Frank Wedekind
Mit allen Hunden gehetzt
Frank Wedekind

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Vierter Auftritt.

Effie (rasch eintretend, sehr munter): Aber Mutter, Mutter, worüber erregst du dich denn so? Ich höre den Lärm bis in mein Zimmer hinauf. Ist dieser energische Auslandsmann immer noch nicht zufrieden? Nun? Warum denn Trübsal blasen? Sei lustig, Mutter! Schade um jede Minute, die wir Trübsal blasen! Eigentlich hast du doch immer geahnt, du könntest noch einmal in seine Teufelskrallen geraten.

Rüdiger: In dem Augenblick, da man sich durch etwas anderes, als durch seinen freien Willen gebunden glaubt, tritt die ganze fluchwürdige Entsetzlichkeit der Ehe zutage.

Leonore (zu Effie): Ist denn von deinem Mann keine Hilfe zu erwarten?

Effie: Geld meinst du? – Nein, liebste Mutter. Mein Mann hat nur noch Schulden. Die 200 000 Francs, die ich letzten Mittwoch in Monte Carlo verspielte, rührten schon zum größten Teil nicht mehr von ihm her. Bei meiner Abreise trug er sich mit dem Plan, eine australische Eisenbahn-Gesellschaft zu gründen. Er glaubte jedenfalls, in Australien gäbe es noch keine Eisenbahnen.

Leonore: Wovon willst du denn leben?

Effie: Von mir, liebste Mutter! An meinen Gewohnheiten ändert das nicht das Geringste. Im ersten halben Jahre wären wir vor Langeweile schon beide ins Wasser gesprungen, wenn ich durch meine Abenteuer nicht immer für interessanten Unterhaltungsstoff gesorgt hätte. Oder glaubst du vielleicht, daß es mir an Naturveranlagung fehlt? – Heute bin ich in unseren Kreisen schon einer der gefeiertsten Namen zwischen Petersburg und San Franzisko.

Rüdiger: Was hindert uns denn eigentlich daran, in Frieden zu leben und alle Niederträchtigkeiten zu verachten?

Leonore: Menschenwürde hindert uns daran! Angeborene Menschenwürde! Die nackte Würde, die dem ärmsten Kind aus dem treuen Zusammenhalten seiner Eltern zum Erbteil wird! Die Würde, auf die der ärmste Mensch sein Lebensglück baut! Habe ich dir drei Jahre jedes Opfer gebracht, um durch das entsetzlichste Opfer, das ich dir bringen kann, all mein schwererkämpftes Eigentum an dir zu verlieren?

Rüdiger: Frauen sind wetterwendisch.

Effie: Wetterwendisch müssen wir sein, sonst finden wir überhaupt keinen Mann.

Rüdiger (zu Leonore): Vor fünf Minuten standest du ebenso entschlossen auf dem entgegengesetzten Standpunkt.

Leonore: Und du? Standest du vor fünf Minuten nicht auch ebenso entschlossen auf dem entgegengesetzten Standpunkt?

Rüdiger: Ich habe meine Mutlosigkeit überwunden. Ich habe meine Fassung wiedergewonnen.

Leonore: Warum waren wir denn dann vor fünf Minuten nicht einig? Warum sind wir jetzt nicht einig? Soll ich es aussprechen? Warum auch nicht?! – Ich kenne mein Kind und ich kenne dich. Wenn zwischen dir und meinem Kinde bis heute eine undurchdringliche Mauer aufgerichtet war, dann weiß ich, welch übermenschlichen Kraftaufwand mich das drei Jahre lang gekostet hat.

Rüdiger: Du weißt vor Erregung nicht mehr was du sagst, Leonore! Wie verfällst du ohne den geringsten Anlaß plötzlich auf diesen himmelschreienden Argwohn?

Effie: Liebste Mutter, wenn ich mich doch nur statt deiner opfern könnte! Wenn ich mit dem eifersüchtigsten Mann verheiratet wäre, ich wollte meinem Manne aus solch einer Falle helfen, ohne meine eheliche Treue auch nur im geringsten dabei zu verletzen.

Leonore: Wie meinst du das?

Effie: Zu jedem Ehebruch gehören doch immer zwei. Wenigstens nach meiner Erfahrung. Ich bin natürlich da. Ich bin sogar Feuer und Flamme. Ich bin begeistert. Ich bin (unter Wonneschauern) verliebt. Ich bin das alles aber in einer so übertriebenen, unechten, unnatürlichen Art, daß dem anderen jede Lust vergeht, daß ihm die Haare zu Berge stehen, daß er vor Abscheu gar nicht weiß, wohin sehen. Dann behaupte ich aber: Ich will das Leben meines Mannes retten! Ich versuche, ihm Gewalt anzutun. Damit ist der andere vollständig erledigt. Er dankt dem Himmel, wenn die Begegnung ein Ende hat. Er hat keinen heißeren Wunsch, als daß nie eine Menschenseele etwas davon erfährt.

Leonore: Welcher Mann in der Welt ist so dumm, daß er den Betrug nicht merkt?!

Effie: Das kommt einzig und allein auf die Frau an. Wenn sie den Verführer heimlich gern hat, dann merkt er natürlich den Betrug. Liebt die Frau aber einen Anderen, dann kann sie sich so glänzend verstellen, daß der abgebrühteste Schürzenjäger an all seiner Menschenkenntnis irre wird. – Wozu sind wir denn die unumschränkten Herrinnen unserer Gunst?!

Leonore: Mir graut!

Effie: Aber Mutter, warum bist du denn nicht stolz darauf, begehrt zu sein? Ich kann dem energischen Auslandsmann seine Verliebtheit gar nicht verdenken. Ich begreife seine Verliebtheit. Alle Teufel! Ich finde seine Verschwendung bewundernswert. Und außerdem hast du auch noch einen Mann, der um deine Treue besorgt ist. Ich kenne solche Männer nur aus Romanen. Mein Mann ist so wahnsinnig in mich vernarrt: Er bedankt sich noch bei meinen Freunden dafür, daß sie sich meiner erbarmen. Dadurch verletzt er unausgesetzt mein Schamgefühl. Er setzt mich fortwährend in den Augen der Welt herab. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich scheiden lasse. Ich will versuchen, ob ich mit meiner Begabung und mit meiner Welterfahrung nicht wie eine unabhängige Fürstin leben kann. Andere tun das. Möglich, daß ich meine Eigenschaften überschätze. Aber ich kenne so unzählig viele Frauen, die wie Fürstinnen leben, nur weil sie ebenso wie ich den Affen machen können. Ich habe unter all den Frauen aber noch keine gefunden, die eine wirkliche Fürstin vorstellen kann. Ich kann ebensogut eine Fürstin spielen wie ich über Tische und Stühle springen und den Affen machen kann.

Leonore: Kind, mein Kind, an welchen Abgründen sind wir angelangt?

Rüdiger: Ist unsere Lage, ruhig beurteilt, denn wirklich so entsetzlich?! – (Zu Leonore.) Ich habe die 400 000 Mark, die du als Braut von deinem Vater mitbekommen hattest, im Laufe von drei Jahren um das Vierfache vermehrt. Das Geld ist in Sicherheit. Wenn wir über den heutigen Tag hinwegkommen, dann hat kein Mensch auf Gottes Welt mehr eine Forderung an uns. Dann sind wir frei und schlagen unbekümmerten Sinns die Bahnen ein, die wir uns beide vorgezeichnet hatten. Dann beweise ich den Menschen, daß ich ein Recht hatte, achtlos über ihre Grenzsteine hinwegzuschreiten. Dann trägt die Erde noch in hundert Jahren die Spuren meines Wirkens.

Leonore: Was ich armes Geschöpf dazu tun kann, um dir deine Siegeslaufbahn zu erleichtern, das tu ich. Hab ich sonst ein Recht, zu leben?! Bedrückt und behindert bist du genug durch mich.

Rüdiger: Glaubst du denn vielleicht, daß die großen Vermögen in dieser Welt jemals durch harmlosere Mittel begründet wurden? Jeder Besitz bringt einem als ersten Ertrag gleich den stolzen Vorteil ein, daß man sich nicht mehr darum zu kümmern braucht, woher er stammt.

Effie: Ich halte dieses Leben hier nicht lange mehr aus! Ich komme extra von Monte Carlo nach Ouchy, um meine Eltern einmal wieder zu sehen und ich finde sie in einer Stimmung, daß ich mich in eine Kuhhaut einnähen lassen möchte. Von früh bis spät nichts als Schwierigkeiten. Ich kann hier doch nicht den ganzen Tag einsam auf meinem Zimmer sitzen und Dante lesen! Ich habe mich schon unter den Kellnern umgesehen. Aber diese schwerfälligen Schweizer kennen internationale Umgangsformen noch nicht. Sei vergnügt, Mutter! Du hast eine Heidenangst, deine Ehe könnte zum Teufel gehen. Das ist kindliche Verblendung! Ich kenne in der Welt nichts Unverwüstlicheres als die Ehe. An meine Ehe denke ich dabei noch gar nicht. Meine Ehe ist von einer Zähigkeit, von einer Dehnbarkeit, man könnte die Weltkugel damit umspannen! Aber ich kenne Menschen, die sich fünfundzwanzig Jahre lang täglich gezankt haben, ohne daß sie sich ein einziges Mal untreu wurden! Ich kenne Menschen, die sich fünfundzwanzig Jahre lang täglich untreu wurden, ohne daß sie sich ein einziges Mal dabei gezankt haben! Das glaubt kein Mensch, was so eine richtige Ehe alles aushält! Dabei ist es durchaus gar nicht notwendig, daß beide einander gern haben. Wenn nur einer von beiden den anderen gern hat. Das langt schon reichlich fürs halbe Leben.

Leonore: Vielleicht bin ich der Gewalt der Ereignisse nicht gewachsen. Aber ich erscheine mir durch unsere Lage so zermalmt: ich habe das Gefühl, als setze mir jemand seinen Fuß auf den Kopf, um meinen Mund in den Straßenkot zu stoßen. Friß Unrat! Denselben Unrat, den du dir zeitlebens so hochmütig von den Fingerspitzen gehalten hast! Den friß jetzt!

Effie: Das nennt man Hypochondrie, liebe Mutter. Nichts als geistige Schwerfälligkeit. Du leidest an Zwangsvorstellungen. Der Unrat, vor dem dir graut, den gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Wirklicher Unrat ist ganz etwas anderes. Und dabei kann man immer noch sehr darüber im Zweifel sein, was denn eigentlich Unrat ist. Zum Beispiel kann ein Ziegenhirt, der von oben bis unten von Unrat starrt, der appetitlichste Mensch von der Welt sein. Und ein Kavalier, der sich sauber hält wie ein Flußkiesel, kann trotz der peinlichsten Sauberkeit höchst unappetitlich sein.

Leonore: Rüdiger! Erinnerst du dich noch daran, wie ich im ersten Vierteljahr unserer Ehe von Hamburg zurückkam? Du erwartetest mich in Hannover auf dem Bahnhof. Kaum waren wir allein, da sagtest du mir, du seist zu dem Zuge eine Stunde zu früh gekommen, seiest auf dem Bahnsteig auf- und abgegangen und habest dir die Frage vorgelegt, was von beiden dir lieber wäre: wenn ich mir in Hamburg von einem Manne unterm Tisch die Fußspitzen hätte berühren lassen, oder, wenn ich auf der Rückfahrt durch einen Eisenbahnunfall ums Leben gekommen wäre. Du sagtest damals mit aller Entschiedenheit, daß dir das letzte lieber gewesen wäre.

Rüdiger: Wenn du mich heute fragst, sage ich dir genau dasselbe.

Leonore: Einen Augenblick wurde ich irre. Dann aber dankte ich meinem Schöpfer dafür, daß wir beide hoch genug standen, um dem Leben, wie es in Wirklichkeit ist, so klar, so ruhig, so unerschrocken in die Augen zu blicken.

Rüdiger: Nun? Und?

Leonore: Und jetzt . . .?! Und jetzt . . .?!

Rüdiger: Es gibt innerste Gedanken, die auch unter verheirateten Menschen nie zur offenen Aussprache kommen dürfen. Ist die Zusammengehörigkeit in Frage gestellt, dann stehen sie sich sofort wie Todfeinde gegenüber.

Leonore: Und jetzt?! – Rüdiger!

Effie: Von einem wohlerzogenen hübschen jungen Weltmann Liebenswürdigkeiten entgegennehmen, das kann schließlich auch eine Stallmagd. Unser weiblicher Stolz triumphiert doch erst im Verkehr mit Menschen, die wir nicht ausstehen können.

Rüdiger: Und mir verbieten mein Stolz und meine Ehre, daß sich um meinetwillen irgend jemand unglücklich fühlt. Mein Leben bedarf keiner Menschenopfer. Trennen wir uns doch nur! Dann hat das Heulen ein Ende.

Effie: Für mich kommen in der Welt überhaupt nur die wenigen Ausnahmemenschen in Betracht, denen das Unmögliche möglich wird.

Leonore: Das Unmögliche, Effie?! Unmöglich ist es, sich dem Mörder eines geliebten Menschen hinzugeben. Ich gab mich ihm hin. Unmöglich ist es, sich den Besitz eines Mannes durch Selbstvernichtung zu wahren. Ich bin dazu bereit. Aber sich für einen Mann von Grund aus vernichten, der einem vielleicht schon kaum mehr gehört, . . . ich bin ja wie mit allen Hunden gehetzt!

Ein Kellner (rasch eintretend): Je demande pardon. Il-y-a là bas un individu, qui prétent que monsieur sera menacé par la gendarmerie.

Leonore: Jetzt soll mich das Weltall unter sich begraben! (Sie stürzt hinaus.)

Der Kellner: (sieht sich fragend um. Da er keine Antwort erhält, verläßt er das Zimmer, indem er die Türe hinter sich schließt.)


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