Edgar Wallace
Der Dieb in der Nacht
Edgar Wallace

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11

Während der nächsten vier Tage gelang es Jack nicht, Barbara zu treffen, obwohl er jeden Morgen in den Hyde Park ging, um sie vielleicht beim Reiten zu sehen. Er ärgerte sich über sich selbst, daß er das tat und daß er jedesmal enttäuscht war, wenn er ihr nicht begegnete. Schließlich konnte er es nicht länger ertragen. Er mußte sie sehen und versuchen, den Verdacht zu entkräften, den er bis jetzt noch nicht hatte abschütteln können. Wenn sich aber seine schlimmsten Befürchtungen als berechtigt herausstellen sollten, konnte er ihr vielleicht helfen, den Folgen ihres gefährlichen Tuns zu entgehen. Er war fest davon überzeugt, daß sie das Opfer einer Verbrecherbande geworden war und für andere die Kastanien aus dem Feuer holen mußte.

Zuerst hatte er vorgehabt, sie in ihrer kleinen Wohnung anzurufen und ihr anzukündigen, daß er sie besuchen würde, aber er fürchtete, daß sie sich dann vielleicht weigern würde, ihn zu empfangen.

So machte er sich selbst auf den Weg zu ihrer Wohnung. Als er den Flur des Mietshauses betrat, kam gerade der Fahrstuhl von oben herunter. Er wich ein paar Schritte hinter einen Vorsprung in der Wand zurück und hatte so Gelegenheit, unbemerkt die zwei Männer zu mustern, die den Fahrstuhl verließen. Der erste war der Herr, den Jack in dem Haus in der Bird-in-Bush Road gesehen hatte, der zweite der Geschäftsführer von Streetley. Sie sprachen leise miteinander.

Was konnte das nur bedeuten? Zu gerne hätte er sich eingehender mit dieser neuen Beobachtung beschäftigt, aber eine gewisse Scheu hielt ihn davor zurück, Barbara in irgendeiner Weise nachzuspionieren. Er hatte sich schon mehr als genug mit ihrem Privatleben beschäftigt.

Im dritten Stock öffnete ihm ein hübsches Hausmädchen die Wohnungstür und führte ihn gleich in das kleine, aber gut eingerichtete Wohnzimmer.

Ein paar Minuten später erschien Barbara May.

»Das ist aber eine große Überraschung, Mr. Danton«, sagte sie. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. – Ist etwas passiert?« fügte sie hinzu, als sie sein bedrücktes Gesicht sah.

»Ja, die Sache ist ziemlich ernst«, erklärte er. Nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Ich habe gesehen, daß zwei Herrn aus dem Fahrstuhl kamen. Waren das Bekannte von Ihnen?«

Sie errötete leicht. »Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Zwei Herren waren allerdings gerade bei mir – in geschäftlichen Angelegenheiten.«

»Ich meine Mr. Smith, den Geschäftsführer der Juwelierfirma Streetley. Er war in Begleitung eines anderen Herren, der in der Bird-in-Bush Road wohnt«, antwortete Jack kühl. Barbaras Erröten war ihm nicht entgangen.

»Das klingt alles sehr geheimnisvoll, Mr. Danton«, erwiderte Barbara nach einer Pause. Sie sprach ruhig und sah ihn offen an. »Wollen Sie mir nicht etwas mehr darüber sagen? Bitte erklären Sie es mir doch.«

»Nun gut«, stimmte Jack ebenso ruhig zu. »Jedesmal, wenn einer dieser geheimnisvollen Juwelendiebstähle verübt wurde, waren Sie in dem betreffenden Haus anwesend. Ich selbst habe erlebt, wie Sie am Morgen nach dem Diebstahl in Lord Widdicombes Schloß mit mir zur Post gingen, um einen Eilbrief aufzugeben, von dem Sie mir aber nichts sagten. Im Gegenteil, Sie benutzten einen Vorwand, um noch einmal ins Postamt zurückzugehen. Wie ich nachher erfuhr, war der Brief an eine Adresse in London gerichtet, nämlich an das Haus in der Bird-in-Bush Road, in das ich Sie nach unserer Rückkehr nach London gehen sah. Wie ich dann feststellte, wohnt dort ein Inder.«

Barbara schwieg, und Jack fühlte, daß er ihr eine Erklärung für sein Vorgehen schuldig war.

»Ich mache mir die größten Sorgen wegen dieser Sache. Bitte glauben Sie mir, daß ich nicht als Beamter von Scotland Yard zu Ihnen gekommen bin, sondern nur als – Ihr Freund, der verhindern möchte, daß Sie noch tiefer in Dinge verwickelt werden, die für Sie kein gutes Ende nehmen können.«

Sie warf ihm einen warmen Blick zu und legte impulsiv ihre Hand auf die seine.

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Jack, aber ich glaube, Sie sorgen sich umsonst.«

Wieder trat eine Pause ein. Dann fügte sie hinzu: »Auf keinen Fall dürfen Sie sich meinetwegen in Ungelegenheiten bringen.«

»Aber wollen Sie mir denn nicht sagen, was das alles zu bedeuten hat? Barbara, haben Sie Dianas Diamantnadel an sich genommen?«

Sie antwortete nicht.

»Sagen Sie mir doch . . . Um Himmels willen, sprechen Sie offen mit mir. Diese Sache treibt mich zur Verzweiflung!«

Plötzlich erhob sie sich, und er sah, daß sie blaß geworden war.

»Ich kann Ihnen nichts erklären, Jack. Wenn Sie glauben, daß ich das Schmuckstück gestohlen habe und wenn Sie mich für eine Diebin halten – ich kann im Augenblick nichts daran ändern, sondern muß Sie bei Ihrem Glauben lassen. – Denken Sie vielleicht auch, daß ich die anonyme Briefschreiberin bin?« fragte sie dann und lächelte leicht.

»Nein, nein, das können Sie nicht getan haben! Barbara, sind Sie irgendwie Verbrechern in die Hände gefallen? Benützt man Sie als Werkzeug? Kann ich Ihnen nicht helfen?«

Er war so aufgeregt, daß er kaum noch klar denken konnte.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sie können mir nicht helfen . . . Nur« – sie sprach die nächsten Worte ganz leise, so daß er sie kaum verstand –, »vertrauen Sie mir. – Und jetzt werde ich Tee bringen lassen, und Sie dürfen keine weiteren Fragen stellen.«

»Barbara«, beharrte er, »hängt dieses Geheimnis mit dem Diamanten der Göttin Kali zusammen?«

Sie wurde noch blasser und sah ihn fast furchtsam an.

»Was sagen Sie?« fragte sie hastig. »Was hat das alles mit dem Diamanten der Göttin Kali zu tun? Ich – ich verstehe Sie nicht, Jack.« Dann verließ sie schnell das Zimmer.

Ein paar Minuten später kam ihr Mädchen herein.

»Miss May hat Kopfschmerzen und. läßt sich entschuldigen. – Soll ich Ihnen den Tee bringen?«

»Nein, danke vielmals«, entgegnete Jack und erhob sich unsicher. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, als er auf die Straße hinaustrat. Wie im Traum ging er weiter.

Barbara May war eine Diebin!


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