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Achtes Kapitel

1.

Für Renate war das Alles wie ein Fiebertraum gewesen. Als sie vor dem Thorgitter ankam, stand Wanderer da, der in Pausen von halben Minuten nach ihr rief. Er hatte den Hund Angelus an der Seite, der ungeduldig schnupperte, und als Renate sichtbar wurde, vor Freude zu heulen begann. Dabei hatte sie das Tier erst einmal gesehen und ihm Futter gebracht. Jetzt fühlte sie sich sicher, und heiter rief sie Angelus Namen, denn der Hund umkreiste sie unablässig und scharrte die Erde mit den Vorderpfoten. Sie gab Wanderer, der sie stumm und besorgt fragend ansah, die Hand und küßte ihn rasch auf den Mund, als wollte sie ihn bitten, nicht nachzuforschen. Und es war so, daß er alles vergaß über diesem flüchtigen Kuß. Aber als sie beide den matterhellten Corridor entlang gingen, wo verblaßte Landschaftsbilder hingen, stand sie einen Augenblick still und wie verzweifelt dachte sie: eine Lüge. Zum zweiten Mal. Doch sie konnte es Anselm nicht erzählen. Nicht nur, daß eine tiefe Scheu sie daran hinderte, die Bilder und Erinnerungen der vergangenen Stunde wieder zu beschwören, sondern sie fand sich auch in einem Punkte tief schuldig. Deshalb hatte sie Anselm geküßt, und dieser Kuß wollte sagen: ich habe zu wählen verstanden, Peter Graumann.

Anselm sprach jetzt, und erschrocken blickte Renate empor, indem sie weiter gingen und das Eßzimmer betraten. Eben jener Name war es, den er ausgesprochen. »Weißt Du, was es mit diesem Graumann auf sich hat? Du erinnerst Dich doch, Renate? Sehr interessant. Er soll ein Anarchist sein, wenigstens theoretisch, den man ausgewiesen hat, und der sich nun, wie ein Raubtier auf der Lauer, an der Schweizergrenze aufhält.«

»Woher weißt Du denn das?« fragte Renate tonlos und ging zum Ofen, um sich zu wärmen. Sie öffnete das Eisenthürchen und hielt die Hände vor die Glut.

»Ach ...so; man erfährt es eben. Wie kannst Du so lang draußen bleiben, Renate! Du bist ja ganz blau vor Kälte. Ach Du Einzige, was Du nur immer treibst.« Er beugte sich herab und drückte leidenschaftlich ihre Hand an die Lippen.

»Hast Du mir die Zeitungen mitgebracht, Anselm?«

Komisch bestürzt schlug er die Hände zusammen. Das hatte er nun vergessen.

»Ja, wo warst Du denn so lange?«

»Im Clubhaus.«

»Im –? Giebt es denn das in Constanz? Und was hast Du denn da gemacht?«

»Gespielt, Renate.« Er stand am Fenster, ihr abgewandt.

Sie schwieg. Sie schloß die Augen und sah ihn am Kartentisch sitzen, in trockener Behaglichkeit, wie ein Mann, der seiner Sache sicher ist. Macht Dir denn das Freude, Anselm? glaubte sie zu fragen. Aber die Worte tönten nur innerlich.

Dann saßen sie beim Essen, und Wanderer plauderte. Er hatte eine Art Charmeur in sich entdeckt. »Du hast ja die alte Stadt gar noch nie genau angesehen, Renate. Wir müssen einmal die alten Winkel und Straßen, die alten Häuser aufsuchen. Das Haus z. B., wo Huß gefangen war, den sie verbrannt haben, und die entzückenden stillen Plätze, wo nie ein Mensch geht, wie der Kirchenplatz. Und alte Paläste giebt es, da mußt Du staunen; daß sind Geschichtsbücher.«

»Ich mag Geschichtsbücher gar nicht.«

»Aber Geschichtenbücher, was?«

Auf einmal ertönte im Hausflur ein Hin und Her von Stimmen, die immer lauter wurden. Die eine Stimme war die Winiwaaks, die andre war eine fremde. Renate erhob sich rasch. Sie zitterte und blickte nach der Thüre. Jetzt begann auch Angelus zu bellen, und zwar voll Heftigkeit und Ingrimm, aber es näherten sich rasche Schritte; die Thür ging auf, und ein Mann trat auf die Schwelle, den Wanderer nicht kannte. Er war schlank und hatte etwas unaufdringlich Vornehmes. Sein blonder Bart, im Viereck geschnitten, rahmte ein fein geformtes Gesicht ein, dem die Jahre kein fest erkennbares Merkmal hinterlassen hatten. Er blieb unbeweglich stehen, den sehr erregten Winiwaak hinter sich, und blickte starr auf Renate, nachdem er den Zwicker von der Nase genommen hatte.

Renate blieb wie aus Stein, bleich wie ein Hemd.

Der Fremde trat ein, schloß die Thür vor Winiwaak, der zu Wanderer hin schnell noch bedauernd die Achsel zuckte, und legte den Hut mit einer kurzen, fast gedrückten Verbeugung auf einen Stuhl. »Du wirst sehr erstaunt sein, mich zu sehen, Renate,« sagte er, sichtlich bemüht, Höflichkeit und Ruhe zu bewahren. »Aber einmal mußte ich noch mit Dir sprechen. Es giebt da Einiges, das gesagt werden muß, so frei und selbständig Du Dich auch wähnst. Ich denke also, Du hörst mich an.« Seine Stirn rötete sich, aber es war deutlich, daß er gewaltsam kämpfte, eine längst vorgefaßte Ueberlegenheit und Klarheit nicht zu verlieren.

»Du kannst alles sagen, Vater,« erwiderte Renate mit mühsamen Worten, tiefaufatmend. Sie machte eine ebenso mühselige, aber beredte Geberde, die alles enthielt, was an Erklärungen betreffs Wanderer notwendig erscheinen mochte.

»Es ist gar nichts zu sagen,« erklärte der Fabrikant, indem er die Hände glatt zusammenschlug und dann ein Stück Papier aus der Brusttasche zog. Er suchte sich den Anschein eines fast advokatisch kühlen Wesens zu geben, doch sah es Renate, daß seine Hände zitterten, als er das Papier entfaltete. »Nur ein paar Worte hast Du uns hinterlassen,« begann Herr Fuchs wieder. »Wir fanden den Wisch erst viel später; der Wind hatte ihn unter den Schrank geweht, und Deine Mutter fand ihn zufällig, als sie eines Tages in Deinem Zimmer aus einer Ohnmacht erwachte. Du hast es für gut befunden, uns mit einigen Worten ...nun höre selbst: ich folge einem Mann in freier Wahl, durch keinen Zwang gefesselt. Verzeiht und laßt mich ziehn. Laßt mich mein Schicksal finden, und wenn ich unglücklich werden sollte, laßt es mich auf eigene Faust werden. Viele Grüße und behaltet mich im Andenken.«

Es war Renate kaum möglich, sich aufrecht zu erhalten. Was sie so ergriff, war die Art, wie ihr Vater die wenigen Zeilen vorlas. Das Blatt dicht vor den Augen, buchstabierte er wie ein des Lesens Ungeübter, und seine geröteten Augenlider schlossen sich angestrengt, wenn ein Satz zu Ende war. Außerdem erinnerte sie sich an viele Stunden, wo sie ihren Vater lustig und ausgelassen gesehen hatte, besonders nach einem guten Diner, wo seine sorglose Aufgeräumtheit immer etwas Hinreißendes besessen hatte.

»Ich nehme aber an, Renate, daß es nur eine romantische Schrulle gewesen ist, was da steht von keinem Zwang. Das wollt ich Dich nur fragen, deswegen bin ich hier, hab Tag und Nacht nicht geruht, zu erfahren wo Du bist, wenn es auch leichter ging, als wir einmal wußten, wen Du erwählt hast. Also das hab ich angenommen und frag Dich jetzt, ob Du in Ehren so lebst, wie Du jetzt lebst, und ob ich vor der Welt sagen kann, daß Du meine Tochter bist.«

Die richterliche Härte in der Haltung ihres Vaters machte Renate krampfhaft aufmerksam und schärfte schmerzlich ihre Sinne. Ihre Ergebenheit wurde zu Trotz, ihre Weichheit erstarrte, es schien ihr, als wolle man sie in ein Gefängnis zurückschleppen. Ein wildes, ein freies Sicheinsfühlen mit Anselm erwachte plötzlich in ihr und gab ihr die stürmischen Worte: »Es ist wie es ist, Vater. So will ich leben und wollt ich leben. Frei wie Du's nennst, anständig wie ich's. Wachen und leben will ich jeden Tag, und nicht in einer Gewohnheitsliebe innerlich sterben. Keine Sicherheit ist mir dafür gut genug, nur ein Sarg.«

Einige Minuten blieb es still im Zimmer, und Renate verharrte in tiefem Staunen über ihre eigenen Worte. Der Fabrikant nahm seinen Hut, schaute mit leeren Augen umher, zog mechanisch die Uhr und sagte, anfangs stotternd: »Es ist gut. Sehr gut, daß ich's weiß. Schlecht für Deine Mutter, schlecht für uns alle. Ich verfluche Dich, Renate, ja, ich verfluche Dich und hoffe, daß Du einst als Bettlerin armselig vor meiner Thür winselst.«

Ein schwacher Aufschrei Renates, das Zuschlagen der Thüre, schwere Schritte, die sich entfernten, das Branden des Sees, das leise Rauschen der Gasflamme ...

Renate weinte lautlos. Anselm ging auf und ab, knipsend wie gewöhnlich, ziemlich ärgerlich, daß er bei dem ganzen Auftritt so wenig in Frage gekommen war. »Verfluchen, haha,« murmelte er. »Wie in einem Küchenroman.« Er lächelte schief. »Komm sei gut, Liebste, nicht weinen. Wozu denn. Dein alter Herr hätte sich diese effektvolle Szene wahrhaftig sparen können. Du hättest ihm auch solche Sachen nicht gerade ins Gesicht schleudern brauchen. Das hat keinen Zweck. Du hättest ihm ruhig sagen können, es ist so wie er will. Wenn es auch nicht so ist. Früher oder später müssen wir ja doch den Leuten den Willen thun. Sie sind am Ruder. Du denkst eben zu hoch von der Welt. Schau Renate, angenommen, ich wäre ein kalter Spekulant und ließe Dich nun im Stich und liebte Dich nicht so toll –«

Er hatte lustig weiter geredet mit dem Bewußtsein der Ueberlegene in einer verwickelten Situation zu sein. Er hatte nicht bemerkt, daß Renate aufgehört hatte, zu weinen und ungläubig entsetzt zuhörte. Erst ihr eisig lebloses Gesicht und die zusammengebissenen Zähne ließen ihn stocken.

2.

Als Renate am anderen Morgen erwachte, schlief Anselm noch. Sie erhob sich ein wenig und stützte den Kopf auf den Arm. Nachdenklich betrachtete sie sein gerötetes und von Träumen erregtes Gesicht mit den hereinfallenden, schlaffeuchten Haaren und den dicken Lippen. Dann blickte sie gegen das Fenster, das nicht behangen war, weil nichts hereinschaute als der graue Himmel und ferne, dunstige Waldzüge.

Plötzlich wachte Anselm auf, und sein Blick fiel auf Renate. »Was hast Du?« fragte er, sogleich vollkommen klar.

Renate lächelte und strich ihm mit der freien Hand die Haare aus der Stirn. Er zog sie an sich, doch da sie seufzte und flüchtig forschend zu ihm emporsah aus den Kissen, wiederholte er seine Frage. Renate schaute in den Himmel hinaus und flüsterte: »Du bist so erfahren.« Errötend ergriff sie seine Hand und preßte sie fest. Das Verlangen, jetzt sein Gesicht zu sehen, brannte in ihr, jedoch sie wagte es nicht. »Aber das konntest Du Dir doch denken,« erwiderte Anselm beschwichtigend. Sie machte eine rasche Bewegung und wandte ihm das Gesicht zu, als habe sie nicht gut verstanden. »Aber Anselm, Du sagtest doch damals erinnerst Du Dich nicht? Erinnerst Du Dich nicht an jenen Abend bei uns, wo wir am Kamin gesessen sind, beide, und Du hast mir gesagt –?«

»Ja, Renate. Ich habe Dir gesagt, daß ich von Liebe nichts weiß.«

Renate schwieg einige Augenblicke, als wolle sie jedes seiner Worte sorgsam abwägen, dann sagte sie kalt und mit innerem Widerstreben: »Das ist also nicht dasselbe, Anselm?« Sie legte beide Hände schlaff auf die Decke, – eine enttäuschungsreiche Geberde. Jetzt sah sie viel deutlicher als da sie es vor sich gehabt, das von Zorn überwältigte Gesicht ihres Vaters.

Anselm vermied es, davon zu sprechen. Den Vormittag über unterhielten sie sich über Reisepläne, denn in der ersten Hälfte des Januar wollten sie nach dem Süden, nach Italien, nach Griechenland, sogar ins Kleinasiatische hinüber. Renate wünschte sehr, das zu sehen, wovon sie märchengläubig in namenlosen Büchern gelesen. Anselm vermied es auch, über das zu reden, was ihm seit dem letzten Abend doppelt nah am Herzen lag. Freiheit war für ihn ein leeres Wort; wer den Zwang nicht kennt, weiß nichts von Freiheit. Und die Freiheit, die Renate meinte, schien ihm gleichbedeutend mit Unsicherheit, so lange er sie, wie jetzt, mit seinem ganzen Leben liebte und noch im Traum ihr Bild erglühen sah. So war es doch mehr die selbstsüchtige Ruhe behaglichen Besitzes, die er herbeisehnte, als der Wunsch, vor Welt und Gesellschaft nicht unterschieden durch eine gebrandmarkte Ungewöhnlichkeit zu sein.

Seinen Willen herrisch durchzusetzen, dazu war er zu schwach, fürchtete auch, ihre Illusionen über seine Person zu verwunden. Deshalb suchte er alles mit einem undurchdringlichen Mantel von Zärtlichkeiten zu bedecken, der sie am Sehen hindern sollte, jedoch ihn selbst kurzsichtig machte für das, was in ihrem Innern vorging. Er mietete einen eleganten Kutschierwagen, damit sie ausfahren könne; er abonnierte auf Mode-Journale und bestellte teure Toiletten aus Paris. Er ließ wertvolle Kunstgegenstände kommen, um damit das Haus zu schmücken und gab unbedenklich große Summen hin für Dinge, an denen sie einmal flüchtig ihr Gefallen geäußert hatte. Er bestellte Staffelei, Rahmen, Leinwand und Farben, aber es zeigte sich, daß Renate die Lust am Malen verloren hatte. Als sie zum ersten Mal wieder Pinsel und Palette in der Hand hielt, um vom Fenster aus ein Stück Seewinkel mit dem Waldrand zu skizzieren, überfiel sie ein eigentümlicher Widerwillen dagegen. Auch der neue Flügel, den Anselm aus Wien hatte schicken lassen, hatte keine Töne mehr für sie. Sie liebte es, stundenlang müßig zu sein, las Romane und neigte am meisten zu den Büchern, in denen ein Frauenschicksal geschildert wurde, in welchen Farben, mit welcher Kraft immer: es fesselte sie. Unter andern fiel ihr auch ein Buch mit dem Titel: »Unwiederbringlich« in die Hände. Sie las es gespannt, jedoch am Schluß fand sie sich enttäuscht. Sie sprach mit Anselm darüber, doch er fand, daß es ein gutes Buch sei, von einer guten Hand. Er drückte sich affektiert aus, Gott weiß, weshalb. Dann teilte er Renate mit, daß er heute im Clubhaus Graumann kennen gelernt habe, der von einer seiner geheimnisvollen Reisen zurückgekehrt sei.

Renate erschrak, aber sie stellte sich, als höre sie nur achtlos zu. Sie zuckte gleichgültig die Achseln, verließ das Zimmer. In dem kleinen Gemach des ersten Stockwerks, das sie für sich eingerichtet hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch, kritzelte mit der Feder, sah in die Landschaft, nahm ein Buch zur Hand, eine illustrierte Zeitschrift, fand aber keine Ruhe. Sie hörte Anselm das Haus verlassen, trat ans Fenster, verbarg sich hinter der roten Gardine und blickte ihm nach, bis der Weg sich vom See abkrümmte. Dann verließ sie das Zimmer wieder, weil sie drunten Klavier spielen wollte.

Noch auf der Treppe blieb sie betroffen stehen. Wüstes Durcheinander-Schreien klang herauf: eine weinende Stimme, eine schrille, keifende, eine tiefe wilde, eine beschwichtigende und schließlich das übliche Gebell von Angelus. Rasch eilte Renate hinab und sah, etwas undeutlich durch die Dämmerung, Winiwaak mit einem knorrigen Stock auf seine Tochter schlagen, daß er schwitzte, während die Mutter mit geballten Fäusten alle Schläge billigend unterstützte. Kiesewetter, der Nachtwächter, der offenbar als Besuch anwesend war, trachtete bald den einen, bald die andre zu beruhigen. Als Renate im Flur stand und erschreckt, unwillig und furchtsam keinen Schritt weiter ging, wurde es still. Alle sahen nach ihr hin. Sogar Angelus hörte auf zu bellen, obwohl es ihm viel Vergnügen zu bereiten schien; er tappte freundlich wedelnd um die Herrin herum und knurrte, als Marianne Winiwaak auf den Knieen zu Renate herankroch und wimmernd ihren Kleidsaum nahm. Renate schauerte zusammen und trat zurück. All das ging auf dem Teil des Flurs vor sich, an dem die Winiwaaks wohnten. Die Alte war in ängstlicher Dienstbeflissenheit bemüht, Licht zu machen; Kiesewetter stand barhaupt und andächtig wie in der Kirche, Winiwaak starrte verstört die Wand an. Renate fragte, was es denn sei, obwohl sie ahnte, was man ihr antworten würde. Sie hätte ein Stück ihres Lebens hingegeben, wenn die Antwort jetzt nicht erfolgt wäre.

»Das Luder hat sich mit eme' Kerl eingelasse,« grollte Winiwaak düster. Er trat näher, erhob den Stock, und das Mädchen kuschte tierisch zusammen.

Kiesewetter mischte sich drein, mit überredender Nachsicht und bedeutender Weltkenntnis. Er wollte die Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen, ohne seine wahrhaft humane Gesinnung zu äußern. Angelus begann erbittert zu bellen, so daß des Nachtwächters Trost- und Friedensbotschaft ungehört verhallte. Es erwies sich, daß Kiesewetter für Angelus ein Gegenstand teuflischen Hasses war. Im Innern wie gelähmt von diesen Vorgängen, richtete Renate das junge Mädchen liebreich auf, nahm ihr Taschentuch und trocknete das thränen-nasse Gesicht. Ohne weiteren Anlaß begann die Alte erbärmlich zu heulen, und Winiwaak versuchte sich in einem seiner bewährten Bücklinge. »So lieb, so gut,« stammelte das verprügelte junge Ding mit geschlossenen Augen.

Renate verließ den Flur, nachdem sie Winiwaak gebeten, seine Tochter zu schonen. Gedankenvoll ging sie im Zimmer auf und ab, vergaß Licht zu machen oder zu bestellen, setzte sich im Dunkeln ans Clavier und spielte vor sich hin. So saß sie noch, als Anselm kam und erstaunt die Hände zusammenschlug, da er sie im Finstern fand. »Ich bringe einen Gast, Renate!« rief er belebt, zündete rasch die Flammen an, und Renate sah Peter Graumann in devoter Höflichkeit auf sich zukommen. Er küßte die Hand, die sie ihm mechanisch gereicht und gab durch nichts die Möglichkeit einer früheren Begegnung zu erkennen. Infolgedessen kam mühelos ein Gespräch in Fluß, und Renate, mit einer Findigkeit in Worten, die ihr unbegreiflich schien, erzählte den Aufhorchenden, was bei Winiwaaks vorgefallen war. Anselm sagte, das sei schändlich, ohne sich näher zu erklären, Graumann zog nur die Mundwinkel auseinander, strich mehrmals mit der flachen Hand die Haare vom Hinterkopf nach vorn und schnappte wie ein Fisch. Anselm wurde verlegen und bat Renate, sie solle etwas spielen. Sie drehte sich lächelnd um, klappte den Deckel auf und spielte, wie in einer Unterrichtsstunde, Schumanns »erster Verlust.«

3.

Das Nachtmahl war vorüber. Peter Graumann nahm eine wissenschaftliche Miene an und sagte mit der scharfen Deutlichkeit seiner Stimme: »In den untern Volksklassen, wo man noch dem nackten Instinkt folgt, herrscht eigentlich ein viel größerer Wille zum Glück.«

»Wille zum Glück?« fragte Renate.

»Jawohl, Wille zum Glück nenne ich nämlich das Vergessen aller Vorurteile, welche über unser sinnliches Leben so verbreitet sind wie die Phrasen im Buchdeutsch.«

»Sie haben Recht,« bemerkte Wanderer. »Diese Menschen wagen noch zu handeln.«

»Ja! Ja!« bekräftigte Graumann mit seinem seltsamen, sarkastischen Pathos. »Und es ist klar, daß die Wahrscheinlichkeit so zu handeln geringer werden muß, je höher wir in den Ständen steigen. Eine Aristokratin, die dem Beispiel des Fräulein Winiwaak folgen würde, müßte unfehlbar zu Grunde gehn.«

»Warum müßte sie zu Grunde gehn?« fragte Renate erblassend.

Graumann schaute mit blitzartigem, cynischem Grinsen zur Seite. Etwas Flackerndes, Ungreifbares lag darin. »Dem entarteten, oder wenn Sie wollen, dem verfeinerten Körper ist es unmöglich, ein sinnlich gesundes Leben zu führen. Und darum handelt es sich. Zunächst um den Bankerott der sogenannten Illusionen. Das ist klar: wer einmal den anämischen Idealen der Gesellschaft den Rücken gekehrt hat, den verstößt sie in ewige Nacht. Selbsterhaltungstrieb. Ich kann mir ein Weib denken, das mit einem richtigen Instinkt begabt, das Opfer ihrer sozialen Stellung brächte, – aus dem dunklen Trieb, sich, wie soll ich sagen, sich auszuleben. Aber sie müßte ersticken und erblinden. Die Welt wäre licht- und luftlos für sie, und da die Thore, die sie verlassen, auf ewig gesperrt sind, müßte sie ihr Instinkt, man kann es auch Sehnsucht nennen, immer tiefer treiben. Und geraubte Illusionen lassen sich bekanntlich nicht durch Lebenskraft ersetzen. Ich kenne viele derartige Beispiele, und es war immer dieselbe Geschichte. Christliche Demut und Selbstvergessenheit ringen da mit der Unbefriedigtheit von Generationen. Das ist wunderbares Material für einen kommenden Religionsstifter: diese Frauen, die müde sind vom Warten auf Begeisterung. Aber ich denke, wir brechen das Thema ab. Gnädige Frau, bitte, spielen Sie doch noch etwas. Kennen Sie französische Chansons?«

»Ich glaube, so ...deutlich ist es nicht sichtbar, wie Sie es ausdrücken,« sagte Renate, die letzten Worte ganz überhörend. »Jeder lebt doch für sich, auf eigene Rechnung. Wir sind doch nicht wie Eisenbahnwagen, die von einer einzigen Maschine gezogen werden.«

Darauf antwortete Graumann mit seinem pustenden Lachen, das er aus Gründen der Schicklichkeit möglichst abzudämpfen suchte. »So sind wir, gerade so sind wir,« entgegnete er mit nachsichtiger Heiterkeit und etwas verbissenem Wohlwollen. »Deshalb sind die Worte eben überflüssig. Die Maschine arbeitet für uns. Selbst wenn einer mal revolutioniert und das Notsignal zieht, muß er es bitter bezahlen.«

»Also Ihre Anschauung ist, daß die Sinnlichkeit im Mittelpunkt des Lebens steht?« fragte Wanderer schüchtern und höflich.

»Ja! Ja!« Graumanns Gesicht zeigte eine parodistische Feierlichkeit.

»Aber Sie sind doch Anarchist?«

»So? So? Woher wissen Sie das, Herr Wanderer? Abgesehen vom Zusammenhang mit unserem Thema, – aber etwas muß man doch sein. Der eine ist Kutscher, der andere Minister. Wenn mir die Regierung einen Hofratsposten anbietet, werde ich Hofrat sein.«

Gequält stand Renate auf, sie hatte die Empfindung, als müsse sie unbemerkt entweichen. Es war peinlich, diesem Mann gegenüberzustehen, dessen Blicke sie ungehindert berührten wie Finger, für den Kleider wie Glas zu sein schienen und dessen Worte noch einen ganz anderen Klang, eine viel drohendere Bedeutung hatten, als obenhin zu bemerken war. Sie setzte sich in einen Lehnstuhl, der seitwärts im Schatten stand.

Peter Graumann erzählte von seinem Leben. Sein Vater sei im Bürgerkampf gefallen. Er selbst sei wahrscheinlich in Australien geboren, er wisse es jedoch nicht mehr genau. Er sei Koch auf einem atlantischen Dampfer gewesen und Heizer in einem Hochofen. Er habe in den californischen Minen ein Vermögen erworben und es in vierzehn Nächten in Paris verpraßt.

Alles das trug durch irgend ein Ungreifbares den Stempel der Wahrheit. Graumann brachte es mit offenbarer Selbstverhöhnung vor, wobei der ganze Rumpf sein Gleichgewicht zu verlieren drohte, vermied Gewagtheiten mit sichtlicher Anstrengung und schloß mit einem frivolen Citat aus Bruants Liedern, das er leise, mit vorgebeugtem Oberkörper trällerte, und wozu er mit den Händen die Guitarre-Begleitung markierte. Irgend etwas befriedigte ihn außerordentlich; das sah Renate an dem halb lüsternen, halb lauernden Lächeln, das nicht von seinem Mund wich. Vielleicht war es die Spannung und Erregtheit Wanderers, dessen Aufmerksamkeit etwas Beängstigendes hatte. Wenn Graumann ihn fixierte, nickte er mechanisch, als wolle er Beifall spenden. Jeder Blick zeugte von einer freiwilligen Unterwerfung. Renate war gereizt, konnte ihn nicht mehr anschauen, fühlte sich bitter verlassen. Sie hatte ihn trotziger geglaubt, unbefangener, unfügsamer, stolzer, fester in seinen Meinungen, skeptischer gegen einen Mann wie diesen, mit Gegengründen bewaffnet, nicht mit jünglinghafter Sympathie sich gefangen gebend. Ja, sie hätte gewünscht, daß seine Aufmerksamkeit nur erheuchelt sein möchte, daß sie sich als Falle für den Andern enthüllen möchte, die deutlich seine Ueberlegenheit zeigte. Du bist so erfahren, hatte sie ihm gesagt. Doch ihre Enttäuschung dabei war vielleicht nur das Kleid eines Geständnisses: ich bin unerfahren, schütze mich, Wissender. Sie hätte gewünscht, daß Anselm all das geringschätze, was Jener geringschätzig als billige Weisheit der Welt oder lachend als Schicksale eines Abenteurers gab.

Als Peter Graumann ging, nachdem er sich respektvoll, mit gespreizter Galanterie, von Renate verabschiedet hatte, begleitete ihn Wanderer vor das Thor. In der lauen Nacht, deren wolkiger, flaumiger Himmel zitronengelb schimmerte, standen sie eine Weile schweigend. Graumann, die Hände in den Manteltaschen, blickte mißmutig auf den See hinaus und pfiff durch die geschlossenen Zähne. Plötzlich sagte er: »Ich gratuliere Ihnen.« Und als Wanderer ein verblüfftes Gesicht machte: »Nun, zu diesem Weib. Donnerwetter nochmal!« Er schnalzte mit der Zunge. Unangenehm berührt, senkte Wanderer den Kopf. Dann fragte Graumann gleichgiltig, mit gänzlich veränderter Stimme, doch mit wissenschaftlichem Ernst: »Können Sie mir fünfzig Franken borgen?« Wanderer gab ihm errötend fünf Goldstücke, (es waren Mark). »Ich danke Ihnen,« sagte Graumann pathetisch und nachdrücklich und empfahl sich mit einem freundschaftlichen Händedruck. Seine Hand war dick, feucht und kalt. Wanderer blickte ihm nach, wie er schwankend dahin ging im unsicheren Licht, – der Calabreser eine Kuppel und der untersetzte Körper ein Rechteck. Es sah fantastisch aus.

Als Wanderer zurückkam, fand er Renate nicht mehr. Sie war schon ins Schlafzimmer gegangen. Er folgte ihr, trat rasch auf sie zu und wollte sie küssen. Aber sie preßte die Lippen zusammen und schüttete ernst den Kopf. Sie saß im Hemd da, und die weiche Haut ihres Halses und ihrer Schultern leuchtete durch den matt erhellten Raum. Anselm nahm ihre Hand, setzte sich neben sie und drückte die Lippen auf ihren Nacken. Mit fast frauenhafter Zärtlichkeit umfing er sie und fragte: »Sind wir nicht glücklich, Renate? Bist Du nicht glücklich?«

Sie runzelte leicht die Stirn und blickte zur Seite. Das alles liebte sie nicht an ihm. Er durfte nicht weich sein. Er durfte nicht wehmütig sein, auch nicht in stillster Nacht, wenn der Mond noch so silbern scheinen mochte. Doch, – sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. Sie wollte nicht denken.

So blieben sie, bis die Glocke elf schlug. Dann kniete Wanderer auf den Boden, um ihr die Schuhe auszuziehen. Während er damit beschäftigt war, fragte sie: »Glaubst Du an Gott, Anselm?«

Er schaute überrascht auf und lachte: »Wie kommst Du denn darauf, Renate?«

»Ach, eigentlich habe ich nie ernstlich darüber nachgedacht. Es kommt mir nur alles so verwirrt vor. Irgend etwas muß doch da sein, so ...über den Zufällen, meinst Du nicht?«

Anselm wußte nichts zu antworten. Er fing an von Graumann zu sprechen, um Renates Urteil zu hören. Aber sie war schläfrig geworden.

Zwei Stunden nachdem alles in tiefster Ruhe lag, läutete es heftig am Hausthor. Wanderer und Winiwaaks Tochter kamen zu gleicher Zeit in den Corridor. Es war ein Eiltelegramm von Anselms Bruder: Sei bis Sonntag in Wien. Anwesenheit dringend notwendig. Dein und mein Vermögen auf dem Spiel.

4.

Als Anselm, von Frost geschüttelt, wieder das Zimmer betrat, glaubte er seine Fassung wenigstens so weit gewonnen zu haben, um Renate die Nachricht für die Dauer der Nacht verheimlichen zu können. Doch Renate hatte die Glocke nur im Halbtraum gehört und schlief schon wieder. Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte etwas Kindliches, Friedenerfühltes. Die weiße Stirn, von dunklen Haaren umrahmt, sah aus wie ein Schild gegen Gefahren.

Anselm lag wachend während der ganzen Nacht, schloß die Augen nicht, dachte nur an Eines, von solcher Herzensangst ergriffen, die sein Bett zu einem qualvollen Aufenthalt machte. Nicht eine Stimme war es, die in ihm tönte, sondern ein Nachklang von vielen Stimmen. Vor den Fenstern dehnte sich lichtlos die Landschaft; er stützte die Arme auf das Kissen, und allmählich vermochte er sein Bild im Spiegel zu sehen, weiß und fern. Auf einmal erblickte er noch ein Bild dort und erschrak, daß er glaubte, sein Herz sei in den Hals gestiegen. Renate war aufgewacht und fragte sanft, warum er nicht schlafe. Und jetzt sagte er offen, ganz aus seinem Schrecken heraus: »Renate, könntest Du ertragen, arm zu sein? Arm wie Winiwaak, ja noch ärmer –?«

Renate lachte herzlich, (ein melodisches Lachen) und antwortete: »Du bist komisch. Deshalb wachst Du? Komisch.«

»Nein, Renate; sag nicht komisch, sondern denke nach.«

»Ja...was soll ich da sagen! Ich weiß nicht. Ich war noch nie arm.« Sie lachte wieder und hauchte einen Kuß auf seine Wange.

»Mein Bruder, – hast Du nicht läuten hören, Renate? Mein Bruder telegraphiert, ich soll bis Sonntag in Wien sein. Unser Vermögen steht auf dem Spiel.«

Renate schlug die Hände zusammen, wollte etwas sagen, schwieg aber.

»Jedenfalls hat er spekuliert,« fuhr Anselm grübelnd fort. »Na Renate, was sagst Du jetzt?«

Renate schwieg. Sie fühlte eine seltsame Schwere in ihrem Körper. Nach langem, vielleicht viertelstündigem Stillschweigen zwischen Beiden fragte Renate: »Wann reisest Du?«

»Morgen Abend um acht Uhr. Um zehn geht der direkte Zug von Bregenz.«

»Und nimmst mich mit?«

»Nein, Renate, das geht nicht; denk nur –«

»Und willst mich allein hier lassen?« Renate drängte sich angstvoll flehend an ihn an. Wanderer redete lange, um sie zu überzeugen, daß es nötig sei.

»Ich will nicht hier bleiben,« flüsterte sie. »Hier ist es schrecklich einsam.«

»Für drei Tage, Renate. Vielleicht ist alles nur blinder Lärm, dann reisen wir. Schlaf jetzt wieder ein, Renate, komm mein Mädchen.« Er zog sie ganz in seinen Arm, und sie entschlummerte wieder. Eine gewisse Ruhe war über sie gekommen, da er so fest auf seinem Willen bestand. Das andere, »Armsein«, war für sie zwar ein schreckhaftes, aber leeres Wort. Ihre Gedanken wußten nichts damit anzufangen, spielten nur damit.

Endlich dämmerte der Tag für Anselm; er sah zu, wie man das Vorrücken eines Uhrzeigers beobachtet, – erst grau, düstere Farbenflecke im Grauen, dann ein rotes Band, mehr und mehr erglühend, dann strömten prachtvolle Lichtbündel den Himmel hinauf wie sichtbar gewordene Fanfaren-Musik. Ein altes Schauspiel, dachte Anselm, wie um sich zu trösten; denn für ihn lag eine Drohung in der Morgenröte, und er hätte lieber gewünscht, daß es immer Nacht bleiben möge, als diesen Tag zu erblicken.

Er erhob sich, kleidete sich an, ging hinaus und wanderte am Ufer entlang, von Angelus begleitet, der fröhlich schnuppernd kreuz und quer sprang. Bald kehrte er wieder zurück, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb eine ziemlich ratlose Epistel an den Bruder, worin er die Stunde seiner Ankunft mitteilte, in welcher aber sonst mehr von Liebe als von anderem zu lesen war. Er trug den Brief zur Post, schlenderte dann im Dorf umher, schenkte einem kleinen Burschen ein Markstück, wandte sich wieder zur Villa und erfuhr von Marianne, daß Renate noch immer schlafe. Dann kam die Frühpost, die nur Zeitungen brachte. Anselm ließ seinen Koffer herbeischaffen, packte ein, schließlich aber ward er des Alleinseins müde, schlich an ihr Bett und weckte sie liebkosend auf. Sie lächelte ihn an, etwas beschämt, daß er schon munter war und schlang die Arme um seinen Hals. Ihre Sorglosigkeit vermehrte seine nagende Unruhe.

Nicht anders als sonst vergingen der Vormittag und der Nachmittag. Um fünf Uhr, gegen die Dunkelheit war Anselm reisefertig. Er beauftragte Winiwaak, um acht Uhr mit dem Koffer am Bahnhof zu sein. Er war zu ungeduldig, um mit dem Schiff zu fahren. Auch die spätere Post hatte keinerlei Aufklärung aus Wien gebracht. Renate fand es rücksichtslos, Anselm sah üble Vorzeichen darin, – Verwirrung, Hoffnungslosigkeit; er grübelte schweigend nach, als er mit Renate den Weg nach Konstanz wandelte.

Es war ein warmer Tag, ohne Herbstkälte, ohne Novemberwind. Septemberliche Lüfte gingen, doch der See hatte starken Wellengang. Am Hafen setzten sie sich auf eine Bank; das schwermütige Schauspiel des vergehenden Tages fesselte sie. Ein wenig elegisch gestimmt, saßen sie Hand in Hand. Das Wasser plätscherte an den Steinwall des Ufers, Boote fuhren über die erregte Fläche, und wenn ein Dampfer kam, klatschte das Wasser hoch hinauf in oft wiederholten Stößen. Da es Renate doch zu kalt wurde, gingen sie in die Stadt, von Straße zu Straße, in spärlicher Unterhaltung, mit dem deutlichen Vorgefühl kommender Ereignisse. Renate hatte sich darein gefunden, allein zu bleiben und suchte einen naiven Trost darin, daß sie täglich Briefe von Anselm empfangen sollte. »Ich liebe es, Briefe zu bekommen,« sagte sie. Anselm wunderte sich, wie viel Herzliches und Harmlos-Kindliches hinter dem scheinbar Spröden und Damenhaften ihres Wesens verborgen war. Aber es erschreckte ihn, daß sie nicht begriff, was sich in den nächsten Tagen entscheiden sollte.

Die Stadt kam ihm, beim abendlichen Gange, doppelt freundlich und entzückend vor. Er wurde nicht müde, jedes Gäßchen, jeden Erker, jedes Häuschen schauend zu genießen. Auch Renate entdeckte Manches, was ihr längst vertraut schien. Sie waren weit in Kreuzlingen, als sie von einer Schenke her Musik und eine Singstimme vernahmen. Neugierig näherten sie sich. Die Straße war menschenleer; in einem Garten nebenan stand eine mächtige Ulme. Die niedrigen, schmalen Fenster der Stube waren verhangen, und sie hörten jetzt nur das Instrument, eine Geige, die eine Art Zwischenspiel zirpte. Dann hob eine Frauenstimme im Alt an zu singen. Es war eine volle Stimme, wohllautend und schwer, ganz hingenommen von dem Gegenstand. Renate senkte den Kopf und hörte deutlich die Worte:

Rosen, zwei Rosen am Strauch
Müssen zu Erde verderben,
Starb mir der Liebste auch,
Kann doch sein Bild nicht sterben.
Rosen, zwei Rosen am Strauch.

Lilien, zwei Lilien am Band,
Frühling und Sommer vergehen,
Glück, daß verrinnet im Sand,
Eins nur bleibet bestehen ...
Lilien, zwei Lilien am Band.

5.

Den ersten Abend verbrachte Renate mit Lektüre und Clavierspiel und schon um elf Uhr schlief sie. Doch der nächste Vormittag brachte schon jene leeren Stunden, die durch nichts ausgefüllt werden können, durch keine Erwartung, keine Arbeit, keine Erinnerung, die träg wie Oel hinfließen und allein schon durch ihre Bedeutungslosigkeit die Stimmung verdüstern. Dazu der graue Einerleihimmel und gegen Mittag Schneefall in großen weißen Flocken, – unaufhörlich. Die Flocken nahm der See in sich auf wie ein hungriger Rachen, und die Berge wurden weiß, das Dorf verschwand in Weiß, nur der Nadelwald blickte finster herab. Renate ging im Zimmer umher. Ich bin eingeschneit, dachte sie fortwährend. Auf der Flurstiege saß Marianne und sang: freut euch des Lebens, immer dieselbe Strophe, mit hellen Tönen und einer gewissen Zuversicht. Renate kamen die Worte wunderlich vor aus solchem Mund. Freilich, Marianne hatte die Rose gepflückt, ehe sie verblüht war, und wie armselig auch das Lämpchen glühen mochte, sie freute sich des Lebens.

So verging der erste Tag, und nicht anders der zweite. Kein Brief. In der dritten Nacht konnte Renate nicht mehr schlafen; als sie sich vom Bett erhob, erschrak sie über ihr Bild im Spiegel. Die Morgenpost brachte nichts. Ruhelos ging Renate treppauf, treppab, von Zimmer zu Zimmer, holte den Hund herbei, als suche sie bei der Kreatur Schutz und Trost, und Angelus vollbrachte das Aeußerste an Zuvorkommenheiten. Es sah aus, als suche er sein zu täppisches Wesen absichtlich zu übertreiben, damit die Herrin belustigt werde; umsonst. Renate aß nicht, trank nicht, stand nur am Fenster gegen das Dorf, um die blaue Uniform des Briefboten auftauchen zu sehen; umsonst. Sie wollte telegraphieren, aber ihre Gedanken begannen, sich krankhaft zu verwirren.

Um vier Uhr wurde es schon dunkel. Winiwaak stelzte herein, machte umständliche Gesten, meldete Herrn Graumann, fügte gleich hinzu, es sei doch Niemand zu Haus und freute sich im Voraus, den Verhaßten abweisen zu dürfen. Doch Renate dachte nicht daran, klammerte sich an den Besuch, wie an eine letzte Hoffnung. Als Graumann eintrat, schaute sie ihn so erwartungsvoll an, daß jener mit säuerlichem Lächeln den Blick wie eine Intimität quittierte. »Ich hörte, der Herr Gemahl ist verreist,« begann er ernst, als ob er einen Vortrag zu halten im Begriff sei. »Da wollte ich nicht versäumen ...« Er stockte, zog die Handschuhe aus und blickte unsicher auf seine Stiefelspitzen, da Renates Benehmen ihn stutzig machte.

Mechanisch, wie ein gewesener Soldat bei einem Kommandoruf zusammenzuckt, wurde sich Renate ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen bewußt. Sie setzte sich hin und versuchte zu plaudern, wie sie früher so oft gethan, doch eine andere, ihr fremde Stimme sprach in ihr. Sie hatte an Graumann eine Frage richten wollen, die ihr vordem wichtig erschienen, aber die fremde Stimme schwemmte alles mit hinweg. Plötzlich wurde sie wach; Graumann hatte mitten in die Unterhaltung einige Worte geworfen, salopp und angeblich in gutmütiger Teilnahme, und die Worte hatten auf Anselm Bezug. Er sagte: »Ich hätte nie für möglich gehalten, daß Sie einen Mann wie Wanderer lieben könnten.«

Renate erhob den Kopf und blickte Graumann durchdringend an. Er suchte ihrem Blick zu entschlüpfen, zog den Mund breit, wobei die Unterlippe ganz unter den Zähnen verschwand und fuhr fort, anfangs ein wenig stotternd: »Ich will damit nichts gegen ihn gesagt haben. Im Gegenteil, ich halte ihn für einen vortrefflichen Charakter. Aber, großer Gott, – genügt Ihnen das? Fordern Sie nicht einen Mann? Oder fordern Sie ein schwammiges Etwas von bürgerlichem Durchschnitt? Sie empfinden das selbst, aber Sie sind zu stolz, es sich einzugestehen. Sie kennen ihn genau. Er wird stets aus Schwäche das thun, was er um keinen Preis thun darf. Ein vortrefflicher Typus unserer jungen Leute: farblos, leblos, rückgratlos, ohne Faust, ohne Fähigkeit zu genießen, ohne Talent, Werte zu schätzen. Wenn ihm eine Katze stirbt, wird er sich grämen, nicht aus Liebe zu dem Tier, sondern aus Sentimentalität. Jeder neue Weg wird ihn in Bestürzung versetzen, jeder wirkliche Mensch wird ihn erschrecken. Ich weiß wohl, was ich jetzt thue. Mögen Sie es immerhin einem moralischen Defekt in mir zuschreiben, nennen Sie es getrost gemein. In solchen Dingen bin ich Anarchist, in andern schwerlich. Sie leben ja, ich bin eine zerknitterte Existenz. Verurteilen Sie mich nur.«

Renate erhob sich und sagte kalt: »Sie haben sich ja meine Antwort schon selbst gegeben. Ich verstehe auch gar nicht, was Sie wollen. Wenn Sie auch in den Sachen Anarchist sind, hier brauchen Sie keine Bomben werfen.«

»Nein! nein! Sie mißverstehen mich!« rief Graumann mit einer Verzweiflung, die komisch war. »Mich entsetzte nur der Gedanke, daß Sie an einen solchen Mann geschmiedet sein sollen, lebenslang!«

»Geschmiedet,« machte Renate verächtlich. »Ich bin nicht geschmiedet, und er ist es nicht. Jeder ist frei. Wir waren bei keinem Amt, in keiner Kirche.«

Renate! schien eine warnende Stimme zu rufen. Aber trotzig wandte sie sich und lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe. Sie bemerkte nicht Peter Graumanns maßlose Verblüffung. Sein Wesen verwandelte sich in einem Nu sonderbar, als ob Fesseln von seinen Gliedern genommen würden. Er stand auf und durchschritt, die Hände auf dem Rücken, das Zimmer. Ueber seinen Zügen lag ein professoraler Ernst, der bisweilen durch ein huschendes Grinsen verscheucht wurde. Plötzlich blieb er neben Renate stehen, nahm väterlich ihre Hand und sagte: »Armes Kind!« Er ließ die Hand wieder los und stierte das junge Mädchen mit mühsam beherrschter Lüsternheit an.

Renate war es, als ob sie versinken sollte. Die Arme schienen ihr bleiern und die Luft ringsumher schlaff. In den glitzernden braunen Augen ihres Gegenüber las sie alles wie beim Schein eines Blitzes: unverhohlene Freude, eine berauschte Gier, den Triumph: er hat Dich verlassen, und die Sicherheit: Du wirst mir gehören. Sie hatte geglaubt, mit ihrer Antwort könne sie alles, was von Bewunderung und Rücksicht in irgend einem Mann der Welt verborgen sei, wachrufen. Darum traf sie dies jetzt schwer. Intensiver, unabweisbarer, untrüglicher als bisher hatte sie das Gefühl, als ob Unreines herankomme.

Da es zu dämmern begann, holte sie (alles mit eingelernten Bewegungen) eine kleine Stehlampe vom Ecktisch, um sie anzuzünden. Sie wagte nicht, die Gasflammen am Luster in Brand zu setzen. Krankhaftes, ja fieberisches Schamgefühl redete ihr ein, die Bewegung mit dem Arm in die Höhe könne sie in den Augen jenes Menschen entkleiden. Als die Lampe brannte, ließ sie an den Fenstern die Roll-Läden herab, und das knatternde Geräusch beruhigte sie ein wenig. Sie schaute in den Garten hinab, ob Winiwaak nicht da sei; sie hätte ihn gerufen. Aber hoch und einsam lag der bläulich schimmernde Schnee vor ihren Augen. Sie suchte sich vorzustellen, daß sie allein sei, doch wie im Rad rollten ihre Gedanken um die Gestalt, die ruhig wie aus Stein am Spiegel stand und jede ihrer Gesten auf das Aufmerksamste verfolgte. Als das Fenster geschlossen war, faßte sie den Vorsatz, das Zimmer zu verlassen, und sie nahm die Lampe, die aus dem Flügel stand. Da fühlte sie mehr, als sie es hörte, daß Graumann sich hinter ihr näherte. Ein Entsetzen, von dem sie glaubte, daß es ihr das Herz zerreißen müßte, überfiel sie. Mit unheimlicher Raschheit drehte sie sich um, und die Lampe in ihrer Hand warf einen flammenden Schein auf Peter Graumanns Gesicht. Er lächelte. Nie vergaß sie das einladende und zuversichtliche Lächeln. Er erhob den Arm nach ihr, und sie ließ die Lampe zu Boden fallen, ohne einen Laut von sich zu geben. In demselben Augenblick stand das Zimmer im Feuer.

Trotzdem sie bewußtlos lag, glaubte sie doch scharf zu hören, was vorging: die schreienden Leute, die herbeigestürzt kamen; wie man sie selbst hinaustrug, als die Flammen schon ihrem Körper nahe krochen; ja sogar Graumanns kühle und weltmännische Erklärung des Vorfalls. Dann verdunkelte sich ihr Bewußtsein völlig.

Als sie erwachte, saßen Marianne und der Konstanzer Arzt an ihrem Bett. Der Doktor, ein witziger Alter, war sehr bemüht um sie und freute sich seines Erfolgs. Ihre erste Frage war, ob ein Brief gekommen sei, und die Antwort lautete bejahend.


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