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16

Am Morgen war Faith Leman in bester Stimmung aufgewacht. Sie freute sich, daß sie so lange geschlafen hatte, denn nun war der Zeitpunkt nahe herangekommen, an dem sie Jimmy wiedersehen würde. Das ganze Leben lag jetzt herrlich vor ihr. Sorgen, Kummer und Furcht waren verschwunden. Am liebsten hätte sie laut singen mögen. Sie hatte Jimmy versprochen, sich zum Ausgehen fertigzumachen, und er wollte sie vor dem Mittagessen abholen. Um elf Uhr war sie fertig. Kurz darauf klingelte das Telefon.

»Sind Sie am Apparat, Miss Leman?« fragte John Sands.

Sie erkannte ihn an der Stimme.

»Ja.«

»Ich möchte Sie kurz sprechen, wenn Sie soviel Zeit für mich übrig haben. Ich muß Ihnen etwas mitteilen, was mir Ihr Onkel gesagt hat und was bis jetzt noch nicht an die Öffentlichkeit kam.«

»Wäre es nicht besser, wenn Sie darüber mit Mr. Cassidy sprächen?« erwiderte sie zögernd. »Er kommt zwischen elf und zwölf ins Hotel zurück.«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie die Sache später Mr. Cassidy mitteilten. Er braucht nicht gerade zu wissen, daß ich Ihnen diese gute Nachricht brachte, denn er ist aus irgendeinem Grund argwöhnisch und sieht unsere Bekanntschaft nicht gern. Aber Sie wissen ja, Miss Leman, daß ich stets das Bestreben hatte, Ihr Leben möglichst angenehm zu gestalten und Sie vor Sorgen und Unannehmlichkeiten zu schützen.«

»Ja, das weiß ich«, entgegnete sie herzlich. »Und Jimmys – ich meine Mr. Cassidys Ängstlichkeit und Besorgnis sind ja unter den augenblicklichen Verhältnissen auch zu verstehen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Ich will ihm keinen Vorwurf machen.«

»Wo wollen Sie mich denn sprechen?«

»Kommen Sie doch zur Ecke der Blane und Oxford Street. Nehmen Sie kein Taxi, und falls Sie Mr. Cassidy begegnen sollten, sagen Sie ihm bitte nicht, daß Sie mich treffen wollen. Oder soll ich ihn lieber Jimmy nennen?«

Sie hörte, daß er leise lachte, und errötete leicht.

Als sie zu dem Treffpunkt kam, sah sie John Sands schon von weitem an der Ecke der beiden Straßen warten. Er war elegant und tadellos gekleidet.

»Ich habe ein Auto hier, wir wollen einsteigen. Während der Fahrt können wir bequemer miteinander sprechen und werden auch nicht zusammen beobachtet. Ich hätte Sie ja bitten können, mich in meiner Wohnung in der Charles Street aufzusuchen, da aber keine Dame in meinem Haus ist, habe ich davon abgesehen.«

Sie war angenehm berührt von dem Takt, den er ihr gegenüber an den Tag legte, und das alte Vertrauen zu ihm lebte wieder auf.

»Ich weiß, daß Sie sehr gut zu mir waren, Mr. Sands, und meine Interessen meinem Onkel gegenüber immer vertreten haben«, sagte sie herzlich. »Und ich werde auch nicht vergessen, was Sie für mich getan haben.«

Ihre Worte gefielen ihm außerordentlich, und er sagte ihr das auch in höflicher Form.

»Ich stelle Ihre Freundschaft allerdings auf eine harte Probe«, fuhr er dann fort. »Ich möchte Sie bitten, Ihre Verabredung mit Jimmy heute vormittag aufzugeben, und mit mir aufs Land zu kommen. Ich habe nämlich Mrs. Leman gefunden.« Sie sah ihn neugierig an.

»Wie ist denn das möglich, daß Sie sie gefunden haben? Sie lebt doch zur Zeit in Frankreich?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, sie wohnt in England; sie war sogar die ganze Zeit hier, aber das ist eine sehr lange Geschichte, und ich will Sie im Augenblick nicht damit belästigen. Miss Leman, wissen Sie, daß Sie eine sehr reiche Dame sind?«

»Ich?« fragte sie erstaunt.

»Bevor Ihr Onkel starb – niemand beklagt seinen Tod mehr als ich –, hat er ein Testament zu Ihren Gunsten gemacht. Das Dokument hat er seiner Frau ausgehändigt. Ich selbst wußte nichts davon«, fügte er schnell hinzu. »Erst vor zwei Tagen erzählte mir Mrs. Leman die ganze Geschichte.«

»Aber das ist doch unmöglich! Wann hat er es denn geschrieben?«

»Er hat seinen Letzten Willen in Gegenwart von Mrs. Leman aufgesetzt und ihr das Schriftstück mit der Bitte überreicht, es Ihnen zu geben. Die unglückliche Frau hat mir dies nicht gleich gesagt. Welchen Grund sie dazu hatte, kann man ja vermuten; aber wir dürfen sie nicht zu streng beurteilen, Miss Leman. Es hat keinen Zweck, seine Mitmenschen zu scharf unter die Lupe zu nehmen.«

»Ich mache ihr durchaus keinen Vorwurf«, erwiderte Faith verwundert. »Aber warum soll ich denn aufs Land fahren?«

»Sie hat jetzt den Wunsch, Ihnen das Testament persönlich zu übergeben und Sie um Verzeihung zu bitten. Es sind eine ganze Reihe von Gründen vorhanden, warum wir im Augenblick keinen anderen einweihen wollen«, entgegnete John Sands ruhig und bedächtig und widerlegte dadurch von vornherein ihre Gegengründe. »Sie wird Ihnen die näheren Umstände erklären, unter denen sie getraut wurde, und dann werden Sie auch verstehen, warum Mr. Cassidy und sein Freund, der Polizeiinspektor, im Augenblick nichts von dem Geheimnis erfahren dürfen.«

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie fassungslos. »Es scheint mir ganz unmöglich! Wenn ich das Vermögen meines Onkels erbe, bin ich allerdings sehr reich!«

John Sands machte eine Handbewegung, um die Größe ihres Vermögens anzuzeigen.

»Jedenfalls sind Sie reich genug, um mit mir aufs Land fahren zu können.«

»Wo hält sich denn Mrs. Leman zur Zeit auf? Wo werden wir sie treffen?«

»Zuerst fahren wir zum Paddington-Bahnhof, von dort mit dem Zug nach Slough. Am Bahnhof werden wir von meinem Auto abgeholt, und ich werde Sie dann den Rest des Weges persönlich fahren. Ich habe ein kleines Haus in der Nähe von Marlow.«

Unterwegs unterhielten sie sich über Wassersport, Motorboote und andere Dinge, die in London zur Zeit das Tagesgespräch bildeten. Erst hundert Meter vom Ziel entfernt überkam sie ein eigenartiges Gefühl.

»Meinen Sie nicht, es ist besser, ich schicke Jimmy ein Telegramm? Er wird sonst meinetwegen furchtbar unruhig und ängstlich sein.«

»Ich werde dafür sorgen, daß es abgeschickt wird«, erklärte er. »Einer der Dienstboten kann es zur Post bringen, wenn wir angekommen sind.«

Sie atmete erleichtert auf. Unwillkürlich fühlte sie sich sicherer, als sie hörte, daß Dienstboten in dem Haus waren. Und doch brauchte sie sich vor dem liebenswürdigen und entgegenkommenden Mr. Sands nicht zu fürchten. Er hatte sich doch stets sehr korrekt benommen.

Als sie aus dem Fenster des Wagens sah, hatte sie den Eindruck, daß er in einem großen Bogen nach Marlow fuhr und nicht den direkten Weg nahm. Sie bogen von der Hauptstraße auf einen ziemlich schlechten Nebenweg ab, der, wie sie nach seinem holprigen Zustand urteilte, äußerst selten benutzt wurde. Die Straße führte auch nicht weiter, und schließlich hielt Sands an. Dann führte er sie einen Fußweg entlang und unterhielt sich dabei in der freundlichsten und lebhaftesten Weise mit ihr.

»Ist das denn das Haus, in dem sich Mrs. Leman aufhält?«

Sie konnte ihr Erstaunen nicht unterdrücken.

»Das sieht aber doch aus wie ein Bootshaus?«

»Ja, jetzt sind wir angelangt«, erwiderte John.

»Das war es auch, bis ich es mietete. Aber ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß es im Innern sehr gut und komfortabel ausgestattet ist. Von außen sieht man das natürlich nicht.«

Er öffnete die Tür. Auf der Schwelle blieb Faith stehen, da es im Innern dunkel war und man nichts von Dienstboten sehen konnte. Aber eine Hand legte sich auf ihren Rücken und schob sie vorwärts.

»Aber, Mr. Sands!« protestierte sie atemlos.

Er schlug die Tür hinter sich zu und verschloß sie, bevor er ihr antwortete.

»Gehen Sie geradeaus. Sie finden eine Treppe, die nach oben führt. Es sind einundzwanzig Stufen«, sagte er kurz. »Zählen Sie, sonst kann es Ihnen passieren, daß Sie die Treppe hinunterfallen.«

»Nein, ich gehe nicht weiter, ich will nach Hause zurück«, erklärte sie heftig.

Er lachte.

»Gehen Sie die Treppe hinauf!«

Seine Stimme klang hart und befehlend. Faith zuckte zusammen und zitterte am ganzen Körper. Sie gehorchte ihm, gab sich aber die größte Mühe, klar und kühl zu denken.

»Mr. Sands, ich verbitte mir, daß Sie auf solche Weise zu mir sprechen.«

»Sie haben sich hier nichts zu verbitten. Sie werden noch ganz hübsch gehorsam und folgsam werden, wenn ich erst einmal richtig mit Ihnen gesprochen habe«, erwiderte er in schneidendem Ton. »Oben auf dem Treppenabsatz bleiben Sie stehen.«

Er schloß eine Tür auf und führte sie in einen großen Raum, der sehr gut eingerichtet war. Von der Decke hingen ein paar Petroleumlampen herab.

Es dauerte einige Zeit, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte. Dann aber erkannte sie ihre Umgebung und schrak zurück. Nicht vor der reichen Ausstattung des Raumes und den orientalisch prächtigen Farben, sondern vor den schweren Plüschvorhängen, mit denen die Fenster verschlossen waren. Kein Licht konnte hier von außen hereindringen. Deshalb hatten die Fenster auch so tot und schwarz ausgesehen. Dann entdeckte Faith mit Entsetzen eine Frau, die am anderen Ende des Zimmers saß. Sie starrte sie an und trat unwillkürlich zurück, bis sie mit dem Rücken an die Tür stieß. Ihr Herz schlug wild vor Furcht. Die Frau war schwarz gekleidet, so daß das weiße, leidende Gesicht, in dem zwei dunkle, fieberheiße Augen glänzten, um so mehr auffiel. Sie saß in einem derben Sessel; ihre Hände waren durch Stahlklammern an den Armlehnen befestigt, ihre Fußgelenke an den Stuhlbeinen. Sie hielt den Kopf in einer krampfhaft unnatürlichen Haltung. Faith erkannte auch den Grund dafür: der Kopf war mit einem breiten Lederriemen unter dem Kinn fest angeschnallt.

John Sands ging schnell zu der Fremden, nahm eine Tasse Wasser von einem Tisch und hielt sie an ihre Lippen.

Sie trank gierig.

»Nun, bist du durstig?« fragte er sanft. »Das kann ich mir auch denken.«

Er bückte sich, nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Stahlringe an ihren Armen und Beinen. Dann richtete er sie auf, aber sie taumelte, matt vor Erschöpfung. Sands lachte leise.

»Öffnen Sie die Tür«, befahl er Faith Leman. »Aber machen Sie schnell.«

Sie gehorchte. Er hob die Frau auf, trug sie in den anstoßenden Raum und legte sie dort auf ein Feldbett.

»Wir brauchen uns im Augenblick nicht um sie zu kümmern, sie wird sich bald erholen«, wandte er sich dann an Faith Leman und führte sie wieder in das große Zimmer. »Es hat länger gedauert, als ich annahm, da ich Ihnen in London dauernd folgen mußte, bis ich schließlich heute vormittag eine Gelegenheit fand.«

»Wer – wer –« flüsterte sie und sah ihn starr vor Schrecken an.

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie Mrs. Leman sehen würden. Das ist sie. Nehmen Sie Platz.«


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