriffen. Ich schwöre es, beim Heiligsten, was einer hat, bei mir selbst. Jeder andere Schwur ist Heuchelei und Betrug. Weshalb will ich dem Entscheidenden ausweichen? Es wird doch kommen und mein Wort Lügen strafen, meinen Eid in Meineid verwandeln. Und doch, noch einmal und nicht zum letztenmal sage ich es, ich habe nie einen Menschen berührt, um ihm zu schaden. Ich kann in Frieden ruhen. Ich muß es, da ich, von meiner Hände Arbeit lebend, an meiner Hände Arbeit leidend, der Ruhe sehr bedürftig bin.

So lege ich mich zu Bett, nachdem ich vorher die Handschuhe an meine Hände gezogen habe, ich wiederhole es nochmals, unschuldige Hände, so unschuldig und rein, als wären sie eben erst aus der Mutter warmem Schoße, aus diesem Paradies der Reinheit und Unschuld gekommen.

Ich begebe mich zu Bett, zähle die Omnibusse, die, vierspännig aufgezäumt, mit großem, rollendem Gepolter die Rue Lapelletier herabkommen. Es passiert, wie jeder weiß, ein Wagen diese Strecke alle fünf Minuten. Hat man also zwanzig Wagen gezählt, dann sagt man sich: Schlafe, Tobias, träume selig, Albaran, du hast gestern (es ist weit über Mitternacht) vieles erledigt. Heute wird F. kommen, der die geliebte Person noch hier anzutreffen hofft und ihr einen schönen Edelsteinschmuck mitbringen wird, heute wird noch manches zu erledigen sein. Eine Stunde lang liegst du schon in deinem Bett, schlaflos, ruhelos, das ist nicht zu ersetzen.

Meine Hände schlummern ruhig auf der Decke, jedesmal, wenn ein schwerer Omnibus die Straße passiert, fällt aus der Laterne ein weißes Licht auf meine Kissen, so, als wäre es die geliebte Person, die, nächtlich heimkehrend ... nun ist sie heimgekehrt, aber ihr Licht ist es nicht, das auf meinen so ganz ruhigen, ganz unschuldigen Händen spielt. Man glaube meinem Schwur! Denn ich war nicht immer, was ich jetzt bin. Gut, sage ich, ihr haltet euch gut, ihr lieben Hände. Und wirklich, kaum ist das gesagt oder auch nur geflüstert oder auch nur gedacht und mit meinen eiskalten Lippen, ohne einen Hauch des kostbarsten Atems zu entlassen, lautlos in die ebenso eiskalte Luft geformt, als sich die Hände auch schon wirklich halten. Es gibt, und da zeigt sich bei mir der klar denkende Jurist und meine trotz allem logische Kraft (denkt nur der Satan logisch? nimmt nur der Böse das Böse der Welt ernst?), es gibt dreißig Arten, die jeder an sich selbst ausprobieren kann, dreißig Methoden, wie man eine Hand oder einen Gegenstand von der Art einer menschlichen Hand festhalten kann. Die einzig verläßliche ist, mit den rechten vier Fingern die linken vier Finger zu umklammern, dann mit dem rechten Daumen den linken in die Tiefe drücken und so eine Zwinge zu bilden. Umfaßt man zum Beispiel ein Gebilde von der Art des Kehlkopfes, wird man gut daran tun, mit der Rechten zuzufassen, die vier Finger oben anzulegen und mit dem Daumen die Rückseite des Kehlkopfes emporzudrücken. So bleibt alles still. Dabei ist nur zu bemerken, daß ich es gerade bei den Händen (von einem Kehlkopf ist nicht mehr die Rede) umgekehrt mache, da ich Linkshänder bin und die meiste Kraft in der Linken angesammelt besitze. So erklärt sich mühelos die Spiegelschrift der Stenographie durch die Linkshändigkeit Hodins. Bemerkung des Arztes.

Ich fasse zusammen: Ein Mann, Tobias Albaran genannt, liegt zwischen ein und zwei Uhr morgens in seinem kalten Hotelzimmer in der »Auberge de deux Capuzines«. Er wünscht zu schlafen. Da er die schlechte Gewohnheit hat, sich im Schlafe die Hände zu zerkratzen, so wie andere die Gewohnheit haben, im Schlafe mit den Zähnen zu knirschen, mein armer Vater hatte sie, oder andere die Gewohnheit, im Traume anfeuernd die Worte: Toll! Fizzy! Toll! zu rufen, meine arme Mutter hatte sie, da also auch mich, den elenden Erben ihrer unseligen Vereinigung, eine schlechte Schlafgewohnheit belästigt, halte ich die rechte Hand mit meiner stärkeren linken Hand fest, fest, fest. Beide Hände tragen, wie Fechtermasken oder Boxerschutz, dicke, kostbare Handschuhe aus grobem Hundeleder, undurchdringlich für jede Flüssigkeit, Wasser, Wein, Aether, Tau und Tränen. Gibt es etwas Einfacheres? Kann es nicht jedem Menschen passieren – eben passiert ein Omnibus, offenbar der letzte dieser unbeschreiblichen Nacht, die Straße unter meinen Fenstern, welche stark und eisig wie geschliffene Messer erklirren –, nein, kann es nicht jedem Menschen zustoßen – eben stoßen sich die Hände von neuem an, verruchtes Zusammentreffen, ich will sie halten, will sie zwingen, aber ganz und gar fühle ich mein eiskaltes Vernichtungsgefühl. Ich kann nichts weiter sagen und denken. Ich muß aber weiter sagen, weiter denken. Ich atme doch, ich lebe, mein Herz muß schlagen, habe ich doch noch, vorhin am Abend, von Liebe zu den kleinen Kindern und zu dem semmelfarbenen Griffonhündchen fortgerissen, mein unbändiges Lebensgefühl bis in meine letzten Adern rauschend empfunden, aber nun ist ein anderer Herr und spielt mit mir bis zur Vernichtung. Nur um der schnöden Welt und dem Tode überlegen zu sein, mordet der Mensch, wenn er nicht, um der Welt und dem schnöden Tode überlegen zu sein, in Wollust und Liebe zeugt. Das ist ein Geheimnis, das jeder weiß, keiner verrät, auch ich verrate es nicht, habe ich doch bei mir selbst Stillschweigen geschworen. Aber es verrät mich. Es spielt mit mir, es spielt, nehmt das Wort, so fürchterlich es ist, es spielt mit mir als einzigem Schauspieler und einzigem Zuschauer in einer Person, und dies ist kein Zufall, das ist die Bedeutung meines ganzen Daseins in diesem grauenhaften Augenblick. Noch schlafe ich, das heißt, ich bin völlig gelähmt, und muß schielenden Blicks, da meine Augen ja (als gehorsamer Zuschauer und williges Publikum) ruhig zu bleiben vorgeben, ich muß aus der Ferne, unbeteiligt, abgestoßen, ja abgestoßen von mir selbst bis zur äußersten Entfremdung von mir, zusehen, wie die armen Hände, zwei leidenschaftliche Schauspieler in ihrer Rüstung, gegeneinander kämpfen. Sie kämpfen nicht wie Schauspieler miteinander, ich habe solche Theaterduelle ja auf der Opernbühne im ersten Akt von »Don Giovanni« und im »Hamlet« gesehen. Wenn es bei ihnen auch nur Spiel war, ist es sicher, daß es bei mir blutig ernst ist. Und doch weiß ich genau, daß sie es anders machen als ich. Ich will es offen sagen, und dabei genau aufmerken, als säße ich als Zuschauer im Opernhaus, an die vollen weißen Schultern meiner armen Mutter gelehnt, und sähe von oben, was sich unten, tief unter uns begibt, ich lehne jetzt halb aufgerichtet in meinen schneeweißen Kissen, welche die krampfhafte Drehung meines Körpers zu arm-ähnlichen Gebilden eingerollt hat, ich sehe von oben herab die zwei Helden meines unseligen Lebens miteinander ringen, wie Mörder mit ihrem Opfer ringen, nun ist es gesagt, gedacht, geflüstert und gehaucht, das Wort Mörder, und es hat sich nichts in mir gerührt, und nichts wird sich rühren, solange ich lebe. Sagte ich es nicht, daß um seiner Ueberlegenheit willen der Mensch mordet? Mir ist es geglückt, ich könnte mir die Hände drücken, glückwünschend und auf meinen Lippen, die ganz denen meiner Mutter gleichen sollen, ein zufriedenes Lächeln. Es ist zwar ein fürchterlicher Anblick, wenn man auch jetzt noch, wo doch alles gelöst sein sollte, diese zwei Hände in unversöhnlichem Haß aneinander geschmiedet sieht. Wenn der überlegene Kopf, der selig lächelnde Träumer erleben muß, wie die schwächere Hand, bei mir also die rechte, in einem einzigen Katzensprunge, sich auf den steil aufgerichteten Daumen stützend, der stärkeren, der linken Hand an die Gurgel fährt und sie würgt, ihrem Panzer aus Hundeleder zum Trotz, ihrer weichen Polsterung mit sanftem Kaninchenfell zum Hohn. Nun wird bei einem solchen grotesken Kampf jeder lachen. Der Schwächere gegen den Stärkeren, der Jüngere gegen den Aelteren! Der Versuch des Würgens bei einer Hand, die doch nicht Atem hat, wem käme da nicht das Lachen an? Auch ich hätte gelacht, daß sich die Wände hätten biegen müssen, um endlich über mir zusammenzuschlagen, ich hätte gelacht, bis die Bettstelle mit Matratze, Kissen und Brettern (liegen wir nicht jetzt schon im Sarge?) mitten durchgebrochen wäre, ich hätte gelacht, bis mich mein Bett, gesprengt von der Wut dieses Lachens, selbst unauslöschlich mit offenem Schlunde lachend und grinsend ausgespien hätte. Nun lache ich immer noch, obwohl die Kälte des Entsetzens sich noch nicht gelöst hat, obwohl das Vernichtungsgefühl meiner armen Seele sich nicht in Ruhe und Frieden und einem sei es noch so armseligen Lebensgefühl aufgetan und vergeben hat. Ich lache wieder, wenn ich bedenke, daß man mir, dem überlegenen Menschen und klaren Kopfe von ruhigen, gehorsamen Händen und von Gewissensbissen und einem guten, gerechten Richter erzählt. Hat denn das Gewissen Zähne, daß es beißen könnte? Hat der Richter Recht und Gnade zugleich? Und ihr, meine lieben Hände, habt ihr Zähne? Du, die mir liebere, bist die stärkere, du, die andere, an der ich lange nicht so hänge, die mir aber auch wert und teuer ist, euch beide kenne ich wie meine eigene Mutter. Aber ich kannte sie so wenig, die furchtbare Frau, die mir alles Furchtbare ihres Daseins vererbt hat, so wenig wie ich euch kenne, ihr Hände, die ihr trotz der dicken Handschuhe im Blut schwimmt, das erst aus den Knopflöchern und Oesen, aber dann auch aus den Nähten des undurchdringlichen Leders und zum Schluß (aber nie ist es zu Ende im Morgengrauen, so daß ich im Grauen alles sehen muß) aus der ganzen Fläche, aus dem bauchigen grauen Hals hervorströmt ... und wie ihr Hände jetzt ohne Ende, wie ihr jetzt, blutig geschuppten Fischen gleich, aus den blut-schlüpfrig gewordenen Handschuhen und Panzern und Kissen hervorschießt ... toll! toll! ich kenne euch, weiß jetzt, was ihr wollt, was ihr seid, ihr öffnet euch und schließt euch wie ein blutgesättigter Rachen oder ein lustgesättigter Schoß.

Gut, einzig gut, wunderbar herrlich ist, von keiner Schuld wissen. Eher tot als schuldig sein. Ich will euch packen, wie? Womit packt man Hände voll von Blut und heiß noch von der Freude des Mordens? Die alte Frau war müde vom Leben; ihr Hals war grau, faltig, ausgeweitet von ihrem Laster, Leiden, Lachen und Tod. Ich möchte auf die Straße hinaus, die jetzt so selig und so friedlich daliegt, wie ich es nie war. Ich muß den nächsten Polizeisergeanten rufen und ihm sagen: Herr, guter, packen Sie diese Hände, die schwächere links und die stärkere rechts, denn beide haben gemordet. Morden Sie sie auch! Mich aber, den Vater dieser Hände, einer ist nicht immer Sohn, er wird auch Gatte und Vater, das Mädchen wird Frau, die Frau wird Mutter, mich, den Vater dieser Hände, mich, den Gatten der unseligsten Seele, die je geatmet hat, jetzt aber nicht mehr atmet, sondern nur stöhnt und wortlos heult, mich überwachen Sie gut, wie eine Mutter ihr ungeratenes Kind.

Ich lache, wenn ich dies dem Sergeanten sage, der vor Staunen die Feuchtigkeit seiner klobigen Nase nicht im Zaume zu halten vermag, ich lache, weil ich mich, ich, der Schlaflose, der Vaterlose, Mutterlose, sehr freue, mit meiner ganzen armen Seele freue, denn arm bin ich und bleibe ich, nicht des Geldes wegen habe ich Blut gerochen, und Blut riecht, riecht so streng, daß sich die letzte Faser und Krume der Seele schaudernd vor diesem strengen Geruch und strengsten Gericht verkriecht; unter hohen Kissen, dicken Matratzen, schweren Brettern verbirgt es sich gut, aber ich lache, von Mördergut blieb mir nichts. Große, aber gerechte Richter! Es gibt nur Todesrichter, keine sonst: Hört, weder bin ich Mörder, noch bin ich gut, arm bin ich, wie vor der Tat, die ich nicht tat ohne Arme, die mir die Gerechtigkeit abnehmen wird und soll und muß, die Gerechtigkeit wird wachen über mir, lange und immer, mich schlafen lassen, ruhig, tief, aber wohlbewacht, denn sonst könnten diese Hände, unbotmäßig nicht zum erstenmal, sich um meinen Hals ranken, dort ihre mir nur zu gut bekannten Spiele treiben und nicht früher rasten noch ruhen, bis meine Seele, arm oder nicht, einem blutig geschuppten Fische gleich, das Gefängnis ihres Lebens zwischen zwei Kapuzinern verläßt. Denn zwischen zwei Kapuzinern, Geistlichen des Schafotts, wird es sein und muß es sein. Denn ich bin Tobias Albaran, der seine Mutter mordete.


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