Frank Wedekind
Mit allen Hunden gehetzt
Frank Wedekind

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Auftritt.

Rüdiger (sich erhebend): Ich lasse dich allein, Leonore. Luckner hat die Polizei benachrichtigt. Ich will nicht, daß mich mein Geschick hier in deiner Gegenwart erreicht.

Leonore: Dann gehe ich mit dir.

Rüdiger: Dann hat mein Fortgehen keinen Sinn. Dann ist es für uns beide ebenso gut, wir bleiben hier.

Leonore: Willst du deinem Leben ein Ende machen?

Rüdiger: Nein. – Ich wollte wohl. Ich weiß aber genau, daß ich keine Kraft habe.

Leonore: Ist es nicht das einzig richtige, wir schaffen uns beide aus der Welt?

Rüdiger: Warum? – Wenn ich nicht mehr da bin, dann kann dir kein Mensch etwas anhaben.

Leonore: Wenn du nicht mehr da bist? – Was habe ich dann davon, daß mir niemand etwas anhaben kann?

Rüdiger: Du warst glücklich, ehe du mich kanntest. Das Glück findest du wieder.

Leonore: Das sind Worte, an die du selbst nicht glauben kannst. Was Glück heißt, weiß ich erst, seit wir uns kennen.

Rüdiger: Schlimm genug für dich. Ich lebe mit mir selbst in Unfrieden. In meiner Eltern Haus war ich ein unglückliches Kind, in meiner ersten Ehe ein unglücklicher Mann. Dich machte ich namenlos unglücklich, als ich dein Glück zerstörte. Und seit wir zusammenleben, fühle ich mich nicht um ein Haar glücklicher als vorher.

Leonore (vor Schmerz aufschreiend): Oh! Oh! Das jetzt zu hören!

Rüdiger: Verzeih, verzeih. – Ich bin eben von Geburt kein einheitlicher Mensch. Seit meiner Kindheit kämpfen zwei feindliche Rassen einen mörderischen Vernichtungskampf in mir.

Leonore: Du siehst dein ganzes Leben jetzt ebenso düster an, wie du in glücklichen Zeiten immer gleich alles im leuchtendsten Sonnenlicht erblicktest.

Rüdiger: Wenn nur wenigstens wir zwei nicht aneinandergekettet wären!

Leonore: Wodurch sind wir denn aneinandergekettet?! Wodurch denn?!

Rüdiger: Wodurch?! Wodurch?! Ja! Ja! Ja. Das frage ich mich auch immer!

Leonore (nach einer Pause, stöhnend). Ich glaube, Rüdiger, ich weiß, wodurch wir beide aneinandergeschmiedet sind.

Rüdiger: Durch die Verbrechen, die wir zusammen begingen: Dadurch, daß ich deinen Mann mit meiner Frau zusammenhetzte, daß ich daraus die Berechtigung entnahm, meiner Frau den Laufpaß zu geben, daß ich uns dann von deinem Mann durch ein betrügerisches Duell befreite, daß wir beide uns später heirateten, und daß wir uns dann ein Leben schaffen wollten, dessen Herrlichkeit die ungeheuren Opfer rechtfertigen sollte, mit denen es erkauft war.

Leonore: Das ist kränkliche Gefühlsverweichlichung, nichtiger Aberglaube. Das sind Schreckbilder, von denen du gar nichts wüßtest, wenn wir im Glück lebten.

Rüdiger (stöhnend): Dann nenn mir doch die fürchterliche Fessel, die uns nicht voneinander loskommen läßt!

Leonore: Das ist verteufelt einfach. Immer wenn du unsere Trennung wolltest, dann tat ich alles, was in meiner Macht stand, um sie zu verhindern. Und wenn ich unsere Trennung wollte, dann tatest du alles, was du konntest, damit wir beieinander blieben.

Rüdiger: Aber warum denn?! Sag mir, warum taten wir das?! Warum waren wir immer so unvernünftig?!

Leonore: Das weiß ich so wenig wie du. Eins weiß ich aber: Jetzt hilft es nichts, dies Rätsel zu erforschen.

Rüdiger: Leider! Leider sagten wir uns das jedesmal, so oft das Unglück unsere Vernunft lahmlegte.

Leonore: Leider sagst du? Ich sage: Gott sei Dank! – – Du antwortest nicht? – Du kämpfst mit dir?! Rüdiger – Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wollen wir nicht rasch ein Ende machen?

Rüdiger: Leicht gesagt!

Leonore (schnell): Es ist rasch geschehen!

Rüdiger: Hier, bitte. (Er legt einen Revolver auf den Tisch.) Nun weiter!

Leonore: Weißt du nicht weiter? (Nach der Waffe langend.) Ich weiß es!

Rüdiger (fällt ihr in den Arm und hält ihre Hand zurück): Leonore! Um Gottes willen!

Leonore: Wir stellten beide zu hohe Ansprüche an die Welt, wenn uns jetzt der nötige Mut fehlt!

Rüdiger (krampfhaft): Ich liebe dich!

Leonore: Zum ersten Male höre ich das verdächtige Wort von dir.

Rüdiger: Wie denkst du dir denn das, wenn wir uns beiden ein Ende machen?

Leonore: Denken kann ich das nicht. Es ist vorbei. – Vom ersten Tag unserer Verheiratung an gehörten wir nicht mehr zur guten Gesellschaft.

Rüdiger: Das war ein unverhoffter Schlag für uns. Die gute Gesellschaft ist die Gesellschaft, in der man gute Geschäfte macht.

Leonore: Du setztest deine ganze Persönlichkeit daran, der großen Welt anzugehören.

Rüdiger: Der Vorwurf kommt spät!

Leonore (flehentlich): Kein Vorwurf! Nein, Rüdiger! Wie käme ich dazu!

Rüdiger: Die große Welt ist die Welt, in der man die großen Geschäfte macht.

Leonore: Unser nacktes Leben wird bis jetzt noch von niemandem bedroht.

Rüdiger: Nur von uns selbst.

Leonore: Aber warum denn auch?!

Rüdiger: Warum? Ist dir das nicht klar? – Weil unsere Menschenwürde bedroht wird!

Leonore: Menschenwürde! Unsinn! Ist es vielleicht eines Menschen würdig, fünf Jahre seines Lebens unter Henkersknechtschaft zu verbringen?

Rüdiger: Unter Henkersknechtschaft? Mir bürdest du also die ganze Verantwortung auf?!

Leonore: Wie kommst du auf den heillosen Argwohn? Hattest du denn je ein Geheimnis vor mir?

Rüdiger: Du wußtest immer genau so gut wie ich, was ich tat. – – Jesus Christus erfand seinerzeit die geeignete Weltanschauung für das Heer von Ausgestoßenen, das heutzutage entweder im Zuchthaus oder im Irrenhaus sitzt.

Leonore: Und was sagte er von uns Frauen?

Rüdiger (aufschreiend): Leonore! – Wie kommt die Frage auf deine Lippen? – (Ruhiger.) Tu was du willst! dann tu ich, was ich will! – Menschenwürde ist keine Affenjacke. Menschenwürde ist Atem, Nahrung, Licht. Menschenwürde erwächst aus der Ehe der Eltern und begründet die Ehen der Kinder.

Leonore (langt nach dem Revolver): Hier ist unsere Menschenwürde!

Rüdiger: Du willst mich töten? (Sich aufrichtend und ihr ins Auge sehend.) Versuch's, wenn du kannst!

Leonore: Wenn du nicht willst . . .

Rüdiger: Bitte! Nur rasch!

Leonore (zieht die Hand zurück): Woher soll ich denn dann die Kraft dazu nehmen!

Rüdiger: Natürlich bin ich wieder schuld!

Leonore (fliegt ihm an die Brust): Nein, nein! Ich bin schuld! Ich bin schuld!

Rüdiger: Deshalb hat auch das Christentum die Welt erobert. Kein Mensch ist sicher, ob er nicht noch einmal im Zuchthaus oder im Irrenhaus sitzt.

Leonore: Und wer sich schuldlos fühlt, der werfe den ersten Stein auf sie.

Rüdiger (vor Schmerz aufschreiend): Schweig, sage ich! Schweig! Bist du irrsinnig geworden?!

Leonore: Ein grauenvoller Schmerz! Gewiß! Ein grauenvolles Verhängnis! Das weiß Gott im Himmel! – Aber warum soll ich die Höllenqual denn auch allein tragen!

Rüdiger (in wildem Entsetzen): Leonore? Ist es denn möglich? Wärst du dessen fähig?

Leonore: Dessen? Ich bin zum Aeußersten bereit! Ich töte mich hier sofort, wenn es dir etwas hilft!

Rüdiger: Dich töten! Ja! Gewiß! – Aber . . . Nein! Der Gedanke allein schon, daß du auch nur daran denkst . . .

Leonore: Du meinst tatsächlich, sich erschießen sei leichter?

Rüdiger: Leichter oder nicht! Es hilft zu nichts!

Leonore: Ich tue, was du befiehlst.

Rüdiger: Wenn ich dir sagen muß, was du mir schuldig bist, dann habe ich längst keinen Grund mehr, es dir zu sagen.

Leonore (ihn groß anstarrend): Darauf fehlt mir die Antwort! – Es ist ungeheuerlich, wie wenig wir Menschen über unser Leben wissen, über das wir fortwährend in Entzücken oder in Entsetzen geraten! Es gab Märtyrerinnen, die heilig gesprochen wurden, weil sie ihres Glaubens wegen in Freudenhäusern starben. Wir haben die schaurige Wahl zwischen einer Trennung von fünf Minuten und einer Trennung, die fünf Jahre währt! – Wer kann da einen Augenblick im Zweifel sein!

Rüdiger: Ich habe der Frau, die ihren eigenen Weg geht, nichts zu erlauben, nichts zu befehlen, und nichts zu verbieten. Gott sei gepriesen! Dann bin ich frei!

Leonore (fällt ihm um den Hals): Rüdiger! Ich habe das Herz, mit geschlossenen Augen in den Höllenschlund zu springen! Und du verfluchst mich, als trachte ich dir nach dem Leben!

Rüdiger (stößt sie von sich): Laß mich frei! Die Eintracht unseres Fleisches, barmherziger Gott, ist die zerstört, dann bist du mir entsetzlicher, als wie du jemals meine Freude warst!

Leonore (verständnislos): Mir flimmert es vor den Augen, was hat mein Fleisch damit zu tun! Mein Fleisch? Ich glaube gar, du denkst . . .

Rüdiger: Selbstverständlich denke ich!

Leonore: Ich denke an mich!

Rüdiger: Du sehnst dich schon nach ihm! Du kannst es schon gar nicht mehr erwarten!

Leonore (schreiend): Barmherziger Himmel!

Rüdiger: Der Himmel bleibt deshalb genau so, wie er war. In deinem Gehirn brauchst du noch gar nichts davon zu ahnen. Das Fleisch ist nun einmal so vorwitzig. Als Beschimpfung empfindet es auch das keuscheste Weib nicht, mit zwei Millionen erkauft zu werden. Und wenn er zehnmal ein Halbtier ist, und wenn dir jedes seiner Worte die Glieder wundschlägt, körperlich habe ich sicherlich nichts vor ihm voraus!

Leonore (ruhig): In dem Augenblick, da man dich verhaftet, erschieße ich mich.

Rüdiger: Das tue ich auch, wenn es so weit kommen sollte. Dessen bin ich absolut sicher. – – Ich kann mir denken, daß uns ein Erdbeben verschlingt, daß ich geisteskrank oder an allen Gliedern gelähmt werde. Aber du, Leonore, mit einem Anderen? Dir scheint das möglich? – Selbstverständlich! Warum denn nicht! Dann gibst du deinen Körper eben auch anders! Dann bist du selbst eine Andere! Dann erwachen Anlagen, dann erwachen Triebe in dir, die weit außerhalb meiner Erfahrung lagen!

Leonore: So wahr ich dein Weib bin, ich empfinde nichts!

Rüdiger: Wie kannst du das im voraus beschwören! Bist du Herrin über dein Empfinden? – Du gibst dich hin. Was du dabei empfindest, das ist sein Geschäft. Wirst du dir dann die Lippen blutig beißen und stöhnen: Ich empfinde nichts?

Leonore: Natürlich werde ich das! Zweifelst du daran?

Rüdiger: Auch wenn er dich beglückt?

Leonore: Die Ungeheuerlichkeit hat in meinem Gehirn nicht Platz.

Rüdiger (vor Erregung keuchend): Leonore! Unsere Körper lernten, im gleichen Rhythmus zu empfinden! Aus dem ersten Einbruch in die Gleichheit erwächst Haß, Todfeindschaft! Erkauft man damit Zusammengehörigkeit? Was du tust, Leonore, ist gleichgültig. Mir zersprengt es den Kopf, daß es dir ausführbar scheint! Daß du das für mich könntest, dem du dich selber damit zum Abscheu machst! Liegt mein Haupt auf dem Block, Leonore, und du kannst mich damit retten, du mußt fühlen: Lieber das Leben opfern als das Glück.

Leonore: Das sind Worte. Was ist denn das Glück ohne Leben?


 << zurück weiter >>