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Marengo

1

Felix R. war ein Mensch, den man aus einer Menge gleichaltriger Leute seiner Klasse schwer herausgefunden hätte. Mittel die Gestalt, mittel der Geist, Mittel das Herz. Und doch verbrachte dieser Mensch sein Dasein nicht wie in einem Zuge gleichartiger Heringsbrut, in trübem Schuppengewimmel an seinesgleichen angeschmiegt, sondern er lebte ein fast ganz vereinsamtes Leben.

Man nannte ihn in der Schule Marengo, weil er nach dem frühen Tode seiner Eltern stets schwarze, graumelierte Stoffe trug, die »Marengo« hießen. Schwarz, weil er Trauer trug. Grau, weil er selbst doch weiterlebte. Niemand rief ihn mit seinem Namen Felix, und so nannte er sich selbst, wenn er an sich dachte, Marengo. Er war weibisch von Herzen, männlich von Gehirn. Leidend mehr als tätig im Gefühl, ohne ein überragendes Ziel, ohne verzehrende Leidenschaften; abwartend, zu Wohlwollen eher geneigt als zu Haß und Neid. Er war der einzige Sohn eines Hauses, das es in Wirklichkeit nicht gab. Er wäre ein braver Sohn gewesen, aber die Eltern starben ihm zu früh. Ein guter Gatte, denn es war ihm natürlich, treu zu sein. Aber wem? Er kam in keines Menschen Hände, und in seine Hände kam kein Mensch. Er war hungrig nach Illusion und bereit, auch dem sehr fragwürdigen Trugschein einer Illusion zu folgen, aber sein Männliches Gehirn ließ keine zu. Sein Gehirn machte ihn praktisch, energisch, fleißig. Er war ein Mann der Mitte, aber nicht des Durchschnitts. Gewillt, mit sich zu rechnen, dem Notwendigen sich nicht zu versagen, Bilanz zu ziehen in jeder ruhigen Minute, gegen sich gerecht und gegen die andern billig zu sein. Er verlangte wenig von der Welt, sie verlangte nichts von ihm.

Was ihm blieb, war die Arbeit und der Beruf. Es tat ihm wohl, sich als Mann mit der ganzen Stärke seines Wesens in die Arbeit werfen zu können. So konnte er verhältnismäßig schnell ein kleines Vermögen erwerben, da er an seiner Sparsamkeit sich freute, aus seinem Fleiß Genuß zog und da für ihn die mit der Regelmäßigkeit einer astronomischen Uhr betriebene Arbeit die einzige Sicherheit in dem sonst unbegreiflichen Leben darstellte. Er machte seine Lehrjahre in dem großen Unternehmen seines Vormunds durch, wo es solcher Volontäre aus dem ausgedehnten Kreis der Familie viele gab, von denen aber nur er die Entschlußkraft besaß, mit dreiundzwanzig Jahren das sichere Dach und eine untergeordnete Stellung zu verlassen, um einer von ihm außergewöhnlich klar erfaßten glücklichen Konstellation zu folgen, die ihn mit einem Schlage selbständig machte. Er hatte den Sprung gewagt und konnte dann jedes Jahr oder besser: jede Bilanz mit einem Plus abschließen. Sich frei fühlen, sein eigener Herr sein, war ein hoher Genuß, ein großes, ein einziges Gefühl. War dieser Wunsch erfüllt, konnte man auf viele andere Wünsche verzichten. Er hatte trübe Kindheitserinnerungen hinter sich. Daher der Wunsch, möglichst großen Zwischenraum zwischen sich und die Menschen zu setzen. Aus Furcht vor ihnen? Aus Liebe zu sich selbst? Aus Feigheit? Aus dem Entschluß, nur mit sich selbst zu rechnen und nichts anderes ins Kalkül zu ziehen, als was er persönlich verantworten konnte? Außerhalb seines Berufes blieb er den Menschen fern. Zuerst mit Absicht, später aus Gewohnheit, zuletzt aus Zwang. Er sah wenig in den Spiegel (bloß beim Rasieren), sprach kein unnützes Wort. Er kannte keine Erholung als eine Bootspartie Sonntags in warmen, windstillen Morgenstunden. Er ruderte den Flußlauf, dessen Kanal an dem Gelände seiner kleinen Fabrik vorbeifloß, vormittags hinauf. Draußen streckte er sich auf einer Wiese ins Gras, schlief, überließ der Sonne sein Gesicht, dem Wind seine Haare, lag da wie ein Stein und löschte seine andere Existenz aus. Abends kam er zurück. Als die ersten brauchbaren Verbrennungsmotoren erschwinglich geworden waren, ließ er sich einen kleinen Einzylinder über dem Steuer einbauen von dem Maschinenmeister seiner Fabrik; später kaufte er nach einem sehr günstigen Jahresabschlusse ein neues, starkes Motorboot. Jetzt konnte er größere Fahrten unternehmen, an neuen, noch unbekannten Hügelfalten und Schilfwildnissen seine Existenz auslöschen.

Im Winter war das Dasein nur an den Wochentagen freundlicher, da ihm fast der ganze Tag in den heimisch gewordenen Räumen seiner Fabrik und seines Privatkontors verging, aber es war oft qualvoll an den Sonntagen. Er verleugnete den Sonntag, sperrte die Tür seiner kleinen Wohnung ab, sandte seine Haushälterin Lili, die frühere Zofe seiner schönen toten Mutter, fort »aufs Land«, ohne sich weiter um die Durchführung dieses Befehles zu kümmern, sofern sich die alte Frau nicht zeigte, noch auch sich hören ließ.

Die Westwand seines Wohnhauses umzog sich mit jedem Jahre dichter mit Efeu. Auch der leiseste Windhauch mußte sich in den starren steingrünen Blättern fangen. Immer war es in der Nähe der Fenster feucht, nie war es ganz hell. Es roch nach rostigem Metall, nach würzigem Wurzelduft von den Fenstern her, Naphthalin schwebte aus den mit vielen Kleidern gefüllten Schränken, der Geruch nach Seife drang aus dem Badezimmer, dessen Tür infolge der vielen Feuchtigkeit sich klemmte und nie vollständig schloß. Aber wozu auch die Tür des Badezimmers schließen? Nie kam Besuch.

Es herrschte Totenstille. Bloß das Efeulaub raschelte. Die Tritte des Mieters über ihm, eines alten Schulmannes, dröhnten, da der Alte wie auf einem Katheder auf dem teppichlosen Estrich hin und her ging. Felix ließ den Sonntag Nacht sein. Er hielt von Sonnabend abend bis Montag morgens die Fensterläden geschlossen, hatte sich Eßvorräte bereitgestellt; den Ofen ließ er im Winter nicht ausgehen, den ganzen Tag über das künstliche Licht nicht verlöschen. Er war für niemanden da, nicht einmal für sich selbst.

Sein Verkehr mit seinen Angestellten und Arbeitern war ungezwungen und sachlich. Im Bureau war er kein Sonderling, kein sich selbst zu Zeiten mit Willen auslöschendes Wesen, sondern ein lebhafter, mit der Zeit gehender Kaufmann und Industrieller, klar und gleichmäßig. Hier konnte ihm nichts mißlingen. Der einzig mögliche entscheidende Fehlschlag war der Tod, und dann war alles zu Ende, die Firma wurde zugunsten noch unbekannter Erben mit einem Plus (?) liquidiert. Auf jeden Fall war dann alles, wenn nicht gut, so doch unverbesserbar gelöst.

So sehr logisch und der menschlichen Vernunft angemessen zwar dieser Lebensplan konstruiert war, ertrug Felix dieses Dasein doch bloß bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre. An diesem Tage sah er sich zum erstenmal seit langer Zeit ruhig im Spiegel, ohne Wohlwollen gegen sich, ohne Uebelwollen gegen sich, als sähe er ein fremdes Gesicht, das Gesicht des Marengo: es war ein sehr alt gewordenes, mit fremden Zügen gezeichnetes, wie er sie nie an sich beobachtet hatte, die er sich nicht einmal zugetraut hätte. Und doch hatte er sich seit seinem zwanzigsten Jahre Tag für Tag regelmäßig gesehen, da er in seiner Scheu die Hand keines fremden Menschen an seinem Gesicht haben wollte und sich deshalb schon zu Zeiten rasierte, als dies noch nicht allgemeine Sitte war. Aber er hatte sich beim Rasieren wohl körperlich gesehen, aber mit seinen Gedanken war er anderswo gewesen, und zwar war es ein Zeichen seiner frühzeitig fast erstarrten Geistestätigkeit, daß er beim Rasieren der rechten Wange an die Aufträge und das Material dachte, beim Rasieren der linken Wange, die stets besondere, aber angenehm zu überwindende Schwierigkeiten bot, an sein geschicktes, aber oft unzufriedenes und von der Konkurrenz aufgehetztes technisches Personal. Beim Kinn dachte er an die Maschinen, beim Halse an die Kunden, die zwar im Bestellen fleißig, aber säumig beim Bezahlen waren. An seinem Geburtstage ließ er sich Zeit. Er besah seine Schläfen, wo das Haar im ganzen noch dunkel und dicht war; aber schon schimmerte es weiß dazwischen, ohne daß man die Greisenhaare fassen konnte, denn sie entglitten immer wieder in dem täuschenden Spiegelbilde. Um so deutlicher waren die zwei fast senkrechten Falten in der Mitte der Stirn, an der rechten Seite schärfer eingeschnitten als an der linken. Allerdings hatte er diese Falten schon als Knabe gehabt; vielleicht sogar schon mit auf die Welt gebracht?

Noch erinnerte er sich seiner Mutter, die ihm vor dem Spazierengehen das Haar mit ihrem von Parfüm feuchten Taschentuche aus der Stirn gestrichen hatte. Wehrte er, dem der Geruch des Tuches nach Parmaveilchen unangenehm war, sich weinend dagegen, oder schämte er sich vor andern Kindern, die diesen Vorgang witzelnd betrachteten, sagte die Mutter: »Weine nicht! Hast du nicht schon genug Falten an der Stirn wie ein Alter?« Die Falten, die die arme schöne Mutter an ihren feinen, porzellanartig lichten Zügen trug, waren freilich andere, hatten mit Alter nichts zu tun; ihre Stirnfalten hießen früher Tod, und die schrägen, rinnenden Falten um den vollen Mund hießen »Kummer und Sorgen, Weinen und Weh«. Aber er, der vom äußeren Glück, vom geschäftlichen Erfolg stets Begünstigte, der nie an Krankheit Leidende, mußte jetzt in seinem Gesicht erkennen, wie zwei tiefe, rinnende Gräben neben seinem viel dürftigeren Munde einherliefen, so tief, daß man sie mit dem Finger bei geschlossenen Augen fühlen und nachziehen konnte.

Er dachte lange über sich nach, ließ alles durch seine Erinnerung gehen. Als er aber fertig war und den Rasierpinsel gut in warmem Wasser ausgespült, die Klinge in Wachspapier verpackt, die Seife in der Nickelbüchse verwahrt, den Spiegel nach alter Gewohnheit in das »Spezialhandtuch« eingewickelt hatte und auf die Uhr blickte, sah er, daß die »ausgerechneten zehn Minuten« genau so wie an allen anderen Tagen verstrichen waren. Es war also bestimmt, daß sich in seinem »nach-der-astronomischen-Uhr-Leben« nichts ändern sollte. Wenn er es heute an dem Geburtstage nicht konnte, wie sollte er sonst als Marengo der Uhr entkommen, der Arbeit und ihrer alles verzehrenden Gier nach seiner armen, faltenzerschnittenen Existenz entgehen?

Er hatte in der Herzgegend ein leeres Gefühl, nicht Schmerz oder Krampf, sondern so, als ob seine Mutter, die früh verlorene, ihm mit ihrem nach Parmaveilchen riechenden Taschentuch über die Falten seines Herzens striche und auch hier schon die Zeichen frühen, unerbittlichen Alterns erblicke.

2

Das Leben war begrenzt, die Arbeit war es nicht. Das Unternehmen war gut. Das Unternehmen war er. Aber wo war er? Täglich wurde die Direktion, das heißt Felix R., dreißig- bis fünfzigmal angerufen, aber es war, als wäre dieser Felix R. längst aus der Geschäftswelt mit seiner irdischen Person abgeschieden. In den ersten Jahren hatte er sich nicht gern persönlich sprechen lassen. Alles Sachliche hatte er am Telephon oder durch wortarme Briefe pünktlich erledigt, sein Ja war Ja, sein Nein war Nein. Jetzt nahm sich niemand die Mühe, in die am Rande der Stadt liegende Fabrik hinauszukommen. Ihn selbst kannte man nur durch seine Firma, nicht von Angesicht. Aber noch lebte dieser Felix R., der stets in Dunkelgrau oder meliertes, weiches Schwarz gekleidete, aus Tausenden nicht hervorstechende Mann mit den zwei Falten an der Stirn, der stärkeren rechts, der schwächeren links, er mit seinem schwarzen, angegrauten Haar, er mit seinen rinnenden Gräben um den dürftigen Mund, den haselnußbraunen Augen; er, der Mensch ohne Vater, ohne Mutter, Gattin, Kind, leibhaftig unter »seinen« Arbeitern, die ebensogut und ebensogern die Arbeiter eines andern gewesen wären und die ihn nicht unter seinem Namen, sondern auch nur unter der Bezeichnung »Marengo« kannten ... Er stand im Leben wie eine juristische Person, wie eine G. m. b. H., wie eine Wegebauverwaltung, eine Stadtgemeinde oder eine Betriebsgenossenschaft, eine Erbschaftsverwaltung nach weiland Marengo, recte Felix R., als ein dem Erwerbsleben eingegliederter Körper, der wohl besitzen und vererben, verwalten und verbrauchen kann, der aber nicht menschlich lebt und nur formal rechtlich faßbar ist; und auch hier, im Rechtlichen, ist die juristische Person schattenhaft, da sie fast nie mit dem Strafgesetz, der Stätte menschlicher Verfehlungen und Leidenschaften, in Konflikt kommt, sondern nur mit dem bürgerlichen, dem Handelsgesetzbuch, dem Wechsel-, Steuer- und Aktienrecht. Man grüßt die juristische Person nicht auf der Straße, man lädt sie nicht zu Geburtstags- und Leichenfeierlichkeiten ein, sie wird nicht Bräutigam, weder Testamentszeuge noch Taufpate, man gibt ihr keine Geschenke, man verkehrt nur schriftlich und telephonisch mit ihr, wobei sich stets eine andere Stimme am Apparat meldet. Man läßt sie zwar erwerben und verlieren, wie sie es kann, aber man begrüßt nicht ihr Erscheinen in der Welt und bedauert ihr Verschwinden nur, wenn es den Beteiligten Schaden und Verluste bringt. Solche juristische Personen sind unentbehrlich, aber sie leben im leeren Raum, denn Freunde und Feinde fehlen ihnen.

Selbst Bettler wandten sich lieber an die Angestellten als an den Chef, wenn sie, was selten geschah, in einem unbewachten Augenblick an dem alten Portier der Fabrik vorbeigeschlüpft waren. Nie wies Felix jemand ab, und doch wagte sich nur seine Kontoristin Margot B., ein großes, üppiges, blondes Geschöpf, unbefangen zu ihm.

Eines Nachmittags kurz vor Bureauschluß erschien am Fabriktor ein »abgerissener alter Herr«, wie sich der Portier durchs Haustelephon ausdrückte, der sich Peter Kornitzer nannte, sich auf die Verwandtschaft mit dem Chef berief und ihn unbedingt zu sprechen wünschte. Felix hatte nichts dagegen, doch der Alte verweilte zuerst längere Zeit im großen Bureau, wo er den Beamten erzählte, er käme armseligerweise zu Fuß aus einer zehn Eisenbahnstunden entfernten Stadt, er sei ein verkrachter Großunternehmer, ein von kommerziellem und persönlichem Elend bis zum Herzzerreißen geplagter Greis. Angelegenheiten privatester Natur brachte er mit erlöschender Stimme vor; Tränen rannen ihm in seinen hellen, langen, mißfarbenen Bart, er griff vergebens in die Tasche, um ein Taschentuch hervorzuholen, dessen Gebrauch ihm sehr not tat. Seine heisere kehlige Stimme brach, während er seine Frau, seine Kinder bis ins fernste Geschlecht verfluchte, denn sie hätten ihn ausgekauft, an den Bettelstab und um den gesunden Verstand gebracht. Er bettelte nicht geradezu, sondern sammelte, sobald ihn Felix zu sich ins Zimmer rief, mit seiner immer noch schönen, verhältnismäßig sauberen Hand abgewandten Blicks die kleinen Geldbeträge ein, welche die Angestellten aus Mitleid und aus Dank für die Unterhaltung zusammengebracht hatten. Dabei roch er, wie Felix sofort bemerkte, weithin nach Schwarzwälder Kirsch, und in seiner ausgefransten Brusttasche staken Zigarren und Reste von solchen, die er offenbar überallher zusammenraffte. Felix fragte ihn nach den verwandtschaftlichen Beziehungen, denn seine Familie war zahlreich, und man hatte sich nie um einander gekümmert, aber der Alte lenkte schlau ab, es sollte nicht einmal des Namens gedacht werden. Ohne Pause begann er eine Schilderung seines geschäftlichen Zusammenbruches mit vielen spannenden Einzelheiten, die aber von dem Bericht abwichen, den er den Angestellten gegeben hatte. Felix hinderte ihn, weiter zu erzählen und neue Lügen zu erfinden, nahm aber doch die Tatsache seines Elends ernst und wünschte sich Glück, daß er nicht der Sohn eines solchen Menschen sei und daß er auch im schlimmsten Falle auf seine alten Tage nichts ähnliches zu fürchten hätte. Denn seine Familie war er selbst. Er bot dem Herrn eine größere Summe an, die aber nicht bar gezahlt, sondern an eine anzugebende Adresse gesandt werden sollte, was dem Alten offensichtlich mißfiel. Um ihn zu trösten, gab ihm Felix eine Handvoll seiner Zigarren. Drei Tage später erhielt er das Geld zurück mit einem Briefe, in dem er mit »Euer Wohlgeboren« angeredet wurde. Man schrieb ihm im Auftrage der Familie, er möge den alten Herrn nicht »geldlich und moralisch« unterstützen. Dieser sei unverbesserlich, lasterhaft, tief gesunken. Er sei der bekannte Großindustrielle K., der nach einer langen, durchaus ehrenwerten Vergangenheit zum Säufer und zum Kriminellen geworden sei. Es bereite dem unnatürlichen alten Herrn besonders teuflischen Spaß, durch sein Betteln und sein Herumtreiben die eigenen Söhne verächtlich zu machen. Er lebe mit ihnen in derselben Stadt und scheue sich nicht, ihnen am Fabrikeingang aufzulauern. Von einer Notlage könne keine Rede sein. Das ganze Unternehmen, eine Schuhfabrik mit achthundert Arbeitern, sei eine Schöpfung des alten Herrn aus seiner guten Zeit, sie sei Eigentum des alten Herrn geblieben, den man zwar, unter dem Zwange der Verhältnisse, unter Kuratel gestellt habe, dem aber zu Händen des Rechtsanwaltes der Familie, seines persönlichen Freundes, monatlich ein großer Betrag ausgesetzt worden sei. Dieses Geld sei aber Gift in seiner Hand, denn er verschwende es in der unsinnigsten Weise, kleide sich jedesmal neu ein, kaufe Schmuck und verschenke ihn an »Minderwertige und Minderjährige«, spiele die ganzen Nächte hindurch und halte die höchsten Chouetten im Ecarté, bis er alles, selbst Pelzmantel und Gesellschaftsanzug eingesetzt und verloren habe. Um sein Leben für den Rest des Monats zu fristen, bettle er dann, indem er die Häuser der Reichen ablaufe, nicht von den Treppenstufen weiche und da sowohl als auch auf Friedhöfen oder bei Trauungen öffentliches Aergernis errege. Man bitte Felix R. inständig, dem alten Herrn weder Geld noch Geldeswert zu schenken oder zu leihen noch auch Zigarren oder Alkohol zukommen zu lassen. Die gemachten Angaben seien übrigens gerichtsnotorisch und allgemein bekannt.

Felix gewann jetzt erst recht an dem alten Mann Interesse, erwartete ihn und hatte dem Portier Auftrag gegeben, ihm keine Schwierigkeiten zu machen, aber er kam nicht wieder.

3

In dem darauffolgenden Sommer unternahm Felix eine kleine Reise in die Alpen. Er konnte aber den Müßiggang nicht ertragen und entschloß sich vorzeitig zur Rückkehr. Am Abend vor seiner Heimreise hatte er die Wahl zwischen einer Tanzreunion und dem frühen Schlafengehen. Er wählte das letztere. Aber ein an diesem Tage fast nicht unterbrochenes Gewitter ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er stand gegen zehn Uhr nochmals auf und kleidete sich an. Sein Zimmer ging auf die öde, im Regen verlassene Dorfstraße, die Fenster des anschließenden Badezimmers aber auf den Garten und auf eine Wiese, hinter denen sich die waldigfelsige Landschaft in drei Terrassen auftürmte. Er löschte im Baderaum das Licht. In verschiedenfarbigen Blitzen, aber jetzt ohne stärkere Regengüsse, stürmte es von den Bäumen her. Plötzlich entfaltete sich ganz unerwartet inmitten der schräg über den Himmel hingeworfenen Lichtmassen die Alpenlandschaft in der Gewitternacht. Am Fuß des Gebirges war die wie eine grünschwarze Eisfläche schimmernde Wiese sichtbar geworden. In der Mitte hing eine wogende Nebelwand von riesigen Ausmaßen, golden, grün und tiefblau durchfunkelt von durcheinander kreisenden und spitzig zuckenden, nahen und fernen Blitzen. Höher, in der dritten Terrasse, geradezu auf den Nebelmassen gelagert, ruhte, freilich nur ein paar Atemzüge lang sichtbar, der breite Gipfel des schönsten Berges der Kette in weißen Quadern und zerrissenen Felsen, durch eine Schicht von Neuschnee besonders stark das Licht der Blitze widerspiegelnd und dann am Rande verlöschend und in den ganz hellen, schaumartig aufgelösten Nachthimmel entschwindend. Wenige Augenblicke nachher war alles wieder verändert. Der dunkle, brausende Regen wurde mit großer Gewalt in massiven Güssen herabgeschleudert, und alles war nur eine in Wellen bewegte, fast undurchschaubare schwere Masse, die auch durch die niemals unterbrochenen Blitze nur undeutlich erhellt wurde. Der Donner rollte ohne Unterlaß.

Er zündete das Licht in dem Baderaum wieder an und sah an der Wand über einem niedrigen, durch eine halbe Zitrone ausgefüllten Ausguß ein vier Millimeter langes, goldbraunes Tier, eirund, siebenfach der Breite nach geringelt, das sich außerordentlich weich und geschmeidig bewegte. Anfangs konnte man nicht erkennen, ob das Wesen nach vorwärts oder rückwärts strebte, weil die vielen hellblonden, winzig dünnen Beine ebenso wie die zwei gebogenen Augenfühler erst aus nächster Nähe erkennbar wurden. Es war eine Assel, die sich ohne erkennbaren Zweck auf der mit Oelanstrich versehenen, also völlig unfruchtbaren Wand des Raumes aufwärts mühte und die ihren Willen durch das geschickteste Ausnützen aller winzigen Vorsprünge und für Menschenaugen kaum wahrnehmbaren Sprünge in der Wand verfolgte, die ihr als Höhen, Täler und Gipfel erscheinen mußten. Sie wandte sich und kletterte lautlos, wahrscheinlich nicht mit der Fähigkeit zur Stimmentfaltung begabt. Unbekümmert um Licht und Finsternis, gleichgültig gegen das Gewitter draußen und gegen die Donnerschläge, unter denen das leichte Holzdach des Sommerhotels bebte. Wie es schien, lebte sie in diesem Augenblick verlassen von Wesen gleicher Art, denn die Wand und die blanke Decke im elektrischen Lichtglanz zeigten keine andern Asseln, höchstens konnten solche am Boden unter den Füßen der Wanne oder in Ritzen sich befinden.

Felix verließ den Raum, konnte aber keinen Schlaf finden und kehrte gegen Mitternacht in das Badezimmer zurück. Das Gewitter hatte endlich nachgelassen. Von den Wiesen duftete es balsamisch stark, von den Bäumen im Gasthofgarten harzig und schwer. Die Luft hatte sich geklärt, die Nebel stiegen nicht mehr, sondern senkten sich im flutenden Licht des halben Mondes, so daß der Gipfel des hohen schönen Berges jetzt unsichtbar war. Aber die mittlere Zone mit ihren Matten, Felsschrunnen, Nadelwäldern, Bächen und Geröllmassen stand in der überklaren Regenluft da, vom Monde obenher mit Licht übergossen. Fast greifbar nahe waren alle sonst unsichtbaren kleinsten Einzelheiten: Hütten am Waldesrande, kleine Brücken über den Bach, in die Waldmassen eingeschnittene Pfade, aufgeschichtete Haufen durchsägter Stämme und viele gefällte und entrindete Bäume. Unten in der Ebene sammelten sich glitzernd die Wasserläufe, und ein Bach am Rande des Gasthofgartens, der sonst im August immer versiegte, kündigte sich jetzt mit deutlichem Rauschen in der Stille des von den Gästen verlassenen Hotels an. Die Assel bewegte sich immer noch an der Wand, sie war an fast derselben Stelle über dem Ausguß zu sehen. War sie nicht von ihrem Platz gewichen? War sie wie Felix wieder an den gewohnten Ort zurückgekehrt, weil sie nur da, wie er in seinem Unternehmen und Beruf, Halt hatte? Suchte sie Nahrung? War sie wunschlos, mit der Weltordnung versöhnt? Wollte sie sich mit ihresgleichen verbinden? War diese Nacht die wichtigste ihres Lebens? War es ihr damit ernst? Wußte sie, wo sie war? Mochte sie auch mit dem Baderaume vertraut sein und sich an den Seifenresten oder an den aus den Taschen der Badenden herausfallenden Brotkrumen sättigen, mochte sie sich sogar dessen bewußt sein, daß in einem Winkel des für sie unermeßlichen Raumes, in »der für sie unbegreiflichen Welt« sich ein Wesen ihresgleichen befand – schon von den andern Räumen, etwa vom Dachboden, der über diesem Badezimmer lag, war ihr nie etwas bewußt geworden und würde ihr in Ankunft nie etwas bewußt werden, weniger noch von der Wolkenschicht über dem Dachraum, nichts von dem am Waldesrande fließenden, heute durch mitgeführte Steine besonders rauschenden Gebirgsbache, noch weniger von dem Berge »Kapuzinerwand«, dem schönsten Berge des ganzen Gebirgszuges, noch weniger von dem Monde, der im Wolkenbette verschwunden war, nichts von den Sternen, deren erster sich jetzt durch eine Lücke im Wolkentheater durchkämpfte. Auch sie lebte »nach der Uhr«, freilich nach einer kleineren, noch dürftigeren als der seinigen, aber sie verfolgte ihre Bahn unbeirrbar. Mutig durch Unwissenheit oder durch Gewißheit, niemand entschied es.

Wenn Felix ihr jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger Brotkrumen darbot, kroch sie mit ihren außerordentlich geschmeidigen, gleichmäßigen, wellenförmigen Bewegungen, siebenfach der Breite nach geringelt, darüber hinweg, Finger und Nahrung gleicherweise als Hindernis betrachtend und mit einem hohen Aufwande von Geschicklichkeit überwindend. Erblickte das Tier irgend etwas? Und wenn es etwas erblickte, erkannte es etwas? Und wenn es erkannte, erkannte es die Dinge mit größerer Wahrheit, Sicherheit, Treue als er? Unlösbare Fragen. Was das goldbraune Tier wollte, was in ihm vorging, war durch kein Nachdenken, durch keinen Aufwand an Scharfsinn zu ermessen. Man konnte der Assel weder helfen noch ihr schaden, es sei denn, daß man ihr das zitternde Köpfchen mit dem niedergedrückten Daumen zerquetschte. Das war die einzige Machtmöglichkeit der Umwelt, sei es Mensch oder Gott. Er tat es nicht. Aber hätte er es auch getan, selbst dann hätte sich die Macht des Höheren, da die Lebensdauer eines solchen Krustentieres ohnehin stark beschränkt war, nicht als etwas Neues, als etwas »außer der astronomischen Uhr« erwiesen, sondern nur als eine kürzere Methode, dem Notwendigen sein Teil zu geben. Denn auch das Dasein dieses Lebewesens, genannt Assel, sich selbst nicht nennend, war durch den Tod gut, das heißt unverbesserbar auf jeden Fall gelöst.

4

Marengo kehrte nach dieser Nacht vorzeitig wieder in den gewohnten Wohnort zurück, fand alles, sowohl in seinem Unternehmen als auch in seiner Privatwohnung, in guter Ordnung vor, nur sich selbst fand er nicht so wieder. Entweder hatten ihn die Erscheinung der Assel und ihr Sinn zu tief in seiner scheinbaren Sicherheit aufgestört, oder er fühlte den kritischen Augenblick kommen, wo eine überlebte Form des Daseins sich zwar noch mit der ganzen Gewalt des schon Bestehenden, eben mit der Gewalt der »Uhr«-Kraft ihrer Dauer behaupten will, aber dies nicht mehr vermag. Er fand keinen Frieden in seinem Hause, wo ihn nicht mehr der Schritt des alten Schulmannes weckte. Denn jetzt lag er, Marengo, meist schon vom ersten Einschleichen der zarten Lichtstrahlen, etwa von drei Uhr morgens an wach. Er fand keine Ruhe in seinem Unternehmen, das menschenleer, mit seinen neuen Mauern, seinen mit Zink und mit Glasplatten gedeckten Fabrikschuppen und Montagehallen in der Sonne brütend dalag, totenstill. Er hatte sich seine Sekretärin kommen lassen und ging mit ihr abends, nachdem die Bureauarbeit erledigt war, gemeinsam durch die verlassenen Fabrikräume, in denen sich schon Mäuse eingefunden hatten. Sie raschelten hinter grauen Wergballen, die zum Reinigen der ölgefüllten Achsenlager dienten, sie liefen mit unglaublicher Geschwindigkeit die schiefe Ebene der Treibriemen empor, und ihre seidenen, glimmernden Körper spiegelten sich wie im Fluge in den blanken Metallteilen. Die Luft stand dick in den heißen Räumen, der Unrat der Tiere und das dicke, zusammengeschmorte Oel hauchten einen unbeschreiblichen Dunst aus. Auf der nahen Gerümpelwiese feilten die Grillen. Der Himmel über dem Fabrikhofe, den er aufatmend betrat, war fahl und wolkenlos. Da stieg ein wohlbekannter Duft auf, etwas, das er wiedererkannte, ohne zu wissen, was es war, der Duft nach Reseda, der sich merkwürdigerweise mit dem Geruche von zerschnittenen, in der Sonne gedörrten Pilzen mischte. Seine Sekretärin stand neben ihm, ein blühendes, hohes Geschöpf, stumm, denn sie sprach nie unaufgefordert zu ihm. War sie es, die nach Reseda und Champignons duftete, einen Duft, der ihm bekannt sein mußte, da er Jahre schon Tag für Tag acht Stunden in der Nähe dieses jungen, blonden, üppigen, schnell atmenden Geschöpfes verbracht hatte? Er sah sie überrascht an, sie erwiderte seinen Blick mit einem schwer zu deutenden Lächeln, sprach aber nichts, und auch er richtete nicht das Wort an sie. Der Horizont war gleichmäßig mit milchweißem Dunst umfangen, bloß im Westen senkten sich zart weinrot angehauchte Wolkenzüge in streng umgrenzten, gebirgsähnlichen Formen, Zeichen guten, beständigen Wetters, was ihn freute und ihm, der sehr gedrückt war, plötzlich ohne Grund als gute Vorbedeutung erschien. Es war Sonnabend, am nächsten Tage konnte er eine schöne Motorbootfahrt unternehmen. Er kam mit Margot in die Bureauräume zurück, beide beugten sich über die Bücher, ohne sich Aufzeichnungen zu machen, bloß um Ueberblick zu gewinnen. Trotz der Nähe, in der sie sich befanden, berührten sie einander nicht einmal mit den Stoffen ihrer vom Sommerwinde leicht bewegten, knisternden Kleider. Plötzlich pochte es, beide zuckten zusammen, und in diesem Augenblick schmiegten sich ihre Körper, in der herrschenden, brütenden Hitze doppelt beklemmend, aneinander. Beide schlossen die Augen wie geblendet, erst als es zum zweitenmal pochte, wichen sie weit auseinander. Der Eintretende war der alte, unter Kuratel stehende Fabrikherr und Bettler, der, wie es schien, in echter Rührung den »prächtigen Herrn R.« begrüßte. Dann blickte der Alte mit seinen dunklen, feurigen, blutvoll umränderten Augen umher, wobei er an den üppigen Formen des unter seinem Blick errötenden Mädchens hängen blieb. Inzwischen hatte er schon eine endlose Erzählung begonnen, so daß Felix nichts anderes übrigblieb, als Margot für diesen Tag zu entlassen und für morgen zu bestellen. Margot ging, kam aber bald zurück und sagte, morgen sei Sonntag. Darauf lud sie Felix zu der Bootspartie ein, was das Mädchen freudestrahlend annahm.

Am nächsten Morgen erwachte Felix spät. Er hatte die dröhnenden Schritte des alten Schulmannes überhört, der an diesem Tage wegen des schönen Wetters besonders früh aufgestanden war.

5

Von der Umfassungsmauer der Fabrik führte ein kleiner, mit Schlacke gepflasterter Weg zwischen Schutthalden und niedrigen Hügeln zackigen, rostroten Eisengerümpels über eine staubige, mit Sand inkrustierte braune Wiese zu dem Kanal des Flusses. Hier lag schon das Motorboot, das der Heizer der Fabrik aus dem Schuppen herbeigebracht, mit Oel und Benzin versehen und angelassen hatte. Als Felix kam, warteten bereits Margot und der Heizer. Das Boot steuerte vorerst in langsamer Fahrt durch den kleinen, jetzt im Morgennebel silbrigen Kanal. Auf dem breiten Flusse war es still. Die Wiesen dufteten in der Vormittagssonne betäubend. Das Gras war von tiefem Grün, aber niedrig, von kümmerlicher Art und deckte den welligen Boden des Ufergeländes rührend eng bis in die kleinsten Falten. Trotz des Sonntags arbeiteten Weiber, halbbekleidet, mit aufgeschürzten Rocken. Den Nacken hielten sie, tief gebückt, der prallen, stark gleißenden Sonne entgegen. Viele Haufen Grumt, oben von einem Steine beschwert oder mit einem Rechen niedergehalten, standen in langen Reihen, gleichgerichtet mit dem sich windenden Flusse, da. Einzelne feine Halme, wie Zwirnsfäden ineinander verstrickt und ganz ausgedörrt, flatterten auf das Wasser hinüber, welches hier bei größerer Tiefe eine dunklere, metallartige Färbung angenommen hatte. Ein Gewitter schien auf dem Wege.

Felix lenkte mit kleinen vorsichtigen Bewegungen des Lenkrades sein Boot, wobei er sich mit seinem Körper nach der gewünschten Seite hinüberbog. Oft streifte er das neben ihm sitzende Mädchen. Gesprochen wurde nicht. Zum erstenmal seit langer Zeit hatte Felix die starke freudige Empfindung des Lebens. Das Auskosten der Zeit tat ihm wohl, der Genuß der letzten schönen Tage, jetzt Ende August. Es war sehr ruhig, der Wind sauste über das Wasser. Von den Handarbeiterinnen, die man schon lange nicht mehr sah, kamen plötzlich hohe, vogelartig klingende Rufe und kurzes Lachen herüber. Das Boot gehorchte der Strömung. Felix konnte den Motor abstellen. Tiefer wurde das Gefühl der Ruhe, des Ausgelöschtseins, der engen, körperlich befriedenden, sehr wohltuenden Nähe eines Menschen. Das Mädchen hatte ihre etwas aufgeworfenen, üppigen Lippen ein wenig geöffnet, so daß man, wenn sie tiefer die Luft einatmete, ihre niedrigen, eher gelben als weißen, glatten und regelmäßigen Zähne eng aneinander stehen sah. Ihre großen grauen Augen blickten fest und sahen geradeaus. Ihre breiten, fast männlichen Schultern hatte sie gesenkt, die schmalen Hüften in den Ledersitz des Bootes eingeschmiegt. Im Schoße hielt sie ihre auffallend kleinen, leicht mit rötlichem Flaum besäten Hände. Plötzlich bemerkte Felix an ihr das Sonderbarste, das ihm bei seinem Zusammenarbeiten mit ihr drei Jahre lang in seinem Bureau nie aufgefallen war, reiche, hellblonde, fast raupenartig dicke, wie zwei Goldsicheln metallisch blinkende Augenbrauen, die von obenher durch einen kleinen, hellgrauen Hut nur halb bedeckt, bei einer Wendung des Bootes in das Innere der Augen ihren metallischen, goldfarbenen Widerschein warfen. Der Duft nach Reseda, innig mit dem Geruche in der Sonne gedörrter Pilze gemischt, der ihn gestern im Fabrikhofe eigen berührt hatte, war heute nicht zu spüren, vielleicht weil der Wind, besonders über dem Wasserspiegel, ziemlich heftig wehte, während oben auf dem hellblauen, fast farblosen Firmament die wenigen fest umgrenzten, aber schon etwas verdüsterten, schiefrig getönten Wolken unbewegt standen.

Das Boot war durch die Strömung an den Ufern hingeglitten, den weiten Wiesen waren ebenso weite Wälder gefolgt, fast nur Laubbäume mit viel Unterholz, wegloses Gestrüpp, dichte Buchenhaine zwischen sprossenden Schilfwildnissen, Pappeln und Weiden. Der harte, hellblaue Widerschein des Himmels glitt abwechselnd mit dem Schatten der jungen Buchen über den Fluß, die ersten Herbstblätter trieben, wie bunte, dünnschalige Muscheln gehöhlt, eingerollt auf den kleinen Wellen, der Wind wehte plötzlich kühl, zischte in den Kronen der Buchen, fing sich zirpend im Laube der Weiden, raunte an den zerrissenen Stämmen der Pappeln. Allerhand Vögel kamen kreischend im Zickzackflug aus den mit Gestrüpp verdeckten Winkeln der Böschung, ab und zu schnellte ein fingergroßer Fisch seinen Körper silberblitzend aus dem Strom, ein Zeichen kommenden Gewitters. Vom Kirchturm eines noch unsichtbaren Dorfes kam der Klang einer Glocke, entweder war es das Mittagszeichen oder die Einleitung des Hochamtes, das in dieser Gegend um elf Uhr zelebriert wurde. Weder Margot noch Felix wußten die richtige Zeit.

Felix kannte die Gegend, hier war die Stelle, wo er bei seinen früheren einsamen Fahrten oft gelandet war. Die Bäume standen hier dicht in einem kleinen Halbkreis, aneinander aufgeschossenes, reiches, silberfarbenes Gebüsch war wie eine Hecke dicht um einen Wiesenraum gewachsen, der in diesem reichen Sommer nicht abgemäht worden war. Felix und das Mädchen legten sich in das hohe, bündelartig aus der fetten dunklen Erde aufgegangene schmiegsame, duftende Gras. Keines sprach. Der Himmel war hoch, aber schon von der dunklen Wolke regendrohend durchschnitten, der Fluß fast unhörbar, die Vögel, wie oft vor dem Regen, verstummt. Ganz nahe sah man einen sonst fernen Hügelzug, mit Nadelholz bestanden, smaragdfarben in dem stechenden Glanz der Vorgewittersonne gleißend. Margot hatte die Augen geschlossen. In ihren dichten, ineinandergewachsenen, metallartigen Augenbrauen fing sich die hochstehende Sonne. Die Insekten, vom kommenden Wetter etwas betäubt, schwirrten tief, nur niedrige Bogen zwischen den späten, innig eingefärbten, matt schaukelnden Blumen ziehend. Ihr Summen, hoch heransingend und dann plötzlich neben der Ohrmuschel mit einem Schlag verstummend, war einschläfernd und aufreizend zugleich. Im gedämpften, fast greifbar schwebenden Licht hatten Margots geschlossene Augenlider einen bläulichen Schimmer angenommen. Ueber den Augen, unter den vom Gewitterwinde weggewehten Haaren entfaltete sich ihre starke, gewölbte milchweiße Stirn. Keusch öffnete sich schüchtern, aus seinem Neste von Haaren durch denselben Windhauch auf einen Augenblick hervorgeholt, ihr winziges, blasses, wie aus Alabaster geschnittenes Ohr, das auch den Milchstaub des Alabasters in seinen zarten Rillen und Winkeln trug. Ein großes, glitzerndes Insekt, mit durchsichtigen Flügeln, winzigen schwärzlichen Adern, spitzem Leib und nadelförmigem Ende umschwirrte in immer engeren Kreisen die Augenlider und die weiße, mit winzigen Schweißtropfen bedeckte Stirn, das alabasterne Ohr, die etwas aufgeworfenen, himbeerfarbenen Lippen, hinter denen die starke, gelbe, enge Zahnreihe schimmerte. Felix wollte das Tier verscheuchen, seine Hand streifte die kühle, feuchte Stirn des Mädchens, in der Höhlung seiner Hand fühlte er die wie Raupenkörper starren Augenbrauen, seine Hand glitt über den trockenen vollen Mund des Mädchens, ohne daß sich das große blühende, langsam und schwer atmende junge Geschöpf rührte. Jetzt duftete es in Margots Nähe betäubend nach Reseda, innig und zart mischte sich dieser Duft mit dem Geruch von Pilzen, aufgebrochenen, in der Sonne trocknenden. Er faßte sehr leicht ihr Stirnhaar zwischen den linken Daumen und Zeigefinger, wie man es mit einem Blumenblatt macht, das man zwischen seinen Fingern zerreibt, um den Duft besser empfinden zu können. Er wußte nicht, was er tat, als er die Finger dann an seine Lippen führte, tief den halb herben, halb süßen Duft einatmend. Sie wußte nicht, was sie tat, als sie mit einer unerwarteten, zuckenden Bewegung ihre dünn bekleidete Schulter an eine bloße Stelle seines Halses emporhob. Seine Lippen versanken in den ihren wie in einem Blumenbeet. Sie entzog sich ihm stumm, senkte, während sich ihre Brust seufzend weitete, ihr Kinn an die vibrierende, helle, seidig glänzende Kehle. Unter seinen aneinandergepreßten Lippen fühlte er ihren Augapfel sich langsam bewegen, während ihr Atem, mit dem gleichen blumenhaften und erdigen Duft getränkt wie ihr Stirnhaar, ihn von unten her mit wachsender Glut umhauchte.

Beide kamen schnell zur Besinnung, wollten diese tiefe Ruhe stören, dieses vollkommenste stumme Ineinandersein lösen, aber sie fanden sich nur zu neuen Küssen zurück. Schon war es ein anderer Kuß, etwas wie Auflachen oder Erschrecken, denn beider Lippen waren auseinandergewichen vor den blanken, steinharten Zähnen, und nur noch das heiße, schmerzende Gestein der Zähne, das Email der nackten Gebisse begegnete sich in einer nie zu vergessenden Vereinung, schauerlicher und wollustvoller, als sich Fleisch mit Fleisch sonst begegnet. Ihre Schultern drängten sich aneinander, während ihre Füße im hohen Grase weich ruhten. Aufrauschend verdunkelte der erste Windstoß des kommenden Gewitters die Schattenstelle ganz. Auf dem kobaltblauen Himmel war die schmale, pflugscharähnliche, bläulichschwarze Wolke parallel zum Flusse emporgestiegen, im Zuge eines eisigen, klaren Windhauches, der von der Landseite her wehte. Margot wollte sich erheben, als friere sie, als fürchte sie sich vor dem Gewitter. Er wollte ihr aufhelfen, ihren kleinen Kopf mit den üppigen, knisternden Haaren vom Graslager aufheben, aber ihr Mund vermochte sich von seinem nicht zu lösen. Dennoch waren sich beide der Gefahr bewußt. Schon hatten sie sich, allem inneren Widerstreben zum Trotz, überwunden und hatten einige Schritte gegen die Böschung zurückgelegt, wo das Motorboot, durch eine dünne Stahlkette an dem Strunk einer welken Weide befestigt, unter den immer heftigeren eisigen Windstößen schaukelte, als es sie beide wieder zurücktrieb. Sie gingen nach rückwärts, ohne den Blick von dem Boote und von der sich plötzlich stahlgrau kräuselnden Wasserfläche zu lassen. Ohne zu wissen warum, stürzten sie, stumm, wie sie drei Jahre nebeneinander gelebt hatten, einander in die Arme, als wurde der warme, tiefgrüne, grasige Boden unter ihnen fortgezogen. Sie taumelten mit geschlossenen Augen, dann suchten sie den Platz, von Weiden umstanden, vor Blicken geschützt, wo sie vor einem Augenblick geruht hatten und der noch an den niedergedrückten Gräsern erkennbar war.

6

Der vor einer Stunde noch helle Himmel hatte sich nun völlig umzogen, und kalte Tropfen, von einem zischenden Winde herübergeweht, streiften Nacken und Wangen des Mannes, um sich sodann auf seinen trocken gewordenen Lippen zu lösen. Trotz dem Regenschauer brach bald wieder die Sonne durch. Edelsteinfarben grün, milchig verdichtet sprühte der helle Gewitterregen prasselnd in das sich auf und ab wiegende hohe Gras. Ueber dem Flusse, der doch so wenig weit entfernt war, schien kaum etwas Regen niedergegangen zu sein, denn der Spiegel des Wassers glänzte, als sich Felix aufrichtete, wieder klar. Felix bedeckte das Gesicht des Mädchens mit beiden Händen. Aus Zärtlichkeit? Aus Angst, ihr ins Auge zu sehen? Schämte er sich vor ihr? War sie ihm zu fremd? Oder wollte er sie nur vor den immer heftiger, peitschenartig durch die sonnenblitzende Luft herabschießenden Tropfen schützen? In die Falten zwischen seinen Fingern schmiegten sich ihre Augenbrauen, schwer wie Samt und haarig wie Raupen. Wiegend bewegten sich ihre Wimpern, lang, weich und sichelförmig gekräuselt. Jetzt faßte sie ihn an. Damit er die Hände von ihrem Gesicht entferne? Hinderte er sie am Atmen? Unter seinen Händen, die er so schnell nicht fortnehmen wollte, fühlte er warme Feuchtigkeit quellend hervorströmen.

Der Regen hatte plötzlich aufgehört, ueber dem kleinen buschartigen Gehölz gegen den Hügel zu, über den hohen stürmenden Kronen der Pappeln schien er jetzt zu weilen, während sich hier über dem ruhenden Paar nur Sonne ergoß und schwer duftender Brodem sich dampfend von der smaragdgrün glitzernden Wiesenfläche erhob. Darunter tränkte sich die Erdkrume noch tiefer zwischen den bündelartig aufgeschossenen Gräsern, den weitverzweigten Wurzeln.

Unter seinen Händen fühlte er, wie die Lippen des Mädchens sich zu bewegen begannen. Er mußte das Gesicht freigeben. Er erwartete Klagen, Vorwürfe, Geständnisse, ein Liebeswort, ein Hasseswort. Aber sie schwieg, und er erfaßte in dieser entscheidenden Minute ganz das Fürchterliche des Augenblicks und zugleich dessen entsetzensvolle Freudigkeit. Er dachte an den letzten Tag in den Alpen, an die Begegnung mit der Assel. Was damals begonnen hatte, endete heute. Endete es?

Margot suchte seinen Blick und hielt ihn fest mit ihren grauen, selbst jetzt klaren und geradeaus gerichteten Augen. Sie weinte nicht mehr, hatte vielleicht nie geweint, und es waren nur Regentropfen, die sich zwischen feine Finger eingeschlichen hatten. War es möglich, daß ein Mensch nur mit einem Auge weinte? War es möglich, daß die Lippen des Mädchens sich in diesem Augenblick so streng aneinanderschließen, einen so drohenden, rechnenden Ausdruck annehmen konnten? Mit beiden geballten Fäusten strich sie sich von der Brust bis zu den Knien. Mit dieser einzigen Bewegung streifte sie den Mann von sich ab und hatte zugleich ihre leichten, vom Regen etwas dunkel gewordenen Kleider geordnet.

Er erwartete wenig von ihr, sie nichts von ihm. Sie wandte ihren Blick weiter in das Hügelgelände vom Flusse weg, gegen das Gehölz, wo sich das Regensprühen als feiner Schleier hob in wolkenhaftem zartesten Umwittern, aber schon brach auch dort die Sonne zwischen den jagenden, schieferfarbenen, am Rande angeglänzten Wolken stärker nieder, der Dunst um die Kronen der Pappeln trennte sich vollends von den im Frühherbst schon schütter gewordenen, leichter zu durchdringenden Laubmassen. Die Blätter glänzten flach, mit ihren ebenen Flächen der Sonne zugewendet und in der aufsteigenden Wärme, in der friedensvollen Stille des Mittags trockneten sie schnell auch auf den im Winde sich schüttelnden Gebüschen, und das lackartige Schimmern der Blätter wich bald einem stumpfen, ruhigen, gesättigten Glanze.

Noch hatte das Mädchen keinen Schritt näher zu dem Manne zu oder fort von ihm getan. Jetzt erblaßte sie, und ihre vollen Wangen und die bebenden Flügel ihrer Nase zeigten, eben nur in der Blässe erkennbar, schwefelfarbene Sommersprossen in regelloser Verteilung.

Nichts anders als die Bäume standen die Menschen da in der sich schnell aufhellenden Landschaft, die einen heiteren, frühlinghaften, milden und begütigenden Charakter angenommen hatte. In weithin gezogenen Bogen kreisten kreischende und zwitschernde perlfarbene Sumpfvögel mit glattem, fast unbewegtem Gefieder über ihren in den dampfenden Winkeln am Flusse verborgenen Nestern. Andere, am Rücken steinblau, am Leib bräunlichweiß gefleckt, haschten sich, wiegend wie Libellen unter pfeifenden, schelmisch klingenden Rufen, ohne sich je zu begegnen. Die Pfützen im Röhricht waren angeschwollen, überall rannen zwischen den Weiden und Schilfstauden kleine silbrige oder griesfarbene Bäche. Würmer wanden sich unter schützenden Steinen hervor. Schwärme von Insekten, in glimmernde Kugeln gebannt, erhoben sich aus unbekannten Schlupfwinkeln, in die sie sich während des Gewitters geflüchtet, sie schwirrten, flügelfest, durch unerklärliche Kraft der Anziehung in den vertrauten Raum einer durchsichtigen Kugel gebannt, deren Grenzen sie nie überflogen, nie verließen; sie wirbelten höher, sie senkten sich und die kleine, unverletzliche Welt ihrer freiwilligen Gemeinschaft näher an die balsamisch duftende Erde, vielleicht dem etwas bewußteren Fluge eines Weibchens folgend. Im Mittagstanz funkelten sie unter den Buchen dahin in tief summenden, gleichmäßigen, durchdringenden Gesängen, um sich selbst tanzend, Spiralen ziehend, steigend und fallend, während noch der frische warme Regenbrodem betäubend in der Luft stand.

Das Schweigen des Mädchens wurde bedrückender für ihn mit jedem Augenblick. Je näher die Natur ihm kam, desto fremder wurde ihm der Mensch. Mit seiner ganzen Existenz fühlte sich Marengo ausgelöscht. Konnte man sich näher kommen? Konnte man sich fremd bleiben? Er fand keine Worte, keine Liebkosungen. Was sollte er sagen? Wovor warnen, was beteuern, wie sich nähern? Das Innigste war vorbei, das Glühendste dahin.

Bloß die fremde Gegend, aus der sie keinen Weg nach Hause kannte, schien sie festzuhalten. Barhäuptig ging sie unter den Bäumen dahin, von denen die letzten Tropfen herabgeweht sich auf ihren hohen, raupenartig aufgestellten, wie zwei Goldsicheln gleißenden Augenbrauen verfingen. Einzig vertraut, Erinnerung an eine Margot, die nicht mehr war, war ihr Duft, Reseda mit dem Duft zerschnittener edler Pilze gemengt. Keine Träne verdunkelte ihren Blick, das klare Grau der Augen hatte sich zu einem eisigen Glitzern gesammelt, wie es Muscheln an der Innenseite der Schalen haben.

Jetzt rächte es sich, daß er drei Jahre nicht mehr persönliche Worte an sie gewendet hatte als an seine Taschenuhr, die ihm ebenso stumm zu dienen hatte.

Daß Margot barhäuptig war, erregte sein Mitleid. Er suchte ihren Hut, der noch, mit der Innenseite nach oben, an der Stelle der ungewollten Vereinigung lag. Von hier aus sah er auf das Wasser, auf das Boot, das man nie hätte verlassen sollen. Aber schon war Margot zwischen den dichtstehenden Gebüschen verschwunden. Während er sie rief, warf er einen Blick in ihren Hut, den er noch in der Hand trug. In den Seidenfalten des Futters sah er etwas braunes, flinkes, siebenfach geringeltes Kleines sich winden und sich hinter die Vorsprünge der Falten flüchten, eine Assel, die sich während des Regens in dem Hut geborgen hatte. Er versuchte, ununterbrochen nach Margot rufend und die weglosen Schilfwildnisse nach ihr durchsuchend, das Tier zu entfernen, aber es entglitt seinen Fingern, man konnte nicht ahnen, ob durch Willen oder ohne Absicht, aus »innerem Gefühl«. Jetzt nahm das Suchen nach Margot alle seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Aber er glaubte selbst nicht mehr daran, daß er Margot hier wiederfinden könne.

Nachdem er vergebens die ganze Umgegend durchstreift hatte, kehrte er zu dem Boote zurück. Den Hut trug er noch in der Hand. Das Tierchen war verschwunden; man würde es ebensowenig begreifen, beglücken, verletzen, in seinem »Innern« treffen, wie das Tier in dem Baderaum des Hotels vor drei Tagen, das nicht begreifende und von niemandem begriffene Wesen auf der unfruchtbaren Wand im unbegriffenen Raum, im Gewitter unter dem unermeßlichen Himmel.

7

Als Felix einige Stunden später bei eingetretener Dämmerung die dunkle Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, sah er etwas Fahles, Seidiges über einer schwarzen unbeweglichen Masse leuchten. Obwohl sein Verstand ihm sagte, Margot könne nicht zu ihm gekommen sein, hielt er sich einen Augenblick an diese Illusion, bis er näher kam und in dem Gebilde den alten Mann erkannte. Felix war sich, als er neben dem nach Alkohol und schlechten Zigarren, nach Alter und Elend riechenden Greis vor seiner Tür stand, klar darüber, daß er sich nie mehr von ihm ohne Gewalt losmachen würde können, wenn er jetzt den Obdachlosen einließe und ihm bei sich zu nächtigen gestatte. Was er sonst nicht getan hätte, heute tat er es. Er ließ den fremden Menschen (nicht fremder zwar als andere, als alle) zu sich und stellte bloß zwei Bedingungen, erstens die der Sauberkeit, beginnend mit einem Bad noch heute, und zweitens die des häuslichen Friedens. Dann schloß er die Tür auf, ließ den Alten vorangehen, der sich mit ungewöhnlicher Sicherheit in den finsteren, verlassenen Räumen zurechtfand. Felix drehte das Licht an, öffnete den Gashahn des Badeofens, zündete ihn an und ließ den Alten allein im Baderaum und begab sich in die Küche. Trotzdem auch hier elektrisches Licht zur Verfügung stand, hatte die alte Haushälterin ihre Petroleumlampe brennen gelassen und hatte diese, als sie ihren Herrn kommen hörte, schnell verlöscht. Doch war der Raum voll von Petroleumdunst. Er rief die Alte, die sich bei seinem Kommen in ihr Zimmerchen verkrochen hatte, und sagte ihr, heute sei ein Gast gekommen, ein alter Verwandter, der einige Zeit bei ihm leben würde. Ihm fiel das Sprechen schwer, und in diesem Augenblick bezweifelte er, ob er die Kraft haben würde, einen fremden Menschen von dieser Art dauernd in seiner Nähe zu haben.

Um aus der üblen Küchenatmosphäre zu entkommen und reinere Luft zu atmen, trat er ans Küchenfenster, das in einen weiten Hof ging. Schrillend jagten sich in der sinkenden Dämmerung Schwalben. Unten auf dem Hofe, zwischen den Teppichständern und den dürftigen Oleandergebüschen, die den ärmeren Parteien des Nebenhauses gehörten, saßen Familien, bei Licht Karten spielend und zur Ziehharmonika heisere Gesänge voll Gefühl singend. In einem mehr verlassenen Winkel des Hofes, den er heute seit vielen Jahren zum erstenmal sah, weil er die Küche sonst nie betrat, bemerkte er zwei Hunde, die sich miteinander balgten. Das honigfarbene, stark aufgeplusterte Fell des einen stach selbst jetzt in der Nacht von dem viel dunkleren des anderen Tieres ab. Während aber die beiden Tiere, in den höchsten Tönen jaulend, jammernd und verzückt sich rollten und wälzten, leuchteten plötzlich die Felle der Tiere am Unterleibe fleischfarben wie nackt. Das Tierische an diesem Kampfe der Hunde, ihr entzücktes Heulen und ihr klagendes Winseln, ihr wütendes Kreischen erschütterte ihn tief, denn es brachte ihm seine stumme Begegnung mit dem Mädchen ins Gedächtnis.

Er wußte, daß er sie nicht wieder treffen würde und daß ihm auch der Ort, jene von schönen Bäumen im Halbkreis umstandene, sanfte, mit hohem Gras bewachsene Wiese am Flusse nie mehr eine gute Stunde, nie einen Augenblick des friedensvollen Ruhens und des Ausgelöschtseins geben würde. Unten im Hofe wurde, da alle Rufe von den in ihrer Spiel- und Geschlechtswut berauschten Hunden unbeachtet geblieben waren, aus einem offenen Fenster schmutziges Wasser auf die Hunde geschüttet, was sie mit einem wie aus einer einzigen Kehle kommenden Schrei beantworteten, um sich dann nach verschiedenen Seiten auseinanderzutrollen. Nun hatte sich jedes Tier in eine andere Ecke geflüchtet, das eine lagerte zu Füßen der Kartenspieler, das andere umschmeichelte die singende Gesellschaft im roten Lampionlicht, um gute Bissen bettelnd.

Ein leichter Duft nach Reseda stieg im Fenster von einer kümmerlichen Pflanze auf, welche die Köchin in einer zerbrochenen Teetasse gepflanzt hatte. Daneben war ein zwiebelartiges Gewächs in einem am Rand zerbrochenen Kompottglas verwurzelt, so daß man durch die durchsichtigen Wände einige feine Wurzelfasern gut verfolgen konnte. Die Tasse war uralt, auch das Glas mußte noch aus den Zeiten seiner Mutter stammen, also fast dreißig Jahre alt sein, da Felix solche Gläser in seinem Haushalte nicht mehr verwenden ließ. Die Tasse, mit holländischem Muster blau bemalt, kam ihm sehr bekannt vor. Da dieses Gefäß aber viel Wasser durchließ, hatte die Haushälterin, peinlich sauber wie sie war, ein Stück bedrucktes Papier daruntergebreitet, ein anderes der Ordnung halber auch unter die Zwiebelpflanze. Felix konnte den Text der Papiere nicht lesen, erkannte aber im Lichte der Küchenlampe das eine als ein Stück aus einer alten Bibel, eine Seite des Neuen Testaments enthaltend, von Erde fast unleserlich geworden, das andere war eine gut lesbare Seite aus Humboldts »Kosmos«, drittem Band, der einmal seinem Vater gehört hatte und den er seit vielen Jahren schon aus seiner Bibliothek ausgeschieden hatte. Der Resedaduft erinnerte ihn an das Mädchen, das üppige, blonde Geschöpf mit ihren zwei wie Goldsicheln glänzenden, ineinandergewachsenen hellen und hohen Augenbrauen, mit ihrem Duft nach Reseda und Champignons. Die alte Tasse, die alten Buchtrümmer lagen vor ihm auf der durch vieles Reiben wie säurezerfressenen, blanken Platte des uralten Küchentisches. Sie zeigten ihm, wie sehr greisenhaft sein eigenes Leben geworden war, wie sich dieselben Dinge, zwar treu und ergeben, aber starr und steinähnlich und zu tot selbst auch nur zum Verwesen, sich in den vielen Jahren seines abgeschlossenen Lebens um ihn gesammelt hatten; alte Möbel, in denen er hauste, alte Menschen, mit denen er lebte. Lili, die alte Kammerzofe seiner schönen Mutter, mit ihren zarten, wie aus Glas gebildeten Schultern einer fast Siebzigjährigen, und jetzt erschien, statt des schönen blühenden Geschöpfes, mit dem er den Tag begonnen hatte, der alte Peter Kornitzer eben im Wohnzimmer. Frisch gewaschen, aber nicht verjüngt, sondern wie man jetzt erst unter dem fortgewaschenen Schmutze erkannte, erschütternd verfallen, Haut und Knochen, Haar, Bart und Auge, ein kläglicher Funke endenden Lebens. Alte Bücher, mehr von Stockflecken gezeichnet als von den Spuren der guten lebenden Blumenerde, ausgelaugte Tische, alte Tassen, die ihm seine Mutter vor lange schon erloschenen Zeiten zum Munde geführt hatte, wenn er, der sehr zärtlichkeitshungrige Sohn, sein Fieber absichtlich in die Höhe getrieben hatte, damit nur die Mutter nicht von seinem Bette weiche. Alles war Vergangenheit, alles war gegeben und genossen. Dies fühlte er jetzt mitten zwischen seinen alten Sachen, er, der jüngste zwischen den siebzigjährigen Greisen. Hatte er mit dreißig Jahren sein Teil dahin?

Während das Essen auf den Tisch kam, überflog er statt der Zeitungsblätter, die ihn sonst abends am viereckigen großen, einsam gedeckten Familientische an Stelle von lebenden und sprechenden Menschen beschäftigten, die ausgerissenen Seiten von Humboldts Kosmos sowie die durch Feuchtigkeit und Alter sehr zerstörten Seiten des Neuen Testaments.

Beide Texte begriff er jetzt, wie er sie nie begriffen hatte. Er selbst mit seinen dürftigen, zusammengesparten Lebensgütern verschwand. Kosmos und Evangelium sprachen, von verschiedenen Seiten, aber mit gleicher Gewalt. Hatte »er« aber noch Kraft zu einer neuen Existenz? Die ewige Bewegung im Kosmos zu erfassen? Den Kosmos im Buche »Kosmos« zu sehen, zu erleben? Oder dem Evangelium aus der Fülle des Gefühls zu folgen in die geliebte, die schauerliche, die unbegreifliche Welt, die göttliche, die ruhende? Konnte man etwas Neues beginnen? Allein? Mit andern? Für andere? Sollte man die alte, die erste Existenz liquidieren? Verlieren, was man nie besaß?

Er, der alternde Mann, hatte eben noch einen älteren neben seine alte Haushälterin zu sich ins Haus genommen. War das ein Zeichen?

Vielleicht war es besser, vielleicht war es gut, vielleicht war es unbezahlbar, da schon in Zahlen gedacht und gelebt werden mußte, daß nur diese zwei alten Seelen bei ihm blieben und er bei ihnen. Längst erloschene Zeiten oder neue, mit unverbrauchter Kraft zu entzündende? Verlassen aller Sicherheit? Niewiedersehen mit Margot, mit der Fabrik, dem alten Hause hier? Letztes oder erstes Kapitel?


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