Jakob Wassermann
Melusine
Jakob Wassermann

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III.

Fräulein Mirbeth kehrte in ihr Zimmer zurück. Lange Zeit ging sie auf und nieder, mit großen Schritten und scheinbar völlig losgelöst von allem, was sie umgab. Sie war phlegmatisch in ihren Bewegungen und ihr Gesicht verriet keine innere Regung mehr. Aber etwas Freudloses und Hoffnungsloses lag auf ihr wie Novemberreif. Beim ersten Anblick erschien sie schlaff, müde und gleichgültig.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und Papier zur Hand und schickte sich an, zu schreiben. Doch blieb es nur beim Ansetzen der Feder, deren Spitze sie stets ängstlich betrachtete. Offenbar wußte sie genau, was sie schreiben wollte: Satz für Satz; aber diese Sätze aufs Papier zu bringen, war ihr unmöglich. Unmutig warf sie die Feder fort und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt mußte sie aufquellende Tränen verschlucken und plötzlich errötete sie vor Scham oder vor Haß. Sie zog ein kleines, mit flotter Hand beschriebenes Stück Papier aus der Tasche, entknitterte es und sah länger als eine Viertelstunde darauf nieder.

Da klopfte es und das kleine Fräulein Bender trat herein. Mit ihren schwebenden, etwas gesucht graziösen Schritten ging sie auf die regungslos Dasitzende zu, faßte sie bei der Hand und sagte: »Was ist Ihnen denn, Mely? Sie sind so verstört, schon seit gestern. Sogar Mama hat es bemerkt und hat gesagt, ich solle doch mal herein.«

Mely Mirbeth schüttelte langsam den Kopf, wie jemand, der fest entschlossen ist, seinen Kummer allein zu tragen. Aber im Nu war dieser Entschluß bei ihr vergessen und die vorige Schwäche ergriff sie wieder. Hastig und suchend erfaßte sie die Hand des jüngeren Mädchens. In dieser unwillkürlichen Bewegung lag ein Schwächegeständnis und ein Anschmiegungsbedürfnis und dies wurde von dem jungen Mädchen wohl verstanden. Es näherte seine Lippen den Wangen Melys und fragte leise: »Sie waren bei Fräulein von Erdmann?«

Mely lächelte schuldbewußt.

»Das sollten Sie wirklich nicht tun,« fuhr die Kleine fort. »Warum das? Die haßt uns ja doch, weil wir jünger sind als sie. Sie stirbt vor Neid um unsere Jugend.«

Melys Lächeln wurde heller und fröhlicher. Mit naiver Verwunderung sah sie das zierliche Mädchen an, das ein so scharfes und selbständiges Urteil zu geben wagte. Man sah auch an der schnellen Bewegung ihrer Lider, daß sie darüber nachdachte. »Sie sind bös, Helene,« sagte sie endlich, erhob sich und begann wieder ihr Umherwandern. »Ach Helene,« rief sie nach einer langen Pause, »wenn Sie wüßten, was ich alles durchzumachen habe!«

Helene Bender saß mit verschränkten Armen auf der Lehne des Fauteuils und blickte mit ihren klugen, grauen Augen Mely an. Etwas Ungläubiges und Ironisches lag in ihrem aufmerksamen Blick. So klein sie war und so unbedeutend sie aussah, so skeptisch blieb sie gegenüber jedem Gefühlsausbruch und um den schmalen Mund mit der vorgeschobenen Unterlippe lag stets ein gleichgültiger Spott. Sie glaubte nicht an Melys Leiden, sie hielt jene für zimperlich und anspruchsvoll und vor allem für oberflächlich. Nur aus Neugierde war sie hereingekommen.

Mely ahnte nichts davon. Sie vertraute allen Menschen, außer denen, die sie haßte. Was man ihr sagte, das glaubte sie, selbst die plumpen Lügen. In ihrem Schmerz befangen, hielt sie es für unmöglich, daß jemand an der Tiefe dieses Gefühls zweifeln könne. Sie setzte sich und sagte mit ihrer jetzt weichen und einschmeichelnden Stimme, die etwas Bekümmertes stets in sich hatte: »Ich wollte ja auf alles gern verzichten, wenn ich nur meine Ruhe hätte. Mit nacktem Brot nahm ich vorlieb, – nur endlich einmal ein anderes Leben. Die Aufregungen, die Quälereien, die Beleidigungen, – ich bin ganz krank.«

Und sie seufzte tief auf, wie Kinder tun, wenn sie sich ausgeweint haben. »Sie wissen nicht, was das ist, Helene,« fuhr sie traurig fort. »Sie haben Ihre Mutter da und leben so bequem und Sorgen haben Sie keine. Aber ich bin ganz allein auf der Welt und dieser Mann darf mich mißhandeln wie er will, darf mich beschimpfen – o, ich bin ganz krank! Da hab ich wieder einen Brief, sehn Sie Helene, – da, was das ist! – Ich muß mich zu Tod schämen.«

»Was ist es denn?«

»Ach – das kann ich Ihnen ja gar nicht sagen. Es ist – er will – – nein, es ist unmöglich.« Verwirrt und voll Scham wandte sich Mely ab. »Schon einmal hat er es verlangt,« flüsterte sie. »Und weil ich nicht will, muß ich mich quälen lassen, um nichts, um jede Kleinigkeit.« Sie nahm den Brief und zerfetzte ihn nervös zwischen den Fingern. Dann ging sie zum Kleiderschrank, nahm ihre Straßenrobe heraus und öffnete mit einem einzigen Riß die Knöpfe ihres Morgenrocks.

»Ja – mögen Sie ihn denn nicht?« fragte Helene schüchtern. »Oder wie ist das?«

»Mögen! Erschießen könnt ich ihn.«

Das kleine Mädchen lächelte verständig. Sie trat zu Mely und ergriff deren beide Hände. »Seien Sie doch ruhiger,« sagte sie. »Ist es denn gar so schlimm? Wer weiß, vielleicht stellen Sie sich's nur so entsetzlich vor. Er ist doch oft recht nett mit Ihnen. Wie viel Schönes hat er Ihnen schon geschenkt.«

Die Trostgründe waren banal; doch auf Mely übte die stille, sichere und selbstbewußte Art dieser Frühreifen einen beruhigenden Einfluß. Sie strich mit der Hand über die Stirn und blickte unschlüssig vor sich hin.

»Was wollen Sie denn tun?« fragte Helene ängstlich.

»Hinüber will ich. Alles will ich ihm sagen. Seinen Brief will ich ihm vor die Füße werfen!« stieß das junge Weib hervor. Sie hatte vergessen, daß sie den Brief soeben zerrissen hatte.

»Nicht – nicht das,« beschwichtigte Helene. »Warten Sie noch bis heute Abend wenigstens. Sie machen es ja nur schlimmer, – warten Sie.« Das Mädchen sprach sanft und zugleich überlegen. Doch Mely schüttelte den Kopf. »Ich muß,« sagte sie. »Ich bin sonst ganz unglücklich den ganzen Tag.« Und während sie sich ankleidete, erzählte sie. »Sehn Sie, Helene, ich habe neulich zu meinem schwarzen Kleid einen bunten Hut gekauft. Da gab's Skandal. Das sei gemein, sagte er. Die Dienstboten täten das. Ich wolle mich auffallend kleiden, nur aus Koketterie. Ich soll kokett sein, Helene, das ist doch lächerlich, wie? Aber er will nicht, daß mich ein anderer Mann nur anschaut, deswegen soll ich keine Farben tragen. Und dann das: ich habe dreitausend Mark Vermögen gehabt, von der Mutter noch. Und als ich volljährig war, – nein etwas später, vor drei Jahren war's, bekam ich das Geld. Da hat er nicht aufgehört, zu drängen, ich solle doch das Geld verbrauchen, und ich – so dumm! – mache die unsinnigsten Ausgaben. Kurz, in sechs Monaten war alles verputzt. Und wie ich dann das erste Mal von ihm Geld verlangen mußte, da hätten Sie ihn sehen sollen. Ganz glücklich war er darüber, ganz weg vor Freude.«

Helene war erstaunt. »Nun – das ist doch schön!«

»Aber verstehen Sie denn nicht? Jetzt war ich doch von ihm abhängig und er konnte machen mit mir, was er wollte. Jetzt hieß es gehorchen, – oder... Versteht! Sie nicht? Aber es ist beim Oder geblieben. O, es war gemein.«

Sie war fertig mit der Toilette, nahm Handschuhe und Schirm und zur Tür gehend, sagte sie leichthin: »Gelt, ich bin dumm, Helene. Andere würden lachen. Ach Gott und grade zu dieser alten Erdmann muß ich hinein. Wie dumm, wie dumm! Was denkt sich jetzt die.« Als ob sie aus sich selbst nicht klug zu werden vermöchte, schüttelte sie ganz langsam den Kopf. Sie war unzufrieden mit sich, auch deswegen, weil sie so offen gegen Helene gewesen war.

Als sie schon im Hausflur angelangt war, kehrte sie wieder um und ging in ihr Zimmer zurück. Furcht und Mutlosigkeit hatten sie erfaßt. Sie lehnte sich in den Fauteuil und schloß die Augen. Trotz des Mantels, den sie nicht abgelegt hatte, fror sie aus dem Innern heraus. Wie Spreu im Winde wirbelt, so stürmten die Gedanken in ihr durcheinander. Heiraten kann ich dich nicht, das wirst du doch einsehen, zitierte sie nervös lächelnd. Seine Frau hat er zu Grund gerichtet, dachte sie und runzelte feindselig die Stirn. Es war seltsam, daß diese Frau jetzt vor ihr stand, wie sie an einem Maskenball des letzten Karnevals kostümiert gewesen: im roten Pierrotgewand mit weißer Zipfelmütze. Noch deutlich entsann sie sich dabei des glühenden Gesichts, das oft mit einem spähenden und unterwürfigen Ausdruck dem Oberst sich zuwandte. Zwei Jahre erst war sie tot. Sie war ein feines Geschöpf gewesen, klug und wenig kokett, groß und in ihren Zügen der Saskia von Uhlenburg ähnlich. Sie war stets die Sklavin ihres Gatten gewesen. Bis ins Unbedeutendste ging dieser sklavische Zug an ihr, dies gänzliche und für Andere oft so unbegreifliche Aufgelöstsein im Wesen des Mannes.

Mely rührte sich nicht. Ihre Lippen waren nicht geschlossen, und sie hielt den Atem an. Und dann lächelte sie so, als sei sie mit allem einverstanden, was man mit ihr treibe. Eine große Müdigkeit kam über sie, und sie hegte den Wunsch zu schlafen. Aber Bild auf Bild stieg herauf: sie lebte wieder in ihrer Vergangenheit. Sie sah sich als Kind zur Volksschule gehen; sie sah beide Eltern auf dem Totenbette liegen, und sie sah den alten, gütigen Herrn, den Vater des Obersts, der ihr gerichtlicher Vormund geworden war. Dann blickte sie in die hellen, kahlen Klostergänge hinein, in denen sie zum erstenmal mit entsetzten Augen gestanden. Wie fremd und feierlich war dort die Welt! Sie hatte geglaubt, die Mauern seien endlos und hinter ihnen begänne das Meer. Sie hatte sich gefangen, bestraft gefühlt inmitten der gleichgekleideten Mädchen, unter der strengen Obhut der Schwestern. Ihre Sehnsucht nach der Stadt war groß; die Sandhaufen am Bahndamm erschienen in ihren Träumen, und die elterlichen Püffe und Prügel kamen ihr vor wie süße Späße. Sie mußte merkwürdig schwierige Dinge auswendig lernen und vor jedem, der sie ansprach, ängstigte sie sich. Sie fürchtete alle Menschen mit Ausnahme des Katecheten Kilian, den sie mit der Fülle ihres zwölfjährigen Herzens liebte. Er war ein schöner, blühender Jüngling, der niemals seitwärts blickte, auch nicht zu Boden, sondern stets gegen Himmel. In dieser Zeit wurde sie sehr fromm und sehr folgsam und wurde den Andern als gutes Beispiel gepriesen. Doch unverständlich war ihr nur das eine, daß sie für alle Menschen, die sie kannte, mitbeten sollte. Das konnte sie nie fassen. Wie sorgsam und gewissenhaft hatte sie stets ihre Sünden notiert, um bei der Beichte ja nichts zu vergessen: ich habe der Schwester Cäcilia in Gedanken unrecht getan; ich war zu träg, um die salischen Kaiser zu lernen; ich habe mich beim Aufwecken schlafend gestellt, um noch länger im Bett bleiben zu können – –

Wie lange war das schon her! Wie schnell waren die Jahre hingegangen! Allmählich hatte sie die Welt draußen vergessen, und sie begriff nicht mehr, daß es außerhalb des Klosters noch etwas von Wichtigkeit und Bestand geben könne. Weltlich und sündhaft waren ihr jene Mädchen erschienen, die, lustig und guter Dinge, das Leben sonnig fanden und von ihren Eltern in der Stadt erzählten, von Kaffeekränzchen, Musik und Tanz.

Eines Umstands erinnerte sie sich mit Entsetzen und stets suchte sie ihre Gedanken daran zu verscheuchen, nur um sich das Nachfühlen jenes Schreckens zu ersparen. An einem Osterfest, kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, ging mit ihrem Körper etwas Neues, Unbegreifliches vor. Sie stand vor einem Rätsel, das sie tief erschütterte. Noch sah sie sich mit zitterndem Leib an den Fensterposten gelehnt und in den verregneten Frühlingsmorgen hinausschauen. Sie wünschte aufs innigste, zu sterben, sie glaubte gesündigt zu haben und wußte nicht, worin diese Sünde bestand. Sie sah das Leben als etwas Finsteres und Gewalttätiges vor sich stehen und fürchtete sich. Stundenlang in der Nacht lag sie weinend auf ihren Kissen, und die Qual der Verheimlichung erdrückte sie. Sie schämte sich vor allen, sie versteckte sorgfältig die benutzte Wäsche, und kein Mensch fand sich, der das Dunkel ihrer kindlichen Phantasien gelichtet hätte. Einst, als ihre Seele durch das erneute Auftreten des Ungewohnten in Schrecken versetzt war, ging sie, unwissend wie sie war, ins Bad. Darauf kam die furchtbare Krankheit, deren Folgen sie niemals verwunden hatte. Eine unsichere Empfindung des Grolls und des Hasses beherrschte sie jetzt, wenn sie daran dachte, wieviel Schmerz ihr hätte erspart werden können durch die verständige Offenheit einer Lehrerin oder einer Freundin.

Aber nie hatte sie eine Freundin besessen. Von Allen war sie abseits stehen gelassen worden. Etwas, das sie unaufhörlich bedrückte, etwas Hoffnungsloses stand über ihrem Leben.

Sie überlegte, was sie tun könnte, um sich frei und unabhängig zu machen. Und doch, welche Angst empfand sie vor dieser Freiheit. Sie sah dabei immer das Bild eines einzelnen Baumes auf einer endlosen Heide, und dieses Bild der Hilflosigkeit machte sie schwach. Wenn ich doch nur einen Bruder hätte, dachte sie, der mich vor Beleidigungen wie der heutigen schützen könnte. Dann dachte sie an ihre Schwester, die sich hatte verführen lassen und die sich nun mit einem Kind elend durch die Welt schleppte. Niemand durfte wissen, daß sie eine Schwester hatte und wer das sei. Das hatte sie dem Oberst geschworen, und er hatte ihr unter dieser Bedingung erlaubt, das Mädchen zu unterstützen. »Aber sei vorsichtig dabei; denn die Gesellschaft, in der du verkehrst, und zu der ich dich emporgehoben habe, ist schlau und argwöhnisch.«

Sie zerknüllte ihren Handschuh in der Faust. Entschlossen stand sie auf, und bald darauf ging sie mit hastigen Schritten dem Hause des Oberst Thewalt zu. Ihre Augen blitzten vor Kampflust.


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