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14

»Hallo, Jimmy.«

Der Journalist saß behaglich auf einer Bank im Hyde Park und nahm eben den Hut ab. Dann sah er sich nach dem Mann um, der ihn anrief. Er sah nur noch eine Hand, die ihm aus einem Auto zuwinkte und einen grauen Filzhut schwenkte, außerdem das Ende einer langen Zigarre. Aus all diesen Anzeichen schloß er, daß es niemand anders sein konnte als Holland Brown. Das Auto bremste, der Zeitungsmagnat lehnte sich über den Rand des Wagens und streckte Jimmy die Hand entgegen.

»Es ist ja alles im Fluß«, sagte er. »Ich bin Ihnen äußerst dankbar, daß Sie die ersten Nachrichten vom Selbstmord des alten Leman an mich geschickt haben. Aber was steckt denn dahinter?«

Jimmy zwinkerte ihm zu.

»Neun Kapitel meiner Millionengeschichte haben sich schon abgespielt, Mr. Brown. Ich weiß nur noch nicht, in welchem Kapitel ich die Enthüllung bringen soll.«

Holland Brown war trotz seiner äußeren Ruhe und Behaglichkeit doch ein sehr tüchtiger Zeitungsmann. Er hatte sich von unten emporgearbeitet und kannte das Zeitungsgeschäft. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und sah Jimmy durchdringend an.

»Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß Sie dabei sind, eine Millionengeschichte zu schreiben. Selbstmord kann das nicht sein.«

»Lesen Sie später in Kapitel sechs nach, wenn Sie die Geschichte bekommen.«

»Sollte ich in Paris sein, wenn Sie Ihre Geschichte beenden, dann schicken Sie sie mir nicht zu. Senden Sie mir nur ein Telegramm, dann komme ich sofort im Flugzeug nach London, Ich werde Ihnen natürlich nicht eine Million Dollar dafür zahlen, denn ich will nicht haben, daß mich die Leute für verrückt halten, aber auf ein glänzendes Honorar können Sie rechnen.«

»Schön, ich werde meine Rechnung danach einrichten, Mr. Brown.«

»Kann ich etwas tun, um Ihnen zu helfen?«

Jimmy dachte einen Augenblick nach.

»Ist Mrs. Brown in Paris?«

»Nein, sie ist im Augenblick in London, und zwar mit unseren beiden Töchtern. Aber warum fragen Sie?«

»Sehen Sie, es ist eine junge Dame in diesen Fall verwickelt.«

»Ach, meinen Sie die Nichte des alten Leman? Aber warum werden Sie denn so furchtbar rot, Jimmy? Sie wollen doch nicht etwa die Millionengeschichte heiraten?«

»Nein, selbstverständlich heirate ich nicht die Geschichte«, erwiderte Jimmy. »Aber ich wäre Mrs. Brown sehr zu Dank verpflichtet, wenn sie sich Miss Lemans annehmen würde. Sie steht ganz allein in London und hat kaum Damenbekanntschaften.«

»Ich werde das Auto zu ihrer Wohnung schicken. Wo ist sie augenblicklich? Meiner Frau wird es Freude machen, ihr zu helfen.«

Plötzlich sah er Jimmy an.

»Ist das Mädchen am Ende irgendwie in Gefahr?« fragte er schnell.

Jimmy nickte.

»Ich weiß nicht, was es ist, und ich kann auch keine Gründe dafür angeben, aber ich habe das Gefühl, daß sie sich in großer Gefahr befindet. Hier ist ihre Adresse.«

Er schrieb sie auf ein Blatt seines Notizbuches und gab es seinem früheren Chef.

»Heute nachmittag um zwei werde ich den Wagen schicken ist es so recht? Meine Frau oder auch meine Töchter werden sie im Hotel abholen.«

Jimmy schüttelte Brown dankbar die Hand und setzte sich beruhigt wieder auf seine Bank. Den Morgen hatte er gut verbracht. Eine der Hauptschwierigkeiten, die ihm Sorge bereiteten, war nun aus der Welt geschafft.

Er mußte zu Faith gehen, ihr erzählen-, was er getan hatte, und vor allem ihre Einwilligung einholen. Es gab noch eine Menge zu tun; außerdem hatte er eine Verabredung zum Mittagessen mit Blessington. Und er wußte, daß er viel ruhiger und besser arbeiten konnte, wenn sich Faith in Sicherheit befand. Er fuhr sofort mit einem Taxi zum Hotel und schickte einen Pagen zu ihrem Zimmer. Aber der kam zurück und sagte ihm, die junge Dame sei vor einer halben Stunde ausgegangen. Er wartete, bis es Zeit war, zu Tisch zu gehen, und bat Blessington dann telefonisch, zu ihm ins Hotel zu kommen. Aber als der Inspektor in die Hotelhalle trat, war Faith immer noch nicht angekommen.

»Vielleicht speist sie außerhalb?« meinte er.

Jimmy schüttelte den Kopf.

»Sie hat mir ausdrücklich versprochen, mich vor dem Essen zu treffen, und ich weiß, daß sie ihre Verabredung mit mir unter allen Umständen einhalten wird – besonders unter den jetzigen Umständen«, fügte er hinzu.

Blessington fragte nicht, was Jimmy damit meinte, aber er erriet, was es zu bedeuten hatte.

»Haben Sie etwas Neues erfahren?« fragte Jimmy.

»Ich sammle Material, damit Sie eine schöne Geschichte schreiben können. Der eingeschriebene Brief muß übrigens morgen hier eintreffen. Allem Anschein nach hat jemand von London aus Sands' Agenten in Marseille ebenfalls telegrafisch angewiesen, den Brief in Empfang zu nehmen. Die Polizei hat den Betreffenden sofort verhaftet, aber das geschah so spät, daß er die Möglichkeit hatte, vorher noch entsprechend nach London zu telegrafieren. Die französische Polizei ist überhaupt furchtbar langweilig. Es dauert eine Ewigkeit, bis die sich in Bewegung setzt. Als sie dann den Mann schließlich hinter Schloß und Riegel hatten, war das Unglück schon geschehen. Er verweigert jede Aussage darüber, wer sein Auftraggeber hier in London ist. Aber das macht ja weiter keine Schwierigkeiten, denn ich weiß es.«

»Ist es bestimmt Sands?«

Blessington nickte.

»Das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel.«

»Haben Sie noch etwas Neues von Margaret Leman gehört?«

»Nein. Die Polizei in Marseille hat telegrafiert, daß sie dort nicht anwesend sei. Sie ist auch in keinem Hotel an der Riviera als Gast eingetragen. Wir können ohne weiteres annehmen, daß sie England niemals verlassen hat – vielleicht ist sie überhaupt nicht von London fortgekommen.

Ich möchte Sie übrigens noch warnen, Jimmy. Ich erzähle Ihnen das nicht etwa, um Sie unnötig zu erschrecken, aber sorgen Sie vor allem dafür, daß Ihre Freundin nicht in Gefahr gerät.«

»Was meinen Sie damit?«

»Wenn sie von ihren Einkäufen heute vormittag zurückkehrt, darf sie unter keinen Umständen mehr ausgehen, ganz gleich, wer sie einlädt. Auch nicht zu Theater, Konzert oder anderen Veranstaltungen, die junge Damen ohne Begleitung besuchen.«

»Sie haben mir noch nicht alles gesagt. Was halten Sie zurück, Blessington?«

»Gut, ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte der Polizeiinspektor leise. »Ich habe unserem Agenten in Marseille den Auftrag gegeben, den Brief zu öffnen und mir den Inhalt telegrafisch mitzuteilen.«

Jimmy fragte nicht, aber sein Herz schlug schneller, und er wußte bereits, daß neue Unannehmlichkeiten und Sorgen für ihn auftauchen würden.

»Das Dokument, das der Brief enthielt«, fuhr Blessington fort, »ist ein Testament, das Harry Leman am Abend vor seiner Ermordung ausgefertigt hat. Und er hat darin sein ganzes Vermögen ohne Einschränkung seiner Nichte vermacht.«

Jimmy taumelte zurück, als ob er einen Schlag erhalten hätte.

»Sie wollen mich doch nur zum besten halten«, sagte er heiser.

»Durchaus nicht. Das steht im Testament. Und was noch wichtiger ist, die Urkunde ist von Margaret Leman gegengezeichnet.«

»Aber – aber«, stammelte Jimmy.

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

»Was das alles zu bedeuten hat, kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich kann es nicht einmal vermuten. Sie sind der einzige, der diese merkwürdige Unterhaltung rekonstruieren kann, die an dem Abend vor Lemans Tod stattfand.«

»Ein Testament! Dann wird Faith also doch noch eine reiche Frau?«

Jimmy fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Blessington sah, daß die Nachricht den jungen Mann mehr mitnahm, als er ursprünglich geglaubt hatte. Aber schließlich faßte sich Jimmy wieder.

»Ich kann natürlich nur Vermutungen aufstellen, aber ich denke mir den Hergang folgendermaßen: Aus Gründen, die wir noch erfahren werden, ging Margaret Maliko zu Lemans Haus. Allem Anschein nach war er nicht ihr Gatte, sonst hätte sie das Testament überhaupt nicht unterschrieben. Wahrscheinlich hat sie ihm alles eingestanden und als Gegenleistung von ihm verlangt, daß er sie in Sicherheit bringen sollte. Vermutlich hat sie Australien vorgeschlagen. Leman hat doch den Namen eines Schiffs aufgeschrieben, ebenso das Abfahrtsdatum und die Summe, die für die Reise notwendig war. Ich nehme an, daß sie ihm den Plan zu seiner Ermordung aufgedeckt hat, und ihre Mitteilung brachte ihn in solche Bestürzung, daß er kurz vor Toresschluß doch noch ein Testament machte, um die Intrigen der Gegenseite zu durchkreuzen und die anderen daran zu hindern, sich sein Geld anzueignen.«

»Es hängt alles zusammen«, stimmte Blessington zu. »Glauben Sie, daß die Frau im Haus war, als das Verbrechen begangen wurde? Um ein Verbrechen handelt es sich doch zweifellos.«

Jimmy nickte.

»Lassen Sie mich die Sache aufschreiben. Ich kann viel klarer denken, wenn ich eine Feder in der Hand habe.«

Er trat an einen Schreibtisch und bedeckte einen Bogen nach dem anderen mit seiner großen, klaren Schrift. Aber während er arbeitete, hatte er ständig das ungewisse Gefühl, daß ihm schweres Unglück drohte. Ja, er hatte im Unterbewußtsein die Empfindung, daß Faith in Gefahr war. Aber trotzdem fesselte ihn seine Arbeit so sehr, daß seine Feder geradezu über das Papier flog. Und nach und nach gelang es ihm, die Millionengeschichte zu rekonstruieren. Der Polizeiinspektor hatte auf einem Stuhl neben ihm Platz genommen. Seine Aufmerksamkeit teilte sich zwischen dem eifrig arbeitenden Jimmy und der Schwingtür, die jeden Augenblick in Bewegung gesetzt wurde. Faith Leman war immer noch nicht zurückgekehrt.

»So, jetzt habe ich alles ausgearbeitet«, sagte Jimmy schließlich. »Die Trauung war nur eine Schiebung; eine Verheiratung Harry Lemans hat gar nicht stattgefunden, das wurde von John Sands nur so hingestellt. Er hat den ganzen Plan ausgedacht und zur Durchführung gebracht. In der Strafgefangenen, die ihm in den Weg kam, sah er die Frau, die er derartig unter Druck halten konnte, daß sie alles tat, was er wollte. Die konnte nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen! Ob er gleich von Anfang an die Absicht hatte, Leman zu ermorden, oder ob er nur hoffte, daß der Millionär bald eines natürlichen Todes sterben würde, ist im Augenblick gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß er eine Frau hatte, die er als Mrs. Leman ausgeben konnte. Ja, und – zum Donnerwetter, jetzt weiß ich es!« rief Jimmy plötzlich. »Sands hat sie geheiratet, nicht Leman!

Es ist ihm gelungen, Leman für einen Tag unter irgendeinem Vorwand aus der Stadt zu locken, und von all den Standesbeamten in England hat er sich den ausgesucht, der nicht mehr lange leben konnte. Dazu gehörten natürlich unendlich langwierige Nachforschungen, aber Sands hat eine unheimliche Geduld bei der Sache bewiesen. Margaret Leman ist in Wirklichkeit Margaret Sands!«

Der Polizeiinspektor nickte.

»Fahren Sie nur fort! Was ist sonst noch passiert?«

»Es klappt alles vorzüglich! Leman starb an demselben Tag, an dem ich seine Trauungsurkunde ausfindig gemacht hatte. Sands wußte, daß ich die Absicht hatte, den alten Mann zu besuchen, und damit ging sein Plan in die Brüche. Er hatte den Mord geplant – aber noch viel mehr, er hatte von vornherein für ein Alibi gesorgt und alles so eingerichtet, daß der Verdacht auf einen anderen fallen mußte. Sands hatte Faith die kleine Flasche mit Blausäure geschickt! Ich erinnere mich jetzt, daß sie mir erzählte, sie hätte mit Sands über einen Fleck in ihrem Kleid gesprochen. Jetzt wird alles klar, Blessington. Sands ging mit mir zur Wohnung in der Davis Street, aber er ging zuerst allein –«

Blessington sprang auf.

»Selbstverständlich haben Sie recht. Ich habe mich auch täuschen lassen. Harry Leman hatte doch die Gewohnheit, zwei Likörgläser voll Kognak einschenken zu lassen, eins für sich selbst, das andere für seinen Freund. Sicherlich würde er nicht einen Kognak für einen Gast haben eingießen lassen, wenn er wußte, daß der ihm nach dem Leben trachtete. Faith hatte natürlich keine Ahnung, um was es sich bei dem Besuch von Sands handeln würde. Sie wußte nur, daß er wie gewöhnlich um acht Uhr ihren Onkel besuchen würde. Deshalb hatte sie beide Gläser eingeschenkt.

Sands hat Sie unten allein gelassen und ist die Treppe hinaufgegangen, um mit Leman zu sprechen. Der alte Millionär hat sich zunächst wohl nichts anmerken lassen, um Sands nicht vorzeitig zu warnen. Der ging aber gleich zu dem kleinen Büfett, das an der Wand stand, und es gelang ihm, unbemerkt die Blausäure in Lemans Glas zu schütten. Dieses bot er ihm dann an.«

Der Polizeiinspektor hielt einen Augenblick inne und überlegte, ob er in seine Schlußfolgerung alles einbezogen hatte, und Jimmy erzählte weiter.

»Es wäre ja möglich gewesen, daß Leman zögerte. Auf jeden Fall hatte er dann aber das Glas geleert und ist ein paar Sekunden darauf zu Boden gestürzt. Entweder war er sofort tot, oder er lag in den letzten Zügen. Sands hat ihn aufgehoben und aufs Sofa gelegt. Um Leman nicht stutzig zu machen, hatte er zuerst auch ausgetrunken. Das hätte ihn natürlich verraten können. Er wußte aber, wo die Kognakflasche aufbewahrt wurde, nahm sie heraus und füllte sein Glas aufs neue. Aber nun kommt der Fehler: Er hat die Flasche auf dem Büfett stehenlassen.«

»Meinen Sie, er wußte nicht, daß die Frau zugegen war und sich im anderen Zimmer befand?«

»Ja, sie muß in dem kleinen Zimmer gewesen sein, das man durch die Tür hinter dem Sofa erreichen kann«, erwiderte Jimmy schnell. Wahrscheinlich war sie Zeugin der Unterhaltung. Sie muß alles gehört haben, was Sands und Leman vor dessen Tod noch miteinander sprachen.«

»Wo mag sie jetzt wohl sein?« fragte der Inspektor. Jimmy schüttelte nur den Kopf, erhob sich ein wenig ungeduldig und sah auf die Uhr.

»Blessington, ich habe das Gefühl, daß wir hier unsere Zeit vergeuden. Faith Leman müßte doch längst wieder ins Hotel zurückgekommen sein – es ist halb zwei!«

»Vielleicht hat sie in der Stadt jemand getroffen«, versuchte Blessington ihn zu beruhigen, obwohl er das selbst für sehr unwahrscheinlich hielt. »Es hat keinen Zweck, Aufsehen zu erregen. Wir wollen doch vor allem Miss Leman nicht lächerlich machen.«

»Besser lächerlich als tot«, entgegnete Jimmy erregt und ging zur Tür.


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