Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Es blieben noch zwei Tage, vielleicht auch noch ein weiterer halber Tag, in dem Jim sein Ziel erreichen würde. Sie zweifelte nicht, daß es ihm gelingen würde, aber sie schwebte doch in beständiger Furcht und Aufregung. Am nächsten Morgen war sie sofort nach dem Frühstück an Deck, und der erste, den sie sah, war Mr. Price, der ruhig in seinem Deckstuhl saß und in einem Buch las. Er legte die Hand an seinen Verband, um zu grüßen.

»Schade, daß ich Sie gestern abend so erschreckt habe. Es war wirklich unvorsichtig von mir, daß ich oben auf das Bootsdeck ging.«

»Wenn Sie sich mehr zusammengenommen hätten, würden Sie sich wahrscheinlich nicht verletzt haben.«

Er lachte, aber dann verzog er das Gesicht, denn die Erschütterung verursachte ihm Schmerzen.

»Ihr Freund scheint Sie davon überzeugt zu haben, daß mich jemand angegriffen hat. Aber glauben Sie mir, meine liebe Miss Cameron, das stimmt nicht. Die Schreie, die Sie gehört haben, rührten wahrscheinlich von jungen Leuten her, die sich auf der anderen Seite des Decks einen Scherz machten. Ich habe es selbst schon öfter am Abend gehört und war zuerst auch sehr bestürzt darüber.«

»Sie wurden also doch angegriffen, und Mr. – mein Freund hat auch nicht gesagt, daß er hörte, wie Sie einen Schrei ausstießen«, sagte sie hartnäckig und nickte. »Sie wurden niedergeschlagen, nachdem sie ein langes Radiotelegramm nach New York gesandt haben.«

Er ließ das Buch, das er in Händen hielt, plötzlich fallen und sah sie mit halbgeschlossenen Augenlidern an.

»Sie sind doch nicht Miss Withers?« fragte er leise und bestürzt.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wer ist denn überhaupt Miss Withers?« fragte sie. »Ach, jetzt weiß ich es. Das ist diese Detektivin. Mr. –« sie biß sich auf die Zunge, sonst hätte sie tatsächlich Bartholomews Namen genannt. »Mr. Wilkinson hat mir davon erzählt.«

»Ja, Agnes Withers heißt diese Frau«, erwiderte er gleichgültig. »Ich erinnere mich jetzt daran, daß sie in irgendeinem großen Prozeß eine Rolle spielte. Wahrscheinlich hat sie als Detektivin ein Verbrechen aufgeklärt. Nein, ich meinte eine andere Miss Withers, eine alte Freundin von mir – eine Tante.«

Major Pietro Visconti kam in diesem Augenblick vorbei und nahm Margot zu einem kurzen Spaziergang mit.

»Ich kann den Pfaffen nicht leiden, ich habe ihn noch nie gemocht.« Visconti zwirbelte nachdenklich seinen kleinen Schnurrbart. »Es sind Wölfe in Schafskleidern, und die sind sehr verderblich für die Jugend.«

Später traf er sie wieder, als sie in ihrem Stuhl am Promenadendeck saß, und setzte sich neben sie in Mrs. Markhams Sessel. Er sprach von Italien und Mailand, wo er zu Hause war, dann erzählte er von seiner Karriere, die er während des Weltkriegs in der Armee gemacht hatte, und berichtete so viele Einzelheiten von Washington, daß sie ihn fragte, ob er schon dort gewesen wäre.

Er nickte.

»Mehrmals, aber in untergeordneter Stellung. Jetzt bin ich Attaché der größten kriegerischen Nation der Erde.«

Sie lächelte, aber er erinnerte sie daran, daß die Römer die anderen Völker in der Kriegskunst unterrichtet hatten. Dann erhob er sich, denn Stella Markham kam näher. Sie sah immer noch etwas angegriffen aus, obgleich schon zwei Tage seit dem letzten Schwächeanfall vergangen waren. Es sah aus, als ob sie kaum geschlafen hätte, und sie bestätigte das auch mit ihren ersten Worten.

»Ich habe heute morgen den Tagesanbruch und den Sonnenaufgang gesehen.«

»Mir ist das auch an zwei Morgen passiert«, entgegnete Margot lächelnd. »Leiden Sie an Schlaflosigkeit?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht mehr richtig schlafen können, seitdem ich Tor Towers verlassen habe«, sagte sie und schaute auf. »Warum bin ich nur von dort abgereist?«

»Aber Sie kehren doch wieder zurück?«

»Es bleibt mir wohl nicht viel anderes übrig«, erwiderte sie nach einer Pause. »Ich muß es vor allem tun, um die Versicherungssumme für meine gestohlenen Juwelen herauszubekommen. Ich habe ein Radiotelegramm an eine Rechtsanwaltsfirma nach London gesandt, die meine Interessen wahrnehmen soll. Ich glaube, es wird mir auch gelingen, meine Ansprüche durchzusetzen – nun, was gibt es?«

Die letzten Worte hatten sie an Mr. Winter gerichtet, der nicht mehr so vergnügt und wohlwollend aussah wie gewöhnlich. Immerhin stand er in bescheidener Haltung vor Mrs. Markham.

»Es ist eben ein Radiotelegramm für Sie angekommen, es liegt in Ihrer Kabine, Madame.«

»Schon gut, Winter«, sagte sie und entließ ihn mit einem Kopfnicken.

»Auch er wird allmählich wieder vergnügt«, erklärte sie. »Ich möchte nur wissen, was Mr. Price zugestoßen ist.«

Sie war aufgestanden und sah die Reihe der Deckstühle entlang. Von weitem bemerkte sie den weißen Verband des Pfarrers. »Wissen Sie es, Miss Cameron?«

»Ja«, entgegnete sie ruhig. »Soviel ich weiß, hatte er gestern abend einen Unglücksfall oben auf dem Bootsdeck.«

»Einen Unglücksfall? Davon habe ich bisher noch nichts erfahren.«

Sie ging zu Price hinüber und setzte sich einige Zeit neben ihn auf einen Deckstuhl.

Margot fühlte sich unruhig und nervös, legte ihr Buch hin und ging an Deck auf und ab. Unterwegs schloß sich ihr der kleine Deutschamerikaner an, der mit ihr zusammen am Tisch des Zahlmeisters saß. Er befand sich auf der Rückreise nach Amerika, um sich dort zu verheiraten. Zuerst war er etwas scheu, bis sie ihn ausfragte.

Sie hatte schon zum zweitenmal die Runde auf dem großen Deck gemacht und näherte sich wieder der Stelle, wo sich Mrs. Markham immer noch mit dem Pfarrer unterhielt. Im gleichen Augenblick sah sie, daß Mr. Winter aus dem Innern des Schiffs ins Freie hinaustrat. Er blieb in einiger Entfernung stehen und wartete, bis Mrs. Markham zu ihm hinübersah. Sie stand auf und ging nach unten. Mr. Winter folgte ihr.

Es war bereits spät am Nachmittag, als Margot Mrs. Markham wiedersah. Diesmal trafen sie sich in der Gesellschaftshalle, wo Margot Tee trank und der Bordkapelle lauschte. Sie dachte an Jim, der unten im heißen Maschinenraum schwer arbeitete. Jede Umdrehung der Schiffsschraube, die den großen Koloß erzittern ließ, erinnerte sie daran, daß Jims Zukunft und Geschick an einem seidenen Faden hing.

Mrs. Markham rauschte herein. Sie trug ein wunderbares Kleid, und die neidischen Blicke vieler Frauen folgten ihr.

Vom Steward ließ sie sich einen Armsessel an Margots Tisch rücken.

»Wo wohnen Sie in New York?«

Margot gab ihre dortige Adresse an.

»Ich würde mich freuen, wenn ich Sie dort sehen könnte. Ich fahre weiter nach Richmond, aber in einer Woche oder spätestens in zehn Tagen kehre ich nach New York zurück.«

Margot kam zum Bewußtsein, daß sich Stella Markhams Benehmen geändert hatte. Zuerst hatte sie sie etwas von oben herab behandelt, dann hatte sie sie bemuttert, und jetzt sah es so aus, als ob sich ein mehr freundschaftliches Verhältnis anbahnte.

Sie sprach von Devonshire, dann versuchte sie, Margot dazu zu bringen, etwas von ihrem Leben in Moor House zu erzählen, und drückte ihr Bedauern darüber aus, daß sie sie während ihres Aufenthalts in England nicht getroffen hatte.

»Werden Sie nicht in New York abgeholt?« fragte sie schließlich.

»Doch. Wahrscheinlich erwartet mich der Rechtsanwalt meines Bruders. Das ist sogar ganz sicher.«

»Wer ist denn sein Rechtsanwalt?« fragte sie interessiert. »Ich wende mich stets an Peak & Jackson.«

»John B. Rogers ist Franks Freund. Er ist außerdem Oberstaatsanwalt des Staates.«

»Ich kenne ihn«, nickte Stella. »Wenigstens dem Namen nach. Jeder Mann in New York kennt ihn natürlich.«

»Ja, ich glaube, er ist sehr populär.«

»Ich fahre sofort nach Richmond weiter«, entgegnete Mrs. Markham nachdenklich, »und ich brachte eine Schachtel Konfekt aus Paris mit, die ich einer Freundin bei meiner Ankunft geben wollte.«

»Warum schicken Sie denn keinen Boten?«

»Weil ich die Adresse meiner Freundin nicht kenne. Ich sagte ihr, sie sollte mich in demselben Hotel aufsuchen, in dem Sie wohnen werden. Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, dieses Päckchen an sich zu nehmen? Sie können ja dem Personal sagen, daß die Betreffende zu Ihnen geschickt werden soll, wenn jemand nach Mrs. Markham fragt. Und dann können Sie ihr das Geschenk übergeben.«

»Ich werde Ihnen gern den Gefallen tun«, entgegnete Margot lächelnd.

Es war einer dieser kleinen Aufträge, die sie am wenigsten schätzte, aber sie hielt es unter den gegebenen Umständen für rücksichtslos und unfreundlich, ihn abzulehnen.

»Ich werde Ihnen das Konfekt übergeben, bevor wir das Schiff verlassen. Vielleicht kommen Sie einmal zu meiner Kabine. Ich habe eine Anzahl entzückender Kleider, die ich Ihnen gern zeigen möchte. Wie wäre es heute nachmittag? Am besten jetzt gleich?«

Margot war neugierig, Mrs. Markhams Kabine kennenzulernen, und begleitete sie ohne zu zögern. Die Räume lagen am Ende des A-Decks in der Nähe des Bugs und waren sehr schön, aber lange nicht so luxuriös eingerichtet wie Margots eigene Zimmer. Die Kleider, die Stella Markham ihr zeigte, waren außerordentlich geschmackvoll und elegant, und schon ihretwegen hatte sich der Besuch gelohnt. Margot hatte sich gerade verabschiedet, als Mrs. Markham sie zurückrief.

»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie das kleine Päckchen gleich mitnähmen.«

Sie zog einen Stahlkoffer unter dem Bett hervor. Als sie den Schlüssel ins Schloß steckte, gab es einige Schwierigkeiten, und Mrs. Markham untersuchte daraufhin das Schlüsselloch.

»Jemand hat versucht, es zu öffnen«, sagte sie, und wieder sah Margot diesen müden, traurigen Zug in ihrem Gesicht.

Nach einiger Zeit gelang es ihr, den Schlüssel herumzudrehen, und nun nahm sie ein Paket heraus. Als sie das Papier abstreifte, bemerkte Margot eine wunderbare ovale Schachtel, die mit kostbarer, schwerer Chinaseide überzogen war. Der Deckel war mit einem handgemalten Bild verziert, und als sie die Schachtel öffnete, zeigte sich eine geschmackvolle, farbenprächtige Packung.

Margot nahm das Konfekt zu ihrer Kabine mit und schloß es in einen Koffer ein. Sie wußte nicht recht, was sie von Stella Markham halten sollte. Zuerst glaubte sie, die Frau vollkommen zu durchschauen, aber jeden Tag änderte sich das Bild, und Margot fühlte, daß ihre Menschenkenntnis doch nicht so sicher war, wie sie es bisher angenommen hatte.

Als sie mit dem Fahrstuhl an Deck zurückkehrte, wartete Stella Markham oben auf sie.

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen. Es liegt nämlich ein Zoll auf Süßigkeiten, und ich dachte, daß Sie leicht durch die Zollschranken kommen, wenn Staatsanwalt Rogers Sie abholt. Er ist so bekannt, daß niemand Sie anhalten wird, wenn Sie in seiner Begleitung sind.«

Margot lachte.

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

Wie an allen anderen Tagen wartete sie und zählte die Stunden und Minuten, bis der Abend kam. Für sie begann das Leben erst, wenn sie Jim auf dem Bootsdeck traf. Das Leben schien allen Glanz zu verlieren, wenn sie sich von ihm getrennt hatte. Was dazwischenlag, war eine traurige Wartezeit, die sie sich so gut wie möglich vertreiben mußte. Als sie am Nachmittag in ihre Kabine kam, merkte sie, daß dort jemand geraucht haben mußte, und klingelte nach der Stewardeß.

»Wer hat hier gequalmt?« fragte sie.

»Ich wüßte niemanden«, entgegnete die andere überrascht.

Margot ging umher, aber der Geruch war nicht zu verkennen. »Ich würde ja noch nicht einmal so böse sein, wenn der Betreffende wenigstens eine anständige Zigarette geraucht hätte, aber das ist ja ein ganz entsetzliches Zeug.«

Sie hatte den bestimmten Eindruck, diese Art Tabak schon irgendwo vorher kennengelernt zu haben. Wieder sah sie sich im Zimmer um, und nach einer Weile fand sie auch, was sie suchte. Es war ein kleines Häufchen grauer Zigarrenasche, das der Raucher abgestreift hatte.

Sie betrachtete es sorgfältig und ging nachdenklich zum Promenadendeck zurück.

Oben sah sie Major Pietro Visconti allein auf einem Stuhl und trat zu ihm.

»Major Visconti, was haben Sie heute nachmittag in meinen Räumen gemacht?«

Er sprang auf, als sie ihn anredete.

»Was sollte ich denn in Ihren Räumen suchen?« fragte er überrascht. »Ich bin nicht dort gewesen!«

Sie zeigte ihm die Zigarrenasche, die sie in einem Briefumschlag untergebracht hatte.

Er lachte.

»Ach, Sie sind ein kleiner Sherlock Holmes, entdecken Zigarrenasche und ziehen Ihre Schlüsse daraus? Nun, von mir stammt sie nicht. Ich rauche eine besondere Sorte.«

»Ja, die kenne ich genau«, erklärte sie mit Nachdruck.

»Es ist eine italienische Marke, aber es gibt verschiedene Leute an Bord, die dieselbe rauchen. Ich könnte Ihnen ein paar nennen. Aber warum sollte denn ausgerechnet ich in Ihre Kabine eindringen, Miss Cameron? Ich weiß nicht einmal, wo sie liegt.«

Nachdem er die Sache so entschieden abstritt, blieb ihr nichts anderes übrig, als seine Erklärung anzunehmen und sich zu entschuldigen. Es war auch denkbar, daß er zufällig in die Kabine geraten war, und da er geraucht hatte, war er ja wahrscheinlich auch heimlich hineingegangen. Sonst hätte er sich doch nicht auf diese Art und Weise kompromittieren wollen. Als sie später allein war, dachte sie länger darüber nach, und es fiel ihr ein, daß sie ihn noch nie ohne Zigarre gesehen hatte.

Aber wenn Visconti in ihren Räumen gewesen war – warum war er gekommen? Dieses Problem wollte sie später mit Jim besprechen.

Nach Tisch erinnerte sie sich daran, daß sie doch wenigstens den Namen der Dame wissen mußte, die nach der Schachtel Konfitüren fragen wollte, und sie ging deshalb zu Mrs. Markhams Kabine.

Allem Anschein nach war sie in ihren Räumen, denn sie sah an dem oberen vergitterten Teil der Tür, daß drinnen Licht brannte. Auch konnte sie Stimmen hören. Sie klopfte an und drückte im gleichen Augenblick die Klinke nieder. Eben hatte sie Stella Markham noch beim Abendessen gesehen, diese konnte sich also noch nicht ausgekleidet haben. Zu ihrer größten Überraschung fand Margot aber die Tür verschlossen.

»Wer ist da?« fragte Mrs. Markham, aber ihre Stimme klang so merkwürdig und fremd, daß sie kaum zu erkennen war.

»Ich bin es, Margot Cameron. Ich möchte Sie etwas fragen.«

»Einen Augenblick.«

Das Licht wurde plötzlich ausgedreht, und die Tür öffnete sich nur einen kleinen Spalt. Selbst bei dieser schwachen Beleuchtung konnte Margot sehen, daß die andere rotgeweinte Augen hatte.

»Was wünschen Sie?« fragte Stella ruhig.

»Ich möchte den Namen der Dame wissen, die nach dem Konfekt fragen wird.«

»Ich sage es Ihnen später. Wollen Sie mich jetzt entschuldigen?«

Sie machte die Tür wieder zu, und Margot hörte aufs neue leise Stimmen im Innern. Die andere Person war allem Anschein nach auch eine Frau; die Stewardeß konnte es unmöglich sein, denn Margot traf sie kurz darauf in einem entfernten Teil des Ganges. Wer mochte bloß die Besucherin gewesen sein? Im allgemeinen war Margot nicht neugierig, aber sie hielt es jetzt für ihre Pflicht, alle möglichen Informationen zu sammeln, um Jim Bartholomew zu helfen.

Sie ging nicht zum Promenadendeck zurück, sondern trat in den großen Gesellschaftssaal. Von ihrem Platz aus konnte sie die Kabinentür von Mrs. Markham übersehen, und nachdem sie eine halbe Stunde gewartet hatte, wurde ihre Geduld belohnt, denn die andere Dame kam heraus.

Diese ging jedoch nicht zu dem Gesellschaftssaal, sondern bog vorher in einen Seitengang ein, der, wie Margot wußte, zu einer kleinen Treppe nach dem unteren Deck führte. Sofort war ihr Entschluß gefaßt. So schnell sie konnte, eilte sie zum C-Deck hinunter. Sie vermutete allerdings nur, wer die Besucherin sein konnte, aber als sie unten ankam, konnte sie gerade noch sehen, wie die Dame in der Kabine von Mrs. Dupreid verschwand.

Es mußte also die Freundin Ceciles sein. Margots Gedanken wirbelten durcheinander, und sie gab es auf, weiter darüber nachzudenken. Sie wollte aber Jim alles mitteilen, der würde vielleicht die Zusammenhänge durchschauen. Sie verließ sich auf ihn und glaubte, daß er bereits verschiedenes aufgeklärt haben mußte.

Die ganze Gesellschaft aber brachte sie mehr und mehr in Verwirrung. Warum besuchte Mrs. Dupreid Stella Markham, und warum hatte diese geweint? Es war alles so rätselhaft.

Schließlich suchte sie die Bibliothek auf und nahm ein Buch von Walter Scott vor. Diese weitentlegenen Geschichten aus dem frühen Mittelalter beruhigten sie.

Um elf Uhr wurde das Licht in der Bibliothek teilweise ausgeschaltet, um die Passagiere zum Verlassen des Raumes aufzufordern. Margot wartete noch eine ganze Stunde. Aber vielleicht hatte Jim eher Zeit, so daß sie ihn schon jetzt auf dem Promenadendeck treffen konnte. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm dies nicht schon früher vorgeschlagen hatte, holte ihren Mantel aus der Kabine und ging nach oben.

An diesem Abend lag das Deck vollkommen verlassen, weil unten im Salon getanzt wurde. Alle jungen Leute waren natürlich nach unten gegangen. Vorsichtig stieg sie die Treppe zum Bootsdeck hinauf. Aber oben fühlte sie sich zu einsam, um dort eine ganze Stunde lang auf Jim zu warten. Als sie gerade aufs Promenadendeck hinuntersteigen wollte, sah sie ihn jedoch.

Sie blieb stehen. Der Abend war sehr dunkel, aber sie erkannte deutlich die Umrißlinien seiner Gestalt. Er stand an der Reling am Ende eines langen Bootes, und Margot wäre beinahe bewußtlos umgesunken, denn es lag eine Frau in seinen Armen.

Wie versteinert starrte Margot auf das Bild, und doch irrte sie sich nicht. Es war Jim Bartholomew. Die Umrißlinien seines Kopfes und seiner Schultern kannte sie zu genau.

Es war Jim, und er flüsterte seiner Begleiterin zärtliche Worte zu. Sie stand nahe genug, um den Tonfall seiner Stimme zu hören. Sanft und eindringlich sprach er auf sie ein. Margot hörte auch, daß die Frau schluchzte. Sie faßte sich mit den Händen an den Kopf. War sie wahnsinnig oder träumte sie? Gab es denn überall auf dem Schiff nur weinende Frauen? Sie holte tief Atem. Sollte das etwa auch Mrs. Markham sein?

Sie mußte irgendein Geräusch gemacht haben, denn plötzlich fuhren die beiden auseinander, und die Frau verschwand in der Dunkelheit.

»Jim!« sagte Margot heiser.

»Ja, Liebling? Ich habe dich noch nicht erwartet.«

»Das kann ich mir wohl denken«, entgegnete sie mit einer unheimlichen Ruhe. »Wer war diese Frau?«

Er schwieg.

»Wer war die Frau?«

»Das kann ich dir nicht sagen, mein Liebling.«

»Nenne mich nicht ›mein Liebling‹«, erwiderte sie in plötzlich aufwallendem Zorn. »Jim, wer war die Frau? Willst du es mir jetzt sagen?«

»Das kann ich nicht«, entgegnete er traurig.

»Dann werde ich es selbst herausbringen.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte das Deck entlang. Gleich darauf stand sie wieder am Eingang des Gesellschaftssaals. Sie war außer Atem, aber fest entschlossen, diese Sache aufzuklären.

Die erste Dame, die ihr begegnete, war Mrs. Markham, die sich mit dem Major Visconti unterhielt. Sie bewegte einen großen Straußenfächer und beobachtete die tanzenden Paare durch die geöffnete Tür. Margot eilte den Gang entlang.

Da war sie!

Sie hatte noch gerade gesehen, wie Mrs. Dupreid in ihrer Kabine verschwand. Gleich darauf klopfte Margot an die Tür.

»Wer ist da?« fragte eine dumpfe Stimme.

»Margot Cameron.«

»Es tut mir leid, ich kann Sie heute abend nicht empfangen. Ich fühle mich nicht wohl.«

»Ich werde Sie aber doch sprechen, Mrs. Dupreid«, entgegnete sie fest entschlossen. »Ich bin Margot Cameron, und Cecile ist meine Schwägerin.«

»Ich sage Ihnen, Sie können jetzt nicht hereinkommen«, erklärte die Frau aufs neue.

Aber Margot drückte die Tür auf, trat hinein und schlug sie heftig hinter sich zu.

Aber dann blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

»Cecile ... wie kommst denn du ...?« Es war Cecile Cameron, die ihr mit tränenüberströmtem Gesicht, aber doch trotzig entgegentrat.


 << zurück weiter >>