Frank Wedekind
König Nicolo oder So ist das Leben
Frank Wedekind

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Zweiter Akt

Erste Scene

Damenschneiderwerkstatt.

(Der König in Gesellentracht sitzt, an einem reichen Frauenkleid arbeitend, mit untergeschlagenen Beinen auf einem Podest. Meister Pandolfo tritt geschäftig herein)

Meister Pandolfo. Pünktlich bei der Arbeit, Gigi! Pünktlich bei der Arbeit! Brav, Gigi!

Der König. Der Hahn hat gekräht, Meister!

Meister Pandolfo. Künftig rüttle mir nur auch die Gesellen gleich aus dem Schlaf! In Gesellschaft, Gigi, arbeitet sich's besser als allein. (Nimmt ihm die Arbeit aus den Händen) Sieh her, Gigi! (Er zerreißt das Kleid) Ratsch! – Was helfen Frühaufstehen und Spätschlafengehen, wenn die Nähte nicht halten! Und die Knopflöcher, Gigi! Haben dir die Ratten dabei geholfen? Ich habe für Ihre Majestät die Königin Amelia schon gearbeitet, als ihr Mann noch Mortadella und Salami fabrizierte. Soll mir deine Pfuscherei die hohe Dame jetzt abspenstig machen? He, Gigi?

Der König. Wenn ich Euch zum Schaden arbeite, dann schickt mich fort!

Meister Pandolfo. He, diese Grobheit, Gigi! – Du glaubst wohl, in Baschi noch die Schweine zu hüten?! Vierzig Jahre auf dem Buckel und nichts gelernt! Pack dich aus meinem Haus, Landstreicher, und sieh, wo du dein Essen findest!

Der König (erhebt sich und schüttelt die Flicken ab). Ich nehme Euch beim Wort, Meister!

Meister Pandolfo. Zum Henker, Tollkopf, verstehst du keinen Spaß?! Kann ich meinem Lehrbub mehr Liebe anthun, als wenn ich ihm die Arbeit gebe, die sonst der Meister verrichtet?! Laß ich dich nicht, seit du bei mir bist, sämtliche Gewänder zuschneiden? Hol' mich der Teufel, daß ich dir deinen Schnitt nicht absehen kann! Aber die Damen von Perugia sagen: Meister Pandolfo, seit der alte Lehrbub bei Euch schafft, hat Eure Arbeit einen vornehmen Schnitt! Aber was hilft das vornehme Zuschneiden, wenn den Jungfrauen beim Tanz die Nähte platzen! Du wirst nie Geselle, Gigi, wenn du nicht nähen lernst! Mein lieber süßer Gigi, siehst du denn nicht selbst, daß ich nur dein Bestes will?!

Der König. Gut, Meister Pandolfo, ich bleibe bei Euch, wenn Ihr mir von nun an jede Woche außer freier Verpflegung noch dreißig Soldi bezahlt.

Meister Pandolfo. Das verspreche ich dir, Gigi! – So wahr ich hier stehe, verspreche ich dir das! – Dreißig Soldi willst du? – Ja, ja, dreißig Soldi! Ja, ja! – Das Kleid für Ihre Majestät die Königin muß bis zum Mittag fix und fertig genäht sein. Also fleißig, Gigi! Immer fleißig! – (Ab)

(Der König atmet, nachdem Meister Pandolfo die Werkstatt verlassen, tief auf und setzt sich dann wieder zur Arbeit. Prinzessin Alma steckt nach einer Weile den Kopf zum Fenster herein)

Alma. Seid Ihr allein, Vater?

Der König (freudig aufspringend). Mein Kleinod!

Alma (verschwindet und tritt gleich darauf zur Thür herein. Sie trägt einen schmucken dunkeln Knabenanzug). Hört uns auch niemand?

Der König. Der Meister sitzt oben beim Frühtrunk und die Gesellen schlafen noch. – Die Augenblicke, mein Kind, die ich mit dir zusammen bin, entschädigen meine Seele für Tage des dumpfen Hindämmerns. Wüßtest du, welch endlose Gespräche ich mit dir führe, wie lieb und verständig du mir auf alles antwortest! Verlaß mich nicht! Es ist ein neues Verbrechen, das ich mit dieser Bitte an dir begehe; aber sieh, ich bin ein schwacher Mensch!

Alma. Jetzt, mein Vater, wird es bald anders mit uns werden. Der alte Gerichtsschreiber, bei dem ich vor zwei Monden als Laufbursche eintrat, läßt mich schon all seine Akten kopieren. Nächste Woche will er mich mit in den Gerichtssaal nehmen, damit ich statt seiner das Protokoll führe. – O mein Vater, wenn es mir noch einmal gelänge, daß das Todesurteil, das Euch jetzt, da wir wieder hier in Perugia sind, furchtbarer denn je bedroht, von Eurem Haupte genommen würde! – Ob man Euch wieder auf den Thron erhebt, kann ich bei meiner weiblichen Unkenntnis der Politik nicht ermessen. Aber höher als einen Fürsten würde man Euch verehren! Müßt Ihr nicht auch etwas Göttliches haben, daß Ihr trotz Eurer Bedrängnis einen Menschen so mit Seligkeit erfüllen könnt, wie ich das empfinde! Welch einen Reichtum an Glück müßt Ihr erst auszuteilen haben, wenn Euch die Fesseln abgenommen sind. Dann reißen sich Tausende um Euch und Ihr habt keinen König mehr um die Last seiner Krone zu beneiden!

Der König. Rede nicht weiter von mir. Ich muß in Verborgenheit abwarten, bis meine Stunde gekommen ist. – Aber du, mein Kind, fühlst du dich denn nicht todunglücklich unter der Last deiner Arbeit? – Wird dein Herr nicht grob und verächtlich, wenn er gerade einen Menschen braucht, um seine schlimme Laune auszulassen?

Alma. Aber fühlt Ihr denn gar nicht, mein Vater, wie lebensfroh mir zu Mut ist?! Die Menschen, denen ich diene, wissen Erziehung und Bildung zu schätzen. Ihr hingegen atmet hier unter einer Menschenbrut, die Eure Seele, ohne es zu wissen und zu wollen, durch all ihre Lebensgewohnheiten peinigen muß. Ich sehe Euch über jede Erwiderung in die Zähne knirschen; ich sehe, wie Euch bei den Mahlzeiten der Ekel den Hals zuschnürt. O verzeiht meine Worte! Sie achten Eurer schmerzhaftesten Wunden nicht!

Der König (launig). Nun denke dir, mein liebes Kind, infolge dieser außergewöhnlichen Ursachen werde ich von Meister Pandolfo als sein fleißigster Arbeiter geschätzt! In Baschi, wo ich das Vieh hütete, hatte ich mein Nachtlager unter einem entlegenen Vordach hinter den Ställen. Da hing ich denn jeden Morgen, auf dem Rücken liegend, meinen Träumen nach, bis die Sonne über mir im Zenith stand. Deshalb gab mir der Bauer den Laufpaß. Hier hingegen schlafe ich mit drei gemeinen Gesellen zusammen und bin deshalb der Erste, der sich erhebt, und der Letzte, der sich zur Ruhe legt. Für mich schläft es sich nun einmal in Gesellschaft von Menschen nicht so gut, wie unter Tieren. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ein so fleißiger Arbeiter in mir steckt! Die Arbeit dient mir geradezu als eine Art von Zuflucht! Und dann die herrlichen Farben der schweren Samte, der Glanz der Goldbrokate, alles das erfrischt mir die Seele derart, daß ich darnach lechze, wie nach einem stärkenden Trank. – Und dann hat Meister Pandolfos findiger Geist nämlich gleich in den ersten Tagen eine Begabung in mir entdeckt, von der ich selber aufs höchste überrascht war und von deren Bethätigung ich mich, offen gesagt, leichten Herzens nicht wieder trennen würde. Er fand, daß ich mich besser als jeder seiner Gesellen und als er selbst dazu eigne, nach freiem Auge die Stoffe für die Damenkleider so zuzuschneiden, wie sie die Gestalt am schönsten zur Geltung bringen. So zum Beispiel hätte ich dieses Wams, das du da trägst, jedenfalls in einer ganz anderen Weise geschnitten, als wie es der elende Stümper gethan hat, dessen Schere eines so herrlichen Tuches gar nicht würdig war!

Alma. O schweigt, mein Vater! Wie könnt Ihr so erbarmungslosen Spott mit Eurem unseligen Geschick treiben!

Der König (heftig). Schmeichle mir nicht so höhnisch, mein Kind! – Das Geschick treibt seinen Spott mit mir und nicht ich mit ihm!

Alma (ihn besänftigend). Geliebter Vater, Ihr bleibt König, was immer Euch in dieser Welt auch begegnen mag!

Der König. In deinem liebenden Herzen, ja! – Und dadurch verdrängt dein Vater aus deinem Herzen das Empfinden zum Manne, das in diesen Jahren bei dir erwachen müßte, um dich mit beseligender Gewalt deinem Lebensglück entgegenzuführen. – Um Rang und Reichtum hat dich deines Vaters selbstvergötternde Narrheit schon gebracht; nun bringt er sein Kind auch noch um die höchsten Rechte des Lebens, die die Geschöpfe der Wildnis mit der Menschheit teilen und ohne die auf Thronen so wenig wie in der Hütte das Dasein je als eine Gnade der Götter empfunden ward! – Welcher Wahnwitz verführte mich auch, meine Körperkraft an den Fluten des San Margherita-Baches zu versuchen, statt Umbrien mit Krieg zu überziehen, die Stadt an ihren vier Enden anzuzünden und meine Krone mit eigener Hand unter den glühenden Trümmern hervorzuholen! – – Aber das war nur die Fortsetzung aller vorangegangenen Thorheit!

Alma (weinend). Der Himmel erbarm' sich meiner thörichten Seele! Wie konnt' ich es fertig bringen, Euch so zu kränken!

Der König. Im Unglück thun die Menschen, ohne es zu wissen und zu wollen, einander weh, so wahr, wie im Glück ein Jeder, ohne es zu wissen und zu wollen, dem Andern zur Freude lebt! Laß es den Gerichteten nicht entgelten. – Du mußt geh'n, mein Kind. Ich höre die Gesellen oben.' schreien und trampeln.

Alma (ihn küssend). Auf morgen früh! (Ab)

(Der König nimmt seine Arbeit wieder auf. Darauf kommen die drei Gesellen herein und setzen sich auf der anderen Seite der Werkstatt auf verschiedenen Tischen zur Arbeit zurecht)

Michele. Gigi, wenn du noch einmal vor dem Hahnenschrei aufstehst, dann schlage ich dir in der nächsten Nacht im Schlaf das Nasenbein entzwei. Dann such' dir die Weiber, denen du deine Fratze künftig noch feilbietest!

Der König. Dich möchte es wohl freuen, einen Schlafenden niederzuhauen. Aber nimm deine Knochen dabei in acht, sonst stehst du am nächsten Tag vielleicht überhaupt nicht auf!

Noè. Prächtig herausbezahlt, Gigi! Erzähl' uns doch gleich noch einige von deinen Kriegsthaten, damit wir Angst vor dir bekommen!

Der König. Mir ist die Zeit nicht lang. Erzähl' du von deinem Gänseraub beim Pfarrer in Bevagna, wenn deine Ohren nach Heldengeschichten dürsten!

Battista. Heiliger Schutzpatron, steh' uns bei! Sonst bist du immer zahm und duckmäusig, Gigi, als hätten deine Nägel noch keine Laus zerdrückt; und heute möchtest du uns am liebsten alle Drei zugleich auf die Nadel spießen!

Der König. Laßt mich doch in Frieden! Mich quält ein hohler Zahn; deshalb kam ich so früh vom Schlafboden herunter.

Noè. Sag' doch die Wahrheit, Gigi! War nicht eben der Page wieder hier, der dir die glühenden Liebesbriefe von der Dame überbringt, für die du das gelbe Seidenkleid zugeschnitten hast?

Der König. Kümm're ich mich vielleicht um deine Liebesbriefe?!

Michele. Du kümmerst dich noch um ganz andere Dinge! Stehst gleich nach Mitternacht auf, um dich im Speichellecken und Achseltragen zu üben! Läßt dir vom Meister die Gesellenarbeit geben und teilst uns die Lehrlingsarbeit zu! Du kommst uns wie die Pest ins Haus!

Battista. – Lehrbub', bring' uns die Morgensuppe!

(Der König verläßt die Werkstatt)

Noè. Da oben fehlt es ihm; mir thut er leid. Er muß bei einem Herrn von Stand so eine Art Stiefelputzer gewesen sein. Das hat ihm das Hirn im Kopf verschoben.

Battista. Kam dir je ein gewesener Lanzknecht vor Augen, der sich von Schneidergesellen so erbärmlich hat schuhriegeln lassen?

Noè. Meine Mutter war Bauernmagd; ich sage das jedem, der mich fragt. Ich stelle mich nicht, als hätte ich den heiligen Vater beim Schlafengehen bedient!

Michele. Ich will euch sagen, warum der Bube so stockstumm ist! Von uns hat sich jeder in der Welt herumgetrieben, und wir hatten oft genug nichts zu beißen. Thut der aber sein Maul einmal auf, dann kommen Flüche aus ihm heraus von einer Ruchlosigkeit, daß sich uns dreien der Magen umkehrt! Dann schämt sich die Erde, daß sie den Unhold hervorgebracht hat; dann schämt sich der Himmel, daß er ihn beschienen hat; dann schämt sich die Hölle, daß sie ihn noch nicht verschlungen hat! – Ihr werdet's erleben!

(Der König kommt mit vier hölzernen Löffeln und einem Topf voll Suppe zurück, den er vor die Gesellen hinstellt)

Michele. Her damit, Unhold! Du leckst unsere Löffel ab, wenn wir satt sind!

Der König (weicht im Kampf mit sich selbst zurück, sucht zuerst seines Zornes Herr zu werden; dann sich gegen die Stirne schlagend). O Fluch über den König, der mich hindert, mich von diesem Schurken prügeln zu lassen! O Fluch über den König, der mich hindert, diesen Schurken zu zerschmettern, da ich ihn besser begreife, als er mich begreift! O Fluch über den König, der mich hindert, ein Mensch zu sein, wie jeder andere! O dreimal Fluch über den König! (Die Gesellen sind entsetzt aufgesprungen)

Michele. Habt Ihr's gehört? Er lästert den König! Er lästert den König!

Battista und Noè (zugleich). Er hat den König gelästert!

Michele. Packt ihn an! Haltet ihn fest! – Meister Pandolfo! – Meister Pandolfo! – Schlagt ihm die Zähne ein!

Meister Pandolfo (hereinstürzend). Immer fleißig, Burschen! Was prügelt ihr euch schon so früh in der Werkstatt? Seid ihr besessen?!

Die Gesellen (den König an den Armen haltend). Den König hat er gelästert! Fluch auf den König hat er geschrieen! Dreimal Fluch auf den König!

Der König (der sich willenlos der Gewalt fügt). Dreimal Fluch auf den König! – So falle denn des Königs Haupt unter dem Henkerbeil!

Die Gesellen. Hört Ihr ihn, Meister Pandolfo!

Der König (für sich). Mein armes Kind!

Meister Pandolfo. Bindet ihm die Hände auf den Rücken! Fluch auf unseren lieben guten König Pietro! König Pietros Haupt soll unter dem Henkerbeil fallen! Holt Stricke her! Führt den Hund zum Gericht! Der Landstreicher verjagt mir die beste Kundschaft! Das Haupt König Pietros, der seine Rechnungen so pünktlich bezahlt, wie es überhaupt noch kein König gethan hat!

Zweite Scene

Gerichtssaal.

(Am mittleren Tisch der Oberrichter mit zwei Richtern, rechts von ihm auf erhöhtem Sitz der Prokurator des Königs, links von ihm aus erhöhtem Sitz der Verteidiger. Rechts weiter vorne der Gerichtsaktuar mit Prinzessin Alma als Schreiberjunge, die das Protokoll vor sich hat. Links weiter vorne eine Bank, auf der Meister Pandolfo und seine Gesellen sitzen. Links vorne Hellebardiere, die die Thür zum Nebenzimmer bewachen. Der Hintergrund des Saales ist mit Zuhörern angefüllt)

Der Oberrichter. Ich eröffne die Sitzung im Namen Seiner erhabenen Majestät des Königs. – Ich erteile vorerst dem Vertreter der Anklage, dem Herrn Silvio Andreotti, Doctor beider Rechte und Prokurator des Königs, auf sein Verlangen das Wort.

Der Prokurator des Königs. Unter der segensreichen Herrschaft unseres erhabenen und geliebten Königs Pietro ist es in unserer Stadt Perugia zur Gepflogenheit geworden, daß dem Bürger, um sein Vertrauen in die unerschütterliche Unbestechlichkeit unserer Rechtsprechung zu befestigen, gestattet wurde, sich während unserer Verhandlungen im Gerichtssaal aufzuhalten. Angesichts des heute zur Verhandlung gelangenden Verbrechens ersuche ich hingegen die Richter, sie möchten die hier versammelten Zuhörer, um sie vor einem allzutiefen Einblick in die Verworfenheit der menschlichen Natur zu bewahren, von unserer Verhandlung ausschließen.

Der Oberrichter. Dem wohlüberlegten Vorschlage des würdigen Herrn Prokurators soll entsprochen werden.

(Die Zuhörerschaft wird durch Hellebardiere mit quergehaltener Waffe lautlos aus dem Saal gedrängt)

Der Oberrichter. Unser erhabener König Pietro hat die weise und gnädige Bestimmung getroffen, daß einem jeden unbemittelten Angeklagten, gleichviel aus welchem Lande er immer sein mag, auf Kosten unserer Stadt ein rechtskundiger Verteidiger zur Seite zu geben sei. Der würdige Herr Corrado Ezzelino, Lehrer und Doctor beider Rechte, hat sich bereit erklärt, heute dieses Amtes zu walten. Nunmehr erteile ich unserem würdigen Herrn Gerichtsaktuar Matteo Nerli auf sein besonderes Verlangen das Wort.

Der Gerichtsaktuar. Hochwürdige und weise Richter! Der Krampf, der infolge einer langjährigen nimmermüden Thätigkeit im Dienste des Gesetzes die Bewegungen meiner Rechten lähmt, läßt mich der Ehre nicht teilhaftig sein, eigenhändig das Protokoll unserer heutigen Verhandlung aufzusetzen. An meiner Seite sehet Ihr meinen Schreiberlehrling, einen mir liebgewordenen aufgeweckten Knaben, trotz seiner Jugend mit ganz außergewöhnlicher Liebe zur Rechtsgelehrsamkeit begabt, dem ich das Niederschreiben des Protokolles unter Führung und Beaufsichtigung seines Herrn anzuvertrauen bitte.

Der Oberrichter. Euer Wunsch ist erfüllt, Meister Matteo. – Die Zeugen, die zu der heutigen Sitzung geladen wurden, haben sich sämtlich in Person eingefunden. – Man führe den Angeklagten vor.

(Der König wird von Hellebardieren aus dem Nebenzimmer hereingeführt. Prinzessin Alma schrickt bei seinem Anblick heftig zusammen, thut sich aber Gewalt an und richtet ihr Schreibzeug her)

Der Oberrichter. Du nennst dich Ludovicus und hast vordem in Baschi dem Hüten von Vieh obgelegen. Angeklagt bist du des crimen laesae majestatis, wie es schon durch die unvergängliche Gesetzgebung unserer großen Vorfahren, der alten Römer, mit schweren Strafen bedroht worden ist; des Verbrechens der verletzten Majestät oder, wie es mit anderen Worten heißt, der Beleidigung der geheiligten Person des Königs. Bekennst du dich dieses Verbrechens für schuldig?

Der König. Ja.

Der Gerichtsaktuar (zu Alma). »Ja« hat er gesagt. Aufschreiben, mein Junge! Genau aufschreiben!

Der Oberrichter. Nach den übereinstimmenden Aussagen von vier einwandfreien Zeugen waren deine Worte: »Dreimal Fluch auf den König! Es falle des Königs Haupt unter dem Henkerbeil!«

Der König. Das waren meine Worte.

Der Gerichtsaktuar (zu Alma). »Das waren meine Worte! Josef Maria, ein Tintenklex! Junge, ist denn heute der Leibhaftige in dich gefahren?!

Der Oberrichter. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?

Der König. Nichts.

Michele. Nichts hat er vorzubringen! Habt Ihr's gehört? Er hat nichts vorzubringen!

Meister Pandolfo. Aus elendiger Rachsucht gegen mich spie er seine gräßlichen Flüche aus! Mich, mein Geschäft und meine ganze Familie wollte er ins Verderben stürzen!

Der Oberrichter. Ruhe auf der Zeugenbank! – Nun, was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?

Der König. Nichts. – Nach der Majestät Gottes steht wohl die Majestät des Königs am höchsten in dieser Welt. So wenig wie Gottes Majestät je unter den Flüchen der Menschheit gelitten, so wenig leidet wohl auch die Majestät des Königs darunter. Könnte die Majestät Gottes dadurch verringert werden, daß die niedrige Menschheit erklärt: Wir glauben nicht mehr an Dich? Könnte die königliche Majestät dadurch verringert werden, daß die Menschen sagen: Wir gehorchen Dir nicht mehr? Wer wollte das auch nur für möglich halten! – Gott ist in Niedrigkeit auf Erden gewandelt, und die niedrige Menschheit glaubte ihn zum Tode zu führen. Und so mag die niedrige Menschheit glauben, den König zu verjagen; er bleibt, wo er war. Ob sie ihm zurufen, es falle dein Haupt unter dem Henkerbeil, es thut ihm keinen Eintrag. Deshalb, mag auch nächst der Lästerung Gottes die Lästerung des Königs das fluchwürdigste Verbrechen sein – ein Verbrechen, dessen ich mich, wie ich offen bekannte, mit meinen Worten schuldig gemacht – mir scheint es für den König zu gleichgültig und zu geringfügig, als daß er es je zu rächen brauchte; mir scheint es zugleich zu furchtbar, als daß die niedrige Menschheit sich vermessen dürfte, es je zu sühnen. Hat doch die niedrige Menschheit keine höhere Gewalt als über Leben und Tod, und kann sie doch nicht wissen, ob der Elende nicht den Tod, und sei er noch so qualvoll, als die Erlösung von tausend Qualen willkommen hieße! – Diese Gründe habe ich dafür zu nennen, daß für mein Verschulden von den Richtern, vor denen ich stehe, keinerlei Strafe über mich verhängt werden kann. (Allgemeines Gemurmel des Unwillens.) Jetzt laßt mich, weise und geehrte Richter, die Gründe nennen, die es Euch zur heiligen Pflicht machen, mich unter Anwendung der äußersten Strenge menschlicher Gerechtigkeit zu verurteilen.

Noè. Ich habe es euch doch gleich gesagt: der Kerl ist vollkommen verrückt!

Der Oberrichter (zur Zeugenbank). Ruhe! – (Zum König) Sprich weiter!

Der König. Der Majestät des Königs konnten meine Worte, wie ich es der menschlichen Vernunft gemäß erwiesen, keinerlei Eintrag thun. Aber leider ist das Vertrauen in die Majestät des Königs nächst dem Vertrauen in die Allgüte einer Vorsehung das höchste und heiligste Besitztum der niedrigen Menschheit. Was die Erdensöhne seit undenklichen Zeiten an ewigen Wahrheiten, gegen die sich keiner, sei er Gebieter oder Sklave, ungestraft versündigt, erfahren haben, das stellten sie unter Gottes heilige Obhut. Alles, was ihr und der Ihrigen Leib und Leben, was ihre Habe und das Gedeihen ihres Tagewerkes betrifft, das stellten sie in kindlichem Vertrauen in die Weisheit ihrer Vorfahren in ihres Königs Obhut. In ihrem Könige erkennt die niedrige Menschheit das Abbild des eigenen Glückes, und wer dieses Abbild befleckt, der raubt ihr den Mut zur Arbeit und die Ruhe der Nacht. Dieser Sünde bin ich in weit höherem Maße schuldig, als es menschliche Gerechtigkeit ermißt. Unmöglich kann die Strafe, die man über mich verhängt, der Schwere meines Verbrechens gleichkommen. Mag sie sich gegen mein Leben richten, mag sie ausfallen, wie immer sie will, ich werde sie als eine Gnade Gottes aus Eurer Hand, ihr Richter, entgegennehmen.

Der Oberrichter. Die Gnade deines Herrn, unseres teuren und geliebten Königs, hat dir einen rechtskundigen Verteidiger zur Seite gegeben. – Der würdige Herr Corrado Ezzelino, Lehrer und Doctor beider Rechte, hat das Wort.

Der Verteidiger (erhebt sich). Meine hochwohlweisen, hochgerechten, würdigen, hochgeehrten Richter! Erlaubt mir vorerst ein Wort über unseren wackeren und verdienten Mitbürger, den Schneidermeister Cesare Pandolfo, zu reden. Tiefgebeugt unter der Wirkung des unter seinem Dache begangenen verabscheuenswürdigen Verbrechens sehen wir ihn heute auf der Zeugenbank sitzen. Wir alle kennen die Tüchtigkeit seiner Gesinnung; wir alle, wie wir hier versammelt sind, kennen die Gediegenheit seiner Arbeit. Keinem unter uns wird es je einfallen, dessen glaube ich Meister Pandolfo in unser aller Namen versichern zu dürfen, ihn auch nur im entferntesten mit dem unter seinem Dache begangenen, verabscheuenswürdigen Verbrechen in Beziehung zu bringen! – Was nunmehr den Angeklagten betrifft, den zu verteidigen ich die traurige Pflicht habe, so ist er augenscheinlich ein ganz verkommenes Subjekt, viel würdiger unserer tiefsten Verachtung als eines nach den erhabenen Normen des hohen römischen Rechtes klüglich gefällten Urteils. Lasset, o Richter, an diesem Auswurf unserer teuren menschlichen Gemeinschaft das Wort der Schrift sich bewahrheiten, in der es heißt: Du sollst deine Perlen nicht vor die Säue werfen! Da der Angeklagte in seiner beispiellos, geistigen und sittlichen Verkommenheit die Ehre, die ihm durch ein auf der heiligen Wage der Gerechtigkeit abgewogenes Urteil zu teil würde, unmöglich ihrem vollen Werte entsprechend zu schätzen wüßte, so ersuche ich Euch, hochwohlweise und geehrte Richter, um der Hoheit unseres Berufes nicht zu nahe zu treten, es bei einer Prügelstrafe bewenden zu lassen. Sollte Euch, hochwohlweise und geehrte Richter, eine Prügelstrafe nicht ausreichend erscheinen, so könnte die Prügelstrafe vielleicht durch eine dreitägige Ausstellung am Schandpfahl auf dem Markte von Perugia ergänzt werden.

Der Oberrichter. Ich erteile das Wort dem Prokurator des Königs, unserem würdigen Herrn Silvio Andreotti, Doctor beider Rechte.

Der Prokurator des Königs (der sich während der ganzen Verhandlung stöhnend und gähnend in seinem Sessel gewälzt hat). Hochgeehrte Richter! Der Angeklagte ist, wie die treffliche Verteidigungsrede des würdigen Herrn Corrado Ezzelino richtig festgestellt hat, ein verkommenes Subjekt, ein Auswurf unserer teuren menschlichen Gemeinschaft, ein Individuum von beispielloser, sittlicher Verkommenheit, dem ich indessen eine gewisse geistige Verschmitztheit, um mich deutlicher auszudrücken, eine gewisse Bauernschlauheit nicht absprechen möchte. Auf diese Bauernschlauheit deuten seine eigenen Worte hin, die er hier gesprochen, sowie die Thatsache, daß er in der Absicht, unsere Urteilskraft von vornherein durch einen günstigen Eindruck zu bestechen, seine That gar nicht zu leugnen versucht hat. Wenn nun aber ein auf der tiefsten Stufe menschlicher Verkommenheit stehendes Individuum ein so himmelschreiendes Verbrechen begeht, dann ist dieses Individuum überhaupt nicht mehr als menschliches Wesen anzusehen, sondern als wildes Tier, und als solches, wie der Angeklagte, in der Absicht unsere Urteilskraft zu bestechen, selber sehr treffend hervorhob, als der verderblichste Feind unserer so teuren menschlichen Gemeinschaft, die mich und Euch, ihr Richter, zu ihrem Schutze berufen und hierhergestellt hat. Solch ein wildes Tier verdient aber durch seine Niedrigkeit sowie durch seine Gemeingefährlichkeit kein anderes Schicksal, als daß es durch den Tod vernichtet und seine Spur von dieser Erde vertilgt werde!

Der Oberrichter. Angeklagter Ludovicus! Was hast du hierauf noch zu sagen?

Der König. Nichts.

Der Oberrichter. Die Zeugen sind entlassen! – Das Gericht zieht sich zur Fällung des Urteils in das Beratungszimmer zurück.

(Die Zeugen, die Richter und der Prokurator des Königs verlassen den Saal)

Der Gerichtsaktuar (die Hände über den Kopf zusammenschlagend, zu Alma, die in Thränen gebadet über dem Protokoll sitzt). Hilf mir, heilige Maria, Mutter Gottes, hat mir der Bengel in seiner Albernheit mein ganzes Gerichtsprotokoll vollgeheult! Nicht ein Buchstabe mehr zu lesen! Die Blätter aufeinandergeklebt!

Alma (schluchzend). O mein Gott, er ist unschuldig! Ich weiß es, daß er unschuldig ist!

Der Gerichtsaktuar. Was hat denn dich das zu kümmern, ob er schuldig ist oder unschuldig! Ist es dein Kopf oder ist es sein Kopf, den man ihm abschlägt!

Der König (der immer noch allein mitten im Saal steht, abgewandt, aber mit Nachdruck). Meine Worte waren: Und so falle denn endlich des Königs Haupt auf dem Markte von Perugia unter dem Henkerbeil!

Der Gerichtsaktuar (zu Alma). Da hörst du es, wie unschuldig er ist!!

Alma (hat sich erhoben und betet inbrünstig mit gefalteten Händen). Heiliger Gott im Himmel, der du Erbarmen hast mit allen Armen und Elenden, bewahre uns davor!

Der Gerichtsaktuar. Nun siehst du, du bist ein wackerer Junge und hast das Herz auf dem rechten Fleck! Zu den Gerichtsverhandlungen werde ich dich freilich sobald nicht wieder mitnehmen. Du mußt zu Hause das ganze Protokoll nach deinem Gedächtnis noch einmal aufsetzen. Dabei lernst du mehr, als wenn du das ganze Corpus juris durchstudierst!

Der Verteidiger (hat, nachdem die Richter den Saal verlassen, ein Paket mit belegten Butterbröten, eine Kürbisflasche und einen Becher aus seinem Talar gezogen. Flasche und Becher hat er vor sich aufgepflanzt; darauf kommt er, mit Frühstücken beschäftigt, nach vorn). Nun, Gigi, war das nicht eine ciceronianische Verteidigungsrede, die ich da für dich gehalten habe? Aber was weißt du von Cicero! Du erlaubst mir schon, daß ich frühstücke! Ich hatte ursprünglich die Absicht, meiner Verteidigungsrede ein kleines Curiculum vitae einzuflechten, eine anschauliche Schilderung deines Viehhütens &c. Aber aufrichtig gesagt, Gigi, ich glaube, das hätte dir bei diesen (hinausdeutend) Hornochsen da draußen auch nicht viel geholfen!

Der König. Ich sage Euch meinen Dank für Eure Bemühung, würdiger Doktor Ezzelino.

(Die Richter kommen aus dem Beratungszimmer zurück und nehmen ihre Plätze wieder ein)

Der Oberrichter (ein Schriftstück verlesend). Der Angeklagte Ludovicus, bis anhin Schneiderlehrling in Perugia, vordem auf dem Dorfe Baschi mit dem Hüten von Vieh betraut, ist des Verbrechens der Beleidigung der geheiligten Person des Königs angeklagt und wurde dieses Verbrechens auf Grund übereinstimmender Zeugenaussagen, sowie seines eigenen Geständnisses für schuldig befunden. Der Angeklagte wurde verurteilt, in Anbetracht seiner bisherigen Unbescholtenheit, sowie in Anbetracht seines freiwillig abgelegten Geständnisses zu zweijähriger Kerkerhaft . . .

Alma (stößt einen verhaltenen Schrei aus).

Der Gerichtsaktuar. Junge, willst du dein Maul halten, wenn der Richter spricht!

Der Oberrichter. . . . des weiteren zu zehnjährigem Verlust aller bürgerlichen Rechte und Ehren, sowie zur Verweisung aus der Stadt Perugia für die ganze Dauer seines Lebens unter Verhängung der Todesstrafe im Falle jemaliger Rückkehr.

Der Gerichtsaktuar (zu Alma). Schreib auf, mein Junge! Schreib auf! Das ist das Allerwichtigste!

Der Oberrichter (weiterlesend). In Anbetracht der Thatsache, daß der Angeklagte nicht die geringste Spur von Reue über seine That an den Tag gelegt hat, wurde das Urteil dahin verschärft, daß er seine zweijährige Kerkerstrafe in allerstrengster Einzelhaft zu verbüßen hat. – Gegeben im Namen des Königs am dritten Tage des Monates August im Jahre des Heiles Eintausendvierhundertundneunundneunzig. – (Zu den Wachen gewendet) Der Gefangene wird abgeführt! (Sich erhebend, zu den Richtern) Damit erkläre ich die heutige Verhandlung für geschlossen.


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