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Es wird eine Reise beschlossen

Eines Nachmittags im Dezember sahen erstaunte Nachbarn den Lehrer Quandt wie besessen aus seinem Haus und gegen die Neustadt stürmen, wo die Wohnung des Polizeileutnants lag. Er trat ins Zimmer des Leutnants, und ohne sich Zeit zu gönnen, seinen Hut vom Kopf zu nehmen, griff er in die Rocktasche und hielt Hickel wortlos ein dünnes Druckheft entgegen.

Es war die vor kurzem erschienene Caspar-Hauser-Broschüre Feuerbachs. Quandt hatte das Büchlein erst heute in die Hände bekommen und es in einem Zug durchgelesen.

Hickel nahm das Heft, besah es rundum und sagte gelassen: »Na, und? Was soll's? Meinen Sie, daß das eine Neuigkeit für mich ist? Sie echauffieren sich doch nicht etwa? Der Alte schreibt, weil das sein Geschäft ist. Eher können Sie einer Henne das Eierlegen abgewöhnen als einem geborenen Federfuchser das Schreiben.«

Quandt atmete tief auf. »Schreiben, schön; ich lasse ja vieles gelten«, antwortete er, »aber das geht denn doch zu weit. Erlauben Sie –« er packte das Heft, schlug das Titelblatt auf und las vor: »›Caspar Hauser oder Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen‹. Das klingt ja nach etwas«, sagte er bitter; »es streut den Leuten von vornherein Sand in die Augen. Aber das Ganze ist ein Roman, und nicht einmal einer von der besten Sorte.«

Er blätterte und deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die er gleichfalls höhnisch betont vorlas: »›Caspar Hauser, das rare Exemplar der Gattung Mensch –!‹ Lieber Herr Polizeileutnant, da bin ich mit meiner Weisheit zu Ende. Das kommt mir so vor, als ob man den notorisch schlechtesten meiner Schüler vor versammeltem Volk als einen großen Gelehrten erklärte. Rares Exemplar! In dem Punkt weiß ich besser Bescheid, halten zu Gnaden, Exzellenz; da könnte ich einem verehrlichen Publiko ganz anders die Augen öffnen. Rares Exemplar, gewiß! Aber man muß nur auch das Alphabet von vorne und nicht von hinten lesen. Das ist also der große Kriminalist, der bestaunte Alleswisser! So sieht der Ruhm aus, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet! Und nun erst das ganze dynastische Hintertreppenmärchen! Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Herrgott, ist das eine Zeit, ist das eine Welt!«

Der Polizeileutnant hörte mit kaum merklichem Lächeln den Ausbruch des Lehrers an. Als Quandt zu Ende war, sagte er gleichmütig: »Was wollen Sie? Als getreue Diener sind wir nun einmal dazu verurteilt, die dummen Streiche unsrer Herrschaft mit anzusehen. Übrigens kann ich Sie in einer Hinsicht beruhigen. Der Präsident hat selber keine rechte Freude an dem Büchlein. Er klagt über Gedächtnisfehler, die ihm dabei passiert sind, und daß es ihn mehr Mühe gekostet hat, die Geschichte zu Papier zu bringen, denn ein ganzes Corpus juris. Und jetzt muß er's erleben, daß man ihm draußen im Reich hart zusetzt. Es geht die Rede, daß die Bundeskommission zu Frankfurt die Schrift konfiszieren wird.«

»Recht so«, rief Quandt. »Auch die Fürsten sollten etwas dagegen unternehmen.«

»Das lassen Sie nur die Sache der Fürsten sein«, versetzte Hickel, dessen Gesicht plötzlich böse und sorgenvoll wurde. »Potz Kreuz, lieber Quandt, Sie ereifern sich ja da, als ob's Ihnen an den Kragen ginge. Ich möchte nur gar zu gern wissen, ob Sie auch so viel Mut zeigen würden, wenn die Exzellenz dahier im Zimmer wäre.«

Quandt schaute sich mißtrauisch um. Dann zuckte er die Achseln und erwiderte: »Sie belieben zu scherzen, Herr Polizeileutnant. Schlimm genug, daß man mit seiner wahren Meinung hinterm Berg halten muß. Wir haben alle vergessen, wie ein Mann den Kopf tragen soll. Kuschen, das haben wir gelernt, das verstehen wir von Grund aus. Aber ich will nicht mehr kuschen.«

»Pst!« unterbrach ihn Hickel unwirsch; »lassen wir das, es schmeckt nach Demagogentum. Sagen Sie mir lieber: Hat der Hauser Kenntnis von der Broschüre?«

»Nicht daß ich wüßte«, entgegnete Quandt. »Aber es wird nicht zu vermeiden sein, daß er davon erfährt, gibt es doch Unverständige genug, die sich ein Vergnügen daraus machen werden. Haben Sie, Herr Polizeileutnant, nicht auch von der Schrift eines gewissen Garnier gehört?«

Bei der Nennung dieses Namens zuckte Hickel zusammen und sah den Lehrer finster an. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er sich zu einer Antwort entschloß. »Garnier? Ja, das ist ein landesflüchtiges Subjekt. In seinem Pamphlet bringt er dieselben sinnlosen Dinge vor wie der Staatsrat, bloß noch verbrämt mit dem windigsten Hofklatsch. Das Machwerk ist nicht der Rede wert.«

»Wie soll ich mich aber verhalten, wenn der Hauser irgendwie in den Besitz eines dieser Produkte kommt?« fragte Quandt.

Hickel spazierte mit seinen langen Schritten herum und nagte mit den Zähnen nervös an der Unterlippe. »Treffen Sie Vorsorge«, erwiderte er kalt. »Lassen Sie ihn nicht aus den Augen. Mich kümmert das übrigens gar nicht; ist mir völlig egal. Man wird den jungen Mann schon karwanzen.«

Quandt seufzte. »Herr Polizeileutnant«, sagte er bedrückt, »ich kann Ihnen nicht schildern, wie mir ist. Meine halbe Seligkeit gäb ich drum, wenn es mir vergönnt wäre, den Menschen zu einem offenen Geständnis zu bringen.«

»Man wird's Ihnen billiger machen«, versetzte Hickel düster.

»Wissen Sie denn das Neueste?« fuhr Quandt fort. »Der Präsident will den Hauser als Schreiber beim Appellgericht beschäftigen. Morgen soll er schon anfangen.«

»Und was wird der Graf dazu sagen?«

»Man hat es ihm schreiben wollen; weiß aber nicht, wo er sich aufhält. Es ist seit vier Wochen nur ein einziger Brief von ihm gekommen, und den hat der Hauser nicht einmal angesehen. Meines Erachtens muß er sich über die Maßregel freuen. Für ein Metier im engeren Sinn ist der Hauser doch nicht zu brauchen, er hat leider den Verkehr mit den gebildeten und höheren Ständen zu lange genossen, als daß es ihn nicht rebellisch machen müßte, wenn er ihn plötzlich mit der Umgebung in einer Werkstätte vertauschen müßte. Anderseits ist er auch zu einem Beruf ungeeignet, der eine tiefere Ausbildung erfordert, denn zu einem ernsthaften Studium fehlt ihm Sinn und Ausdauer. Der Staatsrat hat demnach die beste Lösung getroffen, die auch mich von einem Teil meiner Verantwortlichkeit entlastet. Bei der Schreiberei kann sich der Hauser nicht nur zu einem Beamten des niederen Dienstes, sondern bei einigem Fleiß sogar für eine Stelle beim Registratur- oder Rechnungswesen ausbilden.«

Hickel hörte der weitläufigen Auseinandersetzung kaum zu. Sie gingen nun zusammen fort; vor der Hofapotheke verabschiedete sich Hickel, um sich, wie er sagte, ein Pülverchen gegen Schlaflosigkeit verschreiben zu lassen.

Auf dem Nachhauseweg wurde Quandt vom Hofrat Hofmann sehr freundlich gegrüßt, eine Tatsache, die hinreichend war, seine mürrische Stimmung ungemein aufzuheitern. Beim Mittagessen, es gab Kalbsbrust und Ochsenmaulsalat, wurde er sogar lustig und trieb allerlei Scherze mit seiner Gattin. Aber wie es bei seriösen Naturen der Fall zu sein pflegt, geriet seine Aufgeräumtheit ziemlich ins Plumpe. Unter anderm nahm er das Messer und fuchtelte der Lehrerin lachend damit vor der Nase herum. Da erblaßte Caspar, stand auf und sagte: »Um Gottes willen, Herr Lehrer, legen Sie doch das Messer weg, ich kann's nicht sehen.«

Quandt, gleich wieder verdrießlich, brummte: »Na, hören Sie mal, Hauser, ein solches Betragen schmeckt stark nach Affektation.«

»Sie sind ein schöner Tappel«, sagte die Lehrerin, »ein Mann muß mutig sein. Was wollen Sie denn tun, wenn's mal Krieg gibt? Da heißt es mit Anstand sterben.«

»Sterben? Nein, da sag ich Dank, sterben mag ich nicht«, erwiderte Caspar hastig.

»Und doch haben Sie sich damals vor dem Polizeileutnant in einer höchst widerwärtigen Weise über denselben Punkt geäußert«, ließ sich Quandt vernehmen.

»Nein, so feig«, fuhr die Lehrerin fort, »mit dem Kadetten Hugenpoet von den Dragonern haben Sie sich letzten Sommer ja auch einmal so feig benommen.«

»Was ist denn das für eine Geschichte?« erkundigte sich Quandt, »davon weiß ich gar nichts.«

»Er war doch mit dem Kadetten oft beisammen; der hat dem Hauser immerzu vorgeschwärmt, er solle Soldat werden, in ein paar Jahren brächt er es leicht zum Offizier. Wär ja nicht so übel, die Kadetten haben es gut und kommen schnell vorwärts. Unser Hauser war auch begeistert von der Idee, aber auf einmal war die Freundschaft aus.«

»Ei, und aus welchem Grund?«

»Das war so. An einem Abend im September ist er mit dem Kadetten am Rezatufer spazierengegangen, und sie sind zu einer Stelle gekommen, wo viele Knaben und Burschen sich gebadet haben, denn es war furchtbar warm an dem Tag. Der Kadett sagt, das wollen wir auch machen, zieht sich aus und will den Hauser überreden, gleichfalls zu baden. Der war aber zu Tod erschrocken von dem Vorschlag und sagt, ins Wasser geht er nicht. Das hören die andern, steigen heraus, stellen sich um ihn herum, verspotten ihn und wollen ihn mit Gewalt ins Wasser bringen. Da reißt er sich los, und eh man sich's versieht, ist er in seiner Höllenangst über die Felder davongelaufen, die nackichten Kerle höhnen hinter ihm her. Dem Kadetten war's zu bunt, und er sieht ihn nicht mehr an seitdem. Ist's wahr, Hauser, oder nicht?«

Caspar nickte. Der Lehrer schüttelte sich vor Lachen.

Ein paar Tage später kamen Frau von Imhoff und das Fräulein von Stichaner, um Caspar zu besuchen. Die Lehrerin, stolz auf die vornehmen Gäste, wich nicht vom Fleck. Der Unterhaltung zuliebe und weil ihr nichts Gescheiteres einfiel, erzählte sie im Beisein Caspars abermals die Geschichte mit dem Kadetten und dem verweigerten Bad, doch hatte sie nicht denselben Erfolg wie vor ihrem Ehegemahl. Die beiden Damen hörten schweigend zu,

»Solche Feigheit ist eigentlich nicht schön«, bemerkte das Fräulein von Stichaner dann auf der Straße gegen Frau von Imhoff.

»Man kann es nicht gut Feigheit nennen«, antwortete diese; »er liebt das Leben zu sehr, das ist es. Er liebt das Leben wie ein Toller, wie ein Tier liebt er es, wie ein Geizhals sein Gold. Er hat mir selbst gestanden, daß er jedesmal vor dem Einschlafen Angst hat, sein Schlaf könne sich ihm unbewußt in Tod verwandeln, und er betet, Gott möge ihn doch ganz gewiß am andern Morgen wieder aufwachen lassen. Nein, es ist nicht Feigheit; es ist vielleicht die Ahnung einer großen Gefahr, auch der Trieb, viel Versäumtes nachzuholen. Man muß ihn nur manchmal sehen, wie er sich freuen kann, und über das Allergeringste, woran jeder andre stumpf vorübergeht. Seine Freude hat etwas Großartiges, etwas Erdentrücktes, so wie seine Furcht und seine Traurigkeit etwas Schauerliches haben.«

Zu Hause wurde Frau von Imhoff durch einen Brief ihrer Freundin, der Frau von Kannawurf, überrascht, doppelt angenehm überrascht, da Frau von Kannawurf, sie weilte gegenwärtig in Wien, schrieb, sie wolle im März nach Ansbach kommen. In dem Brief war überdies viel von Caspar die Rede. »Ich habe in den letzten Tagen die Feuerbachsche Schrift gelesen«, hieß es unter anderm, »und ich muß Dir gestehen, daß mich noch niemals ein Buch dermaßen im Innersten aufgewühlt hat. Ich kann seitdem nichts andres denken, und es flieht mich der Schlaf. Weiß Caspar Hauser selbst von dieser Schrift? Und wie stellt er sich dazu? Was äußert er darüber?«

Frau von Imhoff versäumte es, über den Punkt Bescheid zu geben. Es fiel ja auch schwer, Caspar zu befragen. Hat er das Buch nicht gelesen, so ist es peinlich und sonderbar, ihn darüber in Unwissenheit zu sehen, dachte sie; noch peinlicher und sonderbarer, wenn er es gelesen hat; peinlich und sonderbar sein Aufenthalt hier, sein Kopistenamt auf dem Gericht, sein ganzes Treiben; und wie ist es möglich, eine Aussprache herbeizuführen? Jedes offene Wort kann unheilvoll werden.

Trotzdem unternahm es Frau von Imhoff, Caspar vorsichtig auszuholen, ob er überhaupt von der Sache wisse oder davon reden gehört. Und er wußte davon. Nicht im entferntesten aber hegte er den Wunsch, sich Klarheit zu verschaffen. Erstens aus Furcht; die Furcht ließ ihn vor jedem Schritt zurückbeben, der auf eine Veränderung seiner Lage zielte, seine Gedanken von der krampfhaft umklammerten Gegenwart ablenken konnte; und dann, weil er wahrscheinlich annahm, es handle sich bei der Schrift des Präsidenten auch nur um das bodenlose Gerede, das er in- und auswendig wußte und von dem ihm, wie er zu sagen pflegte, bloß Kopf- und Herzweh und ein dummes Nachschauen blieb. Er hatte dergleichen oft genug erfahren, und aus lauter Überdruß daran war er am Ende so unneugierig geworden, daß eine einzige Andeutung, während eines Gesprächs etwa, hinreichte, um seinem Gesicht den Ausdruck schalster Langweile zu geben.

Wie er schließlich doch dazu gelangte, das für ihn und um seinetwillen geschaffene Werk kennenzulernen, das hatte eine eigentümliche Bewandtnis.

Es war an einem unfreundlichen Vormittag im März, da verbreitete sich plötzlich im Appellgerichtsgebäude und bald darauf in der ganzen Stadt die Nachricht, der Präsident sei im großen Gerichtssaal während einer Verhandlung, die er leitete, ohnmächtig vom Stuhl gestürzt. Alle Beamten liefen sofort aus ihren Zimmern und standen alsbald auf den Treppen und Korridoren. Auch Caspar hatte seinen Arbeitstisch verlassen und gesellte sich zu den übrigen. Er schlich aber absichtlich wieder davon, um nicht Zeuge sein zu müssen, wie man den Präsidenten von oben heruntertrug.

Als er sich in das Zimmer zurückbegab, in welchem er an allen Vormittagen von acht bis zwölf Uhr schrieb, und zwar nur in Gesellschaft eines alten Kanzlisten, eines gewissen Dillmann, war dieser sein Amtsgefährte noch nicht wieder da. Caspar, sehr traurig und erschrocken, stellte sich zum Fenster und malte, schmerzlich versonnen, wie er war, mit dem Finger den Namen Feuerbach in die beschweißte Scheibe.

Indes trat Dillmann ein und ging händeringend auf seinen Platz zu.

Bis auf diesen Tag hatte der alte Kanzlist, und Caspar befand sich nun über neun Wochen auf dem Amt, noch nicht ein Dutzend überflüssiger Worte mit dem neuen Kollegen gewechselt; er hatte sich im mindesten nicht um ihn gekümmert und eine grämliche Gleichgültigkeit gegen ihn zur Schau getragen. Im Verlauf der dreißig Jahre, während welcher er Akten, Erlässe, Verordnungen und Urteile kopierte, hatte er es zu einer besonderen Geschicklichkeit im Schlafen gebracht, und es war komisch zu sehen, wenn er, den Federkiel aufs Papier gespießt, leise schnarchend seine Siesta hielt und sogleich die Hand schreibend weiterbewegte, wenn sich draußen der Schritt eines Vorgesetzten vernehmen ließ, da er die Gangart jedes einzelnen Herrn genau studiert und sozusagen im Kopf hatte.

Um so verwunderter war Caspar, als Dillmann auf ihn zuschritt und mit zitternder Stimme sagte: »Der unvergleichliche Mann! Wenn ihm nur nichts zustößt! Wenn ihm nur nichts Menschliches passiert!«

Caspar drehte sich um, entgegnete aber nichts.

»Na, Hauser, und für Sie wäre es gar ein unersetzlicher Verlust«, fuhr der Alte seltsam keifend und zänkisch fort; »wo gibt's denn in dieser lummerigen Welt einen Menschen, der sich so für einen andern Menschen einsetzt? Sollte mich nicht erstaunen, wenn das ein schlimmes Ende nähme. Ja, es wird ein schlimmes Ende nehmen, ein schlimmes Ende.«

Caspar hörte schweigend zu; seine Augen blinzelten.

»So ein Mann!« rief Dillmann aus. »Ich hab, seit ich hier sitze, schon sieben Präsidenten und zweiundzwanzig Regierungsräte zum Grab geleitet, Hauser, aber so einer war nicht dabei. Ein Titan, Hauser, ein Titan! Die Sterne könnt er vom Himmel reißen um der Gerechtigkeit willen. Man muß ihn nur betrachten; haben Sie ihn mal genau betrachtet? Der Buckel über der Nase! Das deutet, wie man sagt, auf eine genialische Konzeption; diese Jupiterstirn! Und das Buch, Hauser, das er für Sie geschrieben hat! Das ist ein Buch! Ein wahrer Scheiterhaufen ist's! Die Zähne muß man zusammenbeißen und die Fäuste ballen, wenn man's liest.«

Caspar machte ein mürrisches Gesicht. »Ich hab's nicht gelesen«, sagte er kurz.

Dem alten Kanzlisten gab es einen Ruck. Er riß den Mund auf und schnappte. »Nicht gelesen?« stotterte er. »Sie – nicht gelesen? Ja wie ist denn das möglich? Da soll mich doch gleich der Teufel holen!« Eilig trippelte er zu seinem Tisch, schob eine Lade auf, suchte herum und brachte das Büchlein zum Vorschein. Er reichte es Caspar hin, stieß es ihm förmlich in die Hand und knurrte: »Lesen, lesen! Sapperlot, lesen!«

Caspar machte es beinahe wie Hickel dem Lehrer Quandt gegenüber. Er drehte das Buch um und um und zeigte eine unschlüssige Miene. Dann erst schlug er es auf und las, sichtlich erbleichend, den Titel. Immerhin genügte auch dies noch nicht, um ihn neugierig oder ungeduldig werden zu lassen. Er steckte das Buch in die Tasche und sagte trocken: »Zu Hause will ich's lesen.«

Schlag zwölf Uhr verließ er, wie gewöhnlich, das Amt, setzte sich zu Hause, als ob nichts geschehen wäre, zu Tisch und hörte still den Gesprächen zu, die sich ausschließlich um das dem Präsidenten widerfahrene Unglück drehten. »Am letzten Sonntag vor dem Kirchgang«, plauderte die Lehrerin, »da hab ich den Staatsrat gesehen, gerade wie ihm vier Totenweiber begegnet sind. Der Staatsrat ist ganz erschrocken gewesen, ist stehengeblieben und hat ihnen nachgeschaut. Ich hab mir gleich gedacht, das kann nichts Gutes bedeuten.«

»Wenn ihr Frauenzimmer nur nicht alleweil euch anmaßen wolltet, dem Herrgott in die Karten zu gaffen«, versetzte Quandt unwirsch. »Da predigt man und predigt das liebe lange Jahr, glaubt wunders wie auf den Höhen der Aufklärung zu wandeln, und schließlich spuckt einem die eigne Sippschaft am kräftigsten in die Suppe.«

Caspar belachte diese Worte, was ihm von der Lehrerin einen giftigen Blick eintrug.

Er begab sich dann in sein Zimmer.

Um zwei Uhr sollte er zum Unterricht kommen, erst von vier Uhr an brauchte er im Amt zu sein. Als zehn Minuten über die Zeit vergangen waren, trat Quandt in den Hausflur und rief. Es erfolgte keine Antwort. Er ging hinauf und überzeugte sich, daß Caspar nicht da war. Sein Unwillen verwandelte sich in Schrecken, als er bei seiner spionierenden Umschau die Feuerbachsche Schrift auf Caspars Tisch liegen sah.

»Also doch«, murmelte er bitter.

Er nahm das Buch an sich, suchte unten seine Frau und sagte mit tonloser Stimme: »Jette, ich habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. Der Hauser hat die Schrift des Staatsrats auf seinem Zimmer gehabt. O die gewissenlosen Menschen! Wer doch das wieder eingefädelt hat!«

Die Lehrerin zeigte wenig Verständnis für den Vorfall. »Laß ihn gehen«, oder »sag's ihm doch«, oder »gib's ihm nur ordentlich«, war meist alles, was sie zu entgegnen wußte, wenn Quandt ungehalten über Caspar war.

»Wann ist denn der Hauser fort?« erkundigte sich Quandt bei der Magd. Diese wußte von nichts. Da trat Caspar selber ins Zimmer und entschuldigte sich höflich.

»Wo waren Sie denn?« forschte der Lehrer.

»Ich bin zu Feuerbachs gegangen und wollte fragen, wie es dem Staatsrat geht.«

Quandt schluckte seinen Verdruß hinunter und begnügte sich, Caspars Fortgehen als Eigenmächtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf und ab. Endlich begann er: »Ich war vorhin auf Ihrer Kammer, Hauser. Ich habe bei dieser Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde ausgedrückt, sehr mit Bedenken erfüllt. Ich will mich nun über die Schrift des Herrn Staatsrat nicht weiter auslassen, obwohl alle vernünftigen Menschen darüber einer Meinung sind; ich halte mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen so verdienstvollen Mann herunterzusetzen. Auch will ich nicht weiter untersuchen, wer Ihnen das Buch in die Hand gespielt hat, da ich mich dabei doch nur der Gefahr aussetzen würde, von Ihnen angelogen zu werden. Aber mein Bedenken hat es erregt, daß Sie sogar bei einem solchen Anlaß heimlich verfahren zu müssen glauben. Warum kommen Sie nicht, wie sich's gehört, zu mir und sprechen sich aus? Denken Sie denn, daß ich Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübsche Fabel zu lesen, die ein ehemals großer und berühmter, doch nun kranker und geistesmüder Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, wie Ihnen in Ihrem Innern zumute sein muß, wenn man ein solches Märchen in Ihre Vergangenheit hineinspinnt? Eine Vergangenheit, die Ihnen wahrlich besser bekannt ist als dem armen Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen die ewige Versteckspielerei? Hab ich das um Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu Ihnen gewesen? Sie leben in meinem Haus, Sie essen an meinem Tisch, Sie genießen mein Vertrauen, Sie nehmen teil an unserm Wohl und Wehe, kann Sie denn nichts in der Welt bewegen, Sie heimlicher Mensch, einmal offen und rückhaltlos zu sein?«

O wundersam! Dem Lehrer standen die Augen voller Tränen. Er zog die Schrift des Präsidenten aus der Tasche, ging zum Tisch und legte das Büchlein mit Affekt vor Caspar hin.

Caspar blickte den Lehrer an, als ob dieser in einer weiten Entfernung stehe. Es war etwas Stieres in seinem Blick und eine vollkommene Abwesenheit der Gedanken. Auf der Stirn lag es wie geisterhaftes Gewölk, die Lippen waren geöffnet und zuckten.

Wie böse er aussieht, dachte Quandt und fing an, sich zu ängstigen. »Sprechen Sie doch!« schrie er heiser.

Caspar schüttelte langsam den Kopf. »Man muß Geduld haben«, sagte er wie im Traum. »Es wird sich was ereignen, Herr Lehrer, passen Sie nur auf. Es wird sich bald was ereignen, glauben Sie mir.« Unwillkürlich streckte er die Hand nach dem Lehrer aus.

Quandt kehrte sich angewidert ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren Redensarten«, sagte er kalt. »Sie sind ein abscheulicher Komödiant.«

Damit war das Gespräch beendet, und Quandt verließ das Zimmer.

Durch den Archivdirektor Wurm erfuhr Quandt, daß Caspar allerdings zu Mittag im Feuerbachschen Haus gewesen war, daß er aber nicht bloß nach dem Befinden des Präsidenten gefragt, sondern auch mit auffallender Dringlichkeit den Staatsrat zu sprechen verlangt habe. Natürlich habe man ihm durchaus nicht willfahren können. Er war noch eine halbe Stunde lang unbeweglich am Tor stehengeblieben, und bevor er sich entfernt, war er um das ganze Haus herumgegangen und hatte zu den Fenstern hinaufgeschaut, wobei sein Gesicht anders als je, wild und verstört, ausgesehen.

Nun kam er aber den nächsten Tag wieder, und ebenso am dritten und vierten Tag, jedesmal mit demselben dringenden Begehren, und jedesmal wurde er abgewiesen. Der Präsident bedürfe der Ruhe, wurde ihm gesagt; sein Zustand, der anfangs zu Besorgnissen Grund gegeben, bessere sich jedoch stetig.

Direktor Wurm erzählte endlich dem Präsidenten davon. Feuerbach befahl, daß man Caspar zu ihm führen solle, wenn er das nächste Mal käme, und bestand trotz dem Abreden Henriettes auf seinem Willen. Es verging aber die ganze Woche, ehe sich Caspar wieder sehen ließ.

Eines Nachmittags, schon ziemlich spät, erschien er und wurde, von Henriette nicht eben freundlich empfangen, in das Zimmer ihres Vaters geleitet. Der Präsident saß im Lehnstuhl und hatte einen kleinen Berg von Akten vor sich aufgeschichtet. Er sah sehr gealtert aus, weiße Bartstoppeln umstanden Kinn und Wangen, sein Auge blickte ruhig, hatte aber einen ängstlichen Schimmer, wie bei einem, dem der äußerst gefürchtete Tod näher gewesen ist, als er denken will.

»Nun, was wünschen Sie von mir, Hauser?« wandte er sich an Caspar, der neben der Tür stehengeblieben war.

Caspar trat heran, stolperte vor dem Schemel, fiel plötzlich auf die Knie und beugte in pagenhafter Demut das Haupt. Auch seine Arme sanken schlaff herunter, und er verharrte mit ergebener und düsterer Miene in derselben Stellung.

Feuerbach verfärbte sich. Er packte Caspar bei den Haaren und bog den Kopf zurück, aber die Augen Caspars blieben geschlossen. »Was gibt's, junger Mann?« rief der Präsident hart. Jetzt erhob Caspar den sprechenden Blick. »Ich hab es gelesen«, sagte er.

Der Präsident ballte die Lippen aufeinander, und seine Augen verschwanden unter den Brauen. Ein langes Schweigen trat ein.

»Stehen Sie auf«, herrschte endlich der Präsident Caspar an. Dieser gehorchte.

Feuerbach packte ihn beim Handgelenk und sagte halb drohend, halb beschwörend: »Nicht mucksen, Hauser, nicht mucksen! Stille halten! Stille sein! Abwarten! Ist vorläufig nichts weiter zu tun.«

Caspars Gesicht, stumm erregt wie das eines Fiebernden, wurde starrer.

»Es graut Ihnen, jawohl«, fuhr der Präsident fort, »auch mir graut, und dabei muß es sein Bewenden haben. Unserm Arm sind nicht alle Fernen und Höhen erreichbar. Wir haben nicht Josuas Schlachttrompeten und Oberons Horn. Die hochgewaltigen Kolosse sind mit Flegeln bewehrt und dreschen so hageldicht, daß zwischen Schlag und Schlag sich unzerknickt kein Lichtstrahl zwängen kann. Geduld, Hauser, und nicht mucksen, nicht mucksen. Zu versprechen ist nichts; eine Hoffnung bleibt noch, aber dazu brauch ich Gesundheit. Genug für jetzt!«

Er machte eine verabschiedende Geste.

Caspar sah den alten Mann zum erstenmal klar und ruhig an. Der feste Blick wunderte den Präsidenten. Ei der Tausend, dachte er, der Bursche hat Blut in sich und kein Zuckerwasser. Schon im Fortgehen begriffen, drehte sich Caspar noch einmal um und sagte: »Exzellenz, ich hätte eine große Bitte.«

»Eine Bitte? Heraus damit!«

»Es ist mir so lästig, daß ich bei jedem Ausgehen immer auf den Invaliden warten soll. Er kommt oft so spät, daß es sich gar nicht mehr ums Weggehen lohnt. Ins Appellgericht kann ich doch alleine gehen und zu meinen Bekannten auch.«

»Hm«, machte Feuerbach, »will's überlegen, werd es richten.«

Als Caspar das Zimmer verließ, huschte eine weibliche Gestalt längs des Korridors davon, einer ertappten Lauscherin gleich. Es war Henriette, die, in beständiger Angst um den Vater, nichts so sehr fürchtete wie die Gefahr, die aus dessen leidenschaftlichem Anteil an dem Schicksal Caspars drohte. Es mag dafür ein Brief Zeugnis geben, den sie an ihren in der Pfalz wohnenden Bruder Anselm schrieb und der die unheilschwere Luft, die in der Umgebung des Präsidenten lastete, mit jeder Zeile spüren ließ.

»Der Zustand unsers Vaters«, so begann das Schreiben, »hat sich, Gott sei Dank, zum Bessern gewandt. Er vermag schon, auf einen Stock gestützt, durchs Zimmer zu gehen und hat auch wieder Freude an einem guten Braten, wenngleich sein Appetit nicht mehr der frühere ist und er hin und wieder über Magenschmerzen klagt. Was aber seine Stimmung im allgemeinen anbelangt, so ist sie schlechter denn je, und zwar hängt dies vornehmlich mit der unglückseligen Caspar-Hauser-Schrift zusammen. Du weißt, welch riesiges Aufsehen die Broschüre im ganzen Land hervorgerufen hat. Tausende von Stimmen haben sich dafür und dawider erhoben, aber es scheint, daß das Dawider allmählich die Oberhand behalten hat. Die gelesensten Zeitungen brachten Artikel, die einander auffallend ähnlich waren und worin das Werk als Produkt eines überspannten Kopfes höhnisch abgetan wurde. Nachdem zwei Auflagen in rascher Folge verkauft waren, verweigerte der Verleger plötzlich unter allerlei Ausflüchten den Druck, und als man sich an zwei andre wandte, kamen ebenfalls Absagen. Daß dahinter die tückischsten Umtriebe stecken, samt und sonders aus ein und derselben Quelle, kann man sich nicht verhehlen, und ich möchte mir die Lippen wund beißen, wenn ich daran denke, in was für Zuständen wir zu leben gezwungen sind, daß selbst ein Mann wie unser Vater für eine Sache, die so, wie sie ist, zum Himmel schreit, kein williges Ohr findet, von tätiger Hilfe ganz zu schweigen. Wahrhaftig, die Menschen sind träge, stumpfe, dumme Tiere, sonst wäre mehr Empörung in der Welt. Nun magst Du Dir aber erst unsern Vater vorstellen: seine bittere Verstimmung, seinen Schmerz, seine Verachtung, und alles zurückgehalten, in seiner Brust zugeschlossen. Was mußte er fühlen, da sogar aus dem nächsten Freundeskreis kein Zeichen des Beifalls, des Dankes, der Liebe mehr zu ihm flog! Gewisse hochgestellte Personen hielten mit ihrem Ärger nicht zurück, und hier, in dem abscheulichen Krähwinkel, hatte man ohnehin wenig Aufhebens von der ganzen Geschichte gemacht, begreiflicherweise, denn Christus mag Rom erobern, zu Jerusalem ist er nur ein schäbiger Rabbi. Ich bin in großer Sorge für unsern Vater. Ich kenne ihn genug, um zu wissen, daß seine jetzige äußerliche Ruhe nur den inneren Sturm verbirgt. Manchmal sitzt er stundenlang und starrt auf eine einzige Stelle an der Wand, und wenn man ihn dann stört, schaut er einen mit großen Augen an und lacht lautlos und weh. Neulich sagte er ganz plötzlich und mit finsterer Miene zu mir: das Rechte sei, wenn aus solcher Ursache heraus wie in früheren Zeiten der ganze Mann sich stelle, mit Haut und Haar müsse man sich opfern und dürfe sich nicht hinter einem Wall bedruckten Papiers verschanzen. Er wälzt Pläne in seinem Hirn, die Nachricht, daß im Badischen eine Revolution ausgebrochen ist, hat ihn mächtig angegriffen, und in der Tat scheint diese Katastrophe mit der Caspar-Hauser-Sache in innigem Zusammenhange zu stehen. Er glaubt in einem verabschiedeten und irgendwo am Main lebenden Minister einen der Hauptanstifter der an dem Findling begangenen Greuel vermuten zu dürfen, und – kaum will mir der Satz in die Feder! – er hat die Absicht, den Mann aufzusuchen, ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Der Polizeileutnant Hickel, der unheimliche Geselle, dem ich nicht über den Weg traue, kommt nun fast täglich ins Haus und hat lange Konferenzen mit Vater, und soviel ich bis jetzt den Andeutungen des Vaters entnommen habe, soll ihn Hickel in einigen Wochen auf die Reise begleiten. Könnt ich doch das, nur das verhindern! Er wird um dieser unseligen Geschichte willen den letzten Frieden seines Alters hingeben, und er wird nichts ausrichten, nichts, nichts, und wäre er ein Jesajas an Beredsamkeit, ein Simson an Kraft und ein Makkabäus an Mut. Ach, wir Feuerbachs sind ein gezeichnetes Geschlecht! Das Kainsmal der Ruhelosigkeit bedeckt unsre Stirnen. Sinnlos wirtschaften wir mit unsern Kräften und unsern Vermögen, und wenn die Überbleibsel noch gerade bis zur Kirchhofsmauer reichen, ist es schon ein Glück. Es ist uns nicht gegeben, einen harmlosen Spaziergang zu machen, wir müssen immer gleich ein Ziel haben, wir können nicht atmen, ohne eines wichtigen Zweckes zu gedenken, und in der Erwartung des nächsten Tages entgleitet uns jede holde Gegenwart. So ist er, so bist Du, so bin ich, so sind wir alle. Ich habe noch nie an einer Rose gerochen, ohne darüber zu trauern, daß sie morgen verwelkt sein wird, noch nie ein schönes Bettelkind erblickt, ohne über die Ungleichheit der Lose zu spintisieren. Leb wohl, Bruder, der Himmel mache meine schlimmen Ahnungen unwirklich.«

So der Brief. Das darin zum Ausdruck gebrachte Mißtrauen gegen den Polizeileutnant wuchs schließlich dermaßen, daß Henriette alle möglichen Anstrengungen machte, um den Vater mit Hickel zu entzweien. Es fruchtete nichts, aber Hickel roch Lunte und zeigte in seinem Benehmen gegen die Tochter des Präsidenten alsbald eine undurchdringliche, süßliche Liebenswürdigkeit. Als ihn Quandt aufsuchte und sich lebhaft darüber beklagte, daß der Präsident sich von Hauser habe beschwatzen lassen und dessen unbewachtes und unbehindertes Herumlaufen in der Stadt bewilligt habe, sagte Hickel, das passe ihm nicht, er werde dem Staatsrat schon den Kopf zurechtsetzen.

Er ließ sich bei Feuerbach melden und trug ihm seine Bedenken gegen die unerwünschte Maßregel vor. »Eure Exzellenz dürften nicht überlegt haben, welche Verantwortung Sie mir damit aufbürden«, sagte er. »Wenn ich keine Kontrolle habe, wo der Mensch seine Zeit hinbringt, wie soll ich dann für seine Sicherheit Garantie bieten?«

»Larifari«, knurrte Feuerbach; »ich kann einen erwachsenen Menschen nicht einsperren, damit Sie Ihre Nachmittagsstunden mit Gemütsruhe im Kasino versitzen können.«

Hickel heftete einen bösen Blick auf seine Hände, antwortete aber mit einer nicht übel gespielten Treuherzigkeit: »Ich bin mir ja eines Lasters bewußt, das Eure Exzellenz so streng verurteilen. Immerhin, ein Plätzchen muß der Mensch doch haben, wo er sich wärmen kann, sonderlich wenn er ein Hagestolz ist. Wenn Sie in meiner Haut steckten, Exzellenz, und ich in der Ihren, würde ich milder über einen geplagten Beamten denken.«

Feuerbach lachte. »Was ist Ihnen denn über die Leber gekrochen?« fragte er gutmütig. »Haben Sie Liebeskummer?« Er hielt den Polizeileutnant für einen großen Suitier.

»In diesem Punkt, Exzellenz, bin ich leider zu hartgesotten«, entgegnete Hickel, »obgleich ein Anlaß dafür vorhanden wäre; seit einigen Tagen hat unsre Stadt die Ehre, eine ganz ausgezeichnete Schönheit zu beherbergen.«

»So?« fragte der Präsident neugierig. »Erzählen Sie mal.« Er hatte, nicht zu leugnen, eine kleine naive Schwäche für die Frauen.

»Die Dame ist bei Frau von Imhoff zu Besuch –«

»Jawohl, richtig, die Baronin sprach davon«, unterbrach Feuerbach.

»Sie wohnte zuerst im ›Stern‹«, fuhr Hickel fort, »ich ging ein paarmal vorüber und sah sie gedankenvoll am Fenster weilen, den Blick zum Himmel aufgeschlagen wie eine Heilige; ich blieb dann immer stehen und schaute hinauf, aber kaum daß sie mich bemerkte, trat sie erschrocken zurück.«

»Na, das laß ich mir gefallen, das heißt gut beobachten«, neckte der Präsident, »es ist also schon eine Art Einverständnis geschaffen.«

»Leider nein, Exzellenz; offen gestanden, für galante Abenteuer ist die Zeit zu ernst.«

»Das sollt ich meinen«, bestätigte Feuerbach, und das Lächeln erlosch auf seinen Zügen. Er erhob sich und sagte energisch: »Aber sie ist auch reif, die Zeit. Ich gedenke am achtundzwanzigsten April aufzubrechen. Sie nehmen vorher Dispens vom Amt und stellen sich mir zur Verfügung.«

Hickel verbeugte sich. Er schaute den Präsidenten erwartungsvoll an, und dieser verstand den Blick. »Ach so«, sagte er. »Ich muß Ihnen allerdings zugeben, daß es sein Untunliches hat, den Hauser sich selbst zu überlassen. Anderseits ist es nicht billig, ihm die Welt vor der Nase zuzuriegeln. Davon mag er genug haben. Durch Einbuße an freiwilliger Betätigung wird ein zum Leben gewandter Wille ebenso empfindlich getroffen wie durch Ketten und Handfessel.« Er konnte nicht einig mit sich werden; wie immer dem Polizeileutnant gegenüber fand er sich in seinen Entschlüssen beengt; es war ein Anprall von Kraft, Jugend, Kälte und Gewissenlosigkeit, dem er dabei unterlag.

»Aber Eure Exzellenz kennen doch die Gefahren –«, wandte Hickel ein.

»Solange ich in dieser Stadt die Augen offen habe, wird niemand wagen, ihm ein Haar zu krümmen, dessen seien Sie ganz gewiß.«

Hickel hob die Brauen hoch und betrachtete wieder die gestreckten Finger seiner Hand. »Und wenn er uns eines Tages über alle Berge rennt?« fragte er finster. »Dem ist manches zuzutrauen. Ich schlage vor, daß man ihn wenigstens des Abends und auf Spaziergängen überwachen läßt. Bei Besorgungen in der Stadt mag er im Notfall allein bleiben. Dem alten Invaliden können wir den Laufpaß geben, und ich will statt dessen meinen Burschen abrichten. Er soll sich täglich um fünf Uhr nachmittags im Lehrerhaus melden.«

»Das wäre eine Lösung«, sagte Feuerbach. »Ist der Mann verläßlich?«

»Treu wie Gold.«

»Wie heißt er?«

»Schildknecht; ist ein Bäckerssohn aus dem Badischen.«

»Erledigt; sei es so.«

Als Hickel schon unter der Tür war, rief ihn der Präsident noch einmal zurück und schärfte ihm wegen der bevorstehenden gemeinsamen Reise unbedingtes Stillschweigen ein. Hickel versetzte, einer solchen Mahnung bedürfe es nicht.

»Ich könnte die Reise keinesfalls allein unternehmen«, sagte der Präsident, »ich brauche die Hilfe eines umsichtigen Mannes. Die Gelegenheit muß sorgfältig ausgekundschaftet werden. Vorsicht ist geboten. Vergessen Sie niemals, daß ich Ihnen in dieser Sache einen großen Beweis von Vertrauen gebe.«

Er schaute den Polizeileutnant durchbohrend an. Hickel nickte mechanisch. Über Feuerbachs Stirn senkte sich plötzlich eine Wolke ahnungsvoller Sorge. »Gehen Sie«, befahl er kurz.


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