Edgar Wallace
Der Dieb in der Nacht
Edgar Wallace

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7

Jack untersuchte die Umgebung des Hauses eingehend, besonders die Stelle, an der Dianas Zimmer lag. Unter ihrem Fenster sah er sich nach Spuren um, aber er konnte nicht das mindeste finden.

Er war auch davon überzeugt, daß dieser Diebstahl vom Innern des Hauses begangen worden war. Aber auf wen konnte er als Täter tippen?

Merkwürdigerweise hatte er bereits die Möglichkeit ausgeschlossen, daß jemand vom Personal dafür in Frage kam. Die meisten Damen hatten ihre eigenen Zofen mitgebracht, aber diese wohnten in einem anderen Flügel des Schlosses, und es war fast unmöglich, daß sie mitten in der Nacht zu Dianas Zimmer kommen konnten.

Nachdenklich und bedrückt suchte er den Lord wieder auf. Widdicombe ging in der Bibliothek auf und ab, als Danton eintrat.

»Nun, haben Sie etwas entdeckt?«

Jack schüttelte den Kopf. »Nichts – gar nichts.«

»Ich wünschte nur, daß das nicht in meinem Haus geschehen wäre. Diana macht es zwar nicht viel aus, offensichtlich. Selbst wenn sie nicht versichert wäre, könnte sie den Verlust leicht tragen, denn sie ist sehr reich. Nur ist mir der Gedanke unerträglich, daß jemand in diesem Haus, womöglich einer der Gäste, den Diebstahl begangen haben könnte. – Wann fahren Sie übrigens wieder in die Stadt zurück?«

»Heute. Ich will den gleichen Zug benützen, den auch Miss May nimmt.«

Der Lord runzelte die Stirn. »So? Wollen Sie mit Barbara May zusammen fahren? Sie ist wirklich ein sehr nettes junges Mädchen, aber sie hat leider auch außerordentliches Pech«, fügte er mit besonderer Betonung hinzu.

»Wie meinen Sie das?« fragte Jack, der sofort bereit war, sie zu verteidigen, obwohl gar kein Grund dafür vorlag.

»Unglücklicherweise war sie jedesmal in dem Haus zu Gast, wo einer dieser Juwelendiebstähle verübt wurde mit anderen Worten, Danton: Sooft der geheimnisvolle Dieb auf der Bildfläche erschien, war auch Barbara May anwesend. – Warten Sie einen Augenblick«, fügte er hinzu, als er sah, daß Jack Danton etwas erwidern wollte, und hob abwehrend die Hand. »Ich will damit durchaus nicht behaupten, daß sie etwas mit diesen Verbrechen zu tun hat. Das wäre eine zu gewagte Vermutung. Aber die Tatsache an sich bleibt bestehen. Diana hat mir das schon mehrmals gesagt, und auch Sie sollten es nicht übersehen.«

Jack zuckte die Schultern.

»Demgegenüber könnte man geltend machen, daß Miss Wold ebenfalls jedesmal zugegen war, wenn ein Schmuckstück entwendet wurde.«

»Das ist allerdings merkwürdig«, räumte der Lord ein und schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Es stimmt. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber wir wollen uns nicht länger darüber den Kopf zerbrechen, denn weder Diana noch Barbara kommen als Täterinnen in Frage. Aber mir fällt bei der Sache eines auf – und ich betone, ich bin kein Detektiv oder Kriminalbeamter –: Wenn der Dieb ein Gast dieses Hauses sein sollte, dann muß doch die Nadel noch hier sein. Höchstens . . .«

»Ja, was wollten Sie sagen?« fragte Jack, als der Lord zögerte.

»Es wäre möglich, daß es ihm gelungen ist, das Schmuckstück bereits fortzuschaffen.«

»Das setzt aber einen Komplicen voraus, und ich bin eigentlich eher der Meinung, daß der Dieb allein arbeitet.«

»Es muß nicht unbedingt ein Komplice sein. Vielleicht wurde die Nadel mit der Post weggeschickt.«

Jack lachte. »Dann muß der Betreffende aber sehr früh aufgestanden sein! Der einzige Ihrer Gäste, der heute morgen zur Post ging, war ich.«

Plötzlich kam ihm ein unangenehmer Gedanke. Barbara hatte ihn doch zur Post begleitet . . .

»Ist sonst niemand ins Dorf gegangen, um Briefe aufzugeben?« fragte der Lord neugierig.

»Nein, niemand«, log Jack.

So bald wie möglich zog er sich zurück. Er mußte sich über diesen schrecklichen Verdacht klarwerden, der ihn seit langem beunruhigte. Vor allem mußte die Sache mit dem Postamt überprüft werden.

Noch einmal ging er ins Dorf. Der Postbeamte machte gerade Eintragungen in ein Buch.

»Mr. Villers, Sie sind Beamter, und Sie werden verstehen, daß das, was ich Ihnen jetzt sage, unter uns bleiben muß. Sie dürfen nicht über das sprechen, was Sie jetzt von mir hören.«

Er legte seinen Dienstausweis auf den Tisch, und der alte Mann rückte seine Brille zurecht. Als er gelesen hatte, sah er erstaunt auf.

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie von der Polizei sind. Ich habe nämlich einen Neffen . . .«

Jack unterbrach ihn sofort.

»Mr. Villers, sagen Sie mir bitte, wie viele Eilbriefe heute von hier abgegangen sind.«

»Einer«, erklärte der Beamte sofort.

»Wer hat ihn denn abgeschickt?« fragte Jack schnell.

»Eine junge Dame – Miss May heißt sie, soviel ich weiß.«

Jack war verzweifelt.

»Stimmt das auch wirklich?«

»Aber sicher! Sie war doch heute früh mit Ihnen zusammen hier. Später kam sie noch einmal herein und sagte, sie wolle den Brief aufgeben.«

Jack erinnerte sich nun auch daran, daß Barbara noch einmal zurückgegangen war, um einige Briefmarken zu kaufen.

»Was für ein Brief war es denn?« fragte er niedergeschlagen.

»Er war ziemlich dick und nicht leicht – ein Doppelbrief.«

»An wen war er adressiert? Wissen Sie das vielleicht auch noch?«

»Ja, ich habe es mir gemerkt, denn es kommt nur selten vor, daß von hier aus ein Eilbrief abgesandt wird. Die Adresse war: Mr. Shing, Bird-in-Bush Road Nr. 903, Peckam, London. Mir fiel der Name der Straße auf. Ich hatte keine Ahnung, daß es derartig merkwürdige Straßennamen in London gibt.«

Mechanisch notierte Jack, was er soeben gehört hatte. Shing! Ein indischer Name! Jack runzelte die Stirn, denn ihm kam das sonderbar vor. Hatte er nicht erst kürzlich etwas von Indien gehört? Auf jeden Fall mußte er die Sache untersuchen. Diesen Entschluß faßte er, als er langsam zum Schloß zurückging. Sowohl um Barbaras als um seinetwillen mußte er es tun.

Jetzt kam ihm deutlich zum Bewußtsein, was sie ihm bedeutete. Welche Hoffnungen hatte sie in ihm geweckt! Er konnte auch jetzt noch nicht glauben, daß sie eine Diebin sein sollte, obwohl mehr als ein Umstand darauf hinwies. Zuerst hatte er sie mit diesem merkwürdigen Mr. Smith gesehen, der eine Brillantnadel bei sich trug, die große Ähnlichkeit mit dem von Mrs. Crewe-Sanders vermißten Schmuckstück besaß. Und nun waren auf der Post seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden.

 

Diana nahm den Verlust ihrer Brillantnadel ziemlich leicht. Sie ging in Barbaras Zimmer und sah zu, wie diese ihre Koffer packte.

»Alle Leute haben Mitleid mit mir und sorgen sich um mich«, erklärte sie. »Dieses Mitgefühl ist allein schon soviel wert wie die Nadel.«

»Das glaube ich nicht recht«, meinte Barbara und lächelte.

»Aber ich bin erstaunt, daß Sie soviel Gepäck haben«, sagte Diana interessiert. »Diesen Schrankkoffer und noch zwei Ledertaschen! Es sieht fast so aus, als wollten Sie eine Reise um die Welt machen.«

»Ja, ich habe nun einmal die schlechte Angewohnheit, viel Gepäck mit mir herumzuschleppen«, antwortete Barbara und lachte verschmitzt.

Diana schwieg, denn sie hatte plötzlich einen sonderbaren Geruch in Barbaras Zimmer bemerkt. Er war nicht sehr stark, sie erkannte aber, daß er von einem besonderen Parfüm herrührte – von einer Duftmischung, die Diana ausschließlich für sich herstellen ließ, die also sonst niemand besitzen konnte.

»Was ist denn das hier für ein Geruch, Barbara?«

»Ein Geruch?« wiederholte Barbara erstaunt. »Ach ja, ich habe ihn auch schon bemerkt. Von mir kann er nicht stammen, ich benütze nur Lavendelwasser.«

Diana wechselte das Thema. Kurz darauf verabschiedete sie sich, ging in ihr Zimmer und klingelte ihrer Zofe.

»Eileen, wo ist mein Parfüm?«

»Sie haben es doch in Ihre Schmuckschatulle gelegt.«

Diana schloß die Stahlkassette auf und nahm einen viereckig geschliffenen Flakon heraus. Sie sah, daß der Verschluß aufgegangen war, und als sie den Boden der Kassette abtastete, war dieser feucht.

»Ja, jetzt besinne ich mich«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe die Flasche gestern sehr eilig weggestellt, und dabei muß etwas ausgelaufen sein. Es ist gut, Eileen. Sie können wieder gehen.«

Diana setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. Barbara May hatte also in die Kassette gefaßt. Barbara May hatte . . . Plötzlich überlief es Diana heiß und. kalt. Hastig schloß sie die Kassette wieder auf, nahm einige Papiere heraus und betrachtete sie genau. Es fehlte nichts davon.

Erleichtert atmete sie auf. Sie rochen stark nach dem Parfüm, in dem sie gelegen hatten. Sie nahm sie auf, warf sie in den Kamin und zündete sie mit einem Streichholz an. Lange stand sie davor und beobachtete, wie sich die Blätter in den Flammen rollten. Im ganzen Zimmer verbreitete sich nun der Duft des Parfüms.

Barbara May war also eine Diebin!


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