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I

Vor zwanzig Jahren, als der Münchener Vorort Bogenhausen noch ein unberührtes Dörflein war, lebte da auf einem alten Herrensitz ein Doktor Alois Gietl, der zu den bekanntesten Persönlichkeiten der östlichen Vororte gehörte. Der alte Herr, ein hoher Siebziger und ausgesprochener Sonderling, verkehrte mit keinem Menschen und auch mit keinem seiner Herren Kollegen auf freundschaftlichem Fuße. Tagtäglich fuhr er in einem leichten, offenen Jagdwagen, vor dem zwei feurige Rappen schnaubten, in die Stadt, wo er seinen Liebhabereien als Sammler nachging. Neben dem Kutscher des Gefährtes, einem strammen Fuhrknecht, saß in himmelblauer Dienertracht aus verschossenem Tuch ein verhutzeltes Männchen, das eine Trompete in der Hand hielt und von Seit zu Seit eine helle Fanfare blies. Während die Rappen auf der Fahrt in die Stadt wie zwei gutgenährte Teufel einherstoben, gingen sie auf dem Heimweg stets im Schritt, und anstatt der feurigen Trompetenrufe bekamen die Bogenhausener das schöne Lied »Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus« oder den tiefsinnigen Kantus »O du lieber Augustin« zu hören. Über das Haus und die Sammlungen des alten Sonderlings liefen die merkwürdigsten Gerüchte um. Tatsache war, daß er allen erdenklichen Trödelkram, den er für billiges Geld erwischen konnte: Uhren, alte Raufdegen, Monstranzen, Meßgewänder, Kaffeetassen, Wandteppiche, Holzfiguren, Schuhschnallen, Globusse, Majoliken und was sonst ein unersättliches Sammlerherz erfreuen mag, wahllos zusammenkaufte. Doch kein Mensch konnte sich rühmen, die Schnurrpfeifereien und Schätze des Doktors mit Kenneraugen gesehen zu haben: wer an der Glocke neben dem verwitterten Parkgitter zog, wurde zunächst durch das Gebell zweier herzustürmender Ulmer Doggen, die wie wütend an den eisernen Torstäben in die Höhe fuhren und den Eindringling mit fletschenden Zähnen anstarrten, in Schrecken gesetzt. Für den Fall, daß es ihm gelang, dem langsam herbeischlurfenden Gärtner seine Berechtigung zum Eintritt klarzumachen, durfte er sich immer noch auf irgendeinen Schabernack gefaßt machen: entweder warfen ihn die mächtigen Hunde zu Boden, oder der Inhalt einer Wasserschale oder eines Mehlsäckchens stürzte auf den Besucher herab, wenn er an der Haustürglocke zog, die fern und feierlich in der Eintrittshalle des herrschaftlichen Wohnhauses anschlug. Diese Halle, wo jeden Tag ein anderes Modergerüchlein zu spüren war, mutete halb wie ein Museum, halb wie ein Trödlerladen an. Von der rußigen Decke hingen mächtige Adler mit ausgebreiteten Schwingen herab. Die Wände waren mit breiten, schadhaften Barockschränken verstellt, zwischen denen gemalte Bauernstühle eingezwängt standen, auf denen die merkwürdigsten Dinge, Puppen und Vogelscheuchen, Krippenfiguren und Billardkugeln, Kinderschuhe und Prunkschüsseln herumlagen. In dem geräumigen Treppenhause glänzte eine Ritterrüstung neben der andern; aber anstatt der Schwerter hielt jeder der Gewappneten irgendeine andere Merkwürdigkeit, einen Destillierkolben, einen ausgestopften Affen, ein geschnitztes Jesukind oder ein ausgeblasenes Straußenei in der Hand. Am Fuße der schiefgetretenen Stiegenhaustreppe, die sich einarmig, aber breit in die Höhe baute, saß ein Gerippe in vollem Wichs des Korps der Makaren auf einem alten dreibeinigen Prunkstuhl, dessen verschossener Purpursamt in Fetzen von dem braunen Holzwerk herunterhing. Der Besucher bekam indessen diese Herrlichkeiten nur im Flug zu schauen; denn er wurde eiligst in ein kleines nacktes Empfangszimmerchen geführt, an dessen Wänden weißgerahmte Farbendrucke die Verheerungen der großen Volkskrankheiten in grellster Manier zeigten. Vor Verfluß einer halben Stunde ließ sich der Doktor niemals sehen, und dann suchte er jeden Besucher mit möglichster Schnelle wieder aus dem Hause hinauszuschaffen, von seinem Geiz erzählten sich die Nachbarn, die allerdings in Schußweite wohnten, die merkwürdigsten Geschichten: es hieß, er halte seine paar Dienstleute nur durch das Versprechen zurück, sie in seinem Testament zu bedenken, und wenn sie ihres Hungerdaseins je müde seien und aufmuckten, bringe er das Testament herbei und lese ihnen, damit sie satt würden, mit einer Träne im Auge die Stellen vor, in denen sie mit fetten Summen bedacht waren. Tag für Tag ging er zu Hause in einer abgeschabten Kapuzinerkutte einher, die zuletzt nur noch aus lauter buntscheckigen Flecken bestand. Um sich vor Dieben zu sichern, hatte er das Gerücht in Umlauf gesetzt, der frühere Besitzer des Landhauses, der General Eisenschink, gehe als Geist auf seinem Grund und Boden um, und die Dorfkinder bekamen oft die seltsamsten Töne zu hören, wenn sie mit erschrockenen Augen an der Parkmauer vorüberschlichen: es war als ob ein Offizier vor der Front fluchte, oder die geisterhaften Töne einer Äolsharfe schwebten über den Buchenwipfeln des alten Parkes daher.

Zu den Eigentümlichkeiten des alten Doktors gehörte auch, daß er sich zu der Religion der alten Germanen bekannte: er ließ daher in dem kleinen Park, der die höchste Stelle seines Besitztums einnahm, eine mächtige Wotansstatue, die er aus dem Nachlaß eines Bildhauers für ein Butterbrot erworben hatte, aufstellen und umgab das Götterbild mit einem sorgfältig gepflegten Teppich fetten Immergrüns.

Eines Tages fand man den Achtundsiebzigjährigen tot auf den Ziegelfließen des Treppenflurs liegen, in dem die eisernen Ritter Wache hielten: eine Rüstung war umgestürzt und hatte den Greis so unglücklich getroffen, daß er die Treppe hinunterstürzte und das Genick brach. Da sich unter seinen Papieren kein Testament vorfand, wurden die rechtmäßigen Erben durch die Zeitung von Gerichts wegen aufgefordert, sich zu melden. Nach langwieriger Prüfung der Erbansprüche erwies sich, daß ein Major Fabian Grimminger in Augsburg als Erbe seiner Frau, einer geborenen Gietl, nebst zwei alten Putzmacherinnen, die in Nürnberg lebten, Ansprüche auf die Gietlsche Hinterlassenschaft hatte. Dem Major Grimminger kam diese Erbschaft höchst gelegen; er trug sich schon lange mit dem Gedanken, seinen Abschied zu nehmen und einen Landsitz in der Nähe Münchens zu erwerben, und da er selbst ein Freund von Altertümern war, machte er den beiden Miterbinnen den Vorschlag, den ganzen Nachlaß des Sonderlings durch einen beeidigten Sachverständigen schätzen zu lassen und den auf sie entfallenden Anteil herauszubezahlen.

Die beiden Nürnbergerinnen, denen ganz unvermutet eine namhafte Erbschaft vom Himmel fiel, waren mit dem Vorschlag des Miterben einverstanden, und so ging denn das Gietlsche Landgut mit allem Drum und Dran in den Besitz des Majors Fabian Grimminger über.

Das große, sehr weitläufige Anwesen, dessen Getreideäcker an einen Dauern verpachtet waren, befand sich in ungeheuerster Verwahrlosung, als es der neue Besitzer zum erstenmal betrat. Der große Garten, wo einst unter dem Vorbesitzer des Doktors Gietl die herrlichste Rosenzucht Münchens bestand, war ganz verwildert, und nur ein paar Beete dienten als bescheidener Küchengarten. In dem kleinen Park, dessen mächtige Linden und Buchen zu den schönsten Bäumen der Gegend zählten, war kein Weg mehr zu unterscheiden, und die große Wotanstatue stand halb verwittert auf ihrem Fußteppich üppigsten Immergrüns, den im Frühling Tausende von blauen Blüten besternten.

Der Major Grimminger erwies sich als würdiger Erbe dieses Besitzes: er ließ sich von einem Kenner beraten und behielt nur die wertvollsten Stücke der Sammlungen des Doktors Gietl. Dann sorgte er zunächst dafür, daß Luft, Licht und Sauberkeit in die Räume des alten Herrenhauses kamen. Die alte Köchin Fanny, die als etwas brummiger Hausgeist bei der Familie Grimminger in hoher Schätzung stand, wirtschaftete mit ein paar Putzfrauen wochenlang wie der Teufel in dem alten Hause herum, ehe der neue Herr mit seinen vier Kindern, drei Söhnen, Otmar, Alfred, Gerwin, und einem Töchterchen, Adelheid, einziehen durfte.

Der Major hatte seinen Abschied erbeten, um sich in München ganz der Bildung seiner Söhne widmen zu können. Die Erziehung seines Töchterchens, an dem er mit zärtlicher Liebe hing, hatte er einer älteren Schweizerin aus Lausanne, Fräulein Rosez, anvertraut, die wie ein Schatten im Hause lebte, ohne sich viel bemerklich zu machen. Da er über das humanistische Gymnasium seine eigene Meinung hegte, sollten seine Buben, auf deren schöne deutsche Namen er stolz war, zunächst Privatunterricht empfangen und dann, nach Ablegung der nötigen Prüfungen, sofort in eine höhere Klasse, in die Obertertia oder Sekunda eintreten. Auf diese Weise gedachte er sie längere Zeit in seiner Nähe zu haben und ihnen wenigstens einen Teil des üblichen Pennaljammers zu ersparen. Er scheute kein Geld, um ihnen die tüchtigsten Lehrer zu verschaffen, und unter Tags verging fast keine Stunde, ohne daß irgendein geprüfter Pädagog in dem Landhaus etwas lehrte. Es war ferner der Wunsch des besorgten Vaters, daß die Herren Otmar, Alfred und Gerwin in derselben Klasse sitzen sollten. Aus diese Weise war es möglich, den Hausunterricht ganz einheitlich zu gestalten. Er selbst wohnte jeder Unterrichtsstunde im Hause bei, und mancher Lehrer mußte sich nach deren Ablauf eine Kritik gefallen lassen, die ihn, falls er gedient hatte, an seine Soldatenzeit erinnerte. Der glückliche Vater machte Lehrern und Freunden gegenüber kein Hehl aus seiner Überzeugung, daß es seinen drei Buben mit Leichtigkeit gelingen werde, die höchsten Stufen irdischen Ruhmes und Ansehens zu erklimmen. Er beobachtete deshalb, um ganz sicher zu gehen, aufs genaueste ihre kindlichen Neigungen, damit er imstande sei, ihnen den richtigen Weg zu ihrem Glücke selbst zu weisen.

Otmar, der Älteste, der zu der Zeit, da die Familie den Gietlschen Besitz bezog, vierzehn Jahre zählte, war ein langnasiges, mageres, hochaufgeschossenes Bürschchen, das mit dem Appetit eines Kannibalen aß, nicht unfleißig lernte und sein Zimmerchen in peinlichster Ordnung hielt, im übrigen aber an Gott und der Welt keinen guten Faden ließ. Er besaß eine ganz besondere Gabe, die Schwächen aller Menschen, mit denen er in Berührung kam, aufzuspüren und mit säuerlicher Miene an den Pranger zu stellen.

Die alte Fanny, an der die Kinder wie an einer Mutter hingen, konnte ihn nicht leiden und nannte ihn nur »unsern Notar«. Diesen Kritikus ernannte der Major, noch ehe er sein dreizehntes Lebensjahr hinter sich hatte, zum künftigen Geheimrat und Minister: es war, so meinte er, höchste Zeit, daß ein Mann mit scharfem Blick und ohne Scheuklappen die muffigen Amtsstuben lüftete und den Herren, die da als Herrgötter oder Staatshämorrhoidarier herumfaulenzten, die Zöpfe abschnitt. Schon dieses Zopfabschneiden sei kein Kinderspaß, sondern eine Tätigkeit, der nur die Kraft eines ganzen Mannes genügen konnte, und der Vater der künftigen Exzellenz rieb sich die Hände vor heimlicher Seelenwonne, wenn er an die Staubwolken dachte, die das Ausklopfen der alten Perücken erregen würde. Obwohl er als wohlgesinnter Bürger und Anhänger des Reichsgedankens lebte, war er mit dem Gang der deutschen Staatsgeschäfte nicht zufrieden, seit Bismarck im Sachsenwalde grollte.

Über die Talente Alfreds und Gerwins blieb der Vater längere Zeit im unklaren, obwohl er sie, wie ein Feldherr, scharf im Auge behielt. Doch auch diese Begabungen traten allmählich siegreich wie das prangende Tagesgestirn aus dem Wirrsal der kindlichen Neigungen hervor: als Alfred eines Tages mit zerfetzten Kleidern nach Hause kam, weil er ganz allein eine Schlacht gegen die Bogenhausener Dorfbuben geliefert hatte, ernannte ihn sein Vater für diese Heldentat sofort zum General in spe, und diese Ernennung fand ihre Bestätigung, als er, acht Tage darauf, den halbwüchsigen Schlingel im zärtlichsten Getuschel mit der Zofe seines Gutsnachbars am Parkgitter überraschte. Er setzte eine hohe Miene auf; aber im Grunde war er nicht unzufrieden: Venus und Mars gehörten zusammen, seit der Olymp das unauslöschliche Gelächter der Götter erlebt hatte, und die schönste Zeit seiner Jugend wurde in ihm wach, während er den künftigen Strategen mit der Miene eines Vaters auszankte, dem die Tugend als staatserhaltendes Prinzip vor der gesitteten Bürgerseele schwebt.

Gerwin, der Jüngste, ein pausbäckiger Bursche, in welchem der zärtliche Vater das Ebenbild seiner jung verstorbenen Frau liebte, trug ein verträumtes Wesen zur Schau, und mit seinen blonden und natürlich gelockten Haaren sah er beinahe wie ein gutgenährter Engel auf dem Altar einer Jesuitenkirche aus. Er steckte den halben Tag in der Küche bei der alten Fanny, die nicht müde wurde, ihn mit den leckersten Süßigkeiten und Butterbäckereien zu stopfen. Als der scharfäugige Vater diesen jungen Herrn eines Tages überraschte, wie er ein kleines Puppentheater zurechtzimmerte, um seinen Geschwistern die Schicksale Struwwelpeters mit grinsendem Behagen vor Augen zu führen, ging ihm plötzlich ein Licht über die Zukunft dieses Knaben auf, dessen lang herabwallende Ringellocken einst das Entzücken aller Mütter und Basen gewesen waren: ohne sich länger zu besinnen, machte er einen großen Dichter, und zwar einen Dramatiker aus ihm. Den Deutschen war, so schloß er, bis heute kein Shakespeare erstanden, trotzdem alle Zeitungsschreiber wenigstens einmal im Jahre laut danach schrien, und Gerwin hatte die offenste Bahn vor sich, wenn er seinen Neigungen treu blieb und die Grimmingersche Familienbegabung für frisches Draufgehen ins Feld führte. Schon der Name Gerwin erinnerte, wie der Shakespeares, an Kampf und Schlacht und Heldentum, das die außerordentlichste Wirkung tun mußte, wenn ein neuer Erschütterer der Welt die Schätze seines Herzens und seines Geistes vor seinen Volksgenossen auf der Bühne ausbreitete.

Was aber sein Töchterchen Adelheid anbelangte, das der zärtliche Vater sein Herzblättchen, sein Golderl und Frauerl zu nennen pflegte, so war ihm der Weg des Glückes durch die Natur vorgezeichnet: er gedachte das muntere Kind, das nie langsam gehen konnte, sondern mit fliegenden Röcken wie ein Wirbelwind durch Park und Garten sauste, möglichst lang an seiner Seite zu behalten und, wenn möglich, gar nicht zu verehelichen; denn der Major hielt, von seinen eigenen Söhnen abgesehen, nicht viel von den Männern, und der Gedanke, daß sein Herzblatt an der Seite eines Fremden unglücklich werden könnte, erregte schon im voraus seinen ganzen Vatergrimm. Adelheid war kein hübsches Kind; aber der Major hatte oft genug erlebt, daß aus unscheinbaren Mädchen Frauen von stolzer Schönheit erwuchsen, und so zweifelte er keinen Augenblick, daß sein Herzblatt alle ihre Freundinnen, deren sie ungezählte besaß, an Geist und Körper überflügeln würde. Er sah es als Anzeichen einer vortrefflichen Natur an, daß Adelheid von ihren Freundinnen vergöttert wurde; aber welche Perle er besaß, wußte er doch nur allein. Wenn ein Lächeln über das längliche, etwas blasse Gesicht des Kindes ging, war es, als ob auch der Hauch reiner Verklärung die Züge verschöne. Sie gab ihr gesamtes Taschengeld den Armen, von denen es zu gewissen Seiten an dem Parktor wimmelte, oder sie verbrauchte es für schön gebundene Schreibbücher, in die sie ihre Ausgaben mit größter Sauberkeit eintrug, und wenn sie leise singend die Treppe herabkam, war ihm zumute, als käme das Glück aus ihn zu und küßte ihn leise lächelnd aus die Backe.

Nachdem der Major den künftigen Beruf seiner Söhne mit dem Blick eines Strategen erkannt hatte, bot er alles auf, um jeden einzelnen so zu fördern, daß es seinem künftigen Glück zugute käme. Der Geheimrat erhielt zu Weihnachten die vortrefflichsten Geschichtswerke auf den Tisch gelegt, und der Major sprach Tag für Tag mit ihm von den Welthändeln, wobei er es nie unterließ, die schuftige Kurzsichtigkeit der Herren, die in dem gottverfluchten Berlin das Staatsruder führten, von allen Seiten zu beleuchten. Und mit dem Erstaunen des Glücks konnte er bemerken, daß seine Kritik auf guten Boden fiel: je kräftiger die Nase des künftigen Staatsmannes aus dem unfertigen Bubengesicht hervorsprang, desto rascher wurde der künftige Volkslenker mit Gott und der Welt fertig. Als er, siebzehn Jahre alt, anstatt mit seinen Brüdern ohne weiteres in die Obertertia aufzurücken, ein Nachexamen machen mußte, bekamen die Lehrer in dem Majorssohn einen kritischen Nörgler, der sich sehen lassen konnte.

Der Dichter Gerwin wurde zu Weihnachten mit den klassischen Schätzen der Weltliteratur überhäuft, und damit er auch lernte, was Gescheite und Ungescheite darüber gedacht hatten, bekam er auch gleich alle gangbaren Literaturgeschichten mit und ohne Bilder dazu geschenkt. Dem General Alfred hingegen, der, als Soldat, eine merkwürdige Abneigung gegen Bücher an den Tag legte, flogen Karten und Kriegsgeschichten in schwerer Fülle auf den Gabentisch. Aber auch vor dieser keimenden soldatischen Begabung hielt es der Major für angemessen, auf die dunkeln Flecke aller geschichtlichen Leistungen aufmerksam zu machen: die Fehler Cäsars, Friedrichs des Großen und Napoleons, von Moltke gar nicht zu reden, erfuhren in den Stunden, da der Major sein Herz aufknöpfte, nicht die geringste Schonung, und wenn sich ein Kriegsgewaltiger jemals erlaubt hatte, seiner eigenen Taktik untreu zu werden oder einen strategischen Fehler zu begehen, hielt der Major eine Kritik ab, vor der sich der tote Held in ein Mauseloch verkrochen hätte, falls es ihm vergönnt gewesen wäre, sein Wesen in kriegshistorischer Rüffelbeleuchtung zu sehen. Auf diesem Gebiete, wo er als Fachmann urteilen durfte, ließ er nicht mit sich spaßen, und der Aufmarsch der Preußen in Böhmen im Jahre 1866 war und blieb eine Stümperei, trotzdem der Kronprinz mit Ach und Krach rechtzeitig ankam und Moltke auf dem Schlachtfeld, mit der bekannten Ruhe, die beste Zigarre aus der Tasche des eisernen Kanzlers zog, als die Sache schief zu stehen schien.

Am besten hatte es bei alledem der künftige Dichter Gerwin, der mit den feinsten Sinnen für alle Süßigkeiten des Lebens auf die Welt gekommen war und sich mit der Ruhe eines geborenen Genies durch all die guten und minder guten Tage seines Grimmingerschen Daseins durchaß. Adelheid sah auf den »Küchenmichel«, der den Geruch eines röschen Bratens dem Duft der herrlichsten Teerose vorzog, mit Verachtung herab; aber auch für diese Neigung des künftigen Poeten hatte der zärtliche Vater eine Entschuldigung zur Hand, indem er seinem Herzblatt mit belehrender Milde erklärte, daß die Feinschmeckerei stets das süße Laster der Kardinäle, Finanzleute und Dichter gewesen sei. Nur mit der Leserei des deutschen Shakespeare war der Erzieher nicht ganz zufrieden: Gerwin las am liebsten Märchen, und die Gänsemagd, die mit einer unsichtbaren Krone hinter ihren schnatternden Bratenvögeln einherging, war ihm lieber als Percy Heißsporn oder die Jungfrau von Orleans auf ihrem aufgetakelten Streitroß.

Um den Knaben die Anmut seiner Sitten beizeiten beizubringen, lud der Major an schönen Sommertagen die Freundinnen Adelheids in den Park ein: seine Söhne sollten sich im Umgang mit erlesenen Mädchenblüten früh an die zarte Ritterlichkeit gewöhnen, die bedeutenden Männern so wohl steht, und selbst eine unschuldige Liebelei mit einer heranwachsenden Jungfrau erschien ihm als etwas gänzlich Unverfängliches, weil sie ein frühzeitiges Gefühlsleben nur veredeln konnte. Aber kaum hatten die Mädchen mit und ohne Mütter den Gutsboden betreten, als sie sich auch, wie richtige Gänse, aneinander drängten und lachend oder kichernd zu den Jünglingen hinüberblickten, in denen sich auch keine Spur männlicher Ritterlichkeit bemerkbar machen wollte. Die jungen Herren zogen sich vielmehr mit der linkischen Schüchternheit junger Leute, in denen alles noch im Werden ist, in ihren Winkel zurück, während die Mädchen mit der Sicherheit frühreifer Frauen wie zur Abwehr bereitstanden.

Beim Kaffeetisch, wo es dann immer wieder die wunderbarsten Kuchen gab, führten sie hingegen das große Wort, und sowohl der Minister als auch der General wußten irgendeinen Schabernack, den sie dem und jenem ihrer Lehrer gespielt haben wollten, mit der Miene unerhörter Schwerenöter vorzutragen und bei einer Wiederholung ordentlich zu steigern. Nur die großen Mädchen hörten vernehmbar atmend zu oder gingen später mit gesenkten Köpfen neben dem Minister einher, der schon einen Zwicker trug, während sein Bruder, der General, die ersten Versuche machte, die rosige Mädchenwelt durch ein feingeschliffenes Augenglas zu betrachten.

So lebten die drei Majorsbuben wie junge Herrgötter in Frankreich auf dem Grimmingerschen Landsitz dahin. Wenn sie von ihren Zimmern ins Freie blickten, sahen sie unter sich ein Meer von Rosen oder die wogenden Getreideäcker, und hinter ihnen rauschten und raunten die alten Buchen wie Wächter eines herrlichen Daseins. Jeden Morgen fuhren sie mit den feurigen Rappen auf dem gleichen Wagen, den auch der selige Doktor Gietl zu seinen Beutefahrten benutzt hatte, am Wilhelmsgymnasium vor, und die Fanfaren ertönten nicht nur bei der Ausfahrt, sondern auch bei der Heimfahrt, zum täglichen Ärger der des Weges kommenden Ziegelfuhrknechte, die auf ihren rasselnden Gefährten schliefen und diese Störung als ärgerlichen Eingriff in ihr unverbrieftes Recht auf die Fahrstraße empfanden.

An schönen Tagen pflegte der Major seine Söhne an dem Portal des Gymnasiums zu erwarten, um sie zu Fuß nach Hause zu begleiten. Er ging Sommer und Winter niemals aus, ohne eine Blume in sein Knopfloch zu stecken, und die tadellose Kleidung, in der er als Vater bedeutender Söhne einherschritt, gab seiner stämmigen Gestalt, die an altes Bauernblut erinnerte, etwas Vornehmes. Wenn die Herren Schüler nicht Schlag vier Uhr aus der Türe traten, legte sich ein Schatten des Unmuts auf seine gebräunten Züge, und dann ließ er seinen Stock in gleichen Pausen auf das Pflaster des Bürgersteiges fallen, um seiner Ungeduld klingenden Ausdruck zu geben. Im Grunde seines Herzens bedauerte er es sehr, daß er seine Buben in eine öffentliche Schule gesteckt hatte; denn sie brachten in der Regel nur mittelmäßige Noten heim und schlüpften mit Ach und Krach von einer Klasse in die andere. Allein der Gedanke, daß alle großen Männer auf der Schule nichts oder nicht viel getaugt haben, gewährte nicht nur ihm, sondern auch seinen Sprößlingen vollen Trost für die Mittelmäßigkeit ihrer Zeugnisse. Der Minister und der General bewiesen ihr wohlgeschultes Talent im Aufspüren menschlicher Schwächen, indem sie bei Tisch die lustigsten Zerrbilder von den Lehrern entwarfen, von denen ihr Schicksal eine Zeitlang abhing. Nur Adelheid, die nun, als das zweitälteste Kind, hochaufgeschossen in die Welt ragte, als die drei großen Männer mit Ach und Krach in die Unterprima kamen, war mit diesen künstlerischen Ergötzungen nicht ganz einverstanden, und da sie großen Einfluß auf ihren Vater besaß, entschloß sich dieser eines Tages doch, sich nach einem Hilfslehrer umzusehen, der seinen Burschen bequem über die letzten Gymnasialjahre hinweghülfe.

Während er hin und her überlegte, ob er einen Hauslehrer oder einen Stundenlehrer nehmen sollte, erhielt er den Brief eines früheren Regimentskameraden aus Hammelburg, der ihn um Verwendung für einen blutarmen Teufel, den Sohn eines Gerichtsschreibers, bat, der im Herbst die Universität in München beziehen wolle, um Philologie zu studieren. Er habe als Gymnasiast seinen beiden Söhnen Nachhilfestunden gegeben und sich dabei als höchst gewissenhaft erwiesen. Der Bursche müsse nicht nur sich, sondern auch seine Mutter durchbringen, und der Major tue ein gutes Werk, wenn er ihm seine Studienzeit durch einen regelmäßigen Nebenverdienst erleichtere. Der Vater des künftigen Ministers betrachtete diese Bitte als einen Wink des Schicksals, und so erhielt denn der angehende Studiosus Wendelin Krummholz durch die Vermittlung des Briefschreibers die Aufforderung, sich schon vor Beginn des Wintersemesters, im September, in München einzufinden und sich auf dem Landsitz des Majors in Bogenhausen vorzustellen.

Pünktlich am 20. September, früh elf Uhr, läutete ein hochaufgeschossener zwanzigjähriger junger Mann, der einen altmodischen, mit Perlen bestickten Reisesack in der Hand hielt, an dem Grimmingerschen Gartentor. Als er seinen Namen angab, erhielt er die Weisung, den Herrn Major, der gerade durch Besuch in Anspruch genommen sei, im Garten zu erwarten. Wendelin Krummholz wanderte also mit seiner gestickten Reisetasche in der Hand durch den wohlbestellten Gemüsegarten und ging dann langsam unter den leicht gilbenden Buchen des Parkes auf und ab, deren Kronendunkel sich herbstlich zu lichten begann. Nach einer Weile sah er, wie ein hochaufgeschossenes Mädchen, leise singend, auf dem breiten Mittelweg dahergeschritten kam; sie hielt den Kopf, der die Fülle schweren dunklen Haares kaum zu tragen schien, etwas gesenkt, und neben ihr ging ein schwarzer Neufundländer wie ein Märchenbär einher. Als sie den jungen Mann bemerkte, blieb sie stehen, und ein schüchternes Lächeln überflog ihr schmales Gesicht: mit dem wissenden Blick des angehenden Weibes hatte sie sofort gesehen, daß es dem Menschen, der in abgewetzten grauen Zwirnhandschuhen und in einem schäbigen schwarzen Röcklein vor ihr stand, nicht zum besten in der Welt gegangen war. Als er verlegen und ohne ein Wort zu äußern stehenblieb, sagte sie endlich: »Herr Krummholz? Sie sollen meinen Brüdern Unterricht geben. Seien Sie herzlich willkommen. Ich hoffe, daß es Ihnen bei uns gefallen wird. Papa ist sehr gut, und unserm Pascha gefallen Sie auch. Sie sollen ihn streicheln; das verlangt er nicht von jedem.«

Wendelin Krummholz verbeugte sich steif wie ein Nußknacker; aber der weiteren Verlegenheit, ein paar Worte zu dem Fräulein sagen zu müssen, enthob ihn die Ankunft des Majors, der seiner Tochter im Vorbeigehen die Backen tätschelte und dann sofort ein scharfes Verhör mit dem ungelenken Burschen vor ihm anstellte, dessen blaugraue Augen unter einer breiten Stirne tief in ihrer Höhlung lagen. Wendelin Krummholz mußte genauestens angeben, woher er stammte und wie und durch wen er in diese Welt geraten war, und nach welchen pädagogischen Grundsätzen er zu unterrichten gedenke. Die Meldung, daß er wegen eines Herzfehlers schon militärfrei sei, erregte das Mißfallen des Majors, der während dieser Prüfung weder mit seinen Ansichten über die Welt noch mit der Meinung von den Talenten seiner Herren Söhne hinter dem Berge hielt. Da der junge Mann aber vor solcher Weltweisheit nicht aus dem Schweigen herauskam, geriet der Major allmählich in eine wohlwollende Stimmung. Ein ganz gewitzigter Bursche, dachte er. Kinderstube übel; aber die Manieren werden wir ihm schon angewöhnen. Es können nicht alle Leute aus guter Familie stammen.

Auch die großen jungen Männer waren mit dem Aussehen des Lehrers, dessen ungeschlachte rote Bauernhände und groben Schuhe sie mit der Überlegenheit geborener Herrensöhne erfüllten, nicht unzufrieden. Wendelin Krummholz erhielt auf der Stelle eine Mansarde als Wohnung angewiesen, von wo aus er beim ersten Ausblick die dunkle Masse der Alpen im reinen Silberduft des Herbstes liegen sah. Der monatliche Gehalt von dreißig Mark, den er erhalten sollte, hatte seine Erwartungen bei weitem übertroffen, und so kramte er seine Habseligkeiten mit einer etwas ängstlichen Zufriedenheit aus.

Die Anwesenheit des jungen Hauslehrers, der nur um zwei Jahre älter war als Otmar, der künftige Minister, machte sich in dem geräumigen Hause kaum bemerkbar. Der Major überzeugte sich bald, daß er einen guten Griff getan hatte, und auch die Herren Söhne, die bei der ersten Stunde mit Erstaunen wahrnahmen, daß der kleine Finger an Wendelins linker Hand etwas verkrüppelt war, gaben es schon nach einigen Tagen auf, dem Studenten imponieren zu wollen: der Blick, mit dem er der ersten Frechheit begegnete, genügte, um alle drei von weiteren Versuchen abzuhalten, in dem Studiosus Krummholz ein Männchen zu sehen, mit dem sie ihre Possen treiben konnten. »Der Kerl blickt wie ein Löwe,« sagte der Dichter Gerwin, als der Hauslehrer auf sein Zimmer gegangen war, worauf der Minister Otmar höhnisch die Achseln zuckte und seinen Zwicker umständlich mit seinem rotseidenen Taschentuch putzte.

Adelheid aber fiel es sehr bald auf, daß Wendelin Krummholz, trotzdem ihm alle freundlich begegneten, fast niemals lachte, sondern Tag für Tag die gleiche sauertöpfische Miene zur Schau trug. Sie selbst konnte Tränen lachen, wenn der Major irgendeine alte Regimentsgeschichte zum zehnten Male auftischte, und dann war es jedesmal, als ob eine Woge hellsten Blutes in ihr Gesicht emporstiege, um ebenso rasch wieder zu versinken. Eines Tages, im Frühjahr, fand sie den Hauslehrer im Treppenhaus vor dem alten Globus stehend, den der Major an der gleichen Stelle gelassen, wo ihn sein Vorgänger hingestellt hatte. Wendelin grüßte die Tochter des Hauses mit einer linkischen Verbeugung, ohne den rotierenden Ball, dessen Achse zeitweise ein leises Ächzen von sich gab, aus dem Auge zu lassen: »Ein drolliger Kerl, der alte Geograph, der das Werk gemacht hat. Gnädiges Fräulein sehen die leeren Flecke, auf denen so schöne falsche Namen stehen? Na, wir könnten fast alle mit den richtigen beschreiben,« sagte er, ohne eine Miene zu verziehen; »aber gestern hatte es mich gejuckt, lauter Ländernamen einzutragen, die jeder neu entdecken muß: Utopien, Schlaraffien, Nimmerlesland und Wolkenkuckucksheim.«

»Mir scheint, Sie machen manchmal Ferienreisen dahin,« sagte Adelheid lachend; und als Wendelin seine saure Miene behielt, fügte sie hinzu: »Aber Sie sehen ja aus, als ob Sie den Knödel da aufessen wollten.«

Da bemerkte sie, zum ersten Male, daß beinahe ein Lächeln Wendelins Mund umspielte, und als auch ihr Lachen in einem leisen Lächeln verglänzte, war es ihm zumute, als ob sie eine Heimlichkeit zusammen hätten. Doch der Hauslehrer sank sofort wieder in seine mürrische Unnahbarkeit zurück, und als er in seinem Zimmerchen verschwunden war, fragte sich Adelheid, was wohl hinter dem kratzbürstigen oder unlieben Wesen des Herrn Wendelin Krummholz stecken möge. Es war ihr aufgefallen, daß er manchmal wie ein Mädchen errötete, wenn sie ein Scherzwort an ihn richtete, und auch anderes gab ihr zu denken. Er versäumte an den Vormittagen keine Vorlesung. In seinen freien Stunden lief er bei jedem Wetter in die offene Gegend hinaus, und am Samstag fuhr er mit seinem Bergstock und einem Rucksack ins Gebirge. Beim zweiten dieser Ausflüge nahm er auch den Minister und den General mit; aber die jungen Herren erklärten nach ihrer Heimkehr, daß sie in Zukunft auf das Vergnügen verzichteten, in der Gesellschaft ihres Hauslehrers die Berge anzurennen. Der General Alfred meinte: »Der Kerl geht den Bergen zuleibe, als ob sie ihm etwas zuleid getan hätten, und wenn ihm ein hübsches Mädel begegnet, guckt er's nicht an. Und dabei will er einen Herzfehler haben. Ein merkwürdiger Kunde!«

Eines Tages traf Adelheid den Hauslehrer auf der Englschalkinger Landstraße: er ging wie ein Stier mit gesenktem Kopf einher und murmelte zum Takte seines raschen Ganges dunkle Sprüche vor sich hin.

»Sie rennen mich ja um, Herr Krummholz. Sie dichten doch nicht?« rief sie, als sie auf Schrittnähe an ihn herangekommen war. Als Wendelin Krummholz Adelheid erblickte, erschrak er so, daß sie in helles Gelächter ausbrach.

»Ich bedaure, daß ich Sie gestört habe,« scherzte sie weiter. »Das gefällt mir, daß Sie auch diese stillen Wege lieben, auf denen einem nie ein Mensch begegnet. Sie gehen doch auch nach Hause?« Wendelin Krummholz hielt beim Weitergehen wiederum den Kopf gesenkt, und dabei bemerkte er, wie bei jedem Schritt, den Adelheid machte, ein schmaler zierlicher Schuh unter dem englischen Kleid des Fräuleins hervorfuhr. Dieser feine Schuh machte ihn noch einsilbiger, und er merkte es gar nicht, daß er im Gehen einen Ziegelfuhrknecht anrempelte, der halb betrunken neben seinem leeren Gefährt einhertorkelte. Der Aufgeschreckte, dem Adelheid zuerst in die Augen fiel, stieß beim Anblick des Mädchens ein gemeines Schimpfwort aus. Im selben Augenblick aber hatte Wendelin den Burschen auch schon beim Kragen, und als der Angegriffene den Peitschenstiel zur Abwehr heben wollte, entriß er ihm den Stecken und walkte ihn damit gründlich durch. Adelheid war auf die Seite gesprungen und sah diesem Strafgericht, bei dem sie im Geiste schon ein griffestes Messer aufblitzen sah, mit erschreckten Augen zu. Wendelin aber stellte auch weiter seinen Mann: als er den Fuhrknecht versohlt hatte, warf er die Peitsche in den Wagen und schrie ein mächtiges »Hü«, worauf die Pferde, die mit gesenkten Köpfen dastanden, anzogen und für ein Weilchen einen leichten Trab anschlugen, der auch dem verprügelten Knechte endlich Beine machte.

»Sie sind ja ein schrecklicher Mensch; vor Ihnen muß man sich fürchten,« sagte Adelheid aufatmend, als Wendelin mit glühendem Gesicht auf sie zutrat.

»Ich habe nur eine Bitte, Fräulein Adelheid,« sagte er mit einer wahren Leichenbittermiene, »es wäre mir unlieb, wenn der Herr Major erführe, daß ich den Kerl versohlt habe. Na, der wird sich nichts mehr herausnehmen. Ich war ordentlich in Stimmung. Manchmal könnt' ich die ganze Welt abmurksen.«

»Sie sind gut,« sagte sie lachend. »Ich werde also Papa, da Sie es wünschen, nichts von Ihrer Rittertat sagen.« Und sie ging mit lachenden Augen weiter, und die finstere Miene, von der ihr Begleiter nicht lassen wollte, vermehrte nur ihre stille Heiterkeit, die den ganzen Tag über anhielt und den nichtsahnenden Major mit väterlichster Zärtlichkeit erfüllte.

Von dieser Zeit an beobachtete Adelheid den Hauslehrer noch mehr als früher mit heimlichen Blicken. Sie bemerkte, daß er ihr mit grimmiger Miene auswich, und witterte mit feinem Frauensinne, daß in dieser mißtrauischen Seele allerlei Geheimnisse blühten. Nun nahm sie sich vor, mit der Zeit doch einen gelegentlichen Blick in dieses Seelengärtchen zu tun, um hinter seine Heimlichkeiten zu kommen. In Stunden, wo Wendelin heiter dreinsah, fragte sie einmal scheu und schüchtern nach seiner Jugend; allein Wendelin wußte ihren Fragen wie ein Indianer auf Schleichpfaden auszuweichen, und sie erfuhr nichts als die äußeren Schicksale und Erlebnisse eines armen Buben, der sich durch das Gymnasium durchfretten konnte, weil zufällig sein Heimatstädtchen Hammelburg mit einer solchen Anstalt gesegnet war. Wendelin Krummholz hielt also sein Gemüt verschlossen, und nur wenn Adelheid jeweils eine Frage nach seiner Mutter wagte, kam ein milder Ausdruck in seine Augen, der sie mit zärtlichem Mitleid erfüllte. Als sie sich eines Tages ganz schüchtern nach seinen Zukunftsplänen erkundigte, hörte sie ihn zum ersten Male laut lachen; aber es war nicht das Lachen sorgloser Jugend, die sich im Schoß des Glückes geborgen weiß, sondern dieses Gelächter hatte einen Klang, vor dem sie ein Frösteln ankam. Der Hauslehrer sprach mit einer solchen Verachtung von seinem künftigen Beruf eines Schulmeisters, daß sie erstaunt fragte, warum er denn nicht lieber was anderes werden wolle. Wendelin Krummholz lachte wiederum vor sich hin: was sollte ein armer Teufel, wie er, denn anfangen, um ein besseres Ämtlein zu ergattern? Zum Rechtsstudium reichte sein Geld nicht; der Beruf eines Arztes war ihm zuwider; zum Techniker hatte er kein Talent, da ihm die Mathematik und alles, was damit zusammenhing, ein Greuel war; zum Schreiber in einer Verwaltung fühlte er sich zu gut, Kleinkaufmann sein hieße den Leuten das Geld aus der Tasche stehlen, und so ging es weiter: an jedem Beruf hatte der Hauslehrer etwas zu mäkeln und auszusetzen.

»Ja, was möchten Sie denn eigentlich werden?« fragte Adelheid mit leichtem Lachen.

»Das hätten Sie mich vor dreihundert Jahren fragen sollen,« gab Wendelin Krummholz, dessen Gesicht eine dunkle Röte überzog, zur Antwort. »Auch vor hundert Jahren, als der gemeine Soldat einen Marschallstab im Tornister trug, hätt' ich Ihnen eine Antwort geben können; aber heut ist unsereinem Weg und Steg verstellt, und auch Glücklichere wie ich müssen wie lahme Zirkusgäule im Kreis 'rumlaufen. Und«, fuhr er nach einer Pause, vor sich hinlächelnd, fort, »haben Sie sich einmal die Frage vorgelegt, wie die Sache aussieht, wenn ein Gaul als Zentaur auf die Welt kommt. Wissen Sie, als ein Kerl, der schon einmal, in einem schöneren Leben, um den Olymp herumgetrabt ist und vielleicht gestohlenen Nektar getrunken hat – halb Gott und halb Tier? Ich kann mir so einen Burschen nur mit einem goldenen Hufeisen denken, und leider kenne ich keine einzige Schmiede, wo man heutzutage mit goldenen Hufeisen beschlägt.«

»Sind Sie am Ende auch ein Zentaur? Dann bitte ich, 'nmal zu wiehern,« lachte Adelheid, der bei diesem Ausfall allerlei lustige Gedanken durch den Kopf gingen. Doch Wendelin Krummholz war nicht geneigt, seine Künste weiter zum besten zu geben; er sagte ganz ernsthaft: »Manchmal kommen mir solche Anwandlungen: aber sie sind selten. Nja. Sehen Sie, Fräulein Adelheid, da streiten sich die Leute noch um die französische Revolution 'rum, ob sie ein Segen oder ein Fluch gewesen sei: aber das Lösungswort dieser Sphinx hat Napoleon ausgesprochen: › La carrière ouverte aux talents!‹ Die Laufbahn offen dem Talent!«

»Aber Sie wissen ja gar nicht, in welche Laufbahn Sie rennen wollen,« scherzte Adelheid.

Da zwinkerte Wendelin, zum ersten Male, listig mit seinen hellgrauen Augen, als ob er ein Geheimnis habe; aber Adelheid bekam es, obwohl sie darauf lauerte, nicht zu hören. Am nächsten Tage aber brachte der Hauslehrer einen schönen dicken Stock mit versilbertem Knopf, der einen Pferdekopf darstellte, aus der Stadt nach Hause, und als Adelheid das kleine Kunstwerkchen mit erstaunten Augen bewunderte, bemerkte Wendelin stirnrunzelnd, daß er den Stock gekauft habe, um jeden, der ihr zu nahe trete, mit einem wertvollen Prügel zu versohlen. Adelheid meinte lachend, er solle den Stock doch lieber zu schönen Spaziergängen verwenden, und Wendelin versprach es, wobei er für einen Augenblick seine Augen schloß.

Im übrigen bekam er überall Adelheids sorgende Hand zu spüren: sie brachte sein bißchen Wäsche in Ordnung und blickte ihn strafend an, wenn er mit einer schlecht geknüpften Halsbinde daherkam und die Spottlust der drei großen Männer erregte, deren tadellose Kleidung jederzeit, zu Hause und in der Stadt, ihrer künftigen Würde und Lebensstellung entsprach. Dann ließ sie sich von ihm neuere Bücher empfehlen, und Wendelin geriet in eine hübsche Verlegenheit, als er nicht wußte, wozu er ihr raten sollte; denn er selbst las selten ein deutsches Buch. Oft, wenn er von einem Spaziergang nach Hause kam, stand eine Rose auf dem Tisch seiner Mansarde, und bis tief in den Winter hinein fand er häufig, wenn er zu Bette gehen wollte, einen Teller auserlesener Früchte, Trauben, Äpfel und Nüsse, auf seinem Nachttischchen vor, und ein silbernes Messerchen lag auch dabei.

Von all diesen Heimlichkeiten zwischen Adelheid und dem Hauslehrer bekamen weder der Herr Major noch seine Söhne etwas zu spüren. Hie und da ließ er sich zwar herab, mit dem Hauslehrer ein Gespräch über allgemeine Dinge oder auch die Kriege Cäsars zu führen; aber im allgemeinen sah er auf den ungelenken Burschen, aus dem zuweilen, wie er meinte, ein proletenhafter Widerspruchsgeist sprach, von oben herab. Die drei großen jungen Männer aber betrachteten ihn als notwendiges Übel; sie verfluchten jeden Tag das Wilhelmsgymnasium, in dem, wie sie behaupteten, nur Idioten herangezüchtet würden, und der Vater wurde immer selbstzufriedener, je näher die Zeit heranrückte, wo seine drei Prachtkerle wie ein Ungewitter in die Welt einbrechen sollten. Der Dichter und der Minister sollten ihre Studien in Heidelberg beginnen und der General sofort als Freiwilliger in ein Artillerieregiment eintreten, damit er nicht als Wackelgreis, sondern als Mann in den besten Jahren die Achselstücke eines Generals zu tragen bekäme. Der Umstand, daß die drei Primaner nur mit Ach und Krach ihr Abiturium bestanden, vermehrte nur die gute Meinung, die der Major von der Begabung seiner Söhne hegte: er kannte Dutzende von großen Männern, die auch recht schlechte Schüler gewesen waren, und es störte ihn auch nicht, daß der Hauslehrer Wendelin Krummholz seine Betrachtungen über die beste Erziehung mit dem Lächeln eines Duckmäusers anhörte und sich zuweilen räusperte, wie wenn er den Schnupfen hätte. Den Abgang seiner Söhne vom Elternhaus aber gedachte der glückliche Vater in einer Weise zu feiern, die sein Erziehungswerk in festlich bedeutsamer Weise krönen und zu einer Erinnerung fürs Leben machen sollte. Auch Wendelin, der seine Sommerferien auf einer langen Fußwanderung durch die südlichsten Täler der Dolomiten verbrachte, wurde, als er im Herbst wieder in München auftauchte, zu diesem Feste eingeladen, auf dem der Major das Schicksal seiner Söhne halb und halb aus seinen Händen in die der Welt geben wollte.

Auf der Festtafel, zu sechs Gedecken, prangte der ganze Silberschatz des Hauses Grimminger auf damastenem Linnen, das mit Rosenknospen überstreut war, um den Blumenweg des Schicksals anzudeuten, auf dem die frei gewordenen jungen Herren, nach dem Wunsche ihres Vaters, hochgemut und heiter einherwandern sollten. Ein hochgetakeltes silbernes Schiff, auf dessen Mastbaumspitze sich ein winziges Fähnlein mit dem eingestickten Phantasiewappen der Grimminger, einem Einhorn im silbernen Felde, nach allen Seiten drehte, trug in seinem gewölbten Bauche eine schwere Last der saftigsten selbstgezogenen Früchte, und aus dem Halse zweier schlanker Bronzevasen ragten schwere Sträuße gelber Spätrosen empor, um sich strahlenförmig nach allen Seiten hin zu senken. Ein halbes Dutzend feingeschliffener Gläser versprach die erlesensten Tropfen: neben grünen Römern standen Rotweingläser mit zartgepinselten Wappenschildern und alte schlanke Spitzgläser mit goldenem Rand auf der damastenen Decke.

Kaum war die duftende Wildsuppe verspeist, als sich schon der Hausherr erhob, um seinen Trinkspruch loszulassen: denn dessen Inhalt, den er sich, Wort für Wort, reiflich überlegt hatte, erforderte, daß er seinen Glückskindern gleich zu Beginn des feierlichen Festschmauses sagte, was ihn zutiefst bewegte. Er blickte mit blitzenden Augen um sich, wie wenn er sein Bataillon vor sich hätte, und begann mit soldatischer Stimme: »Meine lieben Söhne – denn an euch Otmar, Alfred, Gerwin, richte ich heute das Wort – ihr seid im Begriffe, aus dem Vaterhause in die Welt hinauszutreten. An einem solchen Tage dürfen Eltern wohl der Hoffnungen gedenken, die sie, mit sorgender Seele, an das Schicksal ihrer Kinder knüpfen. Ich möchte jedoch heute nicht an diese Hoffnungen rühren; denn sie sind wie die ewigen Gestirne über euerer Wiege und eurer ganzen Jugend gestanden; ich möchte lieber den Blick noch einmal rückwärts lenken, auf eure Jugend, die bald für euch nur noch ein Bild sein wird, oder ein Quell, aus dem ihr, wie ich hoffe, Stärkung und Labe trinken werdet, wenn euch bei eurem Aufstieg die Zunge am Gaumen klebt. Ich habe einmal irgendwo gelesen: Nur wer ein Kind gewesen ist, vermag auch ein Mann zu werden! Das will besagen: Nur wem das Glück zuteil wurde, in einem schönen Heim aufzuwachsen, kann sich zu einem harmonischen Vollmenschen entwickeln. Obwohl euch von zarter Jugend an keine Mutter mehr zur Seite stand, war euch die Tafel des Glückes reicher gedeckt, als es sonst der Mehrzahl der Menschen beschieden ist: Alle Schätze der Welt lagen offen vor euren Augen da; nach allem, was der Jugend erlaubt und zugänglich ist, durftet ihr greifen, und ich habe es selten bedauert, daß dabei manches aus lässiger Hand unter den Tisch fiel. Nur karge Naturen knickern! Genug ist nicht genug, wie es in einem schönen Liede heißt. Du, Gerwin, wirst den Dichter kennen, der damit das Maß vornehmer Naturen zu einer Forderung reinen Seelenadels prägte und vornehmen Seelen eine kostbare Mahnung schenkte.

Mein väterlicher Ehrgeiz ging allezeit dahin, euch nichts von dem, was der Jugend zukommt, vorzuenthalten, so daß ihr später auch vor der reichbesetzten Tafel des Lebens nicht das Gefühl jener Proleten kennenlernt, denen alles Köstliche und Feine zu einer Überraschung wird. Als Symbole alles dessen, was euch im Vaterhause zuteil geworden, habe ich euch heute die edelsten Weine unserer Zonen auf den Tisch gestellt: Ihr sollt wissen, wie die erlauchtesten Tropfen munden, in deren Purpur oder Gold der Duft ganzer Sommer und glücklicher Sonnenhügel duftet; denn die glückliche Verschiedenheit des Lebens zeigt sich, wie in tausend Dingen, so auch in den Reben, die auf verschiedenem Boden verschiedene Weine zeitigen. Im Burgunder lebt ein anderer Geist als in den Tropfen, die um das Niederwalddenkmal wachsen, und der Champagner zeitigt eine andere Weltstimmung als ein gediegener Landwein, der den Alltagsdurst löscht. Doch dies ist meine Meinung, meine Forderung, meine Nutzanwendung: Setzt euch nie an einen Tisch des Lebens, wo keine reinen Gefäße blinken und wo sie Fusel trinken! Nehmt auf der Tafel eurer Seelen immer nur mit dem Allerbesten vorlieb! Ihr wißt, daß Goethe, der Kenner, der Meinung war, man könne auch in einem Stengelglase eine Welt finden. Dieses Suchen möchte ich allerdings, wie ich euch nicht verhehlen will, auf helle Sonntagsaugenblicke beschränkt sehen; denn ich kann aus eigener Erfahrung bezeugen, daß alltägliche Stengelglasgucker in der Regel keine Sterngucker werden, und das, meine Lieben, sollt ihr bleiben, wenn ihr auch nur euren Stern – per aspera ad astra – im Auge behaltet. Trinkt nicht wie Schlemmer, sondern laßt jeden Tropfen auf eurer Zunge verweilen, damit ihr lernt, daß alles Köstliche mit Bedacht und Andacht genossen sein will. Zieht ein gediegenes Landweinchen dem aufgeputzten Gepansch vor, das in der Welt den Namen Wein trägt. Und vor allem verlernt mir euer Lachen nicht! Dieses Lachen soll rein sein wie ein gepflegter Jahrgang und perlend wie der eingeschenkte Champagner, in dessen Gold sich eine ewige Geburt zarter Perlen vollzieht: sie streben nach oben wie kleine Welten, und ihr Zerplatzen nimmt der Flüssigkeit nichts von dem Gehalt an Duft und Süße. Doch in deutschem Wein von einem edeln Jahrgang will ich mit euch anstoßen: ich habe ihn für diesen Tag aufgehoben. Otmar, Alfred, Gerwin, euer Vater trinkt auf euer Glück!«

Und er erhob das Glas Johannisberger, um gerührt mit der Tafelrunde anzustoßen. Der Dichter aber dachte: »Woher hat denn mein Alter nur das Zeug? Das hätt' ich ihm gar nicht zugetraut.« Der Minister lächelte: »Daß diese Alten doch immer sentimental werden müssen!« Nur der General dachte gar nichts, sondern begnügte sich mit der stillen Anerkennung, daß sich sein Erzeuger auf feine Weine verstand und seinen Geschmack bewies, indem er zum Fisch sofort eine auserlesene Sorte auffahren ließ. Adelheid stürzte, nachdem sie von dem feurigen Edeltrunk genippt hatte, auf ihren Vater zu und küßte ihn gerührt und glückselig auf seine beiden Backen. In Wendelin Krummholz hingegen schwärte der Gedanke, daß ihm beim Abgang vom Gymnasium kein solches Mahl gerichtet worden war, und eine tiefe Falte legte sich zwischen seine Brauen. Er empfand einen sehr deutlichen Widerwillen gegen die drei glücklichen jungen Herren, denen ein Vater solche Sprüche in die Welt mitgab, und auch auf die Gestalt des Majors fiel ein Schatten aus dem Wendelinschen Gemüt; denn gerade der Umstand, daß er dem Vater seiner Schüler eine Weltanschauung zugestehen mußte, die über die Dutzendware hinausging, stimmte ihn mißmutig. Indessen nahm das beziehungsreiche Wahl seinen Fortgang: die Gefeierten tranken in schöner Reihenfolge Château d'Uquem, Johannisberger, Clos Vougeot und Röderer, und auch Wendelin Krummholz ließ sich's mit einem Male gehörig schmecken, da ihm beim ersten Glas Champagner der Gedanke überfiel, er werde wohl so bald nicht wieder bei solchen Genüssen schwelgen, die sein Philologengemüt mit dem großen General und größeren Feinschmecker Lukullus in dankbarste Verbindung brachten. Als sich jedoch der Major nach aufgehobener Tafel mit seinen drei Glückssöhnen im Salon an das Kaffeetischchen setzte, um ihnen auch noch die besten Importen anzubieten, damit sie lernen sollten, wie man der Welt den feinsten blauen Dunst vormachte, schlich sich Wendelin Krummholz, dem die Raucherei ein Greuel war, ins Freie. Er hatte sich zuletzt an die letzte Flasche Clos Vougeot gehalten, in dem er einen Wein nach seinem Herzen erkennen mußte, und wunderte sich nur im stillen, was aus den drei jungen Herren, die als solche Festgäste in die Freiheit hinauszogen, wohl werden würde: wenn eine sorgenlose Jugend verpflichtete, waren die Burschen gehalten, wirklich die Welt mit ihrem Ruhme und ihrem Wesen zu erfüllen. Er ging mit dem Gefühl eines seltsam gehobenen Trotzes, den der genossene Wein nährte, durch den Rosengarten, wo der letzte Herbstflor langsam erblühte, und setzte sich dann unter den Buchen des Parkes auf eine Bank, um in der Weinstimmung zu überlegen, was ihm selbst nun zu tun bliebe. Stunden geben war, beim Hund, kein Vergnügen, und rosig sah die Welt, in die er blickte, überhaupt nicht aus. Der Gedanke, daß es ihm bestenfalls beschieden sein könne, als Schulmonarch in Trippstrill zu sterben, erfüllte ihn mit einer wachsenden Verachtung für das Gewerbe, dem er verfallen war: Zum Donnerwetter, auch er war ein Herrenmensch, und er gedachte es der Welt zu zeigen.

Da hörte er Schritte, und als er aufblickte, stand Adelheid Grimminger im Festkleid vor ihm. Ihre hellgrauen klaren Augen glänzten vor stiller Seelenfreude; doch vor diesem Glanze senkte sich ein noch tieferer Schatten auf Wendelins Züge.

»Nicht wahr, Sie bleiben in München und kommen oft zu uns heraus?« sagte sie mit leiser Stimme, indem sie ihm ihre schmale Hand hinstreckte. Wendelin zögerte, die dargebotene Hand zu ergreifen; als er sie aber doch genommen hatte, hielt er sie wie in Gedanken fest. Er hatte sich dabei erhoben, und als Adelheid wieder Herrin ihrer Hand geworden war, gingen sie wortlos nebeneinander her bis zu einer kleinen Treppe, über die man an ein verstecktes Pförtchen in der hinteren Parkumzäumung gelangte. Hier blieben sie stehen und sahen über die Umzäumung weg in das ebene Land hinaus, über dessen Wäldern und Kirchtürmen die duftblaue Masse des Gebirges wie eine dunkle Welt lag, aus der da und dort das Schneefeld eines Ferners wie ein verflogener Riesenschwan aufglänzte.

»Was soll ich bei Ihnen?« nahm Wendelin endlich mit rauher Stimme das Wort: es bereitete ihm eine unsägliche Wonne, sich selbst die Rückkehr in das Paradies zu verbieten, in das ihn ein liebes Gesicht zu locken suchte. Als ihn jedoch Adelheid mit Augen anblickte, in deren Tiefe ein wundersamer Schimmer aufglänzte, da faßte er in jäh aufwallender Regung ihre beiden Hände, und da nun ein Lächeln, langsam wie ein Sonnenblick, um Adelheids Mund aufging, brachte er es nach einer Ewigkeit des Zauderns fertig, diese feinen schmalen Hände an sich zu ziehen und sie in kindischer Verlegenheit an seine Brust zu drücken. Und der Mund, den ein Schimmer himmlischer Güte umblühte, kam seinem Gesicht immer näher.

Da wurde er durch eine barsche Stimme im Rücken aus allen Himmeln geschleudert: »Was unterstehen Sie sich, Mensch!« schrie der Major mit weinheißem Gesicht, und ehe Wendelin sich's versah, saß ihm eine Ohrfeige auf der linken Backe. Und ehe er abwehrend die Hand ausstrecken konnte, hatte der Major auch noch das Bein erhoben: er fühlte einen Tritt und torkelte die steile Treppe hinab, an deren Fuß er mit einem Wehlaut zusammenstürzte. Doch Adelheid kniete schon an seiner Seite, ehe er zum Bewußtsein kam, daß es ihm unmöglich war, aufzustehen.

»Ich glaube, ich hab' mir das Bein gebrochen; über dem Knöchel,« sagte er leise, indem er tapfer den Schmerz verbiß.

»Ich werde an das Rote Kreuz telephonieren, damit man Sie holt,« schrie der Major, den dieser Unglücksfall noch gereizter machte. »Das habe ich nicht um Sie verdient. – Du kommst mit.«

Und Adelheid, die ihren Vater kannte, ging gehorsam die Treppe hinauf, nachdem sie Wendelin noch einmal unter Tränen zugelächelt hatte. Der Verunglückte mußte eine halbe Stunde am Fuß der Treppen warten, bis der Rettungswagen des Roten Kreuzes an dem Parkpförtchen vorfuhr und ihn in rascher Fahrt in das Krankenhaus links der Isar brachte.

Wendelin Krummholz blieb sechs Wochen mit einem Gipsverband im Krankenhaus liegen und benutzte diese Gelegenheit, um einen Schritt in die Welt der Philosophie zu tun.

Aus dem Grimmingerschen Herrenhause kam kein Lebenszeichen und keine Frage nach seinem Ergehen. Er schrieb ein paar Zeilen an Adelheid, in denen er sie um Verzeihung bat, und beauftragte einen Spitaldiener, sie in die Hände des Fräuleins zu schmuggeln; aber keine Antwort sagte ihm, ob sie in ihre Hände gelangt waren. Zuletzt gewährte es ihm eine seltsame Befriedigung, daß Adelheid kein Lebenszeichen von sich gab: gerade dieses Stillschweigen rechtfertigte alles, was an Groll und Grimm in seiner Seele schwärte und ihn mit bösen Augen in die Welt blicken ließ, wo die einen an festlichen Tischen aufwuchsen und die anderen die Kärglichkeit ihres Daseins an übermütigen Augen messen konnten. Wendelin Krummholz beschloß, sich an das Studium der Kantschen Philosophie zu machen; aber während er den »Träumen eines Geistersehers« nachhing, erhielt er die Nachricht, daß seine Mutter, die niemals einen Brief schrieb, ganz plötzlich an einem Schlagfluß gestorben sei. Wendelin Krummholz faßte die Unmöglichkeit, hinter ihrem Sarge hergehen zu können, als ganz besondere Tücke des Schicksals auf, und die Säure seines Gemüts nahm zu. Als er seine ersten Gehversuche mit seinem hübschen Prachtstock hinter sich hatte, ließ er sich in einer Droschke an das Gartentor der Villa Grimminger fahren; denn er glaubte es sich selbst zu schulden, ein ernstes Wörtchen mit dem Herrn Major zu reden; aber die geschlossenen Fensterläden sagten ihm, noch ehe er es aus dem Munde des Gärtners erfuhr, daß die Herrschaft verreist sei. Von dem alten Manne vernahm er ferner, daß Otmar und Gerwin die Universität Heidelberg bezogen hätten, Alfred als Fahnenjunker in das Augsburger Regiment seines Vaters eingetreten sei und der Major mit seiner Tochter bis zum nächsten Frühjahr in Rom zu bleiben gedenke. Wendelin hörte dem Geschwätz des Alten mit gespitztem Munde zu; dann kehrte er in das Spital zurück, wo er sich von dem Königsberger Philosophen über den heiklen Begriff der Zweckmäßigkeit belehren ließ. Acht Tage darauf bestieg er, noch immer humpelnd, in der ersten Morgenfrühe den Schnellzug nach Würzburg, um zu sehen, wohin sie seine Mutter in die winterliche Erde gebettet hatten, und zwei Tage darauf, am Weihnachtsabend, fuhr er, ohne einem Menschen sein Reiseziel zu sagen, in die dicht verschneite Welt hinaus.


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