Jakob Wassermann
Melusine
Jakob Wassermann

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V.

Am andern Morgen, es war ein Samstag, erhielt Mely ein Billet vom Oberst. Mit zitternden Händen erbrach sie das Kuvert. »Liebe Melusine,« schrieb er. »Ich bitte Dich heute zum Abendessen, da ich mittags durch den Direktor Skolny verhindert bin. Ich erwarte von Dir, daß Du auch weiterhin ein gutes Kind sein wirst. Beifolgendes Efeublatt erhielt ich einst aus Gens. Erinnerst Du Dich? Herzlichen Gruß. Wolfgang.«

Der Regen fiel in Strömen, und in den Zimmern hatte man zum ersten Mal geheizt. Als um elf Uhr die kleine Dele, Frau Benders sechsjähriges Töchterchen, aus der Schule kam, hatte sie Wangen rot wie Kirschen.

»Na, du siehst schön zerzaust aus,« sagte Mely, nahm sie bei den Armen und küßte sie ab.

»Ja, die dummen Buben laufen uns immer nach und lassen uns net in Ruh',« entgegnete das Kind und schob die Unterlippe noch weiter heraus, als sie von Natur schon vorhing. »Ich werd's jetzt meiner Lehrerin sagen.«

»Recht so, Schatz,« pflichtete Mely bei, die mit dem Mädchen völlig zum Kind wurde. Dele sagte auch du zu ihr.

»Ich möchte nur wissen, was sie von uns wollen,« fuhr die Kleine fort. Sie runzelte klug die Stirn. »Du,« sprang sie plötzlich ab, »heut früh hat die Puzzi Junge bekommen, hast es gesehen?«

Mely verneinte. Dele zog einen Zettel aus der Tasche, der mit den steilen, zurückgebogenen Schriftzügen Helenes beschrieben war. Es stand darauf: Die Geburt von vier gesunden Jungen zeigen hocherfreut an: Frau Puzzi, Kater Jonas. Mely lachte.

»Wundernette Katzerln sind's,« sagte Dele und setzte sich der großen Kameradin auf den Schoß. »Viere. Ich war dabei. Ich hab's ganz genau gesehn.« Sie kicherte geheimnisvoll und fragte dann flüsternd: »Du (sie begann fast triumphierend jeden Satz mit diesem du), kommt zu den Katzen auch der Storch?«

»Natürlich,« gab Mely zur Antwort.

»Gell, zu denen kommt der Katzenstorch?«

Als Mely laut lachte, wußte das Kind nicht, was es vor Verlegenheit anfangen sollte, und feuerrot werdend, gab es dem durch diese Fragen verblüfften jungen Mädchen einen schallenden Kuß.

Gegen Mittag wurde vor der Korridortüre ein ungestümes Bellen laut. »Jetzt kommt Pitt!« rief Mely freudig und sprang hinaus, um dem Hund zu öffnen. Es war ein Foxterrier, der dem Oberst gehörte, aber fast nur Mely gehorchte. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Pitt wollte gar nicht aufhören, mit seinem Schwanzrestchen hin- und herzupendeln. –

Drei Tage vergingen. Mely hatte alles unterlassen, um ihre Lage irgendwie zu klären. Nicht einmal nachgedacht hatte sie darüber. »Nicht daran denken« war in solchen Fällen ihr ganzes Nachdenken, und immerfort war sie geschäftig, um sich zu betäuben. Unstät, beklommen und furchtsam verbrachte sie diese Tage.

Am Mittwoch schrieb der Oberst wieder, aber an Frau Bender. Er schrieb, daß sich Fräulein Mirbeth von ihm losgesagt habe, und daß er ihr dies mitteile, um spätere Gelddifferenzen zu vermeiden; für diesen Monat wolle er noch bezahlen, doch lehne er für die Zukunft jede Verbindlichkeit im Voraus ab.

Als Mely dies erfuhr, lächelte sie verächtlich, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich zum Tod elend. Nun steh' ich da und habe niemand auf der Welt, dachte sie. Kein Mensch wird sich um mich kümmern, und ich werde zu Grund gehen. Diese Frau Bender macht schon ein recht langes Gesicht. Ja, so sind eben die Leute. Dies alles dachte sie in einem Augenblick, während Frau Bender mit dem Brief vor ihr stand und sie etwas dumm anlächelte. »Losgesagt – losgesagt,« murmelte sie finster. »Ich bin halt nimmer hinüber, das ist alles.« Eine dumpfe Wut wachte in ihr auf. »Sehn Sie, Frau Bender, so werd' ich behandelt,« sagte sie weich, als ob sie Vertrauen und Glauben suche. Aber dabei überlegte sie im Innern: lauter Feinde sind das. Diese Frau, dann Helene ja sogar das Kind, – lauter Feinde. Einem Funken gleich fiel ein verzweifelter Entschluß in ihre Seele. Ich werde schon etwas tun, schloß sie ihre Betrachtungen. Heute nachmittag, – oder nein, morgen...

Dies »Morgen« tröstete sie. Welch eine Ewigkeit, bis morgen!

Aber der nächste Tag kam und verging, auch der zweite Tag und die ganze Woche verging mit dem Trost für morgen. Sie wußte selbst nicht, wie die Stunden verflogen, so langweilig einzeln und so flüchtig im ganzen. Spät stand sie vormittags auf; dann tändelte sie mit dem Kind. Zum Lesen hatte sie keine Lust, und so nähte sie an ihren Kleidern in den langen Nachmittagsstunden. Die halben Nächte verwachte sie und träumte mit offenen Augen. Sie komponierte ganze Romane, wie sie, reich geworden, in Ansehen und Luxus lebte, eine Sklavenschar um sich. Aber für diese glücklichen Phantasien rächte sich der Schlaf durch böse Träume, die wie ein Alp auf ihr lagen, – tagelang. Es waren immer Träume, in denen sie bedroht war, in denen sie sich allein sah auf einem weiten Plan, in einem Wald, in Schluchten. Und da wurde sie verfolgt, bis sie zu müde war, um weiterfliehen zu können. –

»Nun, was wollen Sie denn jetzt beginnen, Fräulein Mirbeth?« fragte einmal Frau Bender mit demselben dummverlegenen Lächeln, mit dem sie stets von dieser Angelegenheit sprach.

»Ja was denn, was denn!« flüsterte Mely bestürzt wie ein Schuldner, der sich gemahnt und bedrängt sieht. Heute, – gewiß heute tu' ich's, dachte sie im Stillen. »Ach Helene,« fügte sie verzweifelt hinzu, und lehnte sich in den Fauteuil zurück, den Kopf in die gefalteten Hände legend.

Helene sah verständnislos über Melys Schulter hinweg und lächelte ebenso einfältig, wie ihre Mutter. Sie wissen alle beide, daß ich nichts habe, dachte Mely. Wo ist jetzt diese ganze Liebenswürdigkeit und Freundschaft? Sie redete sich in einen bitteren Menschenhaß hinein. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Bender,« sagte sie kühl. »Sie werden durch mich um nichts kommen.«

»Fassen Sie das nicht so auf, Fräulein, »entgegnete Frau Bender mit großer Herzlichkeit. »Ich bin nur besorgt um Sie, Wie schlecht sehen Sie aus, ganz mager sind Sie im Gesicht geworden. Sie müssen doch etwas tun, irgend etwas!«

Mely antwortete nichts. Sie nagte an ihrer Unterlippe, daß die Haut riß. Mit weitgeöffneten Augen saß sie da und blickte nach oben, ein Bild der Hilflosigkeit.

Kurze Zeit darauf kleidete sie sich an und ging fort. Bald überfiel sie die Müdigkeit, und ihr Gesicht hatte einen klagenden und bekümmerten Ausdruck. Das leuchtende Blaß ihrer Haut unter dem schwarzen Schleier hatte etwas Krankhaftes, und auch ihr lässiger Gang hatte gleichsam dies Klagende, Zielunbewußte. Sie fühlte Hunger und suchte ein vornehmes Restaurant im Innern der Stadt auf. Aber als das Essen vor ihr stand, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte, denn sie brachte keinen Bissen hinunter. Sie bemerkte mit Schrecken, daß sie fieberte; es fror sie. Rasch zahlte sie und ging, von zahlreichen, bewundernden Männerblicken verfolgt.

Sie betrat ein Waffengeschäft und kaufte einen sechsläufigen Revolver für fünfzehn Mark. Sie ließ sich den Mechanismus erläutern und dann bestieg sie eine Droschke. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen war mit Schneeflocken vermischt. Sie hatte Kopfschmerz und ihre Zähne klapperten. »Ich habe nichts mehr zu leben,« sagte sie sich, während sie wie erstarrt im Wagen lehnte und die Beine ausstreckte. »Was soll ich noch leben, das hat ja gar keinen Wert.«

Sie stand in ihrem Zimmer, ohne daß sie wußte, wie sie heraufgekommen war. Sie erinnerte sich nicht, den Kutscher bezahlt zu haben. Lange Zeit hindurch – länger als eine Viertelstunde blickte sie in den Spiegel. Da lächelte sie bisweilen hochmütig, aber sie erschien sich fremd. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr das denken, was sie denken wollte. Sie dachte nicht an den Tod, den sie doch suchte, und den sie doch mehr als jeder andere Mensch fürchtete, sondern sie dachte: das Roastbeef, das ich mir da im Restaurant geben ließ, sah sehr schön aus. Schade, daß ich es nicht gegessen habe. Oder: mein Schleier hat ein großes Loch; man kann nicht mehr damit ausgehen. Oder sie hatte den Wunsch, ein Erdbeben möchte eintreten und das Haus, die Stadt möchten zerstört werden, nur damit dies langsam Erdrückende ihrer Lage ein Ende habe.

Es war dunkel geworden. Sie zündete die Kerze an. Der Regen klatschte an die Scheiben. Im Korridor machte Dele mit einer Spielgenossin großen Lärm. Die Hausfrau hantierte in der Küche. Alles war verstimmend, freudlos, hoffnungslos für die Sinne Melys. Sie glaubte jetzt ganz ruhig zu sein, und sie sagte sich das auch. Ja, sie sagte es leise vor sich hin und verwunderte sich noch im Stillen darüber. Bald aber schlug ihr das Herz wie ein Hammer so kräftig, es schlug zum Zerspringen. Sie wollte die Tür verriegeln, doch fand sie, daß sie es schon vorhin getan hatte. Sie lachte einmal laut auf, ohne zu wissen weshalb. So eine Dunkelheit herrschte in ihren Gedanken.

Plötzlich nahm sie die Schußwaffe in die Hand und sagte dabei laut: »Es ist ja ein Unsinn, aber ich tu's doch.« Ihr Arm zitterte heftig; eigentlich war es kein Zittern, sondern ein Auf- und Niederfahren, genau im Takt der Herzschläge. Sie war wie besinnungslos. »Das Licht sollte ich auslöschen,« flüsterte sie. »Aber nein, nein, nein,« entschied sie dann trotzig, »es mag brennen bleiben.« Und sie nickte der Flamme flüchtig zu.

Sie spannte den Hahn und drückte. Es knackte wohl, aber der Schuß ging nicht los. Sie wartete einige Sekunden. Sie war verstört, einer Ohnmacht nahe. Sie probierte am Schloß der Waffe, aber ihre Bemühungen waren erfolglos.

Sie setzte sich aufs Sofa. Die Füße waren bleischwer. Die alte Unruhe und die alte Angst kamen wieder. »Nun, ich werde morgen zu dem Verkäufer gehen und den Revolver untersuchen lassen,« beschloß sie achselzuckend. Sie wußte genau, daß sie diesen Vorsatz nicht ausführen würde.

Man klopfte an die Tür. Die Magd bat zum Abendessen. Mely, froh, daß ihr Alleinsein ein Ende habe, kleidete sich rasch um, verlöschte die Kerze und ging hinaus.

Als sie das Eßzimmer betrat, sah sie einen jungen Mann am Tisch sitzen. Frau Bender stellte vor: »Herr Falk – Fräulein Mirbeth.«


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