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2

Jetzt sah er unten in der Menge auch Comstock Bell und behielt ihn im Auge, denn er interessierte sich zur Zeit sehr für diesen jungen Amerikaner. Comstock Bell war ein auffallend gutaussehender Mann, hochgewachsen und bis auf einen kleinen Schnurrbart glattrasiert. Man erzählte sich, daß er sehr reich sei und trotzdem noch nicht geheiratet habe. So war es nur natürlich, daß sich die Damenwelt auffallend viel und eingehend mit ihm beschäftigte.

Gold stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung. Er ließ den jungen Mann nicht aus den Augen. Comstock Bell erwiderte nur nachlässig die Zurufe der anderen und machte keinen besonders glücklichen Eindruck.

Der junge Mann hatte sich soeben an eine kleine Gruppe von Herren gewandt, die ihn sehr zuvorkommend begrüßten. Aber die Unterhaltung dauerte nicht lange, gleich darauf ging er zum Empfangssalon.

»Sehr merkwürdig«, sagte Mr. Gold in Gedanken versunken vor sich hin.

»Was ist merkwürdig?« fragte jemand.

Dicht neben Gold stand ein Herr an der Brüstung.

»Hallo, Helder! Interessieren Sie sich auch für gesellschaftliche Ereignisse?«

»Eigentlich nicht besonders«, antwortete der andere nachlässig. Teilweise finde ich sie sogar furchtbar langweilig. Aber Sie sagten doch eben, daß etwas sehr merkwürdig sei. Was meinten Sie damit?«

Gold lächelte, nahm seinen Klemmer ab und schaute Helder aufmerksam an.

»Die Jagd nach Vergnügen, Ehrgeiz, Modetorheiten, all das ist vom Standpunkt eines vernünftigen Menschen aus ungewöhnlich und merkwürdig, finden Sie nicht auch?«

Helder war offenbar auch Amerikaner. Er war groß, aber viel fülliger als Comstock Bell und sah aus, als ob er Essen und Trinken zu schätzen wüßte. In London war er bekannt als ein Mann, der immer Bescheid über den neuesten Klatsch wußte.

»Haben Sie schon gesehen, daß Comstock Bell da ist?« fragte Helder plötzlich.

Gold nickte.

»Finden Sie nicht, daß er einen merkwürdigen Gesichtsausdruck hat – so, als ob ihm etwas Sorgen machen würde?«

Gold streifte Helder mit einem schnellen Seitenblick.

»Ist Ihnen das aufgefallen?« fragte er dann gleichgültig.

»Meiner Meinung nach steht ihm die Nervosität auf der Nasenspitze geschrieben. Das ist bei einem reichen und unabhängigen jungen Mann ziemlich seltsam.

»Es gibt noch seltsamere Dinge.«

»Neulich habe ich mit Villier Lecomte gesprochen«, sagte Helder, der nicht lockerließ.

Gold wurde aufmerksam. Es war klar, daß sich Helder nicht nur mit ihm unterhalten wollte, sondern daß er etwas ganz Bestimmtes, das Comstock Bell betraf, an die richtige Adresse bringen wollte.

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit Villier Lecomte – Sie kennen ihn doch?«

Gold kannte Lecomte sehr gut und wußte, daß er ein hoher französischer Kriminalbeamter war. Ohne zu übertreiben, konnte man sagen, daß er mit ihm so gut bekannt war wie mit seinem eigenen Bruder – aber es gab viele Gründe, aus denen er es nicht gern sah, daß das jemand wußte.

»Nein«, antwortete er deshalb, »nur den Namen muß ich schon irgendwo gehört haben.«

»Er ist ein hohes Tier bei der Pariser Kriminalpolizei. Neulich war er hier, und ich sprach mit ihm.«

»Sehr interessant«, entgegnete Gold. »Und was hat er Ihnen denn erzählt?«

»Ob, er wußte einiges über Comstock Bell«, erwiderte Helder und beobachtete Gold dabei scharf.

»Und wie kommt es, daß Mr. Bell die Aufmerksamkeit der französischen Polizei auf sich gelenkt hat? Er hat doch niemand ermordet?«

»Aber wissen Sie denn wirklich nicht, daß Comstock Bell früher einmal Mitglied des ›Klub der Verbrecher‹ war?«

›Klub der Verbrecher‹? Noch nie etwas davon gehört«, sagte Gold lachend.

Helder zögerte. Es standen außer ihnen noch andere Leute in der Nähe der Brüstung und schauten auf die Leute hinunter. Eine junge Dame zum Beispiel, die sich neben ihnen über das Geländer lehnte, konnte ohne weiteres jedes Wort ihres Gesprächs verstehen.

»Gut, ich will es Ihnen sagen; selbst auf die Gefahr hin, daß es nichts Neues für Sie ist. Meiner Meinung nach kann man Ihnen überhaupt nichts Neues erzählen! Also – vor einigen Jahren, als Bell in Paris studierte, gründete er mit einer Anzahl anderer Studenten den ›Klub der Verbrecher‹. Es war so eine Idee, wie sie querköpfige junge Leute manchmal haben, jedes Klubmitglied legte ein Gelübde ab, irgendwie das Gesetz zu übertreten, und zwar mußte es ein Verbrechen sein, das bei Entdeckung mindestens eine Gefängnisstrafe eintrug.«

»Sehr lustig! Wie viele der Mitglieder sind denn schon aufgehängt worden?«

»Niemand, soviel ich weiß. Der Klub wurde rechtzeitig aufgelöst, ohne daß man jemand festgenommen hätte. Die Mitglieder hatten übrigens Decknamen angenommen, die in den Geheimakten des Klubs vermerkt waren. Ein einziges schweres Verbrechen hätte man dem Klub eventuell zur Last legen können, gerade dieses Verbrechen wurde aber niemals ganz aufgeklärt, da man den mutmaßlichen Verbrecher nicht überführen konnte.«

»Es handelte sich doch nicht etwa um Falschmünzerei?« erkundigte sich Gold harmlos.

Helder lächelte.

»Sie wissen also doch von der Sache?«

»Wenn Sie die Geschichte von dem Studenten meinen, der eine Fünfzigpfundnote fälschte und sie in Zahlung gab – ja«, erwiderte Gold. »Ich erinnere mich jetzt ganz genau. Aber was hat denn das alles mit Comstock Bell zu tun?«

»Es ist mir zufällig bekannt, daß er Mitglied des ›Klubs der Verbrecher‹ war«, sagte Helder leichthin. »Ich weiß auch, daß die französische Polizei im Zusammenhang mit der Falschgeldgeschichte zwei Personen verdächtigte.«

Gold wandte sich ihm zu und sah ihm gerade ins Gesicht.

»Wenn Sie so viel wissen, können Sie mir vielleicht auch sagen, wer die beiden Leute sind?« fragte er in ungewöhnlich scharfem Ton.

Helder schaute sich nervös um.

»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – einer der beiden ist Comstock Bell.«

»Und der andere?«

»Den kenne ich nicht. Er soll aber auch in London leben – ein Börsenmakler oder so etwas Ähnliches.«

»Ihre Mitteilungen sind wirklich interessant«, meinte Gold spöttisch und ging lächelnd die Treppe hinunter.

Comstock Bell war inzwischen in den Empfangssalon getreten. Er schien wirklich nicht in der besten Laune zu sein, als er auf die Frau des Klubpräsidenten zuging. Vom Billardzimmer drangen die Klänge einer Musikkapelle herüber. Jemand sprach ihn an. Er wandte sich halb um und erkannte Lord Hallindale.

»Bell, ich habe gerade nach Ihnen gesucht«, sagte der Lord. »Ich mache nächsten Monat eine Reise zum Mittelmeer und möchte Sie fragen, ob Sie keine Lust haben mitzukommen?«

Comstock Bell lächelte.

»Es tut mir leid, aber ich habe andere Pläne.«

»Werden Sie London verlassen?«

»Ja, ich habe die Absicht, nach den Vereinigten Staaten zu gehen. Meine Mutter fühlt sich nicht recht wohl, und ich möchte sie wieder einmal besuchen.«

Er ging weiter. Diese Ausrede hatte er schnell erfunden. Er beabsichtige keineswegs, England zu verlassen, bevor nicht eine gewisse Angelegenheit endgültig geregelt war.

Langsam schlenderte er zum Speisesaal, wo der Vortrag eines bekannten Pianisten eine Menge Zuhörer angelockt hatte.

Bell stand in der hintersten Reihe, aber da er sehr groß war, konnte er ohne Schwierigkeit über die Köpfe der anderen hinwegsehen. »Sie haben es gut«, flüsterte jemand neben ihm.

Als er sich umschaute, bemerkte er Mrs. Granger Collaks bewundernden Blick. Auch er war von der Schönheit dieser lebenslustigen Frau beeindruckt.

»Soll ich Sie ein wenig hochheben?« fragte er lächelnd.

Er hatte bis jetzt noch nie versucht, näher mit ihr bekannt zu werden, obwohl er wußte, daß sie ihn gerne sah.

»Sie können mich in eine ruhige Ecke führen«, sagte sie. »Dieser Trubel hier ist mir unangenehm.«

Er brachte sie zu einer Nische in der äußersten Wandelhalle und nahm neben ihr Platz.

Sie seufzte erleichtert auf.

»Comstock«, begann sie, »ich möchte, daß Sie mir helfen.«

Ihre Blicke begegneten sich, und sie las in seinen Augen Zuneigung, aber auch ein wenig Mitleid.

»Sie brauchen mich nicht wie einen armen Sünder anzuschauen«, sagte sie abwehrend. »Daß an mir nicht viel Gutes dran ist, weiß ich selbst – und es stimmt auch, daß ich fast am Ende meiner Kraft bin. Ich müßte Geld haben, um einmal weit fortzugehen, einige Jahre auf Reisen zu sein. Die Leute halten mich für schamlos, weil ich mich hier wieder sehen lasse nach all dem – aber Sie wissen es ja.

Für einige Jahre verschwinden, allein sein – das möchte ich, Comstock. Und doch bin ich an Händen und Füßen gebunden.«

Er hörte, wie jemand in ihre Nähe kam. Als er aufschaute, sah er Helder, der vor sich hinlächelte, dann aber sofort nach der anderen Seite schaute.

»Besuchen Sie mich morgen in meiner Wohnung am Cadogan Square«, entgegnete er freundlich und stand auf. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun.«

Sie legte leicht ihre Hand auf seinen Arm.

»Das ist sehr lieb von Ihnen«, sagte sie leise. »Ich könnte Ihnen das Geld aber nicht zurückgeben, wenn Sie mir damit aushelfen wollten ... Wie soll ich Ihnen danken?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf und verabschiedete sich mit einer Verbeugung von ihr. Langsam ging er zur Garderobe, um Hut und Mantel zu holen. Dort traf er Gold, der sich ebenfalls seinen Mantel hatte geben lassen.

»Wollen Sie schon gehen?«

Bell nickte.

»Ja, diese gesellschaftlichen Verpflichtungen langweilen mich – ich glaube, ich werde alt. Aber Sie scheinen es doch auch ziemlich eilig zu haben, von hier fortzukommen?«

»Ich habe zu tun, meine Geschäfte lassen mir keine Ruhe«, erwiderte Gold freundlich. »Gehen wir ein Stück zusammen?«

Comstock nickte, und die beiden traten, auf die Straße. Neugierig verfolgte sie jemand mit den Augen.

Schweigend, gingen sie ein Stück zu Fuß, dann wurde der Regen stärker, und als ein Taxi vorbeifuhr, hielt es Gold an.

»Fleet Street!« rief er laut.

Sie waren noch nicht weit gefahren, als er dem Chauffeur auf die Schulter klopfte und ihm eine andere Instruktion gab.

»Bringen Sie mich zur Victoria Station. Fahren Sie durch den Park.«

»Haben Sie Ihre Absicht geändert?« fragte Bell.

»Nein, aber ich bin leider für viele Leute so interessant, daß sie ihre Zeit anscheinend nicht besser verwenden können, als mich zu beobachten. Haben Sie nicht bemerkt, daß wir verfolgt wurden?«

»Nein«, erwiderte Bell erstaunt.

»Ich möchte Sie etwas fragen« – der Wagen bog in den Park ein –, »kennen Sie einen gewissen Willetts?«

»Willetts?«

»Er ist Börsenmakler und hat ein Büro in der Nähe der Moorgate Street. Aber ich habe eigentlich noch nie gehört, daß er Aktien gekauft oder verkauft hätte.«

»Ich kenne ihn nicht«, sagte Bell kurz.

Eine lange Pause trat ein. Gold lehnte sich vor, schaute zum Fenster hinaus und bewegte in unregelmäßigen Zwischenräumen die Lippen.

»Ich glaube, ich muß hier aussteigen«, sagte er dann plötzlich und bat den Chauffeur zu halten.

Sie verabschiedeten sich, und Gold stieg aus. Nachdenklich folgte ihm Bell mit den Augen. Der Motor des Taxis war abgestorben, und der Chauffeur mühte sich mit dem Anlasser ab. Bell sah, wie ein Mann aus einer dunklen Seitenstraße auf Gold zutrat. Er kurbelte das Fenster herunter und hörte zu.

»Sind Sie Mr. Gold?« fragte der Mann.

»Ja.«

»Sie sind hier verabredet?«

»Woher wissen Sie denn, daß ich mich hier verabredet habe?« entgegnete Gold ärgerlich.

»Das muß ich Ihnen wohl nicht erst erklären!« rief der Fremde böse.

Gleich darauf hörte man einen scharfen Schuß.

Bell sprang aus dem Wagen. Gold stand unverletzt an der Ecke der Seitenstraße. Der Mann, der geschossen hatte, war davongelaufen und in der Dunkelheit verschwunden.

»Das war nur einer meiner Freunde«, sagte Gold liebenswürdig. Er bückte sich und hob die Pistole auf, die der Mann hatte fallen lassen.


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