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Der Fall der Dolly de Mulle

Die ganze Lebensweisheit des Prellers erschöpfte sich in sieben Worten: »Sei niemals dort, wo man dich vermutet!« Auf seiner Suche nach leichtverdientem Geld zog er wie ein Nomade von Zeltlager zu Zeltlager, von Pensionshäusern in Hotels und von da wieder in andere Pensionen zurück. Oftmals vergingen lange Tage, ehe er wieder ein Opfer fand. Nicht, daß Schwindler und Betrüger seltener geworden wären – nein, sondern weil man es dem Zufall anheimstellen mußte, mit ihnen in Berührung zu kommen. Wieder folgten aber auch Zeiten, wo es ratsam war, ein wenig Gras über alte Geschichten wachsen zu lassen, ehe neue Schröpfungsversuche unternommen wurden. Dies war der Fall, nachdem der Preller Mr. Kandeman eine so fühlbare Lehre erteilt hatte.

Er hatte, wie bereits im vorigen Kapitel erwähnt, Paul mitgeteilt, daß er, ehe er neue Pläne fasse, die Ankunft des Maharadscha von Tikiligi abwarten wolle, aber der Zwischenfall mit Mr. Bidder und das erhöhte Interesse, das die Polizei für den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Strumpfhändlers verriet, wiesen gebieterisch auf die Notwendigkeit hin, so schnell wie möglich neue Jagdgründe aufzusuchen.

Anthony mietete sich ein Haus in einer Gegend Londons, wo weder Mr. Bidders noch seine eigenen Streiche eine neugierige Polizei zu genaueren Nachforschungen veranlassen würden. In diese neue Wohnung kehrte der Preller eines frühen Vormittags zurück, weckte den noch süß schlummernden Paul auf und schleppte ihn in das Speisezimmer.

»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte der Sekretär.

»Entschuldige, daß ich dich stören muß, Paul, aber ich kann nicht warten, bis du ausgeschlafen hast.« Er unterbrach sich, steckte den Kopf zur Tür hinaus und rief: »Sandy! Koch mir eine Tasse Kakao! Ich habe immer noch den ekelhaften Geschmack der parfümierten Zigaretten im Mund.«

»Was hast du denn nun schon wieder getrieben?« fragte Paul. »Wohl gar die Jagdgründe der Millionäre beschritten?«

»Erraten!« Anthony legte Kragen und Krawatte und seinen eleganten Cut ab. »Gib mir mal meinen Pyjama herüber, Paul, und eine deiner billigen Zigaretten. Ich war bei Magson.«

»Im Nachtklub? Bist du denn Mitglied?« erkundigte sich sein Freund verwundert.

Anthony lachte.

»Man wird es, wenn man das hohe Eintrittsgeld bezahlt«, erklärte er. »Das mit der Mitgliedschaft ist ja alles Stuß. Wenn du Geld hast, kannst du überall Mitglied werden.«

Magson war der exklusivste Londoner Nachtklub. Die Mitgliederzahl war beschränkt. Wer nicht die fünfundfünfzig Pfund Eintrittshonorar und weitere fünfundfünfzig für jährliche Mitgliedsbeiträge hatte, mußte auf die Ehre verzichten, dem Klub anzugehören. Auch wenn die Mittel vorhanden waren, mußte man sich meist durch ein Mitglied vorstellen lassen, und Anthony kannte niemand von den Neureichen, die im Klub verkehrten.

»Ich habe mich sozusagen eingeschlichen«, berichtete er, »und zwar als Freund des reichen jungen Mannes, den wir im Alhambra kennenlernten, Mr. Job Tillmitt. Du weißt ja, in welcher Verfassung wir ihn trafen – verliebt und mit gebrochenem Herzen. Die Dame seiner Wahl ist Miss Dolly de Mulle, eine recht teure Herzensbrecherin. Ich ging in den Klub, um sie kennenzulernen. Sie hat allerdings nichts von einem Vampyr an sich; eher etwas von einem Blutegel. Sie saugt ihren Freunden den letzten Cent aus der Tasche, was ja angesichts ihres vornehmen Hauses in Kensington, ihres Landhauses in Somerset und ihrer süßen Villa an der Riviera kein Wunder ist. Daß sie außerdem noch meterlange Perlenschnüre, ganze Schaufeln voll Diamanten und ein Bankkonto besitzt, das einen Millionär vor Neid erblassen lassen würde, deutet ja nur noch mehr darauf hin, wie lukrativ sie ihre Schönheit zu verwerten weiß.«

»Du machst wohl Spaß?« Paul starrte den Freund an.

»Nein, im Gegenteil. Es ist mir bitterer Ernst damit. Da du von Miss Dolly de Mulle niemals gehört hast, so ...«

»Du irrst dich«, unterbrach ihn Paul. »Ich habe von ihr gehört. Allerdings ...«, er zögerte, dann fuhr er fort: »... glaube ich nicht, daß sich diese Sache für uns eignet. Die Frau ist jedenfalls nicht die Klasse wie Milwaukee Meg oder irgendeine andere gleichen Genres.«

»Nein, sie ist nicht wie Milwaukee Meg, aber viel fehlt nicht daran. Das einzige, worin sie sich von unserer alten Freundin unterscheidet, ist, daß sie sich weniger als Meg in Gefahr begibt. Du täuschest dich in ihr; sie hat mehr junge Leute zum Selbstmord getrieben und mehr verzweifelte Eltern geschröpft als hundert andere Frauen gleicher Klasse. Außerdem«, setzte er nachdenklich hinzu, »befürchte ich, daß sie mir auch die hunderttausend Pfund abnehmen wird, die ich aus dem Verkauf meiner Silbermine erlöst habe.«

Paul starrte ihn verwundert an. Dann lachte er laut auf.

»Das ist also dein Trick!« rief er. »Du hast dich mit der Dame schon bekannt gemacht?«

»Ich habe mich lange Zeit mit ihr unterhalten. Langweilig genug war es, das kann ich dir flüstern. Ich habe anfangs keine Ahnung gehabt, daß bei der Sache etwas herausspringen würde. Miss Dolly ist eine Dame, die das Leben junger Leute nicht nur interessanter, sondern auch aufregender macht. Auch mich hat sie überzeugt, daß der rechte Platz für mich ihre Kreise seien. Morgen werde ich also diese Wohnung hier aufgeben und mich in jenen Zirkeln bewegen, die allein meinem Vermögen und meinen Reizen entsprechen. Ich habe mich gestern schon nach einer passenden Wohnung umgesehen und am Piccadilly etwas gefunden, was speziell für mich gebaut scheint. Die Wohnung wird mich möbliert zwar sechzig Pfund wöchentlich kosten, ist aber alles, was man sich nur wünschen kann. Wenn sie noch nicht weg ist, werden wir morgen abend schon darin schlafen.«

Er blickte Sandy an, der eben mit dem verlangten Kakao eingetreten war.

»Diese Kocharbeit hört nun auch für dich auf, Sandy«, sagte er. »Du wirst mein Kammerdiener, und du, Paul, kannst den Chauffeur markieren. Ich muß mir einen Wagen besorgen, und du weißt, daß ich an meine Chauffeure große Ansprüche zu stellen gewohnt bin.« – »Hm, hm!« war alles, was Paul erwiderte.

 

Gegen halb zwei Uhr am folgenden Nachmittag stieg Miss Dolly de Mulle aus ihrem eleganten Wagen aus, empfangen vom Pförtner des Park-Hotels, der sie mit allen ihr zustehenden Ehren ins Vestibül begleitete. Neugierige Augen musterten die Dame, denn sie war allen Stammgästen des Hotels bestens bekannt. Viele der Anwesenden, die ihren Ruf kannten, sahen sich nach ihrem neuen Opfer um und fanden es in einem jungen Mann, der ihr mit allen Zeichen der Freude entgegeneilte.

»Wie nett von Ihnen, Miss de Mulle«, rief er ihr zu. »Ich hatte immer noch daran gezweifelt, daß Sie Ihr Versprechen, mich hier zu treffen, halten würden.«

»Ich halte jedes Versprechen«, sagte sie, »zweifelte jedoch meinerseits, ob Sie gleiches tun würden.«

»Diese Vereinbarung hätte ich niemals vergessen«, flüsterte er.

Anthony mußte wirklich die Schönheit des Mädchens bewundern, das er heute zum ersten Male bei Tageslicht sah. Im Speisesaal zog sie nachlässig ihre Handschuhe aus.

»Besuchen Sie oft den Klub?« fragte sie.

»Nein«, erwiderte Anthony. »Ich habe Angst vor solchen eleganten Plätzen. Ich bin ja nur ein gewöhnlicher Goldgräber.«

»Eigentlich sind Sie für einen solchen Beruf noch recht jung«, meinte sie. »Was wollen Sie denn überhaupt in London?«

»Ich suche eine sichere Anlage für mein Geld«, vertraute er ihr an. »Mir gefällt es zwar hier gut genug, aber es kommen auch Stunden, wo mich die Wälder Ontarios zu rufen scheinen.«

»Mit hunderttausend Pfund kann man schon allerlei anfangen«, sagte sie und blickte ihn nachdenklich an. »Ich habe einige recht gute Beziehungen zu Leuten, die mit Kapitalanlagen Bescheid wissen, und bin vielleicht in der Lage, Ihnen etwas Gutes nachzuweisen.«

So, so? dachte Anthony. So also will sie es drehen? Er war gespannt darauf, welchen Weg sie einschlagen würde, ihm sein Geld abzunehmen, ohne selbst irgendwelches Risiko zu laufen. Wahrscheinlich sollte seinetwillen ein Luftgeschäft entriert werden. Unzweifelhaft hatte sie irgendwo im Hintergrund die passenden Leute bereit, diesen ›Hinterwäldler‹ zu neppen.

Wenn er sie aber anblickte, ihre unschuldigen blauen Augen und die entzückenden Grübchen in ihren Wangen in Betracht zog, vermochte er es kaum zu glauben, daß dies die Frau war, die Nelson Grey zum Selbstmord getrieben, den jungen Lord Feltan ruiniert und Dutzende anderer junger, leicht empfänglicher Leute an den Rand des Abgrunds gebracht hatte. Erst als sie nochmals von seinem Vermögen zu sprechen anfing, stand er mit beiden Füßen wieder fest auf dem Boden der Tatsachen.

»Ich selbst verstehe nur wenig von derartigen Dingen«, bemerkte sie, »aber meine Freunde sind sehr klug. Einer von ihnen erzählte mir erst vorige Woche etwas von der Gründung einer Gesellschaft – ich glaube, sie hieß ›Bencombe-Kaolinerde-Gesellschaft‹ –, die jedem, der sein Geld darin anlegt, ein Vermögen einbringen würde. Sind Sie noch nie Leuten begegnet, die wie die Haifische auf der Lauer liegen, um unerfahrenen, vermögenden Leuten, wie Sie es sind, ihr Geld abzunehmen? Seien Sie froh, daß ich Sie unter meine Fittiche genommen habe«, setzte sie hinzu und klopfte ihm auf den Arm.

»Ja, Gott sei Dank«, gab er höflich zurück.

Sie erwähnte an diesem Tag sein Geld nicht mehr, und bald darauf begleitete er sie nach Hause. Ehe er sich von ihr verabschiedete, vereinbarten sie noch ein Zusammentreffen für den nächsten Tag. Von da ab waren sie beinahe unzertrennlich. Bald leistete er ihr in einer Konditorei der St. James' Street bei einer Tasse Tee Gesellschaft, bald führte er sie zum Essen, bald ins Theater. Paul seufzte bedrückt auf, als er erfuhr, daß Anthony für ein Kostümfest eine Loge in der Albert-Hall gemietet hatte.

»Welches Kostüm hast du dir denn gewählt«, fragte er den Preller.

»Ich gehe als Pierrot, und auf meinen Rat hin wird meine ›Herzdame‹ als Königin von Saba erscheinen«, gab Anthony lächelnd Auskunft.

Paul lachte leise in sich hinein.

»Dabei legt sie wohl alle ihre tragbaren Werte an, wie?« fragte er.

»Du hast es erraten. Man erzählt sich, daß sie bei solchen Gelegenheiten Schmuck im Wert von etwa hunderttausend Pfund zu tragen pflegt. Ich werde natürlich ihr Beschützer sein, und das ist es, Paul – ich sage es dir ehrlich –, was mir bei meinem Plan nicht gefällt.«

»Ich habe dir ja abgeraten«, gab der Freund zurück.

»Ich sehe ein, daß du recht hattest, mein Junge, aber ich habe die Sache angefangen und muß sie nun auch durchführen.«

»Warum das? Ich weiß, sie hat die goldene Jugend Englands ein wenig geschröpft, aber das macht sie mir um so sympathischer.«

»Quatsch!« erwiderte der Preller schlecht gelaunt.

Anthony hatte noch keinen festen Plan, wie er Miss Dolly de Mulle schröpfen könnte, und das machte ihn nur um so unlustiger. Wäre das Opfer ein Mann gewesen, so würde alles viel leichter gewesen sein. Als erschwerend kam noch hinzu, daß er fühlte, wie er dem Einfluß des Mädchens von Tag zu Tag mehr unterlag. Er verfluchte sich und seine Vermessenheit, ausgleichende Gerechtigkeit spielen zu wollen. Vergebens hielt er sich immer wieder vor Augen, daß ihre Reize doch nur der Handelsartikel seien, der ihr das Schröpfen vertrauender junger Leute leichter machen sollte. Er fand keine Ruhe.

Am Nachmittag des Tages, an dessen Abend der Kostümball stattfinden sollte, tranken sie zusammen im Circus-Hotel Tee. Zu seinem Mißvergnügen empfand er bei der Aussicht, sie am Abend wiederzusehen, innigste Freude und schalt sich deswegen selbst einen Narren. Je mehr ihr Einfluß auf ihn zunahm, um so geringer wurde die Aussicht, seinen bisher noch nicht definitiv ausgearbeiteten Plan erfolgreich durchzuführen.

Dieses Zusammentreffen beim Fünf-Uhr-Tee sollte der Anfang aufregender Ereignisse werden, wenn auch Miss Dolly de Mulle selbst nichts dazu beitrug. Anthony hatte die Zeche bezahlt und befand sich eben mit seiner Begleiterin auf dem Weg ins Vestibül, als ihn ein unbestimmtes Gefühl veranlaßte, sich rasch umzudrehen. Er begegnete den Blicken eines Mannes, der sich in einer Ecke des Teeraumes niedergelassen hatte und dem Preller nachstarrte. Anthony sah sich ein zweites, ein drittesmal um und erkannte nun den Beobachter. Das Mädchen hatte ihren Begleiter die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, konnte aber in dessen Benehmen nicht das geringste bemerken, was ihr seinen Schrecken verraten hätte. Er verabschiedete sich von ihr und gelangte auf Umwegen in seine Piccadilly-Wohnung.

Sein Diener sah ihm sofort beim Eintritt an, daß etwas Besonderes vorgefallen war.

»Ist etwas passiert, Anthony?« erkundigte sich Sandy.

»Ich habe im Circus-Hotel jemand wiedergesehen«, gab der Preller zurück. »Rate, wer es war!«

Sandy schüttelte ahnungslos den Kopf.

»Es war Baltimore Jones«, klärte ihn der Preller auf. »Du weißt doch, der Mann, den wir in Madrid neppten.«

Sandy pfiff überrascht vor sich hin.

»Hat er dich erkannt?« fragte er. Anthony nickte.

»Bestimmt weiß ich es nicht, glaube es aber als sicher annehmen zu dürfen. Ich vermute, er hatte mich schon eine ganze Weile beobachtet, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte. Ist Wensley zu Hause?«

»Ja, er erwartet deine Befehle.«

»Schick ihn herauf.«

Paul erschien. Die Chauffeurmütze in der Hand, hörte er dem Bericht des Freundes über die unheilvolle Begegnung im Circus-Hotel schweigend zu. Endlich sagte er:

»Ich glaube nicht, daß er uns Unannehmlichkeiten bereiten wird, Anthony.«

»Da bin ich anderer Meinung, denn Jones machte mir von jeher den Eindruck, als wäre er ein Mann, der mit jeder Kleinigkeit zur Polizei läuft.«

»Na, jedenfalls hat er aber keine Ahnung davon, was du gegen Dolly im Schilde führst«, beruhigte ihn Wensley. »Ist er dir nachgegangen?«

»Nein. Ich nahm mir ein Taxi bis zur Marble-Arch-Untergrundbahnstation, dann schlug ich einen Haken bis zur Chancery Lane zurück, um erst von dort aus mich hierher zu begeben. Auf alle Fälle müssen wir uns aber sofort darauf einstellen, noch heute nacht zu rücken.«

»Welchen Plan hast du im Auge?« erkundigte sich Paul.

»Du bleibst dauernd mit deinem Wagen an der Parkecke, die ja nur hundertfünfzig Meter von der Albert-Hall entfernt ist. Von zehn Uhr abends ab muß der Motor laufen.«

»Und wie willst du an Miss Dolly herankommen?«

Anthony schüttelte übelgelaunt den Kopf.

»Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt«, gab er zurück, »daß ich darüber noch gar keinen Plan gefaßt habe. Ich werde das tun, was mir der Augenblick eingibt.«

Er hatte sich noch niemals eine Aufgabe gestellt, an die er mit größerer Unlust herangegangen war als an diese. Er hatte tatsächlich Gewissensbisse, Miss de Mulle um ihre unrechtmäßig erworbenen Schätze zu erleichtern.

Im Kostüm eines Pierrot, das Gesicht mit Gips bestrichen, trat er am Abend in den Saal der Albert-Hall. Niemals war ihm, trotz des bevorstehenden lustigen Festes, das Herz so schwer gewesen wie in diesem Augenblick. Es war gegen halb zehn, als er den Saal betrat, aber es herrschte schon ziemliches Gedränge. Er warf einen Blick auf die Logen und sah in einer davon Dolly ganz allein sitzen. Kurz darauf klopfte er an die Logentür und trat auf das »Herein« des Mädchens ein.

Dolly sah entzückend aus. Lange Ketten ausgewähltester Perlen schmückten ihren Hals, ein Diadem großer Diamanten verbreitete sprühendes Feuer, ein riesiger Smaragd glänzte in dem Turban, der ihr Haar verbarg. Wie eine Drohung schien er Anthony anzustarren.

»Kommen Sie«, bat sie ihn mit leiser Stimme. »Setzen Sie sich. Nein, nicht dort drüben! Hier, im Hintergrund der Loge.«

Die sonderbare Betonung, mit der sie sprach, erregte sofort Anthonys ganze Aufmerksamkeit. Er wußte, daß er in Gefahr war. Nur mit Aufbietung aller seiner Energie zwang er sich, den von ihr angedeuteten Platz einzunehmen, ohne sich etwas von seinem Mißtrauen anmerken zu lassen.

Vom Stuhl, den sie ihm angewiesen hatte, konnte er zwar den ganzen Saal überblicken, selbst aber von unten, wie er schnell genug ausfindig machte, nicht gesehen werden. Nur einen kurzen Augenblick lang ruhten seine Blicke auf dem Vermögen, das Dolly da mit sich herumschleppte, und schweiften sofort wieder ab, denn eine innere Stimme sagte ihm, daß er diese Werte niemals sein eigen nennen würde. Von Anfang an hatte er sich gegen die Beraubung dieses Mädchens gesträubt, und niemals war ihm einer seiner beabsichtigten Streiche so abstoßend erschienen wie in diesem Fall.

»So, da sitzen Sie gut, Mr. Preller«, fuhr das Mädchen fort. Trotz aller Selbstbeherrschung sprang Anthony auf.

»Sie sind ein netter Kerl«, sagte Dolly und starrte ihn mit merkwürdigen Blicken an, »und ich habe Sie wirklich sehr gern. Und – Sie hätten mich wirklich mit der Geschichte von Ihren hunderttausend Pfund Vermögen beinahe geleimt.«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, Miss de Mulle«, wollte Anthony den Unbefangenen spielen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie doch das Leugnen«, sagte sie. »Die Lage ist für Sie wirklich zu gefährlich, um hier Wortgefechte zu führen.« »Gefährlich? Für mich?«

»Unten im Vestibül warten vier Kriminalbeamte auf Sie«, erklärte sie ihm.

Ein kurzes, beklemmendes Schweigen trat ein.

Dann fuhr sie fort:

»Nebenbei bemerkt, warten sie auf mich.«

»Auf Sie?« fragte er überrascht.

»Ja, aber nur, wie gesagt, nebenbei. Die Leute wissen, wo ich mich aufhalte. Mein lieber Mr. Preller – entschuldigen Sie, daß ich diesen Spitznamen gebrauche, aber ich kenne ja Ihren wirklichen nicht –, Sie werden mich wohl für eine Person halten, die ihr ganzes Frauenleben zu nichts anderem benutzt hat, als ›grüne‹ reiche und junge Leute um ihr Vermögen zu erleichtern, nicht wahr? Glauben Sie mir, es ist Unsinn, was man da von mir behauptet, ich hätte viele Menschen zum Selbstmord getrieben. Eines dieser sogenannten Opfer meiner Verführungskünste hat mich verpfiffen! Sie wissen wohl, was dieser Ausdruck bedeutet, nicht wahr? Verzinkt und verpfiffen!«

»Ich weiß, was er bedeutet«, gab der Preller zu.

»Gut. Die Leute unten wußten, daß Sie zu mir kommen würden, und deshalb warten sie auf Sie. Im Augenblick befaßt sich ein Herr nur damit, diese Loge zu beobachten; er weiß aber vorläufig noch nicht genau, ob Sie schon hier sind. Verschwinden Sie so schnell wie möglich.«

»Was wird aber aus Ihnen?« fragte er besorgt.

Sie zuckte die weißen Schultern. Dann, ihre Blicke zu Boden gerichtet, sagte sie leise:

»Heben Sie ein klein wenig Ihren Kopf. So! Sehen Sie dort unten im Saal den Herrn in rotem Kostüm und schwarzer Maske? Ah, jetzt eben hat er sie abgenommen.«

Vorsichtig blickte Anthony über die Brüstung und erkannte den jungen Mann, dessen Bekanntschaft er im ›Alhambra‹ gemacht hatte.

»Das ist mein Feind!« erklärte sie mit besorgter Stimme. »Er befindet sich auf dem Weg hierher, um mich vor die Alternative: Zuchthaus oder – hm – hm – zu stellen.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, gab Anthony zurück. »Er ist ungefähr von meiner Gestalt.«

Er blickte sich in der Loge um. Gegen die Seitenwand gelehnt stand eine spanische Wand, die dazu bestimmt war, die Insassen der Loge vor Zugluft zu schützen.

»Diese Wand wird mir ausgezeichnete Dienste leisten«, sagte er. »Die nächste Loge ist frei, nicht wahr? Und diese Tür führt hinüber?«

»Ja«, erwiderte das Mädchen.

Er drückte die Klinke nieder – die Tür war unverschlossen und trat in den Nebenraum. Zwei Vorhänge schlössen die Nebenloge für unberufene Augen ab. Einen davon zog Anthony zu.

»Großartig«, meinte er, als er zu Dolly zurückkam. »Wissen Sie vielleicht, wer die Nebenloge gemietet hat? Nein? Ich habe mir nämlich erlaubt, die auf den Gang führende Tür abzuriegeln.«

Im selben Augenblick klopfte es, und ohne das »Herein« Dollys abzuwarten, trat ein junger Mann in der roten Robe eines Mephisto herein.

Er konnte Anthony, der hinter der spanischen Wand stand, nicht sehen; erst als er die Mündung eines Revolvers an seinem Nacken fühlte, erfuhr er von der Anwesenheit eines Dritten.

»Los, marschieren Sie in die Nebenloge, und geben Sie keinen Laut von sich«, befahl ihm Anthony drohend. »Ich möchte Ihr herrliches Kostüm haben.«

Eine halbe Stunde später traten aus der Tür der von den Kriminalbeamten beobachteten Loge die ›Königin von Saba‹ und ›Mephisto‹. Als die beiden im Vestibül an den Kriminalbeamten vorbeischritten, blickten diese sie fragend an, wandten sich dann aber achselzuckend ab und ließen die Verkleideten passieren. Sie hatten Befehl erhalten, erst dann einzugreifen, wenn ›Mephisto‹ ihnen den Befehl dazu gab. Inzwischen versuchte der seines Kostüms Beraubte sich der Fesseln zu entledigen, die ihm der Preller angelegt hatte.

Einige Minuten später saßen Dolly de Mulle und Anthony in einem Auto, das sich in rasender Fahrt in der Richtung nach South Kensington zu entfernte.

»Nun, Miss de Mulle«, sagte Anthony, als er den Wagen vor der Tür ihrer Wohnung anhielt, »es bleiben Ihnen etwa zehn Minuten, um zu rücken.«

»Fünf genügen«, gab sie zurück. Sie streckte ihre Hand aus: »Hier, mein lieber Raubgenosse, haben Sie Ihre Belohnung.«

Sie legte eine Perlenschur in seine Hand. Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Nein, danke, aber wenn Sie mir gestatten wollen ...«

Er beugte sich nieder und küßte sie auf den Mund.

Paul hatte die Episode beobachtet. Er lachte verstohlen.

»Ich möchte nur gern wissen«, sprach er vor sich hin, »wie er uns beiden, Sandy und mir, davon unseren Anteil an der Beute geben will?«


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