Edgar Wallace
Der Mann, der seinen Namen änderte
Edgar Wallace

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4

Auf die Bitte des Rechtsanwalts blieb Marjorie bis zum Spätnachmittag im Büro. Schreibarbeiten hatte sie nicht zu erledigen, aber sie vermutete, daß ihre Dienste früher oder später benötigt würden, und diese Vermutung stimmte auch.

Um fünf Uhr klingelte Mr. Vance, der gerade im Begriff war, einen großen Briefumschlag zu versiegeln. Allem Anschein nach hatte er das umfangreiche Schreiben am Nachmittag selbst verfaßt. Erst als er mit dem Siegeln fertig war, schrieb er die Adresse auf das Kuvert. Aber plötzlich hielt er unentschlossen inne.

»Hm, das ist allerdings unangenehm«, meinte er und schrieb erst nach einem kurzen Zögern weiter.

»Sir James Tynewood, Baron«, las sie über seine Schulter und war enttäuscht. Sie nahm an, daß sie diesen Brief wieder selbst überbringen sollte, und nach den Erfahrungen des vergangenen Abends war ihr ein solcher Auftrag wenig willkommen.

Zu ihrem größten Erstaunen nahm er einen noch größeren Umschlag aus der Schublade und steckte den ersten Brief hinein. Die neue Adresse lautete auf einen Namen, der ihr fremd war: »Dr. Fordham, Schloß Tynewood, Tynewood.«

Einen Augenblick saß Mr. Vance noch in Gedanken versunken, dann schaute er sie durch seine großen Brillengläser an und lächelte.

»Miss Stedman, ich möchte Sie bitten, in meinem Auftrag eine kleine Tour aufs Land zu machen. Kennen Sie Tynewood?«

Sie nickte.

»Es liegt in Droitshire«, erklärte er. »Sie haben einen Zug um fünf Uhr vom Bahnhof Paddington aus, mit dem sind Sie noch vor acht dort. Die nächste Station liegt allerdings fünf Kilometer von Schloß Tynewood entfernt, aber ich werde dem Gasthaus zum Roten Löwen in Tynewood telegrafieren, daß man Ihnen ein Auto an die Bahn schickt. Die Leute sind dort ziemlich modern eingerichtet. Auf keinen Fall werden Sie Schwierigkeiten haben, nach dem Schloß zu kommen. Gegen elf Uhr heute abend sind Sie wieder hier. Sie haben einen guten, schnellen Zug, der um neun dort abfährt. Diesen Brief müssen Sie Doktor Fordham persönlich übergeben.«

Sie nickte.

»Ich muß Ihnen aber noch etwas sagen, Miss Stedman«, fuhr er ein wenig verlegen fort. »Seit Sie meine Privatsekretärin sind, haben Sie eine ganze Reihe zum Teil recht unangenehmer Dinge erfahren, und ich weiß, daß Sie stets alles für sich behalten haben. Aber das Geheimnis um Sir James Tynewood ist unangenehmer als alles andere. Ich kann nur hoffen, daß Sie nichts Neues darüber hören. Sollte das trotzdem der Fall sein, so muß ich Sie dringend bitten, als unverbrüchliches Geheimnis zu betrachten, was Sie heute abend erfahren und was Sie gestern erlebt haben.«

»Das ist selbstverständlich, Mr. Vance. Aber –«

Sie zögerte.

»Was wollten Sie denn sagen?«

»Ach, es hat mit der Sache selbst nichts zu tun. Ich möchte nur meiner Mutter noch mitteilen, daß ich erst spät nach Hause komme. Sie erwartete mich heute nachmittag schon um zwei.

»Ich werde einen Boten hinschicken – oder besser ein Telegramm.«

Marjorie lachte.

»Ein Telegramm bringt meine Mutter immer in Aufregung.« Sie erklärte ihm nicht näher, daß Mrs. Stedman sich durch ihr optimistisches Temperament verleiten ließ, bei jedem Klingeln der Hausglocke ein Wunder zu erwarten. Natürlich war die alte Dame dann jedesmal sehr enttäuscht, wenn nicht irgendeine angenehme Nachricht kam.

Die Fahrt wollte für Marjorie kein Ende nehmen, obgleich sie sich ein Buch und Zeitschriften gekauft hatte. Erleichtert atmete sie auf, als sie endlich an ihrem Ziel ankam und auf den nassen Bahnsteig treten konnte. Mr. Vances Telegramm hatte tatsächlich den gewünschten Erfolg gehabt, denn ein altes, etwas geräuschvolles Auto wartete am Stationsausgang auf sie.

Glücklicherweise war es ein geschlossener Wagen, denn es regnete in Strömen. Während er mit großem Lärm über die dunkle Landstraße fuhr, dachte sie daran, daß sie in kurzer Zeit auch hier in der Nähe wohnen würde. Das Auto kroch nur langsam die Anhöhe hinauf und rollte mit unglaublicher Geschwindigkeit bergab. Trotzdem kam es im allgemeinen gut vorwärts und fuhr bald darauf durch die Hauptstraße eines Dorfes. Marjorie schaute durch die triefenden Fensterscheiben und sah einige hellerleuchtete Läden. Sie vermutete, daß dies das Dorf Tynewood war, und sie hatte recht.

Einige Minuten später hielt der Wagen, und als sie das Fenster herunterließ, erkannte sie die großen, eisernen Tore des Schloßparks. Der Chauffeur hupte mehrere Male laut, und nach einiger Zeit zeigte sich eine dunkle Gestalt in einem Regenmantel.

»Wer ist da? Ich kann Sie nicht hereinlassen.«

Marjorie lehnte sich aus dem Fenster.

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und soll Doktor Fordham einen wichtigen Brief übergeben.«

Ohne weitere Widerrede wurde nun das Tor geöffnet, und das Auto rollte die lange, gewundene Zufahrtsstraße entlang, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen flankiert war. Dann hielt der Wagen aufs neue.

Nur das halbkreisförmige Fenster über der Haustür war erleuchtet, sonst lag das große Haus vollkommen im Dunkeln.

Marjorie stieg aus und bat den Chauffeur zu warten. Erst nach einigem Suchen entdeckte sie den altmodischen Klingelzug. Das Läuten tönte schwach nach außen, aber es dauerte geraume Zeit, bis jemand zur Tür kam. Dann hörte sie plötzlich schnelle Schritte und Kettenrasseln. Die Tür wurde aufgeschlossen, und der eine Flügel öffnete sich eine Handbreit.

Der Herr, der den Kopf durch den Türspalt steckte, war ihr unbekannt.

»Wer ist da?« fragte er barsch.

»Ich komme von Rechtsanwalt Vance und bringe einen wichtigen Brief für Doktor Fordham«, wiederholte Marjorie.

»Das bin ich selbst. Treten Sie bitte näher.«

Er schloß die Tür auf und nahm ihr den Brief ab.

»Nehmen Sie Platz.«

Sie ging zu einem der großen Eichensessel hinüber und setzte sich.

»Er ist aber doch für Sir James bestimmt«, sagte er, als er den einen Umschlag geöffnet hatte. »Warten Sie bitte einen Moment.«

Er hatte den Weg zur nächsten Tür halb zurückgelegt, als er sich noch einmal nach ihr umsah.

»Es ist zwar nicht angenehm hier, aber ich kann Sie im Augenblick in kein anderes Zimmer führen. Hoffentlich haben Sie schon zu Abend gegessen, denn ich kann Ihnen leider nichts anbieten. Es ist niemand von der Dienerschaft im Schloß.«

Marjorie hatte noch nichts gegessen, und es wäre ihr sehr lieb gewesen, wenn sie sich hätte stärken können. Aber sie lächelte und schüttelte den Kopf.

»Ach, das macht nichts. Ich bin nicht hungrig«, log sie.

»Bleiben Sie bitte hier in der Halle und gehen Sie nicht weiter.«

»Selbstverständlich spioniere ich hier nicht herum«, erwiderte sie etwas verletzt. »Ich kann auch jetzt schon zum Bahnhof zurückfahren, mein Wagen wartet draußen.«

»Nein, bitte bleiben Sie«, entgegnete Doktor Fordham und verschwand durch die Tür.

Aber in der Eile machte er sie nicht ordentlich zu, so daß das Schloß nicht faßte. Sie öffnete sich von selbst langsam immer weiter, und Marjorie konnte deutlich hören, was im Nebenzimmer gesprochen wurde.

»Ich bin auf jeden Fall ruiniert«, sagte Sir James Tynewood. »Wie furchtbar töricht bin ich doch gewesen!«

»Du hast nun aber eine Gelegenheit, ein neues Leben zu beginnen«, antwortete eine Stimme, die Marjorie bekannt vorkam. »Ich gebe dir die Möglichkeit dazu, und es wäre wirklich sehr unklug von dir, mein Anerbieten abzulehnen.«

»Aber wie soll ich denn das machen?« rief Sir James erregt. »Das ist doch ganz ausgeschlossen! Glaubst du denn, ich könnte nach London zurückgehen, wo all die anderen sind? Meinst du, ich könnte ihnen ruhig entgegentreten und ihnen sagen –«

Ein anderer mischte sich ein, offenbar Doktor Fordham. Ein Briefumschlag wurde aufgerissen – wahrscheinlich war es das Kuvert, das sie selbst gebracht hatte. Papier raschelte, dann folgte tiefes Schweigen, das nur ab und zu durch das Umblättern der Bogen unterbrochen wurde.

»Du bist ja wahnsinnig gewesen!« sagte dann jemand.

»Was meinst du denn?« fragte Sir James nach einer kurzen Pause leise.

Wieder Schweigen. Der Brief war inzwischen wohl weitergegeben worden. Mehrere Minuten lang wurde kein Wort gesprochen.

»Gut, ich will meine Rechnung mit dir begleichen«, sagte Sir James dann plötzlich.

Ein Schuß krachte.

Marjorie sprang totenbleich auf. Wieder folgte eine tödliche Stille, dann hörte das junge Mädchen die verzweifelten Worte: »Mein Gott, ich habe ihn getötet!«

Sie eilte zur Tür und stieß sie ganz auf. Sir James Tynewood lag auf dem Boden, und aus einer häßlichen Wunde in seiner linken Schläfe sickerte das Blut. Ein Mann beugte sich über ihn, und ein Revolver blitzte in seiner Hand. Als sich die Tür öffnete, erhob er sich langsam.

Es war Pretoria-Smith!


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