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Nirgends wird ein Geheimnis getreuer bewahrt als an Bord eines Schiffes, denn die ganze Besatzung, vom Kapitän bis zum letzten Pagen, sind geborene Verschwörer, wenn es sich darum handelt, daß die Passagiere gewisse Dinge nicht erfahren sollen. Niemand, mit Ausnahme der Leute, die es direkt anging, wußte beim nächsten Frühstück, welche Tragödie sich in der Nacht abgespielt hatte.
Der Platz von Price war gedeckt; seine Serviette lag zusammengefaltet links neben dem Teller, und die frisch gebackenen Brötchen, die heißen Toastschnitten und der Kaffee warteten um halb neun auf ihn. Um diese Zeit pflegte er zu frühstücken.
Der Decksteward setzte den Sessel zurecht, ordnete die Kissen und legte das Buch, in dem der Pfarrer gelesen hatte, bequem zur Hand, obwohl er wußte, daß Mr. Price unten in einem abgeschlossenen Raum als Toter aufgebahrt lag.
Margot ahnte so wenig, daß sie den Steward in Mr. Prices Kabine schickte und sich nach seinem Befinden erkundigen ließ. Er kam mit der Nachricht zurück, daß Mr. Price sich nicht wohl fühlte und wahrscheinlich kaum an Bord erscheinen könnte.
Mr. Winter erkundigte sich bei dem Steward im Rauchsalon nach dem Pfarrer. Auch dieser wußte sehr genau, daß Mr. Price tot war, denn er hatte selbst geholfen, die Leiche unter Deck zu schaffen. Er erwiderte, daß Mr. Price vor ein paar Minuten noch im Rauchsalon gewesen sei und wohl eben nach unten gegangen sein müsse.
Der Morgen war sonnig und klar, aber gegen Mittag kam das Schiff in eine dichte, weiße Nebelbank, und für den Rest des Tages konnte die ›Ceramia‹ nur mit der geringen Geschwindigkeit von zehn Knoten die Stunde fahren. Dauernd schrillten die Dampfpfeifen in kurzen Zwischenräumen. Auf dem Promenadendeck war es feucht und kalt. Die Deckplanken waren naß und glatt, so daß selbst das Spazierengehen nicht anzuraten war. Aber Margot ließ sich dadurch nicht stören. Sie saß in ihrem Deckstuhl, in Decken eingewickelt, denn sie zog den Aufenthalt in der freien Luft vor. Stella Markham dagegen hatte sich in ihre Räume zurückgezogen.
Margot hatte den größten Teil des Vormittags mit ihrer Schwägerin verbracht, die fest entschlossen war, sich bis zum Ende der Reise nicht zu zeigen. Aber sie gab schließlich Margot nach und zog in die größere und bequemere Kabine, die Frank von Anfang an für sie belegt hatte.
»Auf jeden Fall bist du dann in meiner Nähe«, sagte Margot. »Die Zimmer haben zwei Ausgänge nach dem äußeren Korridor, so daß du ungehindert aus und ein gehen kannst. Nur auf einer Forderung muß ich bestehen. Wenn du mit Jim sprechen willst, möchte ich dazu eingeladen sein.«
Cecile lächelte.
»Hast du mir noch nicht verziehen, Margot?«
»Wenn ich nicht so christlich mild dächte, wäre ich dir noch böse. Aber ich glaube nicht, daß das eine Gewohnheit zwischen dir und Jim werden wird. Wenn du durchaus weinen mußt, dann komme zu mir und vertraue dich mir an.«
Der Nebel hielt den ganzen Tag an, erst gegen Abend lichtete er sich. Nach dem Essen wurde er jedoch wieder dichter.
Margot kannte genau die Zeiten, wann Jim unten im Heizraum Wache hatte. Heute lagen seine Stunden früher, und es war daher Aussicht vorhanden, daß er eher aufs Bootsdeck hinaufkommen konnte. Sie saß und las krampfhaft in ihrem Buch, um die Zeit totzuschlagen. Mrs. Markham, die vorüberkam, schüttelte nur den Kopf über solchen Unverstand.
»Ach, es ist entsetzlich kalt. Man könnte fast denken, wir wären in die Nähe eines Eisberges geraten.«
»Sie können weiter auch nichts als Unglück prophezeien. Sind Sie eigentlich jemals schon zufrieden und glücklich gewesen?«
Mrs. Markham wandte sich ärgerlich zu ihr.
»Sie wissen überhaupt nicht, was Sie sagen. Sie sind noch zu jung, um zu wissen, was Glück oder Unglück bedeuten. Ich bin niemals glücklich gewesen, und ich werde auch niemals glücklich sein.«
Margot schwieg. Sie sah, daß Mrs. Markham aufgeregt und schnell atmete.
»Es tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht weh tun«, sagte sie freundlich.
Langsam beruhigte sich Mrs. Markham. Dann legte sie die Hand auf die Schulter des jungen Mädchens.
»Ich bin so entsetzlich nervös heute abend. Ich gehe jetzt in meine Kabine, um mir die Zeit zu vertreiben.«
Sie ging auch nach unten, und vor der Tür fand sie Mr. Winter, der auf sie wartete.
»Sie haben den Schlüssel, Madame.«
Sie nahm ihn aus ihrem Täschchen und öffnete die Tür. Die Kabine war vollkommen dunkel, ebenso das Schlafzimmer. Sie drehte das Licht an und ging nach der offenen Schlafzimmertür. Im selben Augenblick hörte sie ein Geräusch und erkannte einen Mann, der die Hand auf das offene Fenster gelegt hatte und gerade fliehen wollte. Er war in Abendkleidung, aber der untere Teil seines Gesichtes von den Augen ab war durch ein vorgebundenes Taschentuch verdeckt.
»Winter!« rief Mrs. Markham laut, und der Hausmeister kam herein.
Der maskierte Mann sah sich einem Revolver gegenüber.
»Was machen Sie hier?« fragte sie.
Die Frage war überflüssig. Zwei Schubladen waren herausgezogen, der Inhalt lag auf dem Sofa und den beiden Sesseln zerstreut. Der Eindringling hatte nicht den Versuch gemacht, seine Anwesenheit zu verbergen.
Das Bett war in Unordnung, die Matratzen waren herausgezogen und untersucht. Der Kleiderschrank stand offen, und der Mann hielt eine elektrische Taschenlampe in der Hand.
»Hände hoch!« sagte Mr. Winter scharf. »Nun, wird es bald?«
Mit einer schnellen Bewegung riß Mrs. Markham das Taschentuch von dem Gesicht des anderen.
Jim Bartholomew stand vor ihr.
Sie nickte.
»Ich kenne Sie – Sie sind ein Freund Margots.«
»Sie haben recht«, entgegnete Jim.
Zuerst hatte er die Hände vor dem drohenden Revolver gehoben, nun steckte er sie in die Taschen.
»Was machen Sie denn hier?«
Jims Blicke wanderten von einer Schublade zur anderen, dann lächelte er befriedigt.
»Merkwürdige Frage. Es muß Ihnen doch klar sein, daß ich hier nicht Staub gewischt oder Ordnung gemacht habe.«
»Sie haben hier nach etwas gesucht.«
»Gut geraten, Mr. Winter, Sie können ruhig den Revolver wegstecken, Sie werden hier nicht schießen.«
»Ich bringe Sie sofort zum Kapitän!« sagte der Butler. Er war bleich, ob aus Wut oder Furcht, konnte Jim im Augenblick nicht entscheiden.
»Ich glaube nicht, daß Sie das tun werden. Vom Schiff kann ich doch nicht fortlaufen. Es besteht keine dringende Notwendigkeit, den Kapitän zu dieser Stunde im Schlaf zu stören. Sie kennen mich doch, und Sie können mich an Bord finden, wenn Sie wollen.«
»Wenn wir Sie aber nicht finden können, Mr. Bartholomew – so heißen Sie doch?«
»Ja, das ist mein Name.«
Eine unangenehme Pause trat ein.
»Sie können gehen«, sagte Stella Markham schließlich.
»Wollen Sie mich nicht durchsuchen, bevor ich gehe?« fragte Jim.
»Sie können gehen«, wiederholte sie und machte eine Handbewegung zur Tür. Sie war noch bleicher als Winter.
»Warten Sie«, sagte der Butler plötzlich und versperrte ihm den Ausgang. »Ich glaube nicht, daß das die richtige Art ist, unser Zusammentreffen zu beenden, Mrs. Markham.«
Er war ein kräftiger, starker Mann, aber Jim stieß ihn zur Seite, als ob er ein Kind wäre, und ging an ihm vorüber auf das A-Deck.
Jim konnte Margot unten auf dem Promenadendeck nicht sehen und stieg daher gleich zum Bootsdeck hinauf, wo er sie auch fand. Vorher war sie zu ihrer Kabine gegangen und hatte ein Sportkostüm angelegt, das besser für eine so neblige Nacht geeignet war.
»Morgen werde ich meine Unschuld bewiesen haben, mit anderen Worten, ich werde als Passagier erster Klasse mit meinem Freund von Scotland Yard fahren. Er hat die Sache ebenso satt wie ich.«
»Was wird denn geschehen?«
»Morgen abend passieren wir Fire Island Light, und einige Zeit später werfen wir in der Höhe von Sandy Hook Anker. Am nächsten Morgen kommen die Beamten der Vereinigten Staaten an Bord, und dann werden wir ja sehen, was passiert.«
Der Nebel wurde dünner, aber der große Dampfer behielt die Geschwindigkeit von zehn Knoten in der Stunde bei.
»Bist du nicht ein wenig müde?« fragte sie. »Du sprichst so wenig?«
»Ich habe ein aufregendes Abenteuer hinter mir. An einem der nächsten Tage erzähle ich es dir, und ich bin tatsächlich auch ein wenig müde. Dieser Nebel bedeutet Überstunden für uns unten im Heizraum. Alle Leute sind auf dem Posten, und die Wachen sind verdoppelt.«
»Dann will ich dich nicht länger aufhalten«, erwiderte sie.
Er schloß sie in die Arme.
»Hoffentlich ist bald alles vorüber.«
»Ja. Es ist doch wohl am besten, wenn ich hinuntergehe und mich zur Ruhe lege. Gute Nacht, Jim.«
Er küßte sie wieder und schaute ihr nach, als sie zur Treppe ging. Dann wandte er sich um und schlenderte in entgegengesetzter Richtung davon.
Sie hatte schon die Treppe erreicht, als ihr einfiel, daß sie nichts über ihre nächste Zusammenkunft mit ihm verabredet hatte. Rasch kehrte sie um und sah, wie er sich über die Reling lehnte, und zwar an derselben Stelle, wo sie ihn mit Cecile gesehen hatte. Sie konnte ihn jetzt deutlich erkennen, weil der Nebel einen hellen Hintergrund bildete. Einen Augenblick stand sie still und beobachtete ihn.
Währenddessen sah sie, daß eine dunkle Gestalt hinter einem der Boote hervorkam. Der Betreffende hob den Arm und schlug von hinten auf Jim ein, der in sich zusammensank und bewußtlos auf die Reling fiel. Margot versuchte zu schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie war wie gelähmt. Der Mann, der Jim hinterrücks angegriffen hatte, bückte sich und packte Jim an den Beinen, um ihn über die Reling ins Wasser zu werfen.
In höchster Angst schrie Margot gellend auf, aber es war zu spät. Die dunkle Gestalt eilte in den Schatten zurück, während Jim in die Tiefe stürzte. Gleich darauf hörte sie, wie der Körper ins Wasser schlug. Wieder schrie sie auf und eilte dann die Treppe hinunter zum hinteren Teil des Schiffes. Ihr Entschluß war gefaßt. Als sie an das Ende des Decks kam, sprang sie auf die Reling und hielt sich an einer Stange fest, die das Sonnensegel trug. Im Nu hatte sie das Kleid abgestreift und sprang ins Wasser.
Es war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte; bald darauf kam sie wieder an die Oberfläche und sah sich um. Sie entdeckte die dunklen Schultern Jims und schwamm direkt auf ihn zu. Als der hintere Teil des Schiffes vorüberkam, hatte sie den Arm um ihn gelegt. Plötzlich klatschte etwas auf das Wasser, und eine hellgrüne Flamme leuchtete etwa zwanzig Meter von ihr entfernt auf. Sie wandte sich um und sah den weißroten Rettungsring mit dem hellen Kalklicht. Mit großer Mühe hielt sie darauf zu. Man hatte sie von Bord des Schiffes gesehen; das große Schiff wendete kurz, bog nach Steuerbord ab, und plötzlich hörte das Geräusch der Schrauben auf.
Sie hörte Stimmen an Deck und das Ächzen der Krane, als ein Rettungsboot heruntergelassen wurde. Jim regte sich wieder. Nach und nach kam er zum Bewußtsein, aber er war zu erschöpft, um sich selbst bewegen zu können. Sie hatte den Arm in den Rettungsring eingehängt und trat Wasser. Wenn nun das Kalklicht ausging und man sie im Dunkeln nicht finden konnte? Das Schiff schien unendlich weit entfernt zu sein. Sie konnte das Rettungsboot nicht sehen. Aber das Kalklicht brannte in unverminderter Stärke weiter, und nach einiger Zeit hörte sie das Geräusch von Rudern. Von unten sah das Rettungsboot ungeheuerlich groß aus.