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Die Verdorrten

1

Edgar und Esther kannten einander viele Jahre, bevor sie einander liebten. Sie änderte sich in diesen Jahren nicht sehr: groß, blond, die Haare schwer um den schmalen Kopf, die blauen Augen schiefgestellt, ihr Mund groß oder klein, weich oder hart, kindlich oder verbittert, wie sie eben lebte; an farblosen Regentagen war er anders als an starken, sonnigen.

Er liebte an ihr den schmalen gotischen Bogen ihres Kinnes. Ihr Gesicht konnte er dann zwischen zwei Finger nehmen, leise hin- und herbewegen, und es strömte wie Licht ohne Grenzen. Für Augenblicke war sie das, wovon er träumte: ein Wesen ohne Wissen, umgeben von ewiger Sommerzeit, schwimmend in Duft wie in einer eigenen Welt! Ein Stern, allem Bekannten unbekannt, entfernt von den Tieren, von den Pflanzen, eine starke Gewalt, beide Hände voll von Wollust, etwas Tiefes zum Hineinversinken, dem Schlafe gleich und dem Tod, dem ersehnten, dem gefürchteten.

Das war sie nicht. Sie war ein Mensch aus bürgerlichen Kreisen, ein Herz, noch unberührt, in ihrer Blüte ein junges Mädchen. In ihrer Blöße eine zitternde Braut: das hatte Esther zu geben, das gab sie ihm.

2

Er wollte sie besitzen, immer zu ihr zurückkehren können. Aber auf die Dauer konnte er mit ihr nicht leben. Er konnte überhaupt nicht dauernd mit Menschen Wand an Wand, Mund an Mund, Brust an Brust leben. Es beengte ihn bis zur Angst des Erstickens: er haßte, er verfluchte alles, was zu nahe um ihn lebte, die schmierige Einrichtung seines kleinen chemischen Laboratoriums, die roten Samtmöbel seines möblierten Zimmers, und ebenso die Geliebte, den Hauch ihres Atems, den etwas vergilbten Einsatz ihres Hemdes, ihr Haar, das er am Tage nachher in seinem Kamm fand oder auf dem Grunde seines Waschbeckens, alles reizte ihn zum Erbrechen, als ziehe es sich durch seinen Hals die Kehle herab. Wie als Kind trieb er sich viel auf steinigen Bergen herum, sprach zu sich, sang stundenlang zu dem Takte seiner Schritte, zu dem Stampfen der Lokomotive, wenn er reiste, zu dem Surren der Zentrifuge in seinem chemischen Laboratorium, während er arbeitete oder umherging.

Er liebte die Freiheit über alles. Aber er liebte auch die Menschen, und zwischen beiden schwankte er. War er verreist, dachte er an Esther in allerinnigster Sehnsucht. Wieder sah er – und die Wehmut jugendlicher Tage kam nie mehr – die rauchige Halle des Fernbahnhofes, das Eisen und gebräunte Glas, die erstickende Schwüle des Wartesaales. In Wehmut preßte sich der kleine Hügel von Esthers unbewehrter Brust an seine Schulter beim Abschied, feucht und schwer umhauchte der sich verdichtende Nebel des Novemberabends ihr sanft fallendes Haar, rührend rauschte es an seinen Lippen vorbei wie eine demütige Liebkosung. Wenn sie gerade verschwinden wollte, fühlte er sie ganz: die holden Brüste, die schräg gleitende Falte von der Schulter abwärts, ihre schmalen, keuschen Hüften, ihren kleinen Fuß, den er oft wie ein Stück warmes Elfenbein zwischen seinen Händen gerollt hatte. Und ihr Duft, unvergeßlich war Esthers Duft zu Anfang ihrer Liebeszeit, scharf und sommerlich zugleich, ein fremdes Aroma, das sie mit ihrer Unschuld dahingab.

So erlebte er, daß nicht nur das Sterbliche am Menschen verwesen konnte, sondern auch das Unsterbliche, die glühende Flamme, der Duft von Seele zu Seele, die letzte, die einzige Wirklichkeit, die, über zwei Säulen wie ein Pfeilerbogen gespannt, unerschütterlich schien für den Blick, aber es nicht war für die Zeit!

An manchen Tagen versagte alles Wollen bei beiden, das Letzte kam nicht, war nicht zu erreichen, mit den Spitzen der Zähne nicht zu erraffen.

Schon vorher hatte er sie nackt gesehen, in der schwankenden Kühle ihre Gestalt am weißen Kachelofen, schon früher hatte er ihre Hände in den seinen gehalten, während sie langsam erkalteten in der beginnenden Glut ihrer Begierde. Er wußte um ihr Zittern. Wie ein Mond wuchs der lichte Stern ihrer Augen. Etwas schräg schimmerten ihre dunkleren Wimpern in dem weißwolkigen Gesicht, und überall war Licht.

Eine unendliche Vereinigung, den gleichmelodisch schwebenden Tanz zweier Sterngebilde, eine Ehe der Ehen, das ersehnte er. Aber Esther war nur das verführte Kind, der geschlagene Feind, sie war jetzt ärmer als der Bettler, in dessen Hut er sein Almosen hatte fallen lassen. Sie waren beide jung, und das war ihr letzter Besitz, denn er schien unerschöpflich. Gesundheit lebten sie wie Unsterblichkeit.

Der Sommer war schön, herrlich war es, auf der Terrasse des Restaurants nachts zu sitzen, ohne Bewußtsein der Zeit, hinter den verstaubten Oleanderbüschen versteckt; die Nacht schwebte um sie, sie saßen noch, als das Licht verlöscht war, und im Dunkel, im Schweigen glaubte der Mann zu fühlen, wie die starren Spitzen ihrer Brüste durch den weißen Schleierstoff ihres Kleides stachen, das wie bei einem Kinde hoch geschlossen sich kräuselte um ihren wild pochenden, immer näher sich drängenden, duftenden Hals.

Das herrlichste war für ihn jetzt nicht mehr das Alleinsein mit ihr im dunklen Zimmer, im Widerschein des dunkelpurpurnen Teppichs, sondern im Freien mit ihr zu leben. Nie hatte er Tage, Nächte empfunden wie jetzt. Der Mai, der Juni, immer wolkenlos, wolkenlos, weit ging er mit ihr, ohne zu reden, in der Nacht schimmerte ihr weißes Kleid, ihr bloßer Nacken, wie zart stieg alles an ihr empor! Sie gingen schnell, sie liefen, die goldene Kette um ihren Hals klirrte, aus ihrer noch von der Nachmittagshitze erregten Brust schwamm Duft, bitter und süß; es duftete ihr feuchter Mund nach Niewiederkehr; ganz war sie umwölkt von dem quellenden Safte vieler gepflückter Pflanzen.

Nie fühlte er Müdigkeit, alle Glut entzitterte ihm zu unbeschreiblichem Entzücken, er liebte sie wie ein hochgeschwungener Ton von der tiefsten Tiefe her, beide schwebten wie ein unhörbar hohes, durchdringendes Zittern im Unsagbaren. Sie waren mit der höchsten Höhe ihrer Liebe am Ende der erreichbaren Welt.

Sein Schweigen nachher war eins mit dem Schweigen des Waldes, ihr Zittern, so mädchenhaft, eins mit dem Zittern der windgestreiften Birke. Immer neu, immer jungfräulich erwachte unter Bäumen der nächste Tag den Liebenden.

Als sie nach einer Reise wiederkehrte, war es nicht mehr die gleiche Luft, die gleiche Zeit.

Ihn hatte diese Zeit des Fernseins um Jahre jünger gemacht, er hatte Esther ersehnt, anders als sie ihn verlassen hatte, leidenschaftlicher, dunkler, mit entflammenden Gebärden, wild alles emporreißend zu dem Außerirdischen. Er ersehnte nicht einen nackten Körper, sondern eine nackte Seele. Sie aber war verwandelt in das Mädchen von einst, geschlossen, stark im Schweigen. Jungfrau war sie nicht mehr, sondern es sprach aus ihr weich die Seele einer Mutter, eine mütterliche Zärtlichkeit.

Sie war nicht mehr Esther, er war Edgar nicht mehr. Sie lebten hintereinander, stets auf der Flucht einer vor dem anderen, stets beisammen im unselig verzauberten Kreis. Er entstammte als einziges Kind einer unglücklichen Ehe, er fürchtete sich, sich zu binden, und doch graute es ihm davor, allein zu sein. Soviel sie zusammen waren, soviel sie einander sagten, sie wurden einander fremd, und seine Treue zu ihr schien ihm Untreue zu sein gegen sich selbst.

Nur noch für kurze Zeit, dachte er, müsse er zu der alten Geliebten zurückkehren, dann erst würde eine neue Zeit beginnen, um so viel herrlicher als das Jetzt, als Esther in ihren schönsten Sommertagen herrlicher gewesen war als die einsame Zeit vorher.

Aber war es noch Esther? Nur eine Woche hatte er sie gemieden, nun erkannte er sie kaum mehr wieder. Sie wurde die gewesene Geliebte. Sie war jetzt nichts als die Vernunft, sie war nun der tägliche Tag, die logische Entzauberung, die kalte Wirklichkeit. Ihre Haare waren noch lastend und blond, aber Esther selbst, in ihrem innersten Wesen, schien ihm völlig ergraut.

3

Lange schon fühlten sie beide, daß sie einander nicht mit der Liebe von einst liebten, aber sie wußten zuviel voneinander, sie waren einander gewohnt.

Seine chemische Fabrik, die er jetzt in einem Vorort betrieb, ging schlecht. Es kam eine gute Gelegenheit, sie zu verkaufen, und er hatte Aussicht, in dem nun in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Unternehmen eine fast leitende Stellung zu erhalten. Aber wenn dies ein glücklicher Zufall war, so bewährte sich das Glück auf der Börse, wo er zu spielen begonnen hatte, nicht so sehr, früher hatte er das Geld nie geschätzt, jetzt spielte er des Gewinnes wegen, aber auch aus Unruhe, aus Angst, aus Leidenschaft. Er verlor die Hälfte seines Vermögens an drei aufeinanderfolgenden schrecklichen Tagen. Der vollständige Verlust ließ sich nur abwenden, weil er mit dem seine Geschäfte führenden Bankier seit Kindeszeiten befreundet war und der Bankier keine weitere Deckung verlangte. So war es möglich, daß die Verpflichtungen bei einer Besserung der Verhältnisse doch noch ohne großen Schaden abgewickelt werden konnten. Auf alle Fälle hatte er ja noch seine fast leitende Stellung in der Fabrik; es war wenigstens sicheres, wenn auch fremdes Brot und manchmal bitter für ihn. Es waren jetzt wieder kleine Verhältnisse, in denen er lebte.

Die alte Geliebte blieb ihm auch jetzt treu. Sie hatte nie an besondere Glücksfälle geglaubt, sie war die Wirklichkeit, die Vernunft. Immer blieb die Sorge bei ihr, die Angst bewachte jede Umarmung. Das Keuscheste wurde schamlos, wenn sie, die Geliebte des Verarmten, daran dachte, daß sie ein Kind bekommen könnte. Sie sprach von Ehe, aber er schwieg. Nun sprach sie nie mehr davon.

Sie suchte und fand einen Gelderwerb. Leicht war es ihr nicht, die an fremde Türen zu klopfen nicht gewohnt war, aber es war leichter, als Edgar zur Last zu fallen. Sie blieben beisammen. Das Böse der bösen Tage trieb ihn zu ihr und sie zu ihm.

Verzweiflung kam nach Jahren, Hoffnungslosigkeit nach lange geduldig getragenen Enttäuschungen. Er verzweifelte an ihr, sie am Leben.

Aber nach erbitterten Faustkämpfen mit Worten, nach Hieben mit alten Beschuldigungen, nach Vorwürfen längst verjährter Sünden gab es Umarmungen; es rauschten wortlose, unbeschreibliche Nächte vorbei.

Aber auch er erwachte aus diesen Nächten nicht mehr strahlend wie einst und herrlich verjüngt – beide entstiegen der Dunkelheit gealtert, verwüstet, entgöttert.

Aus einer dieser Nächte wurde das Kind. Sie wußten nie, aus welcher.

Sie dachten lange nicht daran, daß es möglich sein könne, aber dann kam eine Zeit, da sie einstimmig lachten, wenn sie davon sprachen, aber allein gelassen, Gelübde ablegten für den Fall, daß das Unglück doch nicht einträfe. Es war mehr als Unglück, es erschien ihm als völlige Vernichtung seines Lebens, als Erstickung jeder besseren Zukunft. Was aber hatte Esther außer ihm? Sie wollte ihn, aber kein Kind.

Sie war reifer geworden, denn sie fürchtete nichts mehr. Anderen Männern, wie dem Freunde Edgars, dem Bankier, trat sie mit damenhafter Sicherheit entgegen, es war ihr trauriger Triumph, daß niemand von ihrer Verbindung mit Edgar wußte. Sie spielte mit den anderen, und so tränenselig sie vorher bei Edgar sein konnte, so konnte sie doch nachher in großer Gesellschaft verführerisch lächelnd am Klavier stehen, blond und licht über den dunkeln Spiegel des Instruments gebeugt, sehr schlank in der zarten Linie ihrer an den Flügel geschmiegten schmalen Hüften. Oft sprach man von Liebe und Ehe, und sie erzählte mit mädchenhafter Schwärmerei von einem edlen Jugendgeliebten, der nun in Afrika oder sonst am Ende der Welt als Elefantenjäger lebte.

4

Edgar konnte nicht jeden Tag mit der ungeliebten Geliebten zusammensein, aber auch Einsamkeit ertrug er nicht, sie machte ihn irr, fast wahnsinnig, jagte ihn in ewige Flucht durch die ewige Verfolgung des eigenen Ich. Er fieberte in Furcht vor dem Wahnsinn wie in der Zeit vor Esther. Er konnte nicht ohne Berufskollegen, Freunde, nicht ohne Bücher, Zeitungen leben. Mußte er einmal eine Stunde allein sein, dann las er, rechnete, schrieb, blieb lange über die Arbeitszeit hinaus in dem ganz verlassenen Laboratorium, zündete die Gashähne der Bunsenbrenner an, stellte sie wieder klein, eine nutzlose Beschäftigung, endlich warf er sich auf ein Sofa im Chefzimmer, zog den Rock über das Gesicht, tat sich Gewalt an, langsam zu atmen, nichts zu sehen, noch zu denken, nur um sich vor der großen Angst, dem idiotischen Verhängnis zu schützen, das vielleicht an unrechter Stelle Feuer gefangen hatte. Gebrochen, zermalmt kam er abends zu Esther, die in seiner Wohnung auf ihn gewartet hatte. Auch da war es unerträglich. Sie hatte, abstoßend rührend und unerträglich sanft wie immer, mit dem Abendbrot gezögert, nun trieb er sie hungrig zu einem Spaziergang, rannte sich und sie müde, schleppte sie durch unbekannte Gassen, durch Fabrikviertel, über Schutt- und Schlackenhaufen, endlose Straßenbahngleise entlang. Er sprach nun, redete hemmungslos ins Unmögliche, übertäubte alles, und war er endlich nach Mitternacht daheim, da war er müde genug, um sie zu küssen.

In einem befreiten Aufatmen gestanden sie einander ihre Sorgen, und als sie lange genug einander eingeredet hatten, daß »es« unmöglich sei, begannen sie Pläne zu schmieden. Jetzt, da sie neben ihm lag und er ihr mattes Haar im Licht der Laterne draußen schimmern sah, da seine Finger sich um ihre nackten, wie Pfirsiche flaumig-festen Knie spannten, jetzt lebte sie in ihm, unverlierbar.

Er mußte fort, die Stadt und der kleine Wirkungskreis beengten ihn, jetzt hatte er eine brutale Arbeitslust, er mußte Freiheit haben. Er sprach nicht für sich, sondern doch für beide? Es war das beste, das einzige für sie, es handelte sich nur um Monate, um wenige Jahre, um seine tragenden Ideen, die Ideen waren einfach, das Geld lag auf der Straße, auch der Bankier glaubte daran, aber hier konnte er sie nicht zu Ende bringen. Vor allem mußte doch für sie gesorgt werden, er wollte viel Geld verdienen, »Brüsseler Spitzen handbreit um das da«, flüsterte er, während er mit falscher Schmeichelei ihr nacktes, edles Knie umfaßte.

Nach einem langen Schweigen sagte er leise, wenn sie beide alt geworden wären, dann könnten sie ein kleines Haus im Vorort anschaffen, ein Auto für zwei Personen kaufen und einander heiraten.

Für alles gab es einen Ausweg, einen guten Trost, nur diese unheimliche Möglichkeit mußte fort, dieses Gespenst einer Familie, einer Kinderschar bei einem jährlichen Einkommen von 3800 für alles. Dieses Gespenst erst mußte fort, alles stand ja gut, morgen konnte man in Sicherheit sein, auch sie, die vielumsorgte Esther, morgen oder spätestens in einer Woche.

5

Aber es kam nie zum Aufatmen. Von neuem gab es Kämpfe, hartnäckigen Widerstand gegen das ungeborene Kind. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, die klare Vernunft, der höhere Sinn des Lebens wurden dagegen zu Hilfe gerufen. Sah die Geliebte gut aus, dann sprach ja ihre rosige Haut dagegen, hatte sie ein verfallenes Gesicht, dann war sie eben krank, und diese Krankheit täuschte das Kind vor, das nicht da war, weil es nicht da sein durfte.

Aber es war doch da. Er schickte sie endlich zum Arzt, nur zur Beruhigung, um seine Sorgen loszuwerden. Sie kam sehr bald zurück, setzte sich still und ruhig zu ihm, so ruhig, daß er aufatmete. Waren sie befreit? Nein. Es war da. Es gab keinen Zweifel mehr.

Und warum weinte sie nicht?

Sie weinte. Er hatte ihre Tränen nur nicht bemerkt. Seitdem sich ihre Liebe so sonderbar geändert hatte, hatte Edgar verlernt, sie zu trösten. Nur er konnte es, sagte sie. Einmal war sie beinahe von einem Auto überfahren worden, der Schofför hatte sie nachher noch gemein beschimpft. In zerrissenen, mit Straßenkot getränkten Kleidern war Esther zu ihm gekommen, ihr krampfhaftes Weinen war jammervoll. Er hatte sie wie ein Kind getröstet, nach zehn Minuten hatte sie gelacht und hatte in seinen Armen vor Lust sich gekrümmt, während ihre Kleider am Ofen über einem Lehnstuhl trockneten.

Auch jetzt tröstete er sie. Aber sie war still. Seit langem hatte sie es gefühlt; daß es kommen mußte, hatte sie gewußt seit der ersten Nacht, vor so langer Zeit. Aber sie hatte sich nie nur mit Angstsorgen an dieses es in Gedanken geklammert, vielleicht hatte sie es immer gewollt, es allein. Aber Edgars Unglück war nicht zu ermessen? War es so schwer?

Sie liebte ihn jetzt mit einer so sublimen, außerirdischen Liebe, über alles Maß, ganz ohne Grund. Denn wenn Gründe gegolten hätten, wie hätten sich die Verstummten jetzt in die Augen sehen können?

Draußen regnete es nach einem Gewitter. Es war ein später Apriltag, ungewöhnlich warm. Als sie auf die Straße kamen, hörte der Regen auf. Sie gingen in den Park. Langsam hoben sich die Blätter in der abendlichen Sonne, befreit von der Feuchtigkeit. Goldbraune Regenwürmer schlängelten sich über ockerfarbigen Sand, die zart gestrichelten Glieder schienen sich neu aus dem Innern der Würmer zu gebären. Die Vögel sangen, am Abhang sah man einen Knaben einen weißen Reifen vor sich hertreiben, Liebespaare schmiegten sich aneinander seitwärts in tiefen Schatten. Von überall kamen die Regenwürmer hervor, schwer war es, sie nicht zu zertreten. Während der Mann sein ganzes Wollen dazu zwang, die goldenen Windungen der schädellosen Tiere zu schonen, fühlte er mit Entsetzen, daß etwas ebenso Wortloses, ebenso Lebendiges im Schoße seiner Esther lebe und nicht zertreten sein dürfe. Er wollte es also zertreten? Was wollte er? Konnte er nicht ertragen, dieses gegen seinen Willen Lebende lebend zu wissen? Er sprach nichts. Sie sah ihn von der Seite an, nicht anders als sonst, sie lehnte an seinem Arm mit der gleichen unerträglich sanften Wärme wie immer.

Er führte sie zur Vorortbahn; noch war es Zeit, ins Freie hinauszukommen, bevor es dunkel wurde. In schwebendem Entzücken hatte er sonst die rußbeschwerte Luft in der Nähe der Lokomotive eingeatmet. Wie wundervoll waren die schwarzen Berge, an den Konturen leicht gezähnt, wie herrlich Anfang Mai die weißen Blütenbäume zur Nacht, die Wirtshäuser mit Blechmusik am Sonntagnachmittag, die Wege, wie Wurzeln sich krümmend, in die Taler niedergleitend zwischen hohen Wiesen und Erlengebüschen, auf den Baumschlägen die duftenden Erdbeeren in der Sonne, dann die mit Nadelholz bestandenen, weglosen und endlosen, leise rauschenden Waldgründe, in Sommerfeuchtigkeit gehüllt, lichte Blumen, gestützt auf leichte Moose. In allem hatte er sich wiedergefunden. Daß anderes lebte, machte auch ihn aufs tiefste leben.

Alles war jung, blühend, glücklich gewesen um ihn, den Glücklichen. Bis auf den heutigen Tag. Nun war das Abteil des Zuges wie ein Krankenzimmer. Alles war erfüllt von Berechnung, von Enge, von ewigem Absorgen. Endlich waren sie im Freien. Aber noch nicht frei genug. Er fragte sie, ob sie »in ihrem Zustand« gehen könne, ob ihr die Feuchtigkeit nicht schade, mußten sie langsam gehen, oder noch nicht?

Die Lichter des Ortes waren hinter schwankenden Zweigen verborgen. Ein Vogel schrie, pickte auf dem schon trocken gewordenen Waldboden hin und her, Bäume traten über einem kleinen Weg zusammen, die Kronen verschlangen sich ineinander, der Himmel verschwand. Weit vorn, jenseits der Lichtung, führte die Landstraße weiter, ein Wagen knarrte, wie Honig schimmerte das Licht der Laterne.

Sie hatten von der Schweiz gesprochen; wenn er angesichts der sicheren Sorgen auf alle großen Pläne verzichtete, gab es dort für beide eine Existenz. Er machte sich klein, er war im Augenblick der Mitleidwürdige, er wollte verzichten für sich, wenn es dann für seine Esther und für sein Kind reichte. Er stellte jetzt eine Bilanz auf, rechnete Ziffern zusammen auf seiner bloßen Hand. Gut; zwar ein ganzes Leben voll von Geldsorgen, zwar eine elende Existenz, auch für das Kind, aber es mußte ja sein? Kinder proletarischer Eltern, für die nicht vorgesorgt war (und nicht einmal Wäsche war vorbereitet für Esthers Kind), hatten keine starken Lebensaussichten, aber ein Zufall konnte es doch am Leben erhalten? An einer formalen Ehe würde »es« nicht scheitern. Er würde sich nicht versagen, in keinem Falle. Sie hätte die Wahl, sei ganz frei. Sie ließ ihn reden, atmete schnell, sagte nichts.

Seit den letzten drei Stunden sah er ihr die Schwangerschaft an. Zusammengeklumpt war ihr sonst so zartes Gesicht, schwer ihr Gang, nichts mehr von dem Mädchen Esther, dem knabenschlanken.

Frühere Tage! Einst verlebte Herbststunden, so durchsichtig in starken Farben; Wintertage, klar belebt, fast schwarz der Himmel in seiner tiefsten Bläue! Erwachendes Frühjahr, die Zweige geschwellt, warme Luft und warme Blätter, Esther voraus am Wege im Wald, von überall her ihr zwitscherndes Lachen, von überall her die Ueberraschung ihrer herrlichen Jugend, immer auf der Flucht, bis sie plötzlich neben ihm aufrauschte, lautlos aufschwellend neben ihn sich drängte, scheu und wollüstig zugleich.

Heute, am 12. Mai, im vierten Jahre seiner Gemeinschaft war Esther das Unentrinnbare. Gegen seinen Willen zerrte ihn das unsinnige Verhängnis zu der alten Geliebten. Er mochte sich wie immer seine Zukunft vorstellen, irgendwo kroch doch dieses Kind umher. Er sah es vor sich, drei Jahre alt, schlecht gepflegt, ein halbes Tier, ohne Sprache, zudringlich, drohend, es zwang ihn, es zu hassen, wie es sich erzwungen hatte, auf der Welt zu sein. Aber die anderen, Esther und dieses Kind, wie fühlte er, daß diese beiden einander lieben würden ohne ihn! Jetzt entschloß er sich. Er zerstörte dieses Kind in seinen Gedanken, dann erst konnte es in Esthers Gedanken zerstört werden, und am Ende in Wirklichkeit.

6

Edgar ging schnell, er lief. Esther begriff noch nicht, sie eilte ihm nach. Er rannte dahin, sprang über Wurzeln, die hoch bogenförmig sich spannten über kaum sichtbaren Saumpfaden. Winterlich nackte, derbe Gebüsche trat er herab. Sie folgte ihm schweigend, ihr Atem jagte, ihr Herz schlug.

Noch waren die Bäume feucht vom Regen, die Erde schwer am Fuße der hohen Bäume, wo im Schatten kein Gras wuchs. Er lief weiter, es mußten jetzt beide dahinstürmen, Hand in Hand, er hielt die Zweige von ihren Augen ab, aber dann riß er sie wieder hoch, vor dem Abhang in der Dämmerung, vor der Tiefe, dem stumm strömenden Fluß.

Jetzt hatte sie wieder das alte Gesicht, wollüstig und scheu, Esther; aber das Kind lebte noch, es würgte ihn wie ein Haar, tief in seiner Kehle. Aber beide, die Eltern, gemeinsam rasten sie in hingewölbtem Schwung. Das erste Grün weiter Wiesen, unter den Füßen ein sinkender Hang, rollend im Geröll, ein fliehender Mond mitten in der Nacht unter spiraligen Wolken, kalter Wind über der nächtlichen Waldblöße, über der versteinerten Ebene, jenseits des Flusses: von einem einzigen Trieb getrieben, schleuderten sie hin auf den Boden: Brust an Brust, Fleisch an Fleisch, und in einer verzweifelten Umarmung umarmten sie ihre ganze Liebe noch einmal.

Jetzt war Esther das Wesen ohne Wissen, die allem Bekannten Unbekannte, ein nackter Schoß, eine nackte Seele.

Sie schämte sich, ihn nachher anzusehen. Von dem Kinde sprachen sie nicht mehr. Sie zitterte in Schmerzen, war elend. Ohne Mitleid grub der Geliebte seinen Blick in ihr Gesicht. Stumm antwortete sie ihm mit einem einzigen Blick. In Esthers Gedanken war »es« zerstört.

7

Sie kam an dem nächsten Tage in ein Privathaus. Sie gab einen fremden Namen an. Er durfte ihr nicht schreiben, aber sie durfte ihm Nachricht geben. Sie sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, das war Hohn und Zärtlichkeit zugleich. Er ließ sie dort. Lange ging er unter den Fenstern hin und her. Hunde bellten, Kinder lachten, eine Maschine, vielleicht in einer Druckerei, bewegte sich stöhnend. Ein sehr schönes, sehr junges Mädchen ging vorbei, so leichte zarte Hüften, so seine Knöchel in glimmernden Seidenstrümpfen. Zum erstenmal ergriff Edgar echter Schmerz um die Geliebte, er wußte, über diesen Tag konnten sie weiterleben, aber nie mehr so wie bis jetzt. Eine Esther war auf ewig verloren, wenn auch eine Esther wiederkam.

Am nächsten Tage hatte er nur Angst vor dem »notwendigen Eingriff« und Angst, daß Esther im letzten Augenblick Angst bekäme und das Angeborene zu retten versuchte. Fremde Augen, robuste Hände, brutale Worte, ihre, der armen Esther kranke Nacktheit – das alles fühlte er als seine eigene Schande.

Am dritten Tage dachte er nur an ihren Tod. Tausendmal war solches geschehen, die blühendsten Menschen hatte es so hinweggerafft, warum sollte es nicht sie hinwegraffen, die er liebte? Er liebte sie? Alles, das fühlte er jetzt tief erschüttert, tat sie seinetwegen, unauslöschlich war seine Schuld.

Was lag ihm jetzt an der Freiheit, an dem ersehnten Alleinsein, an dem Beginn eines neuen Lebens? Er konnte sich nicht betäuben, Wein wirkte nicht gegen Wirklichkeit, eine andere Frau liebte er nicht, die Welt war zu klein für eine Flucht. Sie sprechen, ihr schreiben? Esther lag vielleicht schon in dieser Minute auf dem schmutzigen Seziertisch eines Vorstadtlazaretts. Eine Leiche lag unter der knochigen Hand eines betrunkenen Sezierdieners, der ihren zerstörten Leib mit grobem Bindfaden zusammennähte. Aber nicht erst der Tod, schon er, Edgar, hatte diesen Körper aufgerissen, ihn mit einem Nichts an Lust gefüllt und mit einem Berg von Schmerz. In ihren Fenstern war es dunkel.

Gebrochen von Ekel und Wut und Trauer kam er nach Hause.

Schlaflos saß er die ganze Nacht, in leerer Dumpfheit, mit der Hand ohne Aufhören ein Stück Kerze knetend, bis es, klebrig und grau geworden, an seinen Fingern hing. Am Morgen ging er zu ihr.

8

Esther, in verdunkeltem Zimmer, riß ohne Worte seine Hand zwischen ihre Schulter und den seitwärts herabgedrückten Kopf.

»Vorbei?«

»Nein. Laß es mir, laß es!«

»Habe ich dich je zu etwas gezwungen?«

» – «

»Ein Tier, eine wilde Bestie läßt man austragen. Wer läßt die Mutter leben, das Muttertier, und vertilgt das Kind?«

»Habe ich dich hergebracht? Wer kann dich zwingen?«

»Nein, nicht so! Du willst mich nicht, das verstehe ich so gut. Was war ich als Geliebte? Als Mutter werde ich leben!«

»Leben, wovon? Du und dein Kind, und ich, der Letzte, aber doch auch ein Mensch?«

»Ich werde arbeiten.«

»Du hast doch bis jetzt gearbeitet, und doch muß ich es bezahlen, wenn du hier zu Bett liegst. Es reicht nicht. Ist das gemein? Es ist so.«

»Ich liege nicht zum Vergnügen da. Ich erwarte ihn.«

»Wen?«

»Der es schlachten soll!«

»Schlachten! Worte! Kleide dich an, komm fort. Wie du willst.«

»Nicht so. Nicht so! Edgar! Ist es nicht von dir? Ich habe dich doch geliebt! Kannst du es nicht fassen, ich bin nicht mehr, was du bis jetzt bei dir gehabt hast, in mir ist jetzt etwas anderes,« sie nahm seine Hand und führte sie an ihre schwere Brust, die von Feuchtigkeit triefte wie ein Baum im Mittagsgewitter, »das fließt aus mir, seit der Hetzjagd im Wald, seit diesem Abend.«

»Ich liebe dich, Esther, wie immer.«

»Meine Brust ist Mutter, ich soll es nicht sein?«

»Wer besteht darauf, ich bin der Letzte ...«

»Der Letzte! Der Letzte!« Sie drückte auf einen Klingelknopf. Ein stämmiges, dickes kleines Weib, wie ein Insekt lackartig glänzend in spiegelnder Wachstuchschürze bis zu den Fersen, erschien: »Gnädige Frau?«

»Kann der Arzt kommen? Kann er augenblicklich kommen?«

»Wir werden telephonieren«, sie verschwand.

»Ich gehe«, sagte Edgar.

»Nein! Soll es vertilgt werden, dann unter deinen Augen!«

»Esther!«

»Nun?«

»Wie soll ich dir danken?«

Knirschend hervorgerollt: »Edgar!«

Das Weib: »Der Arzt wird sofort kommen, zur Untersuchung.«

Edgar: »Untersuchung?«

»Oh, keine Angst. Dein Wille geschieht, es wird ernst, Liebling!« Zu dem Weib: »Kann ich meine Kleider anbehalten, muß ich nackt sein?«

»Aber Gnädigste, wie Sie wollen! Es ist höchstens, daß etwas schmutzig wird.«

»Dann kleide ich mich an.«

»Aber, Gnädigste, der Herr hier ...«

»Mein Bruder.«

Der Arzt: »Wir wollen also gleich uns umsehen. Aber hier, der Herr?«

»Der Bruder der Dame.«

»So, also der Bruder der Dame. Sie können, verehrte Gnädige, das Tuch ohne Besorgnis vom Gesicht nehmen. Ich bin Arzt, sollten wir uns in der Gesellschaft treffen, sind Sie mir fremd, ich Ihnen... selbstverständlich ... Unser Eid übrigens. Welche Bagatelle! Lediglich eine Untersuchung, sonst nichts! Schmerzlos.«

Esther, ein Tuch um den Kopf, ihr Gesicht zu verbergen, wankte an Edgars Hand aus dem dunklen Zimmer. Nässe ergoß sich fast schwarz auf leicht vergilbte Spitzen. Halbblind erturnte sie den hohen Operationstisch. Sie sagte nichts, seufzte nicht. Ihre Hose, mit handbreiter Stickerei über den Knien, das edel geschwungene Fleisch ihrer Schenkel, alles schimmerte goldgelb, elektrisch umgleißt vom blendenden Scheinwerfer über dem Operationstisch. Sie stieß Edgars Hand von sich, er schlich in den Winkel. Metall klirrte, Wasser rauschte.

»Also? Es ist vorbei, meine Dame! Die Untersuchung hat nichts – Bedrohliches ergeben. Sollten aber doch, was nicht vorauszusehen und nicht beabsichtigt, gewisse Blutungen einsetzen, so bitte mich zu verständigen, auch zur Nacht! Sie! Sie,« er stieß Edgar an, »helfen Sie, machen Sie mit, tragen Sie mit mir Ihre Schwester in ihr Zimmer zurück!«

»Lassen Sie ihn!« Unter einem Schwall von Tränen schleuderte sie das Tuch, das ihr Gesicht verbarg, zur Erde, und gebückt wie ein Tier, schwer schleifte sie durch das helle Zimmer in ihren Raum, wo im Dunkel Hitze brütete.

9

Am nächsten Tage rief Edgar seine Geliebte an, es meldete sich die »Wirtin«, sie sagte, alles gehe gut, nach zwei Tagen hieß es, die Dame sei bereits auf dem Wege der Besserung, immer wurde Esther an den Apparat gerufen, sie kam aber nie. Er schrieb ihr. Seine Vermögensverhältnisse hatten sich durch das Steigen der Papiere gebessert, er wollte Esther eine unvergleichlich schönere Existenz verschaffen, sie sollte in den Beruf nicht mehr zurück.

Er war erschüttert, besänftigt durch ihre Tat. Daß es nicht mehr lebte, gab ihm ein neues Dasein; er fühlte eine neue Jugend, eine neue Kraft, da sein Wille sich durchgesetzt hatte und Esthers Liebe zu ihm die Natur überwunden hatte. Aber sehr lange sah er sie nicht und erfuhr nichts von ihr als das eine, daß sie lebte. Dann schrieb sie auf einer bunten Karte mit unleserlichem Poststempel: »Bitte mir jetzt nicht zu schreiben.« Drei Tage nachher las er in der Zeitung, daß sie sich mit dem Bankier Anschütz, seinem Freund, verlobt hatte. Schon sechs Wochen nachher fand die Trauung statt, ohne Fest, nur in Gegenwart der Trauzeugen.

Edgar verreiste. Seine Aktien waren inzwischen von 700 auf 825 gestiegen. Kaum war er zurück, wurde er telephonisch angerufen, der Bankier meldete sich. Edgar sprach seine Glückwünsche aus. Aber nicht darum handelte es sich, die Papiere wankten, etwas lag in der Luft, sehr sicher war nichts. Sollte man verkaufen? fragte Edgar. Der Bankier antwortete nicht, die Verbindung wurde wie durch Zufall unterbrochen. Edgar, der seine Ruhe und sein Kapital für eine Erfindung, einen neuen Farbstoff, brauchte, rief nochmals an, Anschütz antwortete etwas ungeduldig, er könne seinen Rat nicht mehr wie bisher »ein Freund dem Freunde« geben, die Verantwortung sei zu groß. Schließlich riet er Edgar, entweder augenblicklich, wenn auch bereits mit Verlust, loszuschlagen oder noch zu warten, er selbst scheide aus. Edgar fühlte erst beim letzten Wort am Telephon, daß er einen Freund verloren hatte.

Nun lebte er wieder, wie in der Zeit vor Esther, als forschender Chemiker bloß für seine Arbeit in seinem Laboratorium. Er hatte mit Unterstützung eines jüngeren Kollegen eine Erfindung gemacht, ein nie dagewesenes Rot, eine wundervolle Farbe, sie sollte säureecht sein, unzerstörbar.

Nach Wochen meldete sich der Bankier wieder, er rief nachts an. Am Telephon hörte man Summen, Musik, wie auf einen Gummifaden gespannt. Es sei Gesellschaft bei ihm, sagte er, dennoch riefe er an. Die Papiere zeigten Tendenz nach abwärts, sollte man abstoßen? Er entschuldigte sich mit keinem Worte, daß er den früheren Freund nicht zu sich einlade, ihm nur im Vorübergehen am Telephon seine Entschlüsse abzwinge. Verantwortung übernehme er nicht, rate aber doch, unverbindlich, rein privat, zu warten; die Deckung, für die er seit zehn Jahren aus eigenem gebürgt, müsse freilich erhöht werden. Wie? Vielleicht durch einen Vorschuß auf das Gehalt Edgars als Chemiker, denn auch die Fabrik, in der Edgar arbeitete, gehörte seit kurzem dem Konzern Anschütz.

Drei Tage nachher war alles verloren, die Aktien standen so tief, daß Edgar dem Bankier einen Betrag schuldete, der nie abzuzahlen war. Aber Esther, zum erstenmal Esthers Stimme am Telephon, sagte, er solle sich keine Sorgen machen. Seine Stellung in der Fabrik, fast leitend, bliebe ihm sicher. Aber Edgars Stellung in der Fabrik, »fast leitend« war unhaltbar, denn sein Kollege, der um acht Jahre jüngere Mitarbeiter, wurde Chefchemiker, stand jetzt mit Befehlsgewalt über Edgar. Die Erfindung, bei dem verpfändeten Gehalt die einzige Rettung, war beiden Chemikern bekannt. Trat Edgar aus, blieb dem Jüngeren alles. Mit ihm zusammenzuarbeiten war trotz der Demütigung, die der alternde Edgar auf sich nehmen wollte, unmöglich. Der Werkdirektor der Fabrik war machtlos. Anschütz war der Herr. Anschütz hatte es so verfügt. Die Erfindung, das neue Rot, wurde von Anschütz dem Assistenten ausschließlich zuerkannt. Edgar hätte doch nichts dabei getan, als die schmutzigen Probiergläser ausgewaschen und sich unaufhörlich die farbigen Hände mit Bimsstein gereinigt. Das war Lüge? Dann sollte doch Edgar »gelegentlich« zu Anschütz kommen und freundschaftlich alles aufklären. Edgar ging. Aber Anschütz war stets unerreichbar, ließ ihn warten, in einem ungeheizten Zimmer niedersitzen, nebenan war Anschütz zu hören, wie er lachte, mit Esther sich lange unterhielt, seine Schritte schienen oft nahe der Tür, seine Hände drückten schon an die Klinke, Edgar erhob sich, aber niemand kam, es wurde wieder still. Edgar nahm sich zusammen, er trat ein, fand Esther allein. Sie war schön, sehr elegant, mit Schmuck behängt, sehr verjüngt, ein junges Mädchen, ein glücklicher Mensch.

»Was willst du? Deine Stelle ist vergeben, nicht einem besseren, du bist der beste, nicht? Einfach einem anderen. Warum hast du so lange gewartet? Ich habe meine Absichten mit dir. Das soll heißen, die Stadt ist zu klein für dich und mich. Die Welt ist groß. Man wird dich entschädigen. Du erhältst Nachricht. Kommen? Nein, man schreibt dir.«

Nach kurzer Zeit erhielt Edgar ein Angebot. Er reiste in den Ort, woher es kam. Der frühere Chemiker war an Lungenblutungen erkrankt, er lag in elendem Zustande in einem verlotterten Hotelzimmer. Die Tätigkeit in einem Betriebsraum voller dichter Salzsäuredämpfe bei unvollkommener Ventilation verätzte jede Lunge; auch sein Vorgänger sei erkrankt, niemand könne sich auf die Dauer schützen und retten, sagte man ihm, das war die Wahrheit, die Erklärung für das hohe Gehalt. Man warnte ihn, die fremden Kollegen meinten es gut.

Edgar kehrte zu Esther zurück.

»Lieber, das ist schade,« sagte sie, immer lächelnd, »wozu es leugnen, ich will dich nicht hier.«

»Man wird mich nicht sehen.«

»Aber, Edgar, wozu die Demütigung, vor ihm, meinem Mann. Du!«

»Denke doch, du zwingst mich zum Selbstmord, erinnere dich...«

»Erinnern? Liebe ich dich nicht? Aber wir sprechen jetzt von Geschäften. Warum hast du deine Papiere nicht behalten, du wärest Millionär. Wozu es leugnen, es machte mir Spaß, und für ihn, meinen Mann, war es ein gutes Geschäft. Mein Rat ist gut: Gehe ruhig in die Fabrik, arbeite, denke an deinen Vorteil, die neue Farbe gelingt dir, dann bist du dein eigener Herr. Das war doch stets dein Wunsch. Aber beeile dich, auch die Stelle dort könnte besetzt sein.«

Edgar reiste hin, arbeitete den ganzen Winter dort, schlief in dem Zimmer des erkrankten Vorgängers in dem verlotterten Hotel. Die Zeit war fürchterlich, er hatte übermenschlich viel Arbeit für die Fabrik. Dazu reichte kaum der Tag, die Nacht brauchte er für sein Rot.

In einer Märznacht schlief er einen bleiernen Schlaf, auf die Glasplatte des Tisches im Laboratorium gesunken. Er träumte, er schwämme durch das Meer, im Munde alle salzige Bitternis des Meerwassers, und Esther, über den Bord eines Schiffes gelehnt, schütte von oben neue Bitternis in seinen Schlund. Er erwachte. Er sah die Glasplatte an. Sie war naß. Es war Blut.

Er reiste zurück, zu dem einzigen Menschen, den er kannte, zu Esther: »Blut? Einfache Lungenblutungen. Tuberkulose ist es nicht.«

»Du bist gut unterrichtet.«

»Ich denke viel an dich, weil ich dich liebe. Du bist grau geworden. Mußt du das?«

Sie fuhr mit ihrer Hand in den Schlitz seines Hemdes, befühlte, wie aus Liebe, Edgars Brust, sein hart pochendes Herz, seine Haut, die in krankhaftem Schweiß schwamm.

»Ich will dir etwas sagen, aber nicht hier. Ich will dir etwas vorschlagen, nur ein Geschäft, aber nicht hier, willst du?«

»Komm zu mir!«

»Kommen? Wohin?«

»Hast du vergessen, wo ich wohnte? Esther, hast du vergessen ...?«

»Habe ich vergessen?« sagte sie, und ein fürchterliches Lächeln ging um ihren Mund.

10

Am nächsten Abend sagte Esther zu Edgar: Was ich von dir will? Ein einfaches Geschäft. Ich bin zwei Jahre verheiratet, mein Mann ist jung, ist stark, jünger, stärker als du. Du siehst leider kränklich aus. Aber wir zwei, du und ich kennen uns. Ich bin nicht mehr fruchtbar. Steh jetzt nicht auf, rühre dich nicht, du wirst deine Kräfte noch brauchen, heute nacht, das ist mein Geschäft.

Du bist in Geldsorgen, so kann dir nur durch Geld geholfen werden. Dieses Geld erhältst du, wenn du mir meinen Willen tust und dann verschwindest. Das wird auch deine Absicht sein, denn zu sagen haben wir uns sonst nichts. Nimm mich, aber nimm mich nicht als die Esther, die du gehabt hast. Jetzt will ich nur eins: Kinder haben. Nachts wälze ich mich über ihn, meinen Mann, aber er ist eine unfruchtbare Quelle, wer konnte das vorher wissen? Aber jetzt genug Worte. Ist es dir heute recht? Kann ich angezogen bleiben, soll ich nackt sein? mir ist es gleich.«

Er tat es aus Not. Ohne Worte, wie sie es verlangte, umschlang er die gewesene Geliebte in einer kalten Umarmung.

»Liebe ich dich noch?« sagte sie, »zürne ich dir? Du hast mich zum Menschen gemacht, du hast mich zum Tier gemacht. Es gibt soviel andere Männer, gesündere, schönere, bessere. Für mich nicht. Und du,« sie schrieb dem gewesenen Geliebten wie mit steinernem Finger eine tiefe Linie von der Halsgrube über das Brustbein den Leib hinab, »jetzt, da du leidest, bist du Mann. Deine Lunge wund? Warum liegt deine Wunde nicht außen? Dein Mädi würde dich heilen.« Sie breitete sich über ihn, lauwarme Feuchtigkeit streifte, wie die regengetränkten Zweige einer Weide seine hingestreckte, schweigende Gestalt, ihre sehr langen, schön geschwungenen Augenwimpern, tränenumflossen, liebkosten sein vereistes Herz mit ungeahnten Liebkosungen.

Er fühlte: Hätte ich doch ein Stück Eisen, rostig, mit Widerhaken, damit ich es in sie bohren könnte!

Er sagte: »Wo kann ich mein Geld erwarten, wann?«

»Morgen, erwarte mich etwas früher.«

Am nächsten Tage war sie schon um fünf Uhr da, sie verdunkelte das Zimmer, entkleidete sich, erwartete ihn. War er roh, freute sie sich. Geld brachte sie nicht.

Am dritten Tage sagte er: »Es ist genug, ich will nicht mehr.«

»Was habe ich dir getan, Edgar?«

»Was noch? Du weißt alles. Mein Vermögen ...«

»Mein Kind ...«

»Meine Stellung, meine Zukunft, die Erfindung.«

»Ach, belanglos.«

Die Erregung zog tiefe Furchen in sein verstörtes Gesicht. Er grub sich mit seinen von der Färberarbeit zinnoberrot gebeizten Fingern (er arbeitete von neuem), Gruben zwischen Stirn und Mund: »Meine Gesundheit, mein Leben?«

»Also schön. Es ist heute zum letztenmal, der Abschiedstag. Wobei soll ich schwören?«

Aber auch am nächsten Tage brachte sie nur Zärtlichkeiten, Geld nicht. Er ergriff die im Zimmer lüstern Umhertaumelnde an den Fußknöcheln, stürzte sie von unten krachend auf den Erdboden. »Hast du kein Erbarmen? Was bin ich dir? Noch bin ich nicht wehrlos. Für mich habe ich nichts mehr zu hoffen. Endlich sehe ich das Muß. Aber du sollst nicht reine Freude haben.« Er fuhr mit beiden Händen unter ihr in Spitzen knisterndes Beinkleid, mit den Händen es ausweitend, zerfetzte er es, mit den Nägeln riß er Stücke heraus und ballte sie in einen Knäuel in seiner Faust. Sie hielt ihm ihr weißes, schmales, mädchenhaftes Gesicht entgegen, Voll Hohn: »Wie willst du mir drohen?«

»Ein Wort an deinen Mann ...«

»Und wenn er es weiß? Wenn er mich hergeschickt hat zu dir? Aber es ist gleich. Es ist genug. Ich bin zu versöhnen. Ich bin es nicht, es ist meine Natur. Meine Natur will Befriedigung, ein Kind. Was ist Esther als Geliebte? Was bin ich als Gattin?« Sie breitete die zerrissenen Stücke Spitze auf ihren Fingern aus und blies mit lauem Atem hindurch. Nach einer Woche kam sie, aber sie verdunkelte das Zimmer nicht, warf sich ihm nicht hin.

»Es ist gut.«

»Und ...«

»Hast du es nur des Geldes wegen getan? Einerlei, morgen bringe ich dir das Geld. Um vier Uhr erwarte mich.«

Edgar verbrachte die Nacht schlaflos vor Haß.

Um vier Uhr übergab sie ihm einen Scheck, um viertel fünf erschien Anschütz, von Edgar durch ein anonymes Telegramm bestellt. »Bin ich zugrunde gegangen,« sagte Edgar zu Esther, während der Mann an der Tür pochte, »dann wenigstens nicht allein.«

»Warte ab«, sagte Esther. Sie trat Anschütz mit Unbefangenheit entgegen. » Unser gemeinsamer Freund, nicht?« sagte sie, wie sie vor Jahren zu dem dienenden Weib gesagt hatte: »Mein Bruder.« Anschütz ging scheinbar beruhigt mit Esther fort, Edgar wurde seiner Niedertracht nicht froh, das Geld wurde ihm nicht ausgezahlt, Esther hatte den Scheck gesperrt.

11

Edgar konnte ohne Geld die verhaßte Stadt nicht verlassen. Er bekam nach langem Suchen eine Stelle als Hilfschemiker in einem Unternehmen, wo man Kot, Urin, Auswurf chemisch untersuchte. Aber auch zu dieser Arbeit ließ man ihn nur widerwillig zu, da »bejahrte Kräfte« wie er als schwer behandelbar galten. Und dann, was konnte ein Mensch leisten, der es in Edgars Alter zu keiner Position gebracht hatte und sich in den Zeitungen anbot?

In der Mitte des Sommers traf Edgar Esther auf der Straße. »Du bist immer noch hier? Konntest nicht fort, mein armer Junge? Ich bin unschuldig. Anschütz hatte Verdacht, es durfte daher kein größerer Betrag auf geheimnisvolle Art ausgegeben werden, du verstehst.«

»Aber du hast doch den Scheck schon vorher gesperrt.«

»War es nicht das Richtige? Ich kannte dich.«

»Willst du mich jetzt gehen lassen?«

»Hast du keine Zeit für mich? Ich könnte dir manches erzählen. Komm mit mir ins Freie, in den Wald; dorthin, wo wir damals waren, erinnerst du dich?«

Während der Fahrt: »Wie lebst du? Du siehst nicht gut aus, bist du denn wirklich krank? Deine Erfindung? Dein tägliches Brot?«

»Ich untersuche, was die Menschen auswerfen, sie bringen Kot in kleinen Töpfen von Liebigs Fleischextrakt, eitrigen Speichel in Wassergläsern, die mit einem Taschentuch oben zugebunden sind, und anderes. Aber genug. Auch so kann man leben.« Sie stiegen an der gleichen Station aus, wie an dem späten Abend damals im Mai nach dem Gewitter, sie suchten die Gegend des stürmenden Laufes, die Waldblöße, den Winkel über dem Flusse, wo sie sich endlich, einer hinstürzend über den andern, in verzweifelter Umarmung berauscht hatten, aber sie fanden die Stelle nicht mehr.

»Wie sollten wir den Eingang zur Hölle finden, da wir doch mitten in ihr leben? Ich habe » es« noch nicht, bin noch nicht gerettet. Anschütz hat Verdacht, er berührt mich seit dem Abend bei dir nicht mehr, er lauert mir auf, spioniert mir nach, sieh her«, sie streifte den Aermel ihres spitzenumflossenen Kleides von der Schulter. Eine leicht verharschte Wunde wies sich. »Verstehst du das? Dieses Blut soll Anschütz täuschen, mein Kind vor ihm schützen, inzwischen,« sie rauschte auf der Erde zusammen, und schwere Wolken starken Parfüms erhoben sich zu Edgar, »inzwischen locke ich ihn Nacht für Nacht, womit man Menschen seiner Art lockt, bis es mir vielleicht doch gelingt. Ich fühle, wie es in mir aufgeht, ich habe etwas, das du nie gekannt hast, auch in meiner ersten Zeit nie. Ich fühle immer, wie es in mir lebt.«

Sie standen zwischen saftstrotzenden jungen Bäumen, zwischen wehenden Wänden ohne Dach, im Duft von kochendem Harz, im hoch flirrenden Mittag.

Alles an ihr starrte wie heißes Erz ihm entgegen. Ihre gewaltige Brust mit blauschwarzem Hof in der Mitte glühte. »Bist das nicht du, Edgar, jetzt erst du?«

Adern in verknäulten Strängen zogen von allen Seiten dieser Brust entgegen. Vor seinen Augen sah Edgar diese Brust sich wie eine Wolke senken, die Blüten sich abwärts, herzwärts neigen, einem Kinde entgegen, das geahnt war, in diesem Augenblick aufzusteigen aus dem geschwellten Leibe.

»Ich werde dich nicht vergessen. Bald muß es sich entscheiden. Wird das Kind gerettet, ich schwöre es dir, dann bist du es auch!« So kehrten sie in die Stadt zurück.

12

Nach vier Wochen stand abends Esther im Treppenhause vor Edgars Tür, dort hatte sie den ganzen Nachmittag gewartet. Sie hatte sich auf das Fensterbrett des nächsten Stockwerks gehockt, da sie in ihrem Zustande nicht lange stehen konnte. Endlich kam er. Statt der Worte zeigte Esther, die sonst so knabenschlanke, ihre wie Säulen angeschwollenen Beine. Stumm lächelte sie dem Geliebten von einst zu, sie griff ihm wie spielend in die Hosentasche, holte loses Geld heraus, ließ es klingen, fragte »Ist das alles?«, machte einen Zug in seine Brusttasche, entfaltete die gefundenen Banknoten wie Spielkarten zu einem Fächer in ihrer Hand, legte schließlich ihre Ohrgehänge hinzu, Ringe, eine kleine Uhr. »Das ist unser ganzes Vermögen. Ich kehre zu meinem Mann nicht mehr zurück. Für ihn spielte ich umsonst Komödie. ›Für mich‹, sagte er heute mittag, ›die Wunde an der Schulter? Wer könnte derartiges glauben, wenn dein Bauch den Leuten zum Gelächter dient, wenn deine Elefantenbeine jeden Strumpf zerreißen. Ich habe Liebe von dir nie verlangt,‹ sagte er, ›bloß Aufrichtigkeit. Du warst nicht schön, Esther‹, sagte er, ›bist mittellos, Edgars abgelegte Geliebte, ich liebte dich trotzdem, aber das da‹, und er faßt an meinen Leib, ›wessen Frucht? Mein Kind ist das nicht. Ich bin fünfzig, du bist um zwanzig Jahre jünger als ich, dein Kind ist um dreißig Jahre jünger als du, ihr würdet mich beerben. Würdet‹ sagt er. ›Nicht werdet. Mord könnte ich verstehen, Diebstahl aber nicht, dein Kind bestiehlt mich und meine Nachkommen, an denen du nicht hättest verzweifeln müssen‹. Dienstboten traten ein. ›Schweige jetzt‹, sagte ich. ›Nein‹, sagt er, ›es mögen alle davon wissen, nur so entgeht man dem Spott, ich lege keinen Wert mehr darauf, dich noch länger als Hausfrau hier zu sehen. Ich ging. Zu wem zurückkehren?

Nun sind wir eins, nicht mehr zwei, ich habe mich zugrunde gerichtet mit dir und auch mein Kind. Hätte ich dir deinen Sündenlohn gegeben, dann hätten wir alle drei das, was wir wollen. Ist das logisch und richtig? Was bist du, was hast du? Und vor allem eins: Läßt du es am Leben?«

Edgar ließ es leben. Er selbst kündigte, weil Esther es ihm riet, die Stellung am Untersuchungslaboratorium, denn sein früherer Assistent hatte die Erfindung jener Farbe nicht vollenden können, es bestand noch die Möglichkeit für ihn, die Sache zum Gelingen zu bringen. Esther verkaufte alles, was sie an Schmuck hatte, man schaffte dafür eine chemische Waage, einen Arbeitstisch, Platintiegel an. Eine große Anzahl von Flaschen kam, da schon die Ausdünstung von ganz unschuldigen Lösungen Edgars kranke Lunge reizte, in den Raum zwischen den Fenstern. Esther diente dem Chemiker wie eine Magd, so retteten sie durch zwei Sommermonate hindurch ein erbärmliches Dasein, die Arbeit ging ohne Glück vor sich.

Eines Nachts erwachte Edgar, Blut auf die von Esther frisch gewaschenen Kissen speiend. Esther, hochschwanger, im flackernden Kerzenlicht, riß ihm den Kopf aus dem Bereich der Kissen, tauchte ein Handtuch in Wasser, hielt es ihm unter den Mund. »Blut!« stammelte er.

»Nun, Blut! Mußt du die Kissen beschmutzen? Wir müssen darauf liegen, wer wird sie waschen?« Schluchzend: »Nun erst ist es verloren! Wo es gebären, für wen zuerst sorgen, wohin es legen? wenn er schon daliegt!« Sie faßte das Handtuch und preßte es aus, blutige Flüssigkeit tröpfelte zur Erde, mit ihren Tränen vereint; so verbrachte sie stöhnend die Nacht und ließ die Hand nicht von Edgars Stirn.

Am nächsten Morgen ging sie zu dem Weib, das sie in funkelnder Wachsschürze, glänzend wie ein Insekt, empfing, als wäre sie gestern erst von dort fortgegangen. Der Arzt, höflich, alltäglich zugewandt dem unerhörtesten Mord von Müttern an ihrer Mütterlichkeit, tat, was man von ihm erwartete, wofür man ihn mit dem letzten Gelde bezahlte. Das Kind wurde vernichtet. Sie kehrte zu Edgar zurück, pflegte ihn über ein Jahr, bis er sich wieder erheben konnte, um in das Untersuchungslaboratorium zurückzukehren, wo man ihn aus Mitleid wieder einstellte. Auch Esther verdiente wieder durch Arbeit ihr tägliches Brot.

13

Edgar und Esther lebten miteinander viele Jahre, nachdem sie einander geliebt hatten. Sie überlebten den Krieg, die Revolution und was nachher kam. Sie arbeiteten beide und verhungerten nicht. Sie wehrten sich nicht gegen Kindersegen, als sich ihre Einkünfte gehoben hatten, aber es kam nichts mehr. Sie wohnten am äußersten Ende der Stadt, liebten sich nicht und haßten sich nicht, der Spiegel in dem Glase Wasser zwischen ihnen bei den Mahlzeiten trübte sich nicht, rührte sich nie. Sie lebten ihre alternde Zeit, als wäre es Unsterblichkeit, sie erwarteten weder Gutes noch Böses. Er, der Irrsinn und menschenleere Einsamkeit gefürchtet hatte, war verflucht zu endlosem Alter, nie von Esther verlassen, und sie, die Mutter ohne Frucht, verdorrte, ein Strauch am Gestein.


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