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18

Ein Taxi brachte Helder zum ›Post Journal‹. Der Chefredakteur war gerade nicht da, dafür konnte er aber mit Jackson sprechen.

Der Journalist begrüßte ihn lächelnd und führte ihn in das Konferenzzimmer.

»Was gibt es denn Neues?« erkundigte sich Helder, nachdem er Platz genommen hatte.

»Glauben Sie nicht, daß ich mir einen Vers darauf machen kann!« entgegnete Jackson. Er ging mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen im Zimmer hin und her und war offensichtlich durch die letzten Ereignisse etwas aus der Fassung gebracht worden.

»Nachdem Comstock Bell London verlassen hatte«, begann er schließlich, »und nachdem ich Mrs. Verity Bell in einer so merkwürdigen Situation gesehen hatte, setzte das ›Post Journal‹ alles daran, den Aufenthaltsort der beiden festzustellen. Obwohl wir einen Brief erhielten, der in Luzern aufgegeben worden war, wissen wir ganz genau, daß sich das Pärchen damals nicht dort aufhielt. Später bekamen wir dann noch einen weiteren Brief aus Wien ...«

»Wie sah er aus?« unterbrach ihn Helder.

»Genau wie der andere – mit der Maschine geschrieben und mit einem Gummistempel statt einer Unterschrift versehen. Außerdem stand noch der Name von Mrs. Bell darunter. Unser Korrespondent in Wien hatte bald herausgebracht, daß Comstock Bell und seine Frau zu der angegebenen Zeit nicht in Wien gewesen waren. Wir haben dann alles nur Menschenmögliche getan, um Licht in diese dunkle Sache zu bringen. Ohne Erfolg. Bis – ja, bis gestern abend.«

»Was ist passiert?«

»Einer unserer Leute hatte den Auftrag, die Schiffe zu beobachten, die nach Boulogne abgehen. Nachdem der Dampfer, der abends dorthin zurückfährt, den Hafen gestern verlassen hatte, machte er sich auf den Weg in ein Lokal, um sich dort ein wenig auszuruhen. Als er am Kai entlangschlenderte, überholte er eine Dame. Zufällig drehte er sich in dem Augenblick nach ihr um, als sie an einer hellen Straßenlaterne vorbeiging – er erkannte Mrs. Bell, die Frau, die er finden sollte.

Er blieb stehen, und im gleichen Augenblick bog sie nach links auf die Landungsbrücke ab. Er begnügte sich damit, anstatt ihr nachzugehen, am Anfang der Landungsbrücke zu warten. Schiff lag keines dort, also mußte sie ja schließlich wieder zurückkommen. Es war ziemlich neblig an diesem Abend, und nach zehn Minuten wurde er unruhig und ging vorsichtig den Steg entlang, bis er an dessen Ende angelangt war. Mrs. Bell war verschwunden, kein Mensch auf der Landungsbrücke zu sehen.«

»Und dann?«

»Heute morgen«, fuhr Jackson fort, »erhielten wir einen Brief aus Boulogne, vor drei Tagen unterschrieben von Comstock Bell und seiner Frau. In dem Schreiben wurde dagegen protestiert, daß sich das ›Post Journal‹ immer noch mit den Privatangelegenheiten der Bells beschäftigte. Hier ist der Brief.«

Er gab ihn Helder, aber dieser machte sich nicht die Mühe, ihn genauer anzusehen.

»Ich glaube, ich verstehe die Sache jetzt«, sagte er. »Comstock Bell hat Ihr Reporter wohl nicht gesehen?«

»Nein. Wir müssen fast annehmen, daß die Dame ertrunken ist«, erwiderte Jackson. »Es war eine ziemlich stürmische Nacht, und sie konnte auf keinem andern Weg zurückkommen als auf der Landungsbrücke, die unser Reporter nicht aus den Augen ließ.«

Helder erhob sich und schaute aus dem Fenster.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte er.

»Wenn es irgend möglich ist– gern«, entgegnete der andere.

»Vor einigen Wochen«, führ Helder langsam fort, »wurde ein Russe verhaftet, der sich verdächtig gemacht hatte.«

»Ich erinnere mich an den Fall«, entgegnete Jackson. »Soviel ich weiß, wurde er zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und soll ausgewiesen werden.«

»Das stimmt«, sagte Helder ruhig. »Dieser Mann könnte vielleicht zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen. Ich muß ihn unbedingt sprechen. Glauben Sie, daß es Ihnen möglich ist, mir eine Besuchserlaubnis bei den Behörden zu verschaffen?«

Jackson kniff die Lippen zusammen.

»Ich zweifle zwar daran, werde es aber immerhin versuchen. Sobald der Chefredakteur kommt, wollen wir beraten, was sich tun läßt.«

Helder verabschiedete sich und kehrte in seine Wohnung in der Curzon Street zurück. Gold war nicht in London, wie er durch einen Telefonanruf feststellte.

»Um so besser«, sagte Helder zu sich selbst. »«Wenn man mich in Ruhe läßt, könnte noch alles gut werden.«

Er ging in sein Schlafzimmer, um sich einige Stunden auszuruhen.

Um fünf Uhr nachmittags wurde er von seinem Diener geweckt, der ein Telegramm brachte. Es kam von der Redaktion und lautete:

»Unterredung mit Russen genehmigt. Der Mann sitzt im Chelmsford-Gefängnis. Kommen Sie aufs Büro wegen Erlaubnisschein.«

Jackson war bei Helders Ankunft nicht mehr da. Dafür erwartete ihn der zweite Redakteur und überreichte ihm die für den Besuch des Gefangenen notwendigen Papiere.

»Es würde mich wirklich interessieren, weshalb Sie den Mann aufsuchen wollen«, erkundigte sich der Redakteur noch. »Bringen Sie Comstock Bell etwa mit diesen Banknotenfälschungen in Verbindung?«

Helder nickte bedeutungsvoll.

»Genau das tue ich.«

Kurz erzählte er die Geschichte vom ›Klub der Verbrecher‹ und in welcher Beziehung Comstock Bell zu den Leuten gestanden hatte.

»Hm«, meinte der Redakteur, als Helder fertig war. »Ich habe auch schon so etwas gehört, aber das alles scheinen mir doch nur vage Vermutungen zu sein. Sie behaupten also, daß Willetts von Bell angezeigt wurde?«

»Das weiß ich ganz bestimmt«, sagte Helder. »Bell zeigte Willetts an, damit er sich besser aus der Affäre ziehen konnte.«

»Und womit erklären Sie sich sein plötzliches Verschwinden?«

Helder zögerte. Er war sich noch nicht ganz klar darüber, wie er Bell direkt verdächtigen konnte.

»Ich kann im Augenblick nichts Genaues sagen. Meiner Ansicht nach hat er dieses Mädchen nur geheiratet, um im Fall seiner Entdeckung einen Zeugen hinter sich zu haben. Ich glaube, daß er zur Zeit einen letzten verzweifelten Versuch macht ...«

»Entschuldigen Sie«, rief der Redakteur, »wenn ich Sie hier unterbreche! Sie wissen doch ganz genau, daß Comstock Bell ein außerordentlich reicher Mann ist. Durch eine Erbschaft hat sich sein Vermögen jetzt sogar noch beträchtlich erhöht.«

Helder sah ihn erstaunt an.

Der Redakteur nickte.

»Ja«, fuhr er fort. »Letzte Woche starb seine Mutter. Haben Sie denn die Notiz in den Zeitungen nicht gelesen? Sie setzte ihn zum alleinigen Erben ein. Er muß jetzt mehrfacher Millionär sein – und in diesem Fall wären Banknotenfälschungen doch eine recht sonderbare Angelegenheit. Es fehlte ja jedes Motiv!«

»Nun, auf den ersten Blick fehlt auch jedes Motiv für diese ungewöhnliche Heirat«, erwiderte Helder schnell.

»Für Heiraten finden sich immer Gründe«, entgegnete der Redakteur ein wenig kurz angebunden. »Wirklich, Mr. Helder, es gibt keinen einzigen Grund, warum um alles in der Welt Comstock Bell sich mit Banknotenfälschungen hätte abgeben sollen. Aber trotzdem«, sagte er lächelnd und gab Helder die Hand, »kann Ihnen Ihr Russe vielleicht etwas Neues erzählen. Berichten Sie uns darüber – und auf Wiedersehen!«

Am nächsten Morgen fuhr Helder mit dem ersten Zug nach Chelmsford. Um neun Uhr wurde er in das düstere Gebäude eingelassen und in das Zimmer des Direktors geführt.

Colonel Speyer, ein älterer Mann mit grauem Bart, empfing ihn sehr liebenswürdig.

»Sie wollen mit dem Russen sprechen?« fragte er, »Ich wäre froh, wenn wir ihn wieder loshätten. Kein Mensch hier spricht russisch, und wir haben die größten Schwierigkeiten, uns mit ihm zu verständigen.«

»Wie kommt es eigentlich«, fragte Helder, als ihn der Direktor zum Besuchszimmer führte, »daß dieser Mann ausgerechnet in Chelmsford seine Strafe absitzen muß? Ich dachte, Gefängnisse wie dieses hier wären nur für Leute aus der näheren Umgebung bestimmt.«

»Oh, wir haben alle möglichen Leute hier. In dieser Anstalt sind vor allem Sträflinge, die keine gar so schlimmen Sachen ausgefressen haben – das heißt also Leute, die sich noch bewähren können. Übrigens, sprechen Sie denn eigentlich russisch?«

Helder nickte, und der Direktor sah ihn etwas argwöhnisch an.

»Dann müßte ich eigentlich jemanden mitschicken, der die Sprache auch versteht«, sagte er und sah sich den Erlaubnisschein des Ministeriums noch einmal an. »Aber, na ja – ich hoffe, daß ich Ihnen trauen kann.«

Sie waren inzwischen in einem einfachen, fast leeren Raum angelangt, in dem ein langer Tisch aus Fichtenholz und einige Stühle standen. Einige Minuten später wurde der Russe hereingeführt. Er trug die übliche gestreifte Gefängniskluft und zwinkerte vergnügt mit den Augen, als er sich plötzlich seinem früheren Chef gegenübersah.

Der Sträfling saß an dem einen Ende des Tisches, und Helder bot man einen Stuhl am anderen Ende an. Zwischen ihnen, an jeder Längsseite saßen zwei Gefängniswärter, die sich offensichtlich bei der ihnen unverständlichen Unterhaltung furchtbar langweilten; Helder beobachtete, daß der eine eifrig las, während der andere irgend etwas in sein Notizbuch kritzelte.

Sein Gespräch mit dem Russen dauerte nicht lange. Er gab ihm nachdrücklich zu verstehen, daß er unter allen Umständen schweigen müsse und versprach ihm bei seiner Entlassung eine sehr hohe Summe, wenn er weisungsgemäß den Mund hielte.

Der Russe war damit völlig einverstanden. Er hätte auch ohne dieses Gespräch nichts gesagt, und als sich Helder von ihm verabschiedete, waren seine Befürchtungen nach dieser Richtung hin vollständig zerstreut.

Der Direktor wartete draußen auf dem. Gang auf ihn. Stolz auf die Sauberkeit und Ordnung, die in seiner Anstalt herrschten, fragte er Helder, ob er das Gefängnis einmal besichtigen wolle.

»Sehr gerne – für Gefängnisse habe ich mich immer besonders interessiert.«

Er folgte dem Direktor bis zur großen Halle, wo sich ein Stockwerk mit Zellen über dem anderen bis zu dem Glasdach emportürmte. Vergitterte Galerien gaben dem Ganzen das Aussehen eines Bienenkorbs.

Auf den Wunsch Helders zeigte ihm der Direktor auch eine Zelle und schloß hinter ihm die Tür. Er wollte unbedingt einmal feststellen, wie man sich in solch einem kleinen Raum fühlte. Aber er sah ein wenig bleich aus und machte einen sehr erleichterten Eindruck, als die Tür wieder geöffnet wurde.

»Wir legen auch großen Wert darauf, daß die Sträflinge genügend Bewegung haben«, erklärte ihm der Direktor und führte ihn auf den von hohen Mauern umgebenen Hof.

Eine Gruppe von Gefangenen machte gerade ihren täglichen Spaziergang; in drei mit weißer Farbe vorgezeichneten Kreisen gingen sie immer rund herum. Helder beobachtete sie interessiert. Es waren alte und junge Leute, von denen ihn einige neugierig ansahen, andere ihre Gesichter ärgerlich abwandten.

Einer der Häftlinge, schlanker und größer als die anderen, fiel Helder besonders auf – etwas an seinem Gang kam ihm bekannt vor, und er mußte einen Aufschrei unterdrücken, als er das Gesicht des Mannes sah.

Es war Comstock Bell.

»Was haben Sie?« fragte der Direktor erstaunt.

»Wer ist das – dieser Mann dort?«

»Ein gewisser Willetts – er hat Banknoten gefälscht.«


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